Für Claudia

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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© 2018 Markus Hirsch

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7528-1818-5

„There's a storm coming in.“

The Terminator (1984)

JAMES CAMERON

„I tried so hard

and got so far

but in the end

it doesn't even matter“

In The End (2000)

LINKIN PARK

„I'm holding up a light

chasing out the darkness inside

'cause nobody can save me“

Nobody Can Save Me (2017)

LINKIN PARK

Master of puppets i’m pulling your strings

Twisting your mind and smashing your dreams

Blindet by me, you can’t see a thing

Just call my name, ‘cause i’ll hear you scream

Master of Puppets (1986)

METALLICA

Inhaltsverzeichnis

Abschnitt 1

Dorner

Dorner wischte sich den Schweiß von seiner Stirn, hielt kurz inne, denn der Hügel, den der gerade bestieg, schien endlos zu sein. Die Dunkelheit machte ihm zu schaffen, fast wäre er gegen einen Strauch gerannt, konnte aber noch rechtzeitig stoppen und ließ sich instinktiv, einerseits um die Kollision zu vermeiden, aber noch stärker aus quälender Erschöpfung, auf den Boden fallen.

In seiner Tasche suchte er nach seinem Beruhigungsmittel, das er immer bei sich trug, eben irgendwo in den Taschen, die er stets kontrollierte, damit er sicher ging, dass es noch da war oder dass er es nicht irgendwo verloren oder ausgestreut hatte, womöglich sogar an einem Ort, an dem ein Kollege oder eine Kollegin am Revier es mit ihm in Verbindung bringen konnte. Denn das Medikament musste geheim bleiben, diese Art von legaler Droge, die in Wahrheit seinen angegriffenen Organismus und seinen rebellischen Geist seit Jahren als einzige Konstante aufrechtzuerhalten und zusammenzuhalten schien. Geheim bleiben musste vor allem auch die Tatsache, dass er die so genannte „therapeutische Dosis“ längst überschritten hatte und dass seine täglichen ersten Gedanken beim Aufstehen lediglich jene waren, wann er „Pille Nr.1“ einnehmen würde und wie viele es in der Folge dann im Laufe des Tages werden könnten.

Dass Dorner die Plastikdose mit den Pillen sofort gefunden hatte, den Drehverschluss öffnen, eine Xanax-Pille greifen und sie hinunterschlucken konnte, erfüllt ihn auf der Stelle mit Zuversicht und mit neuer Energie, obwohl die Wirkung bei weitem noch nicht eingetreten sein konnte, und er stand wieder auf.

Mit seiner Glock 9mm in der rechten Hand rannte er den Hügel weiter hinauf, die riesigen Buchstaben, die das Wort HOLLYWOOD ergaben, kamen immer näher. Als er schon fast bei dem Schriftzug angekommen war, drosselte er sein Tempo wieder, erhöhte seine Aufmerksamkeit noch stärker und hielt die Waffe so, dass er jederzeit einen Kontrahenten hätte stellen oder notfalls hätte erschießen können.

Dann sah er die Umrisse einer Figur, die anscheinend im dritten und letzten O des berühmten Schriftzuges baumelte. Es war eine männliche Person, wie Dorner allmählich erkannte. Ihre Nacktheit, der lange Strick, der um das O gewickelt war, und die Schlinge um den Hals, die der Person natürlich das Genick gebrochen hatte, ergaben im Zusammenhang mit dem Schriftzug ein bizarres Bild, das fast schon wie ein sarkastischer Kommentar zum Scheitern in der „Stadt der Engel“ wirkte.

Plötzlich fiel Christopher Dorner der Zettel ins Auge, der offensichtlich am Penis oder am Hodensack des nackten Mannes befestigt war. Die Fixierung entpuppte sich als riesige Sicherheitsnadel, die wüst durch die Genitalien gestochen worden war und die die unspektakuläre Botschaft befestigte, die der Zettel offenbar transportieren sollte:

NIEDERLAGE.

Das Läuten seines Diensthandys schreckte Dorner aus seinem Schlaf hinter dem Steuer, denn er war in seinem abgestellten Auto, inmitten einer Observierung, die er eigentlich außerhalb seiner Dienstzeit und allein durchführte, eingeschlafen. Noch nicht ganz sicher, ob er jetzt wieder in der Realität angelangt war oder ob sein blutig bizarrer Traum nur eine andere Wendung genommen hatte, griff er zum Handy in die Tasche seiner Lederjacke. Gleichzeitig blendeten ihn in diesem Moment die grellen Vorderlichter eines vorbeifahrenden Wagens, sodass er sich außerdem kurz eine Hand vors Gesicht halten musste. Er ließ das Handy, das immer noch läutete, noch zugeklappt und blickte aus dem Wagen, konnte aber nichts, weder Fahrer noch Nummernschild, nicht einmal die Marke des vorbeifahrenden Autos, irgendwie erkennen. Endlich öffnete er das Handy, sah den Schriftzug „Anonym“ auf dem Display und bestätigte die Annahme des Anrufs.

„Hallo?“

Am anderen Ende war zunächst nur Schweigen, fast absolute Stille.

„Hallo, wer ist da?!“, fragte Dorner etwas streng und genervt.

Das Lachen, das dann in der Leitung ertönte, klang irgendwie künstlich bösartig, war wie aus einem schlechten Horrorfilm, also von der Art, dass das Publikum auch ja bemerkte, dass es sich hier um eine besonders teuflische Figur mit den abgründigsten Gedanken handelte. Nichtsdestotrotz fuhr Detective Dorner das Lachen auf unangenehme Weise durch die Glieder, traf ihn sogar ins Mark, und er spürte, dass er irgendetwas durch sein kurzes Einschlafen verpasst haben musste. Dann wurde der Anruf von dem lachenden Mann, denn das Lachen war eindeutig männlich, beendet.

Dorner zog seine Waffe, seine Glock 9mm, die sich zuvor in seinen Traum eingefügt hatte, stieg aus dem Wagen und rannte zu dem schäbigen Gebäude, dem Objekt seiner nächtlichen Observation. Er öffnete vorsichtig die offensichtlich nicht abgeschlossene Eingangstüre, dachte kurz daran, dass er eigentlich Verstärkung hätte rufen sollen, setzte aber seinen Alleingang, angetrieben vom Adrenalin, fort.

In einem Raum weiter hinten im Gebäude, das eher wie eine alte Lagerhalle angelegt war, schien ein nicht allzu starkes Licht die Dunkelheit zu brechen. Dorners Schritte wurden schneller, bis er endlich vor dem beleuchteten Raum stand.

Ihm stockte kurz der Atem, denn das Bild, das sich ihm bot, hätte gut aus seinem Traum von vorhin stammen können. Sein Schlaf musste doch länger gedauert haben, als er gedacht hatte, denn das Arrangement, dessen Augenzeuge er hier wurde, konnte unmöglich das Werk von ein paar Minuten gewesen sein. Die Beruhigungsmittel, die er in sich hatte, hatten in der Nacht wohl doch noch ihre einschläfernde Wirkung gezeigt, ihn wegdriften, das Zeitgefühl verlieren lassen.

Vogler

Die Prostituierte in Tijuana, Baja California, Mexiko, zog sich nacheinander langsam die Strapse, dann den BH und zuletzt ihren Slip aus. FBI Special Agent Walter Vogler lag bereits nackt im Bett des drittklassigen Hotels, das aber bewusst ausgewählt war, und lauschte ihrem Mexikanisch, mit dem sie ihren Striptease begleitete. Er verstand von dem anzüglichen Vokabular nur die Hälfte, doch das war nebensächlich. Langsam stieg sie zu ihm ins Bett und setzte sich auf seinen Unterleib.

Sein Handy klingelte und er verfluchte diesen Moment, denn er unterbrach nicht nur seine übliche Ablenkung, wenn er einen schwierigen Fall zu lösen hatte, nämlich den bezahlten Sex, worauf er im Übrigen aber nicht stolz war, sondern erinnerte ihn eben auch an den Entführungsfall, zu dem er als Berater aus den Vereinigten Staaten, im Sinne einer so genannten „engeren polizeilichen Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern“, hinzugezogen worden war und der, so konnte er sich des unangenehmen Gefühls jedenfalls nicht erwehren, auf einen tragischen Ausgang zusteuerte.

Ein lokaler Drogenboss, mit dem Drang nach ganz oben an die Spitze der diversen Kartelle, namens Rodriguez, von Freunden und Feinden in weiser Voraussicht auch hin und wieder „King Rodriguez“ genannt, hatte nämlich die Tochter eines wohlhabenden Geschäftsmannes entführen lassen; an sich nichts Besonderes, weder für das Land noch für die Gegend, nur dass eben Vogler, der als Spezialist für solche Fälle galt, dieses Mal nach Mexiko entsandt worden war, während im Gegenzug irgendein Drogenexperte der mexikanischen Polizei den amerikanischen Behörden bei einer Drogensache an der Grenze zu den Staaten behilflich war. Eine erste Lösegeldübergabe war fehlgeschlagen, was die Chancen der jungen Frau mit dem Leben davonzukommen nicht gerade verbesserten. Nur wusste Vogler auch, dass die Kartelle ihre Entführungsopfer auch nach erfolgreichen Geldübergaben manchmal trotzdem töteten, sozusagen aus Prinzip, um ihre Macht zu demonstrieren und um Angst zu verbreiten.

„Da muss ich leider ran gehen“, sagte Vogler zu der Prostituierten, die von seinem Schoß sprang und sich neben ihm ins Bett legte und wieder ein paar Silben Mexikanisch von sich gab, während sie zur Decke und zu dem darin rotierenden Ventilator starrte.

„Vogler.“

Die vertraute Stimme eines ihm wohlbekannten Beamten meldete sich und bemerkte recht sachlich: „Wir glauben jetzt zu wissen, wo sich die Entführer mit der jungen Frau aufhalten!“

Juanita Sanchez war verschwunden, als Vogler und sein Gefolge aus schwer bewaffneten mexikanischen Einheiten der Polizei das abgelegene Anwesen stürmten, das als Aufenthaltsort der Entführer und ihrer Geisel enttarnt worden war. Von der jungen Frau, der Millionärstochter, fehlte aber fast jede Spur. Das Schicksal der Geiselnehmer allerdings gab Rätsel auf, denn die vier Männer, allesamt schon rein optisch irgendwie unangenehme und brutale Zeitgenossen, wurden mit präzise ausgeführten Kopfschüssen aufgefunden; jemand hatte sie anscheinend, mit einer gewissen Hingabe, regelrecht hingerichtet und um den Stuhl platziert, auf dem Juanita wahrscheinlich die meiste Zeit über gefesselt sitzen musste und auf dem jetzt nur mehr ein geknüpftes Tuch lag, das wohl als Augenbinde fungiert haben musste.

Zuerst verdächtigte man natürlich Juanitas Vater, Carlos Sanchez, dass er die Sache selbst in die Hand genommen und mit seinem Geld irgendwelche Söldner oder Auftragskiller auf die Sache angesetzt hatte, weil er den Behörden und der Polizei nicht mehr vertraute. Die junge Frau wurde aber nie gefunden, jede Suche blieb ergebnislos und auch der vermutliche Drahtzieher, Rodriguez, ließ die ganze Sache, die ja eigentlich eine Schmach für ihn darstellte, anscheinend auf sich beruhen, was ebenso ungewöhnlich war.

Voglers Strom der Erinnerung an seine Zeit in Mexiko, die Prostituierte im schmierigen Hotel, die hingerichteten Entführer, die wahrscheinlich für immer verschwundene Juanita Sanchez, das alles verschwand schlagartig, als ihm jemand aus der oberen Hierarchie des SWAT-Teams, das ihn begleitete, auf seine Schulter tippte, um ihm zu sagen, dass sie sich mit ihren Booten, die sich leise aber effektiv ihren Weg durch die Sümpfe Floridas bahnten, langsam dem Ort näherten, an dem sich mit größter Sicherheit jene Hütte befand, in dem die Geisel Malcolm James seit Tagen gefangen gehalten wurde.

Vogler war also wieder an einem neuen Entführungsfall dran, für den er sich, angesichts der vorliegenden Informationen, grundsätzlich aber größere Erfolgsaussichten versprach als damals für die Sache in Mexiko. Malcolm James hatte mit Immobilien ein beträchtliches Vermögen gemacht, war aber damit offenbar auf dem Radar gewisser Leute erschienen, die sich nun eine beträchtliche Summe erhofften, die seine Familie auch bereit zu zahlen war, nur hatte diese erkennen müssen, dass James das erarbeitete Vermögen in Wahrheit schon fast wieder durchgebracht hatte, eine Tatsache, die ihn als Geisel für die Entführer aber auf der Stelle wertlos gemacht hätte und sein Ende besiegelt. Die täglichen Videobotschaften der Entführer, die einen verletzen und zunehmend psychisch gebrochenen und gequälten Malcolm James zeigten, verfehlten ihre Wirkung ebenfalls nicht. Nur hatten Beobachtungen einiger Leute, die sich aus den einen oder anderen Gründen in den Sumpfgebieten herumtrieben, zu den entscheidenden Hinweisen zum Aufenthaltsort von James geführt; und jetzt war es für Vogler und sein Team Zeit loszuschlagen.

Die Waffen wurden, wie choreographiert, von allen bereit gemacht, Vogler überprüfte noch einmal seine Glock und die Schrotflinte, sowie den Sitz seiner schusssicheren Weste. Dann gingen sie an Land.

Wenig später verfolgte Vogler einen der Entführer, der im Begriff war zu flüchten und in die Richtung eines sich weiter entfernt befindlichen kleinen beleuchteten Stegs rannte, an dem ein Motor-Boot befestigt war. Das SWAT-Team hatte inzwischen ohne Vogler die Hütte mit der Geisel gestürmt, weil diesem sofort, anscheinend als erstem, der davonlaufende Verbrecher aufgefallen war.

„Halt, stehen bleiben!“, rief Vogler, mit seiner Schrotflinte in den Händen.

Der Mann dachte natürlich zunächst nicht daran stehen zu bleiben, doch angesichts Voglers stetig steigender Präsenz, die er gleichsam im Nacken spürte, änderte er seinen Plan, drehte sich mit gezückter Pistole um und wollte mit seinem Verfolger wohl auf Konfrontation gehen.

Die Sicht war, durch die nächtliche Dunkelheit, aber trotz des intensiven Lichtes vom Bootssteg, das einen völligen Blindflug verhinderte, denkbar schlecht, doch Vogler hatte schon beim Weglaufen des Entführers, durch die außerhalb der Hütte angebrachten Lichtquellen, kurz bemerkt, dass dieser ebenfalls, wie er selbst eben als Dienstwaffe, eine Glock 9mm bei sich trug.

Die beiden Männer standen sich nun gegenüber und Vogler schrie: „Waffe runter und auf den Boden, sofort!“

Nach einem kurzen Zögern kam der Mann, zu Voglers Verwunderung, fast Bedauern, der Aufforderung sogar nach, legte seine Glock auf den Boden, kickte sie mit einem Fuß fast artig in die Richtung seines Verfolgers und nahm die Hände hoch, war also anscheinend bereit sich ohne weiteren Widerstand festnehmen zu lassen.

Walter Vogler fixierte ihn noch ein paar Sekunden, als ließe er sich etwas durch den Kopf gehen, sah sich blitzschnell um, ob er noch allein war, warf dann seine Schrotflinte zu Boden, zog ebenso blitzschnell seine Glock und schoss dem entwaffneten Entführer einmal tödlich in die Brust, sodass dieser sofort zu Boden ging.

Schnell hob er die Glock des toten Entführers auf, platzierte diese in dessen Hand, richtete den Mann mit aller Kraft kurz auf und feuerte anschließend einen Schuss in die Richtung ab, in der er vorher selbst gestanden hatte.

Nachdem das jetzt alles so aussah, dass eine Kugel Vogler verfehlt und er dann gleichsam in Notwehr den Verbrecher niedergestreckt hatte, war er zufrieden und beugte sich wieder über die Leiche, die er möglichst präzise wieder so hingelegt hatte, wie sie nach seinem Todesschuss zu Fall gekommen war.

„Agent Vogler, Sir, das müssen Sie sich ansehen!“, ertönte plötzlich eine Stimme in der Dunkelheit.

Ein aufgeregt wirkender junger Mann aus dem Einsatzteam war auf der Bildfläche erschienen und Vogler fragte sich kurz, ob dieser Zeuge seines ungesetzlichen Vorgehens geworden war. Doch die Zeichen sprachen ganz und gar nicht dafür, vielmehr stand ihm irgendeine andere Art von Schrecken oder Überraschung ins Gesicht geschrieben.

„Sir, Sie müssen sofort kommen, das müssen Sie sehen, Sie werden es nicht glauben! ... Ist der Mann da tot?“

„Ja, er hat auf mich geschossen. War knapp. Gehen wir! Der läuft nicht mehr weg.“

Der junge Polizist ging eiligen Schrittes voraus, während ihm Vogler, im Gesicht den Ansatz eines leichten, zufriedenen Lächelns, folgte.

Vogler ging die Treppen zum Hütteneingang hinauf, zahlreiche Mitglieder des SWAT-Teams standen, sichtbar etwas ratlos, vor der Eingangstüre herum und warfen Vogler einen Blick zu, als ob sie sich von ihm eine Erklärung für etwas wünschen würden, was sie in der Hütte vorgefunden hatten.

Der Mann, der ihn zuvor aus seinen mexikanischen Erinnerungen geholt hatte, tauchte nun in der Eingangstüre auf und sagte: „Agent Vogler, Sie müssen sich das ansehen!“

Als Vogler die Hütte betrat, sah er sofort, dass die Geisel, Malcolm James, tot war, auf grausame Weise mit einer Plastikfolie, die ihm um den Kopf gewickelt worden war, erstickt. Die Folie hatte sich im Todeskampf sozusagen ihren Weg in den aufgerissen Mund der Geisel gebahnt.

Vogler bedauerte jetzt, dass er zuvor den flüchtigen Mann, der ohne Zweifel auch eine Rolle in diesem Entführungsfall gespielt hatte, einfach so getötet hatte, weniger aus moralischen als aus praktischen Gründen, denn jemand musste für das bizarre Arrangement, das man im Raum sonst noch vorfand, und das weit merkwürdiger war als die tote Geisel, denn so was kam eben leider manchmal vor, verantwortlich sein.

Entweder hatte Vogler also den Verursacher getötet, gegen diese Annahme sprach aber dessen schnelle Bereitschaft sich zu ergeben, oder eine Art Zeugen, der, obwohl selbst ein Entführer, dem Grauen in der Hütte aus irgendeinem Grund entgangen war und dann von dem SWAT-Team überrascht wurde und zu flüchten versuchte. So oder so, Voglers Verhalten, seine Selbstjustiz, verhinderte, dass man durch eine Befragung eventuell Klarheit bekommen hätte.

„Was ist hier wohl abgelaufen?“, fragte ihn der Mann neben ihn.

„Ich habe keine Ahnung. Jedenfalls noch nicht“, antwortete Vogler.

„Ist Ihnen so was Ähnliches schon mal untergekommen?“, hakte der Mann nach.

„Nein. Noch nie.“

Glasberg

Die riesigen Tore zu dem prächtigen Anwesen öffneten sich und Paul Glasberg fuhr mit seinem Mietwagen im Morgengrauen die Allee entlang, die kerzengerade zu der Villa seiner Freundin und Bekannten Miranda Green führte.

Paul und Miranda kannten sich seit Jahren, nachdem sie sich bei einem Kampfsportturnier in Hong Kong getroffen hatten und der Zufall es so wollte, dass sie, in den Zuschauerrängen, Plätze direkt nebeneinander hatten. Nach einer kurzen Affäre miteinander, die durch die Entfernung zwischen New York, wo Paul wohnte, und London, wo Miranda wohnte, dauerhaft aber einen nicht gerade geringen Aufwand bedeutet hätte, hatten sie aber beschlossen so etwas Ähnliches wie Freunde zu bleiben, und so kam es, dass Glasberg, ein New Yorker Detective, Miranda Green, an sich eine mehr als nur wohlhabende Erbin aus so genanntem „guten Hause“, die aber ansonsten wenig bis gar nichts mit Ihresgleichen, also der reichen englischen Oberschicht, zu tun haben wollte, jährlich mindestens einen Besuch abstattete.

Dieses Jahr war es aber nicht nur die Zuneigung zu seiner Freundin Miranda, im Übrigen mit Abstand die unkonventionellste und interessanteste Frau, die er kannte, die ihn nach London geführt hatte, sondern eine Art privates Projekt, das seinen Eros als Detective, gleichsam über den großen Teich hinweg, auf seltsame Weise geweckt hatte und ihn fast zwanghaft vereinnahmte.

Mary Ann Nichols – Annie Chapman – Elizabeth Stride – Catherine Eddowes – Mary Jane Kelly

Immer wieder geisterten Glasberg die Namen der so genannten „kanonischen Fünf” durch den Kopf, die „Jack The Ripper“, der legendäre Whitechapel-Mörder, im Jahre 1888 grausam getötet und teilweise ausgeweidet hatte.

„Hallo, Paul! Wie war deine Nacht? Hast du eine Spur von dem Killer?“, sagte Miranda, als Glasberg den riesigen Raum betrat, in dem seine Freundin gerade eines ihrer großformatigen Acrylbilder malte.

„Nein, ich habe aber die halbe Nacht damit verbracht noch mal die Plätze und Straßen abzugehen, auf denen er zugeschlagen hat, sowie die gesamte dortige Umgebung, die als Kulisse für weitere Morde in Frage käme.“

„Und?“

„Na ja, dieser Killer ist im Begriff euer neuer moderner Jack The Ripper zu werden.“

„Und du glaubst immer noch, dass er eine Art Killer-Tourist ist, der schon mal in den Staaten ähnliche Schweinereien verübt hat?“

„Das Muster ist dasselbe wie damals in Brooklyn. Ich habe es dir doch genau dargelegt. Selbst die Initialen der ersten drei Opfer stimmen mit den Initialen der Ripper-Opfer von 1888 überein. Wie in New York.“

„Könnte trotzdem reiner Zufall sein“, blieb Miranda weiterhin skeptisch, während sie mit einer Spachtel großzügig Farbe auf die Leinwand auftrug.

„Glaub mir! Mein Gefühl täuscht mich nicht. Auch wenn ich zugeben muss, dass dieser Wechsel des Kontinents… na ja, jedenfalls bleibe ich dran, solange ich hier bin.“

„Die englische Polizei wird nicht unbedingt begeistert sein, wenn ein amerikanischer Polizist, quasi im Urlaub, hier einen vermeintlichen Serienmörder jagt, während sie selbst noch völlig im Dunkeln tappt.“

„Ich werde das Schwein kriegen! Aber da ich ja sozusagen nicht in offizieller Mission hier bin, werde ich mir diese Figur irgendwie schnappen und eben der hiesigen Polizei übergeben.“

Amerikanischer Detective fängt im Urlaub durch Zufall Jack The Rippers Ur-Urenkel, der mit seinen eklektischen und brutalen Prostituierten-Morden London wochenlang in Angst und Schrecken versetzte! Was für eine Schlagzeile!“, sagte Miranda etwas sarkastisch.

„Mach dich nur lustig über mich! Du wirst sehen! Wenn es derselbe Täter ist wie damals und er demselben Muster folgt, müsste er heute Nacht wieder zuschlagen. Und er verlässt sein Jagdrevier nicht, das hat er in Brooklyn auch nicht getan.“

„Du kannst doch unmöglich jeden Hinterhof bewachen, in dem er sein Opfer aufschlitzen könnte.“

„Wer weiß, vielleicht bin ich ja zur richtigen Zeit am richtigen Ort!“

„Darling, Darling. Das Ganze klingt ja fast schon leicht psychotisch. Verrenn dich nicht zu sehr darin, versprochen?“

Sie legte ihre Spachtel weg, ging auf Glasberg zu und gab ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange, der etwas Fürsorgliches hatte.

„Heute Nacht, du wirst sehen…“, sagte er.

„OK, OK. Aber sei wenigstens vorsichtig! Vielleicht findest du dieses Monster ja wirklich. Hast du Hunger, soll dir meine Köchin Frühstück machen?“

„Ich sterbe vor Hunger, wenn ich’s genau bedenke.“

„Na dann komm…“

In der Dämmerung verließ Glasberg die Villa seiner Freundin in Highgate wieder in Richtung städtischeres London. Nach dem gemeinsamen Kampfsporttraining am Nachmittag, einer Art Tradition zwischen den beiden, einer Art Ritual, hatte sich Glasberg wieder geistig in den Fall des „Neuen Rippers“ vertieft, seine eigenen Notizen und Unterlagen durchgesehen sowie seine Liste von Hinterhöfen vervollständigt, die er als ideale Orte für einen weiteren Mord klassifiziert hatte.

Als die besagte Nacht angebrochen war, von der Glasberg überzeugt war, dass der Killer sie für eine weitere Bluttat nützen würde, begann er umherzustreifen, in der Tasche eine Schusswaffe, die ihm Miranda besorgt hatte, die aber an sich nicht zu ihr zurückzuverfolgen war, sowie ein effektives Messer, dessen Klinge auf Knopfdruck blitzschnell herausspringen konnte. Dieses Messer war ohnehin Glasbergs ständiger Begleiter geworden, ganz egal wo auf der Welt er sich gerade befand; ohne sein Messer irgendwo in seinen Taschen hatte er das Gefühl, jederzeit Opfer eines Angriffs oder Überfalls werden zu können. Eine Art Versicherung gegen die Paranoia, die, so glaubte er jedenfalls, wohl eine Folge seines Berufs war.

Die Prostituierten, die er auf seinem Spaziergang traf, prinzipiell allesamt potentielle Opfer des „Neuen Rippers“, musterten ihn ein wenig angesichts der neuen Bedrohung, die in dieser Stadt für sie aufgetaucht war. Diese Frauen interessierten Glasberg und er kam nicht umhin daran zu denken, wie es wohl wäre, wenn er einfach eine davon bezahlen und mit ihr auf ein Zimmer verschwinden würde. Dass überhaupt noch so viele, bei der drohenden Gefahr durch den Ripper, auf der Straße ihrem Geschäft nachgingen, wunderte ihn kurz, doch sofort verwarf er diesen, vor allem für einen Polizisten, naiven Gedankengang. Denn: Was sollten diese Frauen auch schon groß tun? Es blieb ihnen schließlich keine andere Wahl, als ihr Geld auf diese Weise zu verdienen und ihre Zuhälter zufrieden zu stellen.

Kurz dachte er an Mirandas Worte, dass er sich nicht in die Sache verrennen sollte, und hatte kurz Angst davor, dass sein eher merkwürdiges Verhalten nicht doch Anzeichen einer drohenden Verrücktheit sein könnte. Was zum Teufel tat er hier eigentlich mitten in der Nacht, im nächtlichen London, weit weg von Brooklyn, seinem Arbeitsplatz, auf der Suche nach einem Psychopathen, dessen Handschrift er glaubte aus den USA zu kennen? Ohne diesbezüglichen Auftrag oder dergleichen. Andererseits war da dieses Gefühl, das ihn antrieb und das ihm gleichsam soufflierte die Bestie zu stoppen.

Ein paar Mal musste sich Glasberg spontan selbst, wegen umherfahrender Streifenwagen, in irgendwelche Nebengassen flüchten, denn die Londoner Polizei hatte natürlich ihre Präsenz in den besagten Gebieten verstärkt. Hätte man ihn aus der Menge herausgefischt, gefilzt und mit der illegalen Waffe erwischt, wäre er, noch dazu selbst ein Cop, wie ein Verbrecher dagestanden.

Trotzdem suchte Glasberg in den folgenden Stunden unaufhörlich weiter, suchte also Hinterhof für Hinterhof in dem von ihm als relevant eingestuften Gebiet ab, auf der Suche nach seinem herbeigesehnten Zufallstreffer, nämlich den Ripper sozusagen „bei der Arbeit zu stören“ und ihn zur Strecke zu bringen. Er musste dabei aber natürlich weiterhin selbst stark aufpassen, dass er nicht durch Zufall von irgendjemanden, etwa von einem vorbeigehenden Passanten oder gar von einem Bewohner eines der recht schäbigen Häuser der Gegend, beobachtet wurde, was ihm wiederum die ohnehin umher schwirrende Polizei auf den Hals hetzen hätte können.

Auch die Nacht selbst schritt natürlich unermüdlich voran, doch langsam schien es so, als würden die Figuren um Glasberg herum zunehmend verschwinden; die Spaziergänger, die Freier, die seltsamen Gestalten, selbst die Prostituierten schienen immer weniger zu werden. Und die ganzen Häuserreihen mit unbeleuchteten Fenstern trugen ebenso dazu bei, dass sich Glasberg langsam fühlte, als wäre er tatsächlich ins alte London zurückversetzt worden und würde gleichsam das Original, also den echten Jack The Ripper, jagen, was ein aufregender Gedanke war, und das Adrenalin, das dieser Gedanke irgendwie in ihm freisetzte, verjagte eine gewisse Müdigkeit und er war wieder völlig auf seine Suche fokussiert.

Nach einer weiteren Stunde passierte etwas, was Glasbergs Aufmerksamkeit endlich nennenswert erregte. In einiger Entfernung sah er eine Gestalt, die in weiblicher Begleitung um eine Häuserecke bog. Der Vorgang an sich war wahrlich nichts Besonderes, aber in Zusammenhang mit dem Ripper konnte er sozusagen den Schlüssel und gleichsam alles bedeuten und irgendwie überkam Glasberg ein Gefühl, mehr eine fixe Idee, dass er vielleicht doch zur rechten Zeit am rechten Ort war.

Seine Schritte wurden schneller, er zog seine Waffe. Bei der Häuserecke angekommen, war das Paar verschwunden. Glasberg zog aus seiner Jackentasche sein erstelltes Verzeichnis mit den Hinterhöfen der Gegend, die frei zugänglich waren.

Ein angestrengter und hastiger Blick darauf verriet ihm, dass ganz in der Nähe ein solcher frei zugänglicher Hinterhof sein musste, der ihm offensichtlich bei seinen Erkundungen aufgefallen war, was das relativ schnelle Verschwinden des Paares erklärt hätte, sofern dieses nicht einfach, und ganz banal, in eines der Häuser gegangen war.

Scheinbar erleuchtete tatsächlich auch hier kein einziges Licht mehr ein Fenster in der Straße, die Häuserfronten wirkten wie tot, und Glasberg kam dem besagten Hinterhof immer näher.

Er vernahm Geräusche, zumindest bildete er sich das ein, und vorsichtig und mit gezückter Waffe sowie mit der Körperhaltung eines Profis, der er ja schließlich war, blickte er um die Ecke in den Hof.

Er konnte aber nichts sehen, der Hof war nur durch einen nicht allzu langen Durchgang erreichbar und die spärliche Beleuchtung von der Straße erhellte ihn nur äußerst schwach. Dann war er sich sicher, dass da ein Geräusch war, und er schritt nun eilig voran, bereit loszuschlagen, so wie bei unzähligen Einsätzen zu Hause in Brooklyn.

Der Blick auf den gesamten kleinen Hinterhof wurde frei.

Das monströs wirkende Messer schien in der Ecke aufzublitzen, obwohl das bei den Lichtverhältnissen gar nicht möglich war, es hob und senkte sich. Ein weiblicher Körper lag regungslos am Boden, eine Gestalt hockte über ihr, die jetzt offensichtlich eine Kapuze trug, was vorhin noch nicht der Fall gewesen war, dessen war sich Glasberg sicher.

„Nimm die Hände hoch, du Schwein!“, schrie er.

Die Gestalt erschrak, drehte sich um, mit dem Messer in der Hand, aber ohne aufzustehen, ihr Gesicht war bis zur Hälfte von der anscheinend schwarzen Kapuze verdeckt.

„Wirf das Messer weg und steh mit erhobenen Händen auf!“, befahl Glasberg, der kurz glaubte zu träumen, gleichzeitig aber hoffte, dass das Ganze kein Traum war, dem Täter.

Das absolut Unwahrscheinlichste war anscheinend wahr geworden und er hatte den Ripper auf frischer Tat ertappt, was für die tote Frau am Boden, mit großer Sicherheit eine weitere Prostituierte, natürlich keinerlei Trost mehr darstellte. Aber immerhin hatte er, Detective Paul Glasberg aus Brooklyn, dieses Monster, diesen Psychopathen, diese Bestie, wie immer man diesen Jack The Ripper-Epigonen in den britischen Medien in der Vergangenheit auch genannt hatte, gestellt!

„Ich sag’s nur noch einmal, Bastard, wirf das Messer weg und zeig mir deine Hände! Sonst verpass ich dir jetzt auf der Stelle eine Kugel - mitten in dein krankes Hirn!“

Der Ripper erhob sich langsam, in der rechten Hand sein blutiges Messer, während sich die linke Hand noch immer nicht klar sichtbar hinter seiner Jacke befand.

„Na gut, irgendwie tust du mir ja einen Gefallen, wenn ich dich abknallen…“

In diesem Moment traf Glasberg etwas im Gesicht, sodass durch die Überraschung seine Aufmerksamkeit kurz gestört wurde; der Killer, der sofort auf ihn los gestartet sein musste, rammte ihn so heftig, dass Glasberg das Gleichgewicht sowie die Waffe verlor und zu Boden fiel.

Liegend sah er noch, wie der Ripper zurück auf die Straße lief und sogleich aus seinem Blickfeld verschwand. Sofort wollte er die Verfolgung aufnehmen, doch dann erstarrte er und sah neben sich den Gegenstand liegen, der ihn da getroffen hatte und den er durch seine anatomischen Kenntnisse sofort klassifizieren konnte: Eine Gebärmutter.

Der Killer hatte sie offenbar, gleichsam seinem „Idol“ folgend, dem Opfer herausgeschnitten, die ganze Zeit über in seiner linken Hand gehalten und dann gezielt gegen Glasbergs Gesicht geschleudert, das dieser jetzt hektisch untersuchte. Sofort sah er das Blut auf seiner Hand, welches die Gebärmutter in seinem Gesicht hinterlassen hatte.

Er war, aus seiner Sicht, jämmerlich gescheitert, und mit dem Blut im Gesicht als Draufgabe konnte er ohnehin niemanden verfolgen, der noch dazu mit größter Sicherheit schon über alle Berge war. Also verließ Glasberg schleunigst den Tatort und lief gehetzt zurück zu seinem Auto, aber nicht bevor er der toten und entstellten Frau am Boden noch ein leises „Tut mir Leid“ gesagte hatte.

Am nächsten Tag war das vierte Opfer des Killers natürlich aufgefunden worden und bereits Gesprächsthema Nummer eins in sämtlichen Medien des Empires. Glasberg verfolgte die Berichterstattung mit Miranda, die die nächtlichen Erlebnisse ihres Freundes „schlichtweg unglaublich“ fand, vor dem Fernseher. Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Journalisten der herausgeschnittenen Gebärmutter, die der Killer offenbar, „einem Ritual gleich“, in einigem Abstand zum Opfer platziert hatte. Zahlreiche Experten versuchten diese Vorgehensweise zu interpretieren.

Glasberg versicherte sich mehrmals, ob es das richtige Haus war, vor dem er stand, und glich die Adresse von dem Zettel, den er in dem rechten Scheibenwischer seines Autos eingeklemmt gefunden hatte, mit der Hausnummer ab. Alles stimmte überein.

Es war die letzte Nacht, in der der Ripper zuschlagen würde, sofern er dem Muster seines Vorbildes treu bleiben würde, was in Brooklyn penibel der Fall gewesen war. Da der letzte Jack The Ripper-Mord aber nicht auf der Straße, sondern in einem Haus stattgefunden hatte, war Glasberg, eher einer Art Pflichtgefühl nachkommend, ziellos in der Nacht umhergefahren, sich der absoluten Aussichtslosigkeit seines Vorhabens bewusst irgendetwas tun zu können.

Er war sich sicher, seine Chance, den psychopathischen Killer zu fassen, war nun auch in London vorbei, denn die Dramaturgie des Zufalls hatte ihm sozusagen einen „magischen Horrormoment“ beschert, nämlich einen Serienmörder gleichsam in flagranti zu erwischen, doch sein Versagen war ein schwerer Rückschlag gewesen. Er hätte genauso gut gleich seine Rückreise in die Staaten antreten können und sich von zu Hause aus die Medienberichte über einen weiteren grausigen Mord in London ansehen oder anhören können.

Doch als er sein Auto kurz abgestellt hatte und ein paar Blocks wahllos zu Fuß gegangen war, was eher der Besänftigung seiner Machtlosigkeit und inneren Qual gedient hatte, fand er bei seiner Rückkehr diesen rätselhaften Zettel auf seinem Auto vor. Darauf befand sich nichts als eine Adresse, in gedruckter Form, und als Glasberg das sah, drehte er sich hektisch nach allen Seiten um, suchte die Umgebung ab, blickte zu den Dächern hinauf.

Was bedeutete das? Hatte ihn jemand beobachtet? Etwa schon die ganze Zeit über? War das nur ein dummer Zufall? War das ein Hinweis vom Ripper persönlich? Sein Hang zur Paranoia war jedenfalls vollständig in Gang gesetzt worden!

In der Folge beschloss er aber diese Adresse aufzusuchen und sein Navi lotste ihn vor das besagte Haus. Die Beleuchtung der Namensschilder neben den Klingeln war wohl kaputt, aber auf dem Zettel war ohnehin weder ein spezielles Stockwerk noch eine Türnummer angegeben. Jedoch war nur ein einziges Fenster im ganzen Haus beleuchtet und das schien im ersten Stock zu sein. Glasberg drückte seine linke Hand gegen die Eingangstür und diese ging sofort auf, denn der Einschnapp-Mechanismus war entweder ebenfalls kaputt oder absichtlich geblockt worden. Mit der entsicherten Waffe in seiner Rechten betrat er das Treppenhaus, in dem sogar Licht brannte, was von außen nicht zu sehen gewesen war.

Zielbewusst, aber mit der angebrachten Vorsicht, ging er die wenigen Treppen hinauf bis zu der Tür, die zu der beleuchteten Wohnung gehören musste. Glasberg näherte sich ihr, versuchte angestrengt aus der Wohnung Geräusche wahrzunehmen, was aber vergebens war.

Seine Anspannung stieg, denn die Tür, auf der sich keinerlei Türschild befand, schien nur angelehnt zu sein, nicht verschlossen, und nachdem er innerlich bis drei gezählt hatte, öffnete er sie mit einem entschlossenen Stoß der linken Hand.

Sofort wurde das Szenario offenbart, das er insgeheim ohnehin erwartet und befürchtet hatte: Eine tote Frau, oder besser: was von ihr übrig war, lag auf einem Bett!

Man sah Blut und Eingeweide, vielleicht auch herausgeschnittene Organe; der Ripper hatte also seinen letzten Mord tatsächlich so pervers übersteigert, gleichsam übertrieben, wie sein mysteriöses Vorbild es im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts getan hatte, und natürlich er selbst schon einmal - vor Jahren in Brooklyn.

„Verdammt“, flüsterte Glasberg und betrat dann die Wohnung.

Doch als er diesem Bett des Grauens näher kam und sich ihm der ganze Raum offenbarte, traute er seinen Augen nicht.

Denn eine Gestalt saß auf dem Boden und war gleichzeitig an die Wand gelehnt, mit leicht gesenktem Kopf und Kapuzenjacke. Glasberg erkannte sofort, dass es sich nur um den Ripper selbst handeln konnte, nur um die Person, der er vor einigen Nächten persönlich begegnet war.

Jedoch: Der Ripper, ein Mann vielleicht um die Mitte dreißig, das konnte man jetzt durch die nicht übergestülpte Kapuze leicht einschätzen, war ebenfalls tot! Er hatte offenbar Schusswunden in jedem Knie, zahlreiche Stichverletzungen am Körper und die Kehle war ihm letztendlich auch durchschnitten worden. Das fast schon bizarr lange Messer des Rippers, dessen Klinge mit Blut bedeckt war, lag in einiger Entfernung vor ihm auf dem Boden.

Jemand hatte ihn wohl nach dem Mord ganz offensichtlich mit gekonnt gezielten Schüssen bewegungsunfähig gemacht, bevor dieser Jemand dann mit dem Messer ebenso versiert zur Tat geschritten war, und, man konnte es drehen und wenden wie man wollte, das Treiben dieses psychopathischen Killers beendet hatte.

Plötzlich fielen Glasberg aber die seltsamen Details auf, die das Szenario gleichsam abrundeten und dem Ganzen noch eine weitere rätselhafte Note verliehen.

Schenkmetzger

Schenkmetzger landete nach seinem Sprung auf der kleinen Fläche neben der Fahrertür des Jeeps, den er soeben verfolgt hatte. Der Fahrer trat noch stärker aufs Gaspedal und griff zu seiner Uzi, mit der er seinen lästigen Verfolger förmlich durchsiebt hätte. Doch Schenkmetzger kam dem zuvor und feuerte fünf Schüsse durchs Seitenfenster auf den Fahrer, der seine Uzi sogar noch abfeuern konnte, was aber eher einen Reflex darstellte, denn sämtliche Schüsse gingen ins Leere, durchs Autodach nach oben, gleichsam in die Luft. Dennoch hatte Schenkmetzger Glück, entging dem fast sicheren Tod, sprang vom fahrenden Auto, rollte sich bei der Landung auf dem staubigen Boden gekonnt ab und sah zu, wie der Jeep samt totem Fahrer gegen einen größeren Stein am Straßenrand fuhr, was das Auto gleichsam zum Abheben brachte, zum Überschlagen, und in der Folge endlich zum Stillstand.

Schenkmetzger sah sich um und vielleicht zweihundert Meter hinter ihm war der zweite Wagen, den sein Team, bestehend aus zwei einheimischen Agenten aus Sierra Leone, ebenfalls gestoppt hatte. Die beiden Helfer zogen die Leichen von Fahrer und Beifahrer gerade aus dem Auto. Dann winkten sie ihm zu und Schenkmetzger gab ihnen ebenfalls ein Zeichen zurück, dass alles in Ordnung war.

Er näherte sich dem Auto, das praktischerweise auf dem Dach gelandet war, so ersparte sich Schenkmetzger wenigstens eine Kletterpartie und konnte den robusten Metallkoffer, um den es ihm ging, leicht durch die kaputten Scheiben erreichen. Als er ihn in Händen hielt, sah er auch das elektronische Schloss des Koffers, das nur durch eine Kombination zu öffnen war, die bloß ein Mann kannte, nämlich der, für den der Koffer bestimmt war: Charles Danner. Dieser Verbrecher hielt sich an der Grenze zu Liberia versteckt, ging dort seinen mehr als lukrativen Diamantengeschäften nach, aber vor allem auch, so hörte man zumindest, seinen Perversionen und seinem Hang zur Grausamkeit. Von Folterungen, sexueller Sklaverei und der gleichsam rituellen Ermordung von Feinden war zumindest die Rede.

Schenkmetzger, der diese unangenehme und fast schon mythische Figur aufsuchen sollte, hatte mit dem Koffer jetzt etwas in seinem Besitz, das ihm ein Treffen mit Danner ermöglichte. Dieser war also gleichsam ein Schlüssel zum Vorhof der Hölle.

Schenkmetzger näherte sich Danners Territorium mit einem Helikopter; der Pilot äußerte immer wieder recht sachlich seine Bedenken abgeschossen zu werden, ohne dabei jedoch wirklich ängstlich zu wirken, denn schließlich war das Ganze Arbeit, gleichsam Teil einer Art Mission, deren Ziel es war einen weiteren lokalen Wahnsinnigen zu stoppen.

24 Stunden waren vergangen, seitdem Schenkmetzger, der aus der Höhe die karge Landschaft beobachtete, im Besitz des Koffers war. Danner musste schon längst nach diesem suchen, denn die Wägen samt der Leichen des toten Zustelltrupps hatte man unverändert an ihrem Platz gelassen, und es hatte sicher nicht lange gedauert, bis einige von Danners Männern vor Ort waren, als die vereinbarte Lieferung ausblieb.

„Richard, setz mich hier ab!“, sagte er zu seinem Piloten.

„Ganz sicher?“

„Den Rest gehe ich zu Fuß. Ich werde nicht lange allein sein…Ich melde mich bei euch.“

Sie landeten, Schenkmetzger verließ den Helikopter, welcher sofort den Rückflug antrat, es schien fast so, als wäre das Fluggerät erleichtert diesen Ort verlassen zu können.

Als Schenkmetzger keine fünf Minuten zu Fuß unterwegs war, kam ein Wagen auf ihn zu. Das Risiko sofort erschossen zu werden war groß, denn der Bluff mit dem Koffer, dessen scheinbar großzügige Rückgabe mit dem Angebot an Danner zukünftig miteinander ins Geschäft zu kommen verbunden werden sollte, konnte ganz jämmerlich scheitern. Vielleicht würde sein Leben auch schon in wenigen Momenten vorbei sein, dachte Schenkmetzger, und er nur eine weitere Leiche am Straßenrand irgendwo in Sierra Leone. Auch wenn er den Koffer bei sich trug, de facto hatte er natürlich nicht wirklich etwas in seinen Händen, was sein Überleben, vorerst, garantierte; er musste darauf hoffen, Danners Neugierde und Interesse irgendwie wecken zu können, die Geschichte hinter dem Raub des Koffers zu erfahren.

Letztendlich, in allerletzter Konsequenz, konnte Schenkmetzger nur darauf setzen, dass Danner, und in diesem Punkt gab es wahrlich mehr als nur ein paar deutliche Anzeichen, ein Psychopath war, der sich, wie alle Psychopathen, schnell langweilte und für Abwechslung zu haben war, auch wenn es nur die Aussicht war einen Mann eigenhändig zu töten, der entweder ein etwas naiv, aber kühn agierender Geschäftsmann oder, das schien viel wahrscheinlicher, ein amerikanischer Agent war.

Bald schon stiegen vier Männer in undefinierbaren militärischen Uniformen aus, jeder von ihnen hatte offensichtlich Maschinengewehr, Pistole und Machete bei sich.

Wenig später saß Schenkmetzger tatsächlich in dem Wagen, umringt von „Danners Söldnern“ oder „Danners Soldaten“, wie immer man diese Männer bezeichnen wollte. Mit der Bezeichnung „Mörder“ lag man sicherlich am wenigsten daneben.

Der große Boss, der, nach ein paar wenig subtilen Drohgebärden und einigen konkret ausgesprochenen Todesdrohungen der Männer gegenüber Schenkmetzger sowie einer ausgedehnten Leibesvisitation, per Telefon informiert wurde über den seltsamen und verdächtigen Besucher mit dem Koffer, hatte also tatsächlich zugestimmt diesen zu empfangen.

Langsam näherten sie sich Danners Hauptquartier. Einige Wägen fuhren an ihnen vorbei, auf deren Ladeflächen waren ebenfalls Männer mit Schusswaffen, einige davon noch sehr jung. Jedes Klischee, das man sich über diese Region der Erde ausmalte, war hier anscheinend Wirklichkeit, aber Schenkmetzger kannte Afrika ohnehin schon für längere Zeit recht gut.

Irgendwann war es dann soweit und Schenkmetzger konnte die aufgelassene Mine sehen, dessen verzweigtes und labyrinthartiges Höhlensystem Danner im Notfall als Rückzug dienen würde. Aber mit Sicherheit existierte auch eine ganze Reihe von geheimen Hinterausgängen ins Freie.

Der ankommende Wagen wurde von den herumstehenden Männern, deren harter Gesichtsausdruck wohl der Tribut war an die von ihnen begangenen Grausamkeiten, kritisch beäugt.

Aber dann richtete sich sämtliche Aufmerksamkeit auf ein ganz anderes Geschehen, das sich vor dem offensichtlichen Haupteingang zur Mine abspielte. Im nun stehen gebliebenen Wagen wurde Schenkmetzger Zeuge, wie ein Mann, der nur von hinten zu sehen war, einem anderen Mann, neben den ein dritter Mann mit einer Pistole stand, die Hand schüttelte und ihm anschließend sozusagen tröstend auf die Schulter klopfte, was diesen kurz mit einem hoffnungsvolleren Ausdruck erfüllte. Dann ging der Händeschüttler aber, ohne dass Schenkmetzger dessen Gesicht sehen konnte, trotzdem vermutete er, dass es Danner selbst war, umgeben von einigen Gefolgsleuten wieder zurück in die Mine, während dem Mann, in dem kurz Hoffnung aufgekeimt war, von dem Dritten im Bunde seitlich in den Kopf geschossen wurde.

Nachdem das Schauspiel nun offensichtlich vorbei war, und der tote Mann von zwei Helfern weggetragen und entfernt wurde, sagte jetzt einer der Männer im Wagen zu Schenkmetzger: „Los, aussteigen! Er wird dich jetzt sehen wollen!“

Schenkmetzger wurde, nachdem der Koffer, anscheinend von einem für solche Dinge zuständigen Spezialisten aus Danners Reihen, auf irgendwelche verdächtigen Details hin zumindest noch einmal äußerlich untersucht worden war, weiterhin flankiert von den vier Männern, in das Labyrinth der Mine geführt. Er versuchte sich sämtliche Abzweigungen, die sie nahmen, genau zu merken. Überall in der Mine standen irgendwelche bewaffneten Wächter herum, wahrscheinlich sozusagen Danners unmittelbare Leibgarde.

Ein düsterer, groß gewachsener und nicht zuletzt dadurch zusätzlich bedrohlich wirkender Mann erwartete die Gruppe mit Schenkmetzger bereits, wobei der „Eindringling mit dem Koffer“ an deren Körpersprache deutlich ablesen konnte, dass die ihn umgebenden Männer offensichtlich einen gewaltigen Respekt vor diesem einzelnen, ebenfalls farbigen, Mann hatten. Und tatsächlich trug seine Erscheinung entsprechend dazu bei, die ohnehin vorherrschende Horroratmosphäre in dem Labyrinth noch zu verstärken; diese Gestalt wirkte in der Tat wie ein letzter grausamer Wächter vor den Eingangstoren zu der kranken, brutalen, perversen Welt eines geschäftstüchtigen Psychopathen.

Sofort hatte Schenkmetzger, was aber eher wie eine spontane Laune wirkte, das Messer dieser „Gruselfigur“ an der Kehle, verbunden mit einem an die vier Begleiter ausgegebenen Befehl sofort zu verschwinden.

Einige Gänge und Abzweigungen später, Schenkmetzgers neuer Begleiter sprach kein Wort mit ihm, hatte aber sein Imponiergehabe abgelegt, das Messer längst von Schenkmetzgers Kehle entfernt und den Koffer an sich genommen, kamen die beiden vor den offensichtlich entscheidenden Eingang, hinter dem sich entweder Danners private Räumlichkeiten oder eben eine sicherlich nicht minder interessante Art von Büroräumen befanden. Der groß gewachsene Begleiter sah ihn noch einmal streng an, als hätte er ihn doch lieber getötet als hierher zu bringen, dann zog er den blickdichten Vorhang, der den Durchgang zum Raum dekorierte, beiseite.

Schenkmetzgers Bewacher fiel, samt Koffer, blitzschnell zu Boden, denn unmittelbar nach dem Wegziehen des Vorhangs hatte ihn eine Kugel mitten in die Stirn getroffen.

Schenkmetzger ging in Deckung, verschwand aus dem unmittelbaren Schussfeld und lehnte sich an die Steinmauer neben dem Durchgang. Der Schuss musste mit einem Schalldämpfer abgegeben worden sein, denn er war viel zu leise, als dass er Danners Schergen alarmiert hätte. War Danner seinem Ruf gerecht geworden und hatte er aus einer puren Laune heraus auch diesen Mann getötet? Wirklichen Sinn ergab das jedoch keinen!

Da gut dreißig Sekunden nichts weiter passierte und im Raum offensichtlich völlig Stille herrschte, wagte Schenkmetzger letztendlich einen vorsichtigen Blick in diesen. Im Zentrum des Raumes, aus dem wiederum ein weiterer Gang nach hinten rechts wegführte, befand sich eine Art Schreibtisch aus Holz, auf dem ein paar menschliche Skelett-Schädeln herumstanden. Danner wurde, wie der ganze afrikanische Kontinent selbst, anscheinend wirklich jedem noch so klischeehaftem Gerücht, das sich über ihn verbreitet hatte, irgendwie gerecht.