Die Geschichte ihres Lebens…

… erzählt von Christina, aufgeschrieben von Sabine. Es beginnt mit Tines Geburt, der Kindheit und der Jugend in der DDR. Die Flucht in den Westen als junge Erwachsene. Beruf, Träume, Wünsche, Mann, Kinder. Scheidung, neuer Mann, auf nach Mallorca. Alles soweit normal? Doch nein! Diese Geschichte eines Lebens ist mit Witz und Empathie erzählt, spannend, anrührend und immer wieder neu – so wie das Leben eben ist: Etwas ganz Besonderes....

Für meine Kinder

Auf ein Wort

Tine und Sabine

Was waren die letzten zwei Jahre für eine schöne und auch aufregende Zeit!

Als meine Freundin Sabine Thiering nämlich von meinem ständigen Gerede: „Ich müsste mal ein Buch über mein Leben schreiben – aber ich kann ja nicht schreiben...“ die Nase voll hatte, nahm sie die Sache in die Hand. Als freiberufliche Journalistin kann sie schreiben und so gewann ich sie als Ghostwriter. Ich durfte mich zu Hause hinsetzen und erzählte frei von der Leber weg, angefangen bei meiner Geburt. Sabine notierte sich die Fakten und schmückte dann alles aus. Ich lieferte sozusagen das Skelett und sie das Fleisch. Lasst es mich prosaisch sagen: Ihre Art zu schreiben ist wie ein Duft, der sich verflüchtigt und dabei die Essenz der Inspiration zurücklässt. Etwas weniger dramatisch: Sie kann zwar auch nicht übers Wasser gehen aber sie weiß, wo die Steine sind…

Jedes Kapitel, das sie schrieb, las sie mir zur Korrektur vor. Es war ein Eintauchen in mein wirklich abenteuerliches Leben. Ab und zu dachte ich mir sogar: ‚Hab ich das wirklich alles erlebt?‘ Mir liefen oft die Tränen des Lachens die Wangen hinunter aber manchmal blieben sie mir auch im Halse stecken. Ich bin glücklich, dass ich es endlich realisiert habe, auch wenn es länger dauerte, als wir planten.

Alle Personen in diesem Buch gab und gibt es wirklich. Ich habe allerdings nur die Vornamen verwendet (und diese teilweise erfunden), damit mir niemand irgendetwas vorwerfen kann. Einen Günther, eine Erika oder eine Angelika gibt es ja wohl zuhauf in diesem Lande, das kann Jeder sein. Für mich habe ich meinen Geburts-Nachnamen gewählt, damit sich niemand auf die Füße getreten fühlt und einfach nur Spaß beim Lesen hat.

Christina Steppat, August 2018

1 Eines ‚meiner‘ geliebten Babys

2 Ich bin die kleine Dicke in der Mitte

3 Jörgi und ich

4 Das Blasendederonkleid, Harald und – Blumen!

5 Schloß Wernigerode

6 Jörgi, Anke und ich

7 Mein Jörgi

Inhaltsverzeichnis

Teil I
DDR

Tine

Der 20. Juli 1951 war ein strahlend schöner Hochsommertag. Eine leuchtend gelbe Sonne goss ihr Licht vom stahlblauen Himmel und drang mit ihrer Lebensfreude in jeden Winkel. Über den vor Hitze flirrenden Wiesen lag das schläfrige Summen der Hummeln und Bienen, ab und zu durchbrochen von dem Gesang einer Amsel. Mit dem lauen Wind, der über die Felder strich, wehte das Lachen der Kinder herüber, die er auf ihrem Weg in das Freibad begleitete. Den Bauern war dieses Wetter allerdings nicht so recht, denn sie warteten schon seit längerem auf Regen, damit die Ackerfrüchte nicht verdorrten. Aber der Sommer machte noch eine lange Zeit keine Pause.

Hat man mir jedenfalls erzählt. Ich weiß das nicht mehr so genau, obwohl ich doch dabei war. Es war nämlich mein erster Geburtstag. Also, mein allerallererster Geburtstag, denn ich wurde geboren, dort in Wernigerode im Harz in der damaligen Deutschen Demokratischen Republik. Eigentlich heiße ich Christina. Der Bequemlichkeit halber wurde für alle ‚Tine‘ daraus. Tine, das war ich in meiner Kindheit und Jugend. Mit diversen Beinamen – doch dazu kommen wir später. Ich bin mir sicher, dass dieser strahlende Sommertag, mein allererster Tag auf dieser Erde, mein Lebensmotto geworden ist: Die Sonne scheint. Immer wieder – und wenn es noch so sehr geregnet hat. Mein Leben sollte nämlich nicht so prosaisch beginnen wie dieses Buch. Mein Leben begann mit einer Enttäuschung, jedenfalls für meinen Vater. Ich kam als Mädchen auf die Welt, was mir besonders gut gefiel, meinem Vater aber gar nicht recht war. Er hatte schon eine Tochter, meine drei Jahre ältere Schwester Angelika. Nun sollte es also ein Junge werden. Da ich allerdings schon immer sehr genau wusste was ich wollte, hielt ich mich nicht daran. Dass mein Vater aus Groll auf mein Geschlecht meine Mutter nicht im Wochenbett in der Klinik besuchen kam, erfuhr ich auch erst später. Er ließ mich immer spüren, dass er mir Zeit seines Lebens übel nahm, als Mädchen auf die Welt gekommen zu sein. Das merkte ich unter anderem daran, dass ich – sobald ich groß genug war – die Arbeiten eines Jungen übernehmen musste. Welches Mädchen kann schon von sich sagen, dass seine ersten Kindheitserinnerungen darin bestanden, zu tapezieren? In späteren Jahren kam auch Möbel schleppen und – man glaubt es kaum – Steine klopfen dazu. Jetzt weiß ich wenigstens, woher ich meine Muskeln bekommen habe.

Was mir in dieser ‚Jungenwelt‘ aber niemand nehmen konnte, schon damals nicht, war meine Fantasie. Oft genug dachte ich mir, dass diese Einbildungskraft mich gerettet hat, durch viele schwere Zeiten hindurch. Ich konnte mich immer wieder in meine eigenen kleinen Fantasiewelten hineinflüchten. Angefangen hat es zuerst mit unserem Haus. Wir wohnten im Mühlental am Zilliabach in einer alten Schokoladenfabrik. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Wir wohnten in einer Schokoladenfabrik! Da läuft einem ja schon beim Zuhören das Wasser im Mund zusammen. Ich malte mir in meinem Kopf die tollsten Bilder aus: Wie ich, mit Spinnweben im Haar, einer rußschwarzen Nase und vom Krabbeln und Suchen auf dem rauen Boden aufgeschürften Knien, stolz einen riesengroßen Schokoladenhasen in die Höhe reckte, den ich ganz allein gefunden hatte und natürlich auch ganz allein aufessen durfte. Mir klopfte das Herz bis zum Hals, jedes Mal, wenn ich mich in den Keller hinunterstehlen konnte, wo ich die versteckte Schokolade vermutete, so wie einen Piratenschatz. Zwischen ausrangiertem Gerümpel, modrig riechenden Kartoffelsäcken und Einmachgläsern mit Obst und Gemüse, machte ich mich auf meine ganz eigenen Expeditionen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich nach einer erfolglosen Suche immer wieder enttäuscht aus dem Keller hochstieg, was mich allerdings nicht davon abhielt, es die Tage darauf noch einmal zu versuchen. Wie sich der geneigte Leser sicher denken kann, habe ich niemals Schokolade gefunden. Dafür Mäuse und Ratten. Die hatten anscheinend auch von dem Gerücht gehört, dass es hier noch irgendwo Schokolade zu finden gäbe. So tummelten sie sich mit mir zusammen im Keller, die Mäuse allerdings auch im Zimmer neben meinem Bett. Wenn ich an solchen Abenden schlafen gehen musste, lag ich noch lange wach und dachte mir, um mich zu beruhigen: ‚Ich werde sie finden: Meine Schokolade. Und wenn es mein ganzes Leben lang dauern sollte.‘ Aber es nützte nichts. Ängstlich betrachtete ich die Schatten, die an der Wand spielten und in wunderlichen Mustern zusammenflossen und die Mäuse, die in den Gardinen schaukelten, machten mir so eine Angst, dass es ewig dauerte, bis ich einschlief.

Angelika

Meine Schwester. Das wird ein schwieriges Kapitel. Über sie werde ich auch etwas erzählen, obwohl unser Verhältnis nicht besonders gut war. Welches Geschwisterpaar kennt das nicht? Eine gibt, eine nimmt. Eine teilt aus, eine muss einstecken. Nun raten Sie mal, welche ich war… Es fing damit an, dass ich als Jüngere immer die Kleider von ihr auftragen musste. Ich hatte schon damals ein sicheres Gespür für Farben, Formen und Mode, obwohl ich erst acht war. Es ging mir deswegen zutiefst gegen den Strich, Sachen auftragen zu müssen, die allem zuwiderliefen, das ich als schön empfand. Aber darauf wurde natürlich keine Rücksicht genommen. Nicht nur, weil es nichts anderes gab, sondern auch, weil das ‚schon immer so‘ gemacht wurde und kein Geld da war. Ich war empört! Fast noch schlimmer war allerdings, dass ich als Sündenbock herhalten musste, da ich ja der Junge sein sollte, der ich nicht war. Zwickte sie mich und ich schrie, bekam ich die Prügel, weil ich schrie. Zwickte ich sie und sie schrie, bekam ich die Prügel, weil ich sie gezwickt hatte. Manchmal schrie sie auch einfach nur so, damit ich Prügel bekam. Angelika freute sich diebisch und über kurz oder lang hatte ich die Nase voll von ihr und spielte für mich, in meiner Fantasiewelt.

Eine Sache fällt mir noch ein, als wir schon ein bisschen älter waren, die dieses Kapitel ein bisschen versöhnlicher erscheinen lässt: Angelika konnte sich immer besser ausdrücken und schreiben als ich. So hat sie dann für mich die Aufsätze für die Schule verfasst, was ich ihr hoch anrechnete. Leider hatten wir denselben Lehrer und er erkannte ihren Stil. Das gab Ärger! Aber es zählt ja der gute Wille. Trotzdem war der Tag, an dem ich mit zehn Jahren vorübergehend zum Einzelkind wurde, ein Freudentag für mich: Angelika ging in ein Sportinternat nach Magdeburg. Anscheinend waren meine Eltern der Meinung, dass bei ihrem angeborenen Talent drei Kniebeugen reichen würden, bei den nächsten olympischen Spielen mindestens zwei Goldmedaillen zu holen. Mir war das egal, Hauptsache ich hatte meine Ruhe. Nur am Wochenende kam sie wieder nach Hause in unser lautes Heim. Das lag daran, dass das Verhältnis meiner Eltern zueinander schon des Längeren gestört war. Wenn ich abends im Bett lag, konnte ich sie im Nebenzimmer streiten hören, denn Lauschen ist für eine Zehnjährige ein Instinkt. Worum es ging, bekam ich allerdings nicht mit, anscheinend irgendwelches Erwachsenen-Zeug. Es wurde oft immer heftiger, Beschimpfungen flogen wie Messer durch die Wohnung, ich hatte auch schon miterlebt, dass sie sich gegenseitig bespuckten. Das fand ich besonders eklig, manchmal wurde es noch schlimmer und sie schlugen sich sogar. Angelika meinte dann, man müsste doch mal einschreiten und irgendetwas dagegen tun. Ich wusste aber, dass sie sich bis jetzt immer wieder vertragen hatten und sagte nur: „Die hören schon wieder auf.“ Meine Schwester war empört und warf mir vor, dass ich kalt sei. Tja, ich war aber inzwischen gewöhnt an den Scheiß, wenn ich das mal so sagen darf.

Oma Hete

Heute bin ich mir sicher, dass ich meine deprimierende Kindheit nicht so einfach überstanden hätte, wenn da nicht Oma Hete gewesen wäre. Die Mutter meiner Mutter lebte mit uns im gleichen Haus, nur im hinteren Gebäudeteil. Gab es mal wieder Ärger oder ich bin übers Knie gelegt worden, wusste ich: Wenn ich jetzt zu meiner Oma gehe, wird sie mich trösten. Außerdem kann mir dort nichts passieren. Sie war meine Verbündete im Krieg meiner Eltern, mein sicherer Hafen. Noch während mir die Tränen übers Gesicht liefen und die Wangen von den Ohrfeigen meiner Mutter brannten, hüpfte ich unter Wolken, die wie schwere Träume zogen, barfuß durch das taunasse Gras zu der Wohnung meiner Oma. Sie nahm mich auf ihren Schoß und erzählte mir Geschichten aus ihrer Kindheit, in die ich jedes Mal wunderbar eintauchen konnte. Wir erinnern uns: Meine Fantasie! Ich lehnte meinen Kopf an ihren gewaltigen Busen, hörte auf zu schluchzen und wusste: Hier bin ich geborgen und die böse Welt muss draußen bleiben.

Einige ihrer besonders schönen Hilfsaktionen sind mir natürlich im Gedächtnis geblieben, diese hier zum Beispiel: Die Weihnachtsgeschenke für uns Kinder hatten unsere Eltern immer bei meiner Oma gebunkert, damit wir sie nicht zuhause fanden. Ja – zuhause fand ich sie nicht, aber bei meiner Oma… Und diese ließ mich immer schon vor Weihnachten mit ihnen spielen. Außerdem nicht nur mit meinen, sondern auch mit denen von Angelika! Wie freute ich mich, diese dummen Erwachsenen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Natürlich mussten die Sachen am Ende eines Tages wieder in ihr Versteck oder aber, wenn meine Mutter im Anmarsch war. Oma rief dann immer: „Schnell schnell, Mutti kommt!“ und zackig verschwanden die Geschenke wieder. Wir beide taten ganz unschuldig, blinzelten uns aber heimlich zu. An Weihnachten musste ich dann immer richtig überrascht tun, als hätte ich sie noch nie gesehen - aber das schaffte ich mit links. Das kann ich heute noch…

Oder auch das hier werde ich nie vergessen: Unsere wunderbare Schokoladenfabrik hatte keine innenliegende Toilette. Wie auch, sie sollte ja Schokolade produzieren und war kein Grandhotel. Wir hatten ein Plumpsklo. Meistens wenn ich bei Oma war, bereitete ich für die ganze Familie Toilettenpapier vor und das ging so: Die einzelnen Blätter der alten Tageszeitungen schnitt ich in handliche Vierecke, durchstach sie mit einer Nadel und fädelte diese auf einer Schnur auf. Dann musste man sie nur noch abreißen und konnte sich schön den Hintern damit abwischen. Es störte keinen, dass man durch die Druckerschwärze teilweise einen schwarzen Po bekam. Doch das nur am Rande. Unser Plumpsklo lag etwas außerhalb am Waldrand und hatte kein Licht. Tagsüber und im Sommer war das überhaupt kein Problem, denn es brauchte schon viel, damit mir bange wurde. Das schaffte dann der Winter in Verbindung mit der Nacht. Ich versuchte immer, mir des Nachts wirklich alles zu verkneifen, wenn es aber gar nicht mehr ging, musste ich doch den Weg in die Dunkelheit wagen. Um mir wenigstens die ungefähre Richtung zu zeigen, machte meine Mutter in ihrem Zimmer Licht, damit ich mich nicht im Wald verlief. So wie Gretel – nur ohne Hänsel. Wenn ich kurz vor dem Verlassen des Lichtkegels ihrer Lampe und dem ersten Schritt in die Düsternis des restlichen Weges zögerte, schimpfte sie vom Fenster herunter: „Gehst du jetzt! Los!“ Jedes Mal, wenn Oma das mitbekam, machte sie auch bei sich das Licht an, so dass ich in einer leuchtenden Spur das Häuschen erreichen konnte. Auch weiß ich noch, dass sie im Winter immer einen Eimer mit warmem Wasser neben die Schüssel stellte und einen warmen Feudel auf die Brille legte. Hätte sie das nicht getan, wäre ich wahrscheinlich auf dem Klo festgefroren und erst im Frühling bei der Schneeschmelze wieder aufgetaut.

Mutter

Während meiner Kindheit und Jugend hatte ich sie nur streitsüchtig und unausgeglichen in Erinnerung und dass sie mein Vertrauen immer missbrauchte. In meinem frühen Erwachsenenleben wollte ich nichts mit ihr zu tun haben und am besten erst gar nicht an sie denken. Heute weiß ich, dass sie eine zutiefst unglückliche Frau war, die sich unverstanden fühlte und die es nicht fertigbrachte, die Träume ihres Lebens zu leben. Ich bildete mir natürlich ein, sie hätte sich ihren Part selbst ausgesucht. Damals dachte ich nämlich noch, Erwachsene würden nur das tun, was sie wirklich wollten. Das entschuldigt aber in keinster Weise, dass sie ihren Frust mit Gewalt an mir, ihrer kleinen Tochter ausließ, die dafür am allerwenigsten konnte. Es kam mir vor, als lebten meine Mutter und ich in zwei Universen, die nichts miteinander zu tun hatten. Ich verstand meine Mutter genauso wenig wie sie mich, aber das ist auch nicht die Aufgabe eines Kindes. Die Aufgabe eines Kindes ist es, erwachsen zu werden und viel fürs Leben zu lernen. Die Aufgabe einer Mutter ist es, ihrem Kind dabei zu helfen. Tja, wäre es gewesen… Was ich von ihr zu hören bekam: „Du bist frech und willensstark.“ Wobei ‚willensstark‘ kein Kompliment sein sollte sondern ‚dickköpfig‘ hieß. Dabei wollte ich doch damals schon nur alles schön machen. Nachher hab ich da noch ein paar feine Beispiele. Zuerst kommen wir mal zu dem ‚dickköpfig‘. Ich liebte die Badeanstalt. Was gab es schöneres im Sommer, als mit nackten Füßen übers Gras zu rennen, sich ins Wasser zu werfen und am Rand mit Spielzeug zu spielen, bis meine ganz persönliche, apfelsinengelbe Sonne am Abend in den Baumwipfeln versank? Natürlich wollte meine Mutter nicht so oft in die Badeanstalt wie ich. Angelika durfte schon alleine hingehen, nahm mich allerdings nie mit, ich musste also mit dem Fahrrad meiner Mutter gefahren werden. Schnell hatte ich dann auch herausgefunden, dass meine Ausdauer im Plärren länger war als die meiner Mutter, ‚Nein‘ zu sagen. Schließlich setzte sie mich dann auf den Gepäckträger und fuhr mich in die Badeanstalt. Während der Fahrtwind meine Tränen trocknete, fand ich das Leben schon wieder wunderschön.

In dem Kapitel über Angelika hatte ich ja schon angedeutet, dass mein Gespür für Farben und Formen bereits damals untrüglich war. Alles Schöne und Edle sog ich in mich auf und machte mich sofort daran, es umzusetzen. Zum Beispiel so: Eine Freundin von mir wohnte in einer Villa. Hochherrschaftlich und wunderschön. Wie gern ging ich dort hin, um mich inspirieren zu lassen. Am meisten beeindruckten mich da die Gardinen. Heutzutage würde man sagen: ‚Phh – Gardinen, die kann man doch überall kaufen.‘ Für mich allerdings waren sie ein Traum: Üppige Volants geschwungen wie ein Schwan, rechts und links an den Seiten gerafft wie die Zöpfe eines zauberhaften Mädchens – so rahmten sie strahlend das große Fenster im Wohnzimmer ein. Das wollte ich auch für mich und meine Familie! Also griff ich nach der Schere und verpasste unseren Gardinen zuhause einen Fashion-Schnitt, damit sie nicht mehr wie traurige Bindfäden von der Decke baumelten. Ich nahm zwei Bänder, teilte die Gardinen in der Mitte, band jeweils eine Schleife darum und nagelte sie links und rechts neben dem Fenster an die Wand. Dann trat ich zwei Schritte zurück, betrachtete mein Werk und war stolz wie Oskar. An die Prügel, die ich daraufhin von meiner Mutter bezog, erinnere ich mich heute noch lebhaft. Ich verstand die Welt nicht mehr! Ich wollte es doch allen nur schön machen! Ein weiteres Zeichen meiner gerade noch gebändigten Träume war zum Beispiel das Damasttischdecken-Desaster. Diese Tischdecken gehörten meiner Mutter, die wurden aber nur ‚für gut‘ genommen. Wenn also eine Hochzeit anstand oder jemand gestorben war, dann kamen die Decken auf den Tisch – und sonst nicht. Eines Tages wollte ich meine Eltern überraschen. War es ein besonderer Anlass? Ich glaube nicht, ich wollte ihnen nur eine Freude bereiten. Also ging ich an die Kommode meiner Mutter und zog die knarzende Schublade mit den Decken auf, von denen mir ein frischer Wäscheduft in die Nase stieg. Dann deckte ich den Tisch mit diesen schneeweißen, gestärkten, zart duftenden Damasttischdecken. Ich trug die Teller auf, bereitete Häppchen zu und dekorierte die ganze wunderschöne Tafel noch mit selbstgepflückten Stiefmütterchen. So was Schönes aber auch! Zum Dank dafür gab es Beifall von meiner Mutter. Aber der klatschte nicht in ihre Hände sondern auf meinen Po. Wie konnte ich es wagen, ihre geheiligten Damasttischdecken anzufassen!? Inzwischen wurde ich aber immer abgehärteter. Dass ich geschlagen wurde, gehörte zu meinem Leben wie die Jahreszeiten und war so unabänderlich wie die Tatsache, dass morgens immer die Sonne aufging. Das war nur eine sehr viel schönere Tatsache. Irgendwann sagte ich: „Ist mir doch egal. Schlagt mich doch tot!“ Fast hätte meine Mutter es auch geschafft, als sie mich einmal mit ihrem Hausschuh verprügelte. Dieser Schuh hatte einen Absatz aus Holz und mit dem traf sie mich genau aufs Schienbein. Diesen, mich wie ein Blitz durchzuckenden Schmerz, spüre ich heute noch. Damals allerdings wurde ich ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Boden und sah fünf Gesichter, die sich sorgenvoll über mich beugten. Danach haben sie mich besser behandelt, also: etwas besser, der Schreck ist ihnen doch wohl in die Glieder gefahren. Nur: So viel besser haben sie mich doch nicht behandelt, dass ich nicht den Topf versteckt hätte, in dem mir der Pudding angebrannt war.

Vater

Auch er bekommt ein Kapitel – wenn auch nur ein kurzes. Wenn er enttäuscht sein durfte, dass ich kein Junge wurde, dann durfte ich ja wohl zumindest enttäuscht darüber sein, wie dumm er sich verhalten hat, obwohl man von einem erwachsenen, relativ gebildeten Mann eigentlich mehr Intelligenz hätte erwarten können. Wollen wir zuerst über die wenigen guten Seiten reden, denn – doch ja, auch diese gab es. Als Beispiel: Rechtzeitig zu den Sommerferien hatte er es irgendwie geschafft, ein Motorrad mit Beiwagen zu kaufen. Darin wurde dann die ganze Familie mit Sack und Pack verstaut und wir fuhren an die Ostsee nach Dierhagen. Dort hatte er einen Schuppen organisiert, in dem im Winter die Standkörbe standen, im Sommer war er bis auf einen Tisch und zwei Stühle leer. Das war dann unsere Ferienwohnung – natürlich ohne Licht und ohne Toilette, aber das kannten wir ja schon von zuhause. Nur hier, in der ungewohnten Umgebung ging keines von uns Mädchen nach draußen, wenn es nachts mal musste. Da waren die Ecken des Schuppens gut genug, was nicht weiter auffiel, da es nur festgestampfter Boden war, da sickerte alles schnell ein.

Wenn mein Vater ab und zu mal wollte, konnte er sich auch richtig mit uns beschäftigen. Wir Mädchen turnten zum Beispiel mit ihm zusammen am Strand. Kopfstand, Radschlagen, Purzelbaum, mein Vater konnte sogar richtig auf den Händen laufen. Manchmal nahm er mich unter den Achseln und warf mich in die Luft, bis ich jauchzte. Wenn ich dann am höchsten Punkt meiner Flugbahn den Kopf in den Nacken legte und in den weiten Himmel über mir schaute, der mit zu wattigen Tupfern erstarrten Wolken gesprenkelt war, konnte ich fliegen. Ich war ein Vogel, Wind brauste in meinen Ohren, die Haare wehten mir ins Gesicht, in meiner Fantasie waren es aber die Flügel. Natürlich war ich genauso schnell wieder unten angelangt, im wahrsten Sinne des Wortes: ‚Auf dem Boden der Tatsachen‘. Doch das machte mir nichts. Ich brauchte nur die Augen wieder zu schließen und schon konnte ich diesen winzigen Augenblick der grenzenlosen Freiheit erneut auskosten. Das waren aber ganz seltene Momente – die ich umso mehr genoss. Genauso wie ein herrliches, festes Ritual von ihm: Gab es Geld, brachte er uns Mädchen eine Tafel Schokolade mit und meiner Mutter eine Schachtel Pralinen. An mehr Schönes kann ich mich aber beim besten Willen nicht erinnern.

Von Beruf war er Bergbauingenieur und betreute die Maschinen auf einer Baustelle unter Tage. Als ich sieben war, nahm er mich zum ersten Mal mit zur Arbeit und ich überlegte, ob ich ihm nicht eine Brille kaufen sollte, damit er sah, dass ich ein Mädchen war. Diese Überlegungen wurden immer ernster, als ich nach dem Besuch des Bergwerkes zuhause gleich Kohlen oder Kartoffeln schleppen musste. Denn die wurden vom Händler einfach vor der Tür abgekippt und für das eimerweise Tragen in den Keller war die jeweilige Familie verantwortlich. Alle hatten mich für diese Aufgabe bestimmt, was ich auch hinnahm, denn ich war mir schon immer sicher, dass ich ein Stiefkind war. In dem Märchen von Aschenputtel hatte ich nämlich gelesen, dass Stiefkinder schlecht behandelt wurden und immer alle Arbeiten verrichten mussten. War ich vielleicht auch ein Aschenputtel? Nur – wo war dann der Prinz? Ja, ich wusste – irgendwann kommt er und holt mich hier raus…

Meine Tiere und Freundinnen

Einen großen, herrlichen Freiraum ließen mir meine Eltern allerdings: Andere Kinder mussten hart dafür kämpfen, ich hatte immer Tiere. Diese Freunde begleiteten mich durch meine ganze Kindheit. Meine Tierwelt bestand aus weißen Mäusen, Hamstern und Meerschweinchen und ging über Wellensittiche bis zu Katzen. Hier kommen wir zu meinem ersten Beinamen: ‚Tine Katzenschreck‘. Und das kam so: Solange ich denken konnte, wollte ich immer nur Babys haben. Da keine greifbar waren, mussten die Katzen dran glauben. Die erfahrenen von ihnen verschwanden im Bruchteil einer Sekunde unter dem Sofa, sobald ich auftauchte. Aber alles, was nicht bei drei auf den Bäumen war, wurde von mir verhaftet. Sie bekamen ein herzallerliebstes Babyjäckchen angezogen, ein Mützchen aufgesetzt (damit sie sich nicht erkälteten) und wurden dann im Kinderwagen festgeschnallt, damit sie nicht herausfielen, wenn ich stolz mit ihnen über den Hof schob. Man kann daran sehen, was ich schon als Achtjährige für eine Durchsetzungskraft hatte, da ich diverse Katzen dazu bewegen konnte, bei dieser Sache mitzumachen. Meine Welt – meine Babys! Erst als in unserem Haus ein echtes Baby geboren wurde, um das ich mich kümmern konnte, trauten sich unsere Katzen wieder unter dem Sofa hervor. Trotzdem verstanden wir uns prima. Zum Spielen hatte ich auch zwei Freundinnen, Gisela und Ursel, beide etwas älter als ich. Diese nette Hofgemeinschaft funktionierte ganz einfach: Die Türen zu den jeweiligen Wohnungen waren nie verschlossen. Kam eine nach dem Mittagessen als erste auf den Hof, ging sie zu einem anderen Mädchen und holte sie ab. Danach trabten die Beiden zur Dritten und schon konnte unsere Nachmittagssause beginnen. Bei gutem Wetter waren wir immer draußen, die Pflastersteine fühlten sich unter den nackten Füßen so warm und behaglich an. Das war wie Sommer im ganzen Körper. Ich hatte oft das Gefühl, dass sich die beiden mir deshalb so gerne anschlossen, da mir mit meiner überbordenden Fantasie immer neue, aufregende Spiele einfielen. So mussten sie niemals selber nachdenken und es wurde für sie außerdem auch nie langweilig. Gerne denke ich an diese Sommer zurück, denn durfte ich spielen und meine Fantasie ausleben, war die Welt der Erwachsenen ganz weit weg und ich in meinem Himmelreich.

Erziehung

Einen Großteil meiner Erziehung haben Mutter und Tochter Heinemann übernommen, obwohl sie es wahrscheinlich gar nicht wussten. Immer wenn ich aus der Schule kam war niemand zuhause, da alle Erwachsenen arbeiteten. Aber das Kind (also ich) musste ja was zu essen haben. Nebenan war ein ‚Fremden-Heim‘, das von besagten Heinemännern geleitet wurde. Mir war es gar nicht so wichtig, was es zu essen gab, ich freute mich so sehr auf das ganze Ambiente. Aufgeregt lief ich hinüber, von der alten Gartenpforte begleiteten mich die abgetretenen Sandsteinplatten bis zum Eingang. Dann hieß es zuerst einmal: Hände waschen und Haare kämmen. Für die wichtigste Mahlzeit des Tages hatte man gut auszusehen und sauber zu sein. Dann musste ich mich still an den Tisch setzen, der selbstverständlich mit einem Tischtuch und hübschen Tellern gedeckt war, Messer und Gabel lagen auf einer richtigen, echten Stoffserviette. Damit ich die Ellenbogen nicht auf den Tisch lümmelte, musste ich mit meinen Armen rechts und links jeweils einen Teller an den Körper pressen. Der durfte natürlich nicht herunterfallen. Was als mittelalterlich anmutende Erziehungsmaßnahme gelten sollte, machte mir richtig Spaß. Ich saß wie eine elegante Dame an einem schön gedeckten Tisch und hütete mich wie der Teufel davor, zu kleckern. Natürlich fiel mir auch niemals ein Teller herunter. Hier lernte ich richtig gute Tischmanieren, ein Hoch auf die Frauen Heinemann!

Es gab aber auch Tage, an denen ich nicht dorthin zum Essen gehen konnte. Da ich aber noch zu klein war, um alleine zuhause sein zu dürfen (dachten die Erwachsenen, ich war da ja ganz anderer Meinung, zu meinem großen Verdruss fragte mich aber keiner), musste ich dann mit meiner Mutter Bus fahren. Sie arbeitete als Schaffnerin und ich wartete an der Haltestelle, bis ihr Bus kam. Dann fuhr ich mit ihr den ganzen Tag kreuz und quer durch den Harz, bis ihre Schicht zu Ende war. Natürlich musste ich in dem schaukelnden Bus auch meine Schularbeiten machen. Dementsprechend sahen sie nach so einer Bustour auch aus: Als wäre ein Mäuschen in ein Tintenfass gefallen und danach über meine Hefte gehuscht. Wie man sich denken kann, war meine Note in Schönschrift katastrophal. Aber das waren keine Dinge, die mich gestört hätten, sie gehörten zu meiner Erziehung dazu. Wenn man seine Hausaufgaben machen konnte, in einem schnaufenden und quietschenden Bus, der - wie ein Schiff bei Windstärke sieben übers Meer – über die Straßen schaukelte, dann würde man auch alles andere im Leben schaffen!

Was für mich viel schlimmer war: Auch meine geliebte Oma arbeitete. Wie schön wäre es gewesen, wenn ich nach der Schule gleich zu ihr und Opa Karl gehen und die Zeit mit ihnen hätte genießen dürfen. Denn Opa war auch lieb. Immer wenn er sein Nachmittagsschläfchen hielt, flocht ich ihm aus den Haaren, die er über seine Glatze zu kämmen pflegte, zwei Zöpfe. Opa störte es nicht, wenn er nach dem Erwachen wie ein Mädchen aussah und die Zöpfe wieder aufdröseln musste. Er sagte nur: „Tine, Tine! Wo dieses Kind immer seine Ideen herholt!“ Hingen irgendwo Fransen herunter, seien es welche an Tischdecken, Gardinen oder Lampenschirme gewesen – nach spätestens zehn Minuten hatten sie Zöpfe. Ja, das hätte ich alles gerne gemacht, aber meine Oma arbeitete in einer Radiofabrik. Diese schloss sich an unser Haus an und wenn Oma das Fenster an ihrem Arbeitsplatz aufmachte, konnte ich mich wenigstens mit ihr unterhalten. Eigentlich musste sie immer um den ganzen Gebäudekomplex herumlaufen, um zum Werkseingang zu kommen. Aber man sagt ja: ‚Intelligenz ist faul‘. Deswegen fand Oma heraus, dass in dem umgebenden Zaun eine Latte locker war. Die schob sie zur Seite, kroch durch die Lücke und war in Nullkommanix an ihrem Arbeitsplatz. Was lernte ich daraus? Man ist nie zu alt, um pfiffig zu sein.

Im Pulvergarten

Als ich elf war zogen wir dann in eine neue Wohnung im Pulvergarten. Christoph Columbus kann sich auch nicht erhabener als ich gefühlt haben, als er nach einer unendlich lang erscheinenden Seefahrt schließlich Land erblickte. Was war diese Wohnung für eine neue Welt für mich! Wir hatten nicht nur ein innenliegendes Bad, sondern ich bekam auch noch ein eigenes Zimmer. Oft lag ich abends in meinem Bett und flüsterte vor mich hin: „Dies ist mein Zimmer. Mein eigenes Zimmer. Mein einzig und alleiniges Zimmer!“ Fast konnte ich meine Gedanken nicht halten, sie sausten wie die Landschaft am Fenster eines rasenden Zuges vorbei. Endlich durfte ich kreativ sein, denn es verstand sich ja von selbst, dass ich mir in die Ausgestaltung meines Kleinods natürlich auf keinen Fall von irgendjemandem hineinreden ließ.

Das zweite große Plus war, dass diese Wohnung zehn Minuten Fußweg näher an der Schule lag und das hieß auch: Morgens zehn Minuten länger schlafen. Außerdem bekam ich mit 14 mein erstes Fahrrad. Das Leben machte somit noch einen Satz nach vorne. Ich war quasi schon erwachsen, als ich stolz wie Oskar mit meinem Fahrrad auf dem Schulhof einfuhr und huldvoll meine Freundinnen begrüßte, die mit offenem Munde staunten. Das alles waren die neuen tollen Errungenschaften der Wohnung im Pulvergarten. Da nahm ich doch gern in Kauf, dass ich jedes Wochenende den langen Holzdielenflur und die dazugehörige Treppe bohnern musste. Angelika musste nichts tun, die war ja auf einem Sportinternat und was Besseres. Was war das für eine Genugtuung für mich, als sie dieses Internat mit 17 schmiss. Aber irgendwie tangierte mich das auch nur peripher, denn ich wusste schon seit dem ich vier Jahre alt war sehr genau, was ich werden wollte: Hebamme oder Kinderkrankenschwester. Da könnte ich dann in Babys schwelgen! Daher kam ja auch mein nächster Spitznamen: ‚Baby-Tine‘. Als ich alt genug war, wollte mich mein Vater zur Ausbildung anmelden, allerdings war die Voraussetzung für die Ausbildung das Abitur. Das hatte ich nicht, so musste ich allgemeine Krankenschwester lernen. Aber ich hatte ja Geduld.

Das Schloss

Immer, wenn ich mal wieder ganz dringend Prinzessin sein musste, gab es nur einen einzigen Platz, an dem ich sein konnte: Das Feudalmuseum im Schloss Wernigerode, das nur eine halbe Stunde Fußmarsch von uns zuhause entfernt lag. Natürlich kostete es Eintritt, aber hier kam mir meine Größe zugute. Wenn die Pförtnerin gerade abgelenkt war, duckte ich mich einfach unter der Schranke hindurch und wieselte hinein, noch ehe sie etwas bemerkte. Dann war ich in meinem Reich. Über den einzelnen Zimmern standen die jeweiligen Epochen, die darin ausgestellt waren. Zielstrebig steuerte ich das Schönste an. Und dafür gab es zwei Gründe: Zum einen stand ‚Stilzimmer‘ darüber. Ich las: ‚Stillzimmer‘ und machte mich sofort auf die Suche nach den Wiegen, in die die Babys nach dem Stillen gelegt wurden. Natürlich war ich jedes Mal enttäuscht, wenn ich in dem Zimmer keine Wiegen fand, aber vielleicht das nächste Mal, sagte ich mir und so machte ich mich fast jeden Tag auf den Weg ins Schloss. Wenn ich auch dann wieder keine Babys oder Wiegen fand, dauerte meine Enttäuschung nie sehr lange, denn die Ausstattung des Zimmers war der zweite Grund, warum ich herkam. Ein Speisezimmer, das aussah, als hätte ich es geträumt. Es war so großartig, dass die Jagdgesellschaften, die damals von den Bonzen im Harz abgehalten wurden, ihre Beute in diesem Speisezimmer essen durften. Ich war bis ins Mark erschüttert, denn das war doch ‚mein‘ Speisezimmer und niemand fragte mich um Erlaubnis! So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen: Silber, wohin ich blickte. Die exquisit ziselierten Leuchter, in denen sich zartweiße Kerzen befanden, das Besteck, die Gloschen, die Saucieren - sogar eine kleine Tischglocke aus Silber gab es. Feinstes Porzellan von den Vorlegeplatten über diverse Schüsseln bis zu Suppen-, Ess- und Kuchentellern, Damast als Tischdecke und Serviette und Seidenhussen über den Stühlen. Als Höhepunkt glänzten Wein- und Wasserkristallgläser mit der strahlenden Erhabenheit eines gleichsam über allem thronenden, ausladenden Kronleuchters um die Wette. Mein Blick ruhte sich aus auf diesem Wunder und schwindlig vor Glück nahm ich mir jedes Mal vor, es uns zuhause auch so schön zu machen. Wie wir inzwischen alle leidlich wissen, durfte ich es nicht. Trotz allem – oder vielleicht gerade deswegen – wurde diese Schönheit und Eleganz Teil meines Lebensmottos: Es mir und meinen Lieben immer so schön wie möglich zu machen. Daran musste ich immer ganz fest denken, wenn ich das Schloss wieder verlassen sollte. Es war nämlich ein Rundgang und der endete in der Folterkammer. Dahinter war der Ausgang. Nach so einem Traum in Silber und Kristall war das ein besonders tiefer Fall. Ich holte so viel Luft wie ich nur konnte, hielt sie an und rannte wie ein erschrecktes Kaninchen mit geschlossenen Augen durch das Gruselkabinett aus rostigem Eisen und stickigem Geruch. Dass ich in meiner Panik nicht gegen eine Wand lief und mir den Kopf einschlug, zeigt meine Zielstrebigkeit. Ich wusste, dass es in meinem Leben noch so einiges gab, das erledigt werden sollte.

Das Blasendederonkleid

Es ist schon komisch, an was man sich so alles erinnert und was dann doch wichtig erscheint. Zum Beispiel dieses Kleid aus Blasendederonstoff. Wer ihn nicht kennt: Er ist aus Nylon, aus dem sich Wölbungen wie kleine Blasen erheben und der sich irgendwie komisch anfühlt. Den besorgte mir meine Mutter (zum Glück in rosa, es gab ihn auch in grau), denn als ich 14 war, stand meine Jugendweihe an. Das Schönste daran: Ich bekam eine Dauerwelle und fühlte mich schon schrecklich erwachsen und stolz. Das schwand aber ganz schnell, als ich das Kleid zu Gesicht bekam, das meine Tante, eine Schneiderin, aus dem Blasendederon genäht hatte. Es ging mir bis zehn Zentimeter unters Knie und sah damit so altjüngferlich aus, dass mir die Tränen kamen. Jung, hübsch, aufregend wollte ich aussehen und nicht wie eine Nonne. Da half noch nicht einmal die Farbe rosa. Zum Glück hatte ich ja eine Verbündete, die mich verstand – meine Oma. Als abends alle zu Bett gegangen waren, griff ich mir das verunglückte Ding, stahl mich aus dem Haus und lief durch den dunklen Wald zu ihr. Wir erinnern uns: Wir wohnten jetzt im Pulvergarten und nicht mehr im gleichen Haus wie meine Großmutter. Der Mond hing zwar schon wie ein Lampion am Himmel, aber sein bleiches Licht machte die Schatten nur noch länger und die Finsternis noch dunkler. Ich versuchte mich zu beruhigen, indem ich mir vorstellte, ich sei Rotkäppchen mit einem Korb voller guter Sachen, die es seiner Großmutter bringen wollte. Das hätte ich lieber nicht tun sollen, denn nun sah ich hinter jedem Baum und unter jedem Strauch den Wolf. Ich rannte im Takt meines rasenden Herzens, bis ich wie eine Erlösung das warme Licht sah, das aus dem Wohnzimmerfenster im Haus meiner Großeltern schien. Hallelujah – geschafft! Schon von weitem schrie ich: „Oma! Oma!“ und sie machte das Außenlicht an, wie zu meinen besten Plumpsklozeiten. Und am nächsten Morgen hatte ich dann ein wunderbares, um zehn Zentimeter gekürztes Kleid, aufregend, schwingend und doch elegant! Da konnte meine Mutter toben so viel sie wollte, abgeschnitten war abgeschnitten. Natürlich kam Oma, meine Retterin, auch zu meiner Jugendweihe. Da gab es nur ein kleines Problem: Sie hatte ein Gebiss, das sie aber so eklig fand, dass sie es immer zuhause im Buffet aufbewahrte und nie benutzte. Nur: Ohne Gebiss konnte sie ja nicht auf einer offiziellen Feier erscheinen! Also nahm sie es notgedrungen in den Mund, ekelte sich aber so davor, dass sie nichts aß. Als ich das bemerkte, sagte ich: „Nimm endlich dieses blöde Gebiss raus und iss ein Stück Kuchen!“ Die Feier war gerettet.

Dieses nun heißgeliebte Blasendederonkleid trug ich dann auch bei meinem Tanzstundenabschlussball. Die Tanzstunde, ja, das war die Zeit, als ich Harald kennenlernte und so kommen wir gleich zum nächsten Kapitel.

Harald

Erst tanzte ich mit Lothar. Aber der war ja nun gar nicht mein Fall. Harald hingegen fiel mir sofort auf. Er war ein Jahr älter als ich, aber den hatte sich schon Jutta unter den Nagel gerissen. Doch wir wissen ja: Wo die Liebe hinfällt, wächst kein Gras mehr. So dauerte es nicht lange und Harald war mein Partner. Sowohl was das tanzen als auch was die Liebe anging. Jutta war stinksauer und kündigte mir die Freundschaft, aber die magische Anziehungskraft zwischen Harald und mir war wie eine Naturgewalt, gegen die sie nichts ausrichten konnte.

An ihn erinnere ich mich gerne, ein liebes und ruhiges Exemplar der Gattung Mann, er war auch mein erster Freund, mit dem ich gegangen bin. Manchmal sind Erinnerungen ja ganz weit weg. Wenn man sich dann aber gezielt erinnern möchte, flattern sie auf, wie Schmetterlinge auf einer sonnenbeschienenen Waldwiese, über die ein jäher Windhauch streicht. Harald, ja, er war mein erster Herzloderliebster. Was waren das für neue, ungeahnte Gefühle, als wir zum ersten Mal im Wald knutschten, da er mich nach der Tanzstunde nach Hause brachte! Schwitzige Händchen, zitternde Knie, ungelenke Bewegungen… Aber das blieb nicht lange so unsicher, denn wir wuchsen unheimlich schnell zusammen und waren ein richtig schönes Pärchen. Wie habe ich seine Aufmerksamkeiten genossen! Er brachte mich nicht nur nach dem Tanzen nach Hause, er holte mich auch jedes Mal davor ab und immer gab es Blumen. Das war eine riesengroße, besondere Aufmerksamkeit und ging auch nur, weil seine Mutter Gärtnerin war. Mit Harald und den Blumen tanzte ich in den siebten Himmel hinein und gewann mit ihm und meinem geliebten Blasendederonkleid den Walzerwettbewerb.

Er war auch sehr hilfsbereit und fand für alles eine Lösung. Angelika wollte zum Beispiel unbedingt den Führerschein machen, schusselig wie sie war, schaffte sie es aber nicht, sich dafür anzumelden. Als Harald das hörte, dachte er kurz nach, dann klarte sein Gesicht auf und er erledigte das einfach für sie. Es dauerte nach der Anmeldung immerhin zwei Jahre, bis man die Erlaubnis erhielt, ihn endlich machen zu dürfen. Als es dann soweit war, konnte meine Schwester nicht oder wollte nicht oder musste sich dringend ihre Haare waschen – egal: Ich sprang nur zu gern in die Bresche. So habe ich dann gleich mit siebzehneinhalb den Auto- und den Motorradführerschein gemacht. Allerdings war ich zu leicht, um das Motorrad anzukicken, einen elektrischen Starter hatten die Exemplare in der DDR nicht. So brauchte ich jedes Mal einen schweren Mann, um mein Motorrad zu starten. Den fand ich immer, auch während meiner Prüfung, als mir die Maschine mitten auf einer Kreuzung absoff. Stolz hielt ich danach meinen Führerschein in die Höhe und Harald war ziemlich schnell seine rote Java los, mit der ich immer wieder wie im Rausch durch den Harz bretterte. Auch lernte ich es schnell, meinem Vater seinen Trabbi abzuschwatzen. Immer wenn während meiner Ausbildung ein ‚dringender Notfall‘ in der Klinik war, bekam ich ihn: „Die Zwillinge (oder wahlweise sogar Drillinge) kommen. Ich schaff es nicht mehr zu Fuß in die Klinik! Darf ich das Auto haben, darf ich?!“ Eigentlich hätte damals die Bevölkerungsdichte von Wernigerode explodieren müssen, so oft wie ich die Notgeburten als Ausrede benutzte.

Jörg

Er war mein Bruder. Mein liebes, süßes, kleines Baby, das ich immer haben wollte. Am 2. Dezember 1966 drang seine Geburt wie ein gleißender Sonnenstrahl durch die graue Winterszeit. Für mich war ab da immer am zweiten Dezember Weihnachten und nicht am 24. Schon als ich mitbekam, dass meine Mutter schwanger war, konnte ich meine Aufregung kaum im Zaum halten. Es sollte ein Baby für mich geben! Denn das war ja klar: Es würde ‚mein‘ Baby werden. Endlich, endlich kam die Geburt, als meiner Mutter bei uns zuhause die Fruchtblase platzte. Ich weiß noch, wie ich ihr mit einem Eimer in der Hand hinterherlief, damit das Fruchtwasser nicht auf den Boden tropfte. Und dann war er da: Mit einem zartbeflaumten Köpfchen, das in meine Hand passte und Fingerchen wie von einer Puppe - ein warmes, weiches, nach Babypuder duftendes Bündel Glück. Von der ersten Sekunde an kümmerte ich mich um ihn. Ich reagierte gereizt wie eine knurrende Löwenmutter, wenn irgendjemand anderes meinen Jörgi auch einmal auf den Arm nehmen wollte. Nur bei Harald machte ich da eine Ausnahme. Wenn er mich abholte und ich war noch nicht fertig, obwohl die Sonne gerade hinter dem hohen Kamin ihre letzten Strahlen aushauchte, durfte er solange Jörg die Flasche geben. Die ganze Stadt tuschelte hinter uns her, wenn wir beide zusammen mit Jörg im Kinderwagen über den Marktplatz flanierten. Sollten sie, im Gegenteil: Es machte mich stolz. Mein erstes eigenes Baby, da konnten die Klatschweiber denken, was sie wollten. Harald genoss diese Dreisamkeit auch sehr, er ging ja inzwischen bei uns ein und aus. Die Tanzstunde war zwar schon zu Ende, aber wir waren immer noch ein Paar. Eine richtige kleine Familie. Wen wundert‘s, dass die ersten Worte von Jörg nicht ‚Mama‘ und ‚Papa‘ waren, sondern: ‚Nine‘ (Tine) und ‚Hahati‘ (Harald).

Ausbildung, erster Teil

Da war er nun: Der erste Schritt zum Weg in meinen Traumberuf und in die Unabhängigkeit. Der Beginn meiner Krankenschwesterlehre im Krankenhaus Wernigerode. Als kleinen Witz sagte ich mir: ‚Zur Krankenschwester muss man geboren sein. Denn wenn man nicht geboren ist, kann man ja auch keine Krankenschwester werden.‘ Diesen Humor brauchte ich auch, denn gleich der erste Tag war furchtbar. Ich bekam eine gestärkte Haube auf den Kopf und eine Schürze umgebunden. Dann musste ich mit einer großen Kaffeekanne von Zimmer zu Zimmer gehen. „Guten Morgen“, sagte ich brav, „möchten Sie noch Kaffee?“ Und verabschiedete mich auch jedes Mal: „Auf Wiedersehen.“ Was hatte das jetzt mit meinem Babytraum zu tun, dachte ich mir, als ich nach einem endlos erscheinenden Tag, in dem ich über genauso endlos erscheinende Klinikflure gelaufen war, zuhause saß und meine schmerzenden Füße massierte? Natürlich fragte ich nach und erhielt zur Antwort: ‚Lehrjahre sind keine Herrenjahre‘ oder auch: ‚Aller Anfang ist schwer‘ – diese Floskeln würde ich mir noch des Öfteren anhören müssen. So lernte ich die Krankenpflege von der Pike auf; eine unangenehme Pike, wenn ich das mal so sagen darf. Das Frühstück zu bringen und die Bettpfannen auszuleeren war gar nicht so schlimm. Auch, dass ich morgens um halb fünf aufstehen musste, um pünktlich um sechs bei der Arbeit zu sein, war etwas, an das ich mich schnell gewöhnte. Aber meine erste schlimme Erfahrung mit dem Tod werde ich nie vergessen. Als ich im Laufe meiner Ausbildung in die Chirurgie kam, hatte es in der Nacht einen schweren Motorradunfall gegeben und ich musste die Sitzwache neben dem Verunglückten übernehmen. Da saß ich nun in diesem winzigen Zimmer, neben mir ein menschliches Wesen, das so in Verbände gewickelt war, dass ich kein Stückchen Haut mehr erkennen konnte. Die Apparate surrten und klickten und über allem lag das unnatürlich schwere Geräusch des künstlichen Atemholens, das die Beatmungsmaschine erzeugte. Mir war ganz schlecht, Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Doch da ich mich nicht traute, das Zimmer zu verlassen, harrte ich aus, bis die Schwester kam. Nach einem Blick sagte sie nur vorwurfsvoll: „Der Mann ist doch schon längst tot!“ Und woran hätte ich das jetzt erkennen sollen? Ich war nur froh, dass ich endlich hinaus und frische Luft schöpfen konnte.

Friedi

Mit der Zeit arbeitete ich mich dann ein. Ich durchlief alle Stationen und auf der HNO-Abteilung machte mein Leben wieder mal einen Satz. Zuerst dachte ich, die Richtung, die dieser Satz machte, wäre genau das, wovon ich immer geträumt hatte: Ich verliebte mich nämlich. So richtig Hals über Kopf und bis über beide Ohren. Das war keine Teenagerliebelei wie bei Harald, sondern richtig ernst. Friedi war Assistenzarzt und der Schwarm aller Schwestern. Und wer bekam ihn? Ich! Gerade hatte ich meinen achtzehnten Geburtstag gefeiert, wer konnte glücklicher sein als ich? Endlich volljährig und den begehrtesten Junggesellen der Klinik geschnappt… Dass ich unser Verhältnis geheimhalten musste, störte mich nicht im Geringsten. Es brachte mich aber auch in eine Bredouille: Der Chefarzt baggerte mich nämlich an. Als Friedi einmal operierte und ich ihm assistierte, stellte sich unser Chef (der übrigens verheiratet war), hinter mich und streichelte mir ganz zart meinen Rücken. Ich durfte mir natürlich nichts anmerken lassen und musste mich auf meine Arbeit konzentrieren. Trotzdem dachte ich mir: ‚Nichts ist an sich gut oder böse. Es hängt davon ab, wie man es verwendet‘. Denn eigentlich ist Streicheln ja etwas Gutes aber diese Art hatte eindeutig einen sexuellen Unterton. Dann sinnierte ich weiter: ‚Sind eigentlich alle Ärzte so?‘, da mir das schon einige Male passiert war…

Meine Zeit mit Friedi, die ich wie im Rausch genoss, war wundervoll und viel zu kurz. Heute weiß ich, dass frau so einen womanizer niemals halten kann; über kurz oder lang zog er sich immer mehr von mir zurück und lebte sein eigenes Leben, ohne mich. Er fuhr sehr oft nach Halle in seine Studentenstadt und ich wusste nicht, dass er dort eine andere Frau hatte. Ich kam mir nur unendlich verlassen vor. Nun erfuhr ich zum ersten Mal, dass Liebeskummer körperlich richtig wehtun kann. Meine Welt stürzte zusammen, das unterste kehrte sich zuoberst, ich konnte nicht mehr essen oder schlafen und musste jeden Morgen meine rotgeheulten Augen überschminken, damit es keiner sah. Trotzdem nahm ich weiterhin die Pille, als aufgeklärte Krankenschwester wusste ich ja, zu verhüten. Als ich sie einmal nehmen wollte, wie immer jeden Morgen, fand ich nur die leere Packung. Ich fragte meinen kleinen Bruder, der ständig um mich herum war: „Jörgi, weißt du wo die Bonbons sind?“ Klar wusste er und zeigte auf seinen Bauch: „Hier dinne.“ Was für ein Schreck! Aber zum Glück gab es bei Jörgi keine Nebenwirkungen. Um mich abzulenken, ließ ich mich von einer Freundin auf eine Party mitschleppen. Wie vom Donner gerührt blieb ich an der Eingangstür stehen, als Friedi der erste Gast war, den ich erblickte. Es kam, wie es kommen musste und wir schliefen an dem Abend zum letzten Mal miteinander. Am nächsten Morgen war ich mir sicher: Ich bin schwanger und so war es dann auch. Ich durfte es zwar keinem sagen, trotzdem fing ich wieder an, zu hoffen. Schwindlig vor Glück malte ich mir in meiner Fantasie einmal mehr die tollsten Bilder aus: Wie er in seinem besten Anzug zu uns nach Hause kam, in der einen Hand einen Strauß roter Rosen in der anderen unseren Ehering, bei meinem Vater artig um meine Hand anhielt und dann vor mir auf die Knie fiel und mich fragte, ob ich seine Frau werden wolle. Mir stiegen Tränen des Glücks in die Augen, als ich diese wunderbare Zukunft sah, die vor mir zu liegen schien!