Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar
© 2018 Tilo Schnekenburger
Alle Abbildungen, Tabellen und Fotos, bei denen keine Quellenangabe steht, sind von: Tilo Schnekenburger
Kontakt: schnekenburger@seglerverband-bw.de
Website: www.schnekenburger.click
(Aus drucktechnischen Gründen sind die Abbildungen nicht maßstabsgerecht)
Herstellung und Verlag
BoD – Books on Demand GmbH Norderstedt
Buchcover: Ingrid Huber Graphikdesign (www.i-huber.de)
2. Auflage Dezember 2018, ISBN: 9783748195320
Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verfassers darf das Werk weder komplett noch teilweise reproduziert, übertragen oder kopiert werden, weder manuell noch mechanisch noch elektronisch.
Mit dieser 2. Auflage wurden etliche kleine Fehler bzw. Ungenauigkeiten im Layout, Text und in Zeichnungen korrigiert, auf die mich meine Leser aufmerksam gemacht haben. Ein besonderer Dank gebührt dafür vor allem Verena, Kirsten, Paul und Florian. Außerdem gibt es einen neuen Abschnitt zum Unterschied zwischen VLuv und der Velocity Made Good. Im Kapitel zum Strömungslifteffekt wurde die bisherige Abbildung 50 ausgetauscht und der Text entsprechend verändert. Das Kapitel zum Low-Fast-Mode wurde außerdem um einige Zeichnungen ergänzt. Schließlich wurde die Literaturliste um weitere Angaben ergänzt bzw. um zusätzliche Titel aktualisiert.
…warum schreibe ich dieses Buch?
Die „Geometrie des Regattasegelns“, das ist ein Buchtitel, der die einen fluchtartig das Weite suchen lässt, aber andere hoffentlich neugierig macht. Ganz klar, man braucht ein wenig Affinität zur Mathematik und besonders zur Geometrie, wenn man sich auf dieses Buch einlassen will. Und es ist eine gewisse Regattaerfahrung nötig.
So interessant ich alle Publikationen zur Regattataktik bis heute finde, so sehr fand ich selten wirkliche Erklärungen, warum das eine oder andere taktische Verhalten richtig oder falsch sein solle. Die meisten Veröffentlichungen der vergangenen 50 Jahre sind Erfahrungsberichte der Meister unserer Sportart. Sie berichten vom Start bis ins Ziel, wie sie bestimmte Situationen gelöst haben bzw. was sie empfehlen, wie mit diesen Situationen umzugehen sei. Kaum ein Autor liefert aber eine logische Erklärung für seine Empfehlung. Allenfalls ist zu lesen, das eine oder andere Verhalten eröffne mehr „Chancen als Risiken“, ohne dass eine genaue Begründung folgt, worin diese Chancen oder Risiken tatsächlich bestehen.
Da im Regattasegelsport Punkte, Winkel, Strecken, Flächen und Vektoren eine zentrale Rolle spielen, ist es naheliegend, nach logischen Erklärungen für richtiges oder falsches taktisches Verhalten mit Hilfe der Geometrie zu suchen.
Natürlich stellt sich zu allererst die Frage, ob man eine solche wissenschaftliche Sicht als Regattasegler überhaupt braucht. Schließlich haben unzählige Sieger bei Regatten bisher bewiesen, dass es auch ohne allzu viel Wissenschaft zum Sieg reicht. Das ist keine Frage. Es reichte bisher, die Taktik „aus dem Bauch“ heraus, mit seiner Erfahrung zu gestalten, es wird auch zukünftig noch für viele Siege reichen.
Aber unser Sport entwickelt sich weiter. Bootstechnisch, riggtechnisch und auch von der Athletik und der psychischen Beanspruchung hat sich unser Sport in den letzten 50 Jahren enorm entwickelt. Da wäre es doch widersinnig, nicht auch den Leistungsfaktor „Strategie und Taktik“ zu optimieren. Und dazu gehört auf jeden Fall eben auch ein wissenschaftlicher Ansatz.
Dass Strategie und Taktik viel mit Erfahrung zu tun haben, ist unbestritten. Aus der Verhaltenspsychologie weiß man aber auch, dass durch Erfahrungen einfache Wahrnehmungen zu gezieltem Beobachten reifen, und dass die Analyse und Bewertung dieser Beobachtungen in der Reflexion der Erfahrungen geschehen. Wahrnehmen, Beobachten, Analysieren und nach einer Bewertung Entscheidungen fällen, das sind zentrale Fähigkeiten, die man für taktisches Handeln braucht. Die Wahrnehmung, als Ausgangspunkt der Handlungskette, verändert sich aber entscheidend durch unser Hintergrundwissen. Das Hintergrundwissen steuert unsere Wahrnehmung, es vermittelt Muster von typischen Situationen. Durch Musterwahrnehmung erkennen wir relevante Veränderungen schneller und können zielgerichteter darauf reagieren. Die Wahrnehmung zu verändern, indem das geometrische Hintergrundwissen vertieft wird, ist ein wesentliches Anliegen, das ich mit diesem Buch verfolge. Nicht jeder braucht dieses Buch, aber jeder, der sich weiterentwickeln will, kann es bestimmt gut gebrauchen.
Zwei Bemerkungen noch …
… für alle, die Angst um die deutsche Sprache haben…
… bitte nicht weiterlesen! Nicht nur, dass ich häufig Anglizismen verwende, ich gehe sogar soweit, sie ausdrücklich zu empfehlen. Warum? Grundsätzlich glaube ich nicht, dass die deutsche Sprachkultur untergeht, wenn wir Fremdworte benutzen. Im Gegenteil, ich bin der Überzeugung, dass jedes Wort, das unseren Sprachschatz erweitert, ein Gewinn ist, sofern es richtig eingesetzt wird. Und da es mir in allererster Linie um die Vermittlung von Inhalten und nicht um den Gewinn eines Literaturpreises geht, verwende ich viele englische Ausdrücke aus Überzeugung. Das Englische hat vielfach den Vorteil, dass man mit kurzen Worten, mit oft nur einer Silbe, das ausdrücken kann, wozu wir im Deutschen drei und mehr Worte bzw. Silben brauchen. Und außerdem betreiben wir einen internationalen Sport, dessen Sprache traditionell das Englische ist, d.h. es geht mir auch um Sprachkompetenz und Völkerverständigung.
…für alle Genderbeauftragten…
warum schreibe ich im Oldstyle? Um genderkorrekt zu schreiben, wollte ich ursprünglich in diesem Buch statt der korrekten, aber umständlichen Schreibweise „Seglerinnen und Segler“, oder der gestelzten Form „die Segelnden“ oder die „Trainierenden“ die nicht schöne, aber vielfach akzeptierte Schreibweise „SeglerInnen“, „GegnerInnen“, „TrainerInnen“ verwenden. Nach zahlreichem Korrekturlesen und der Erkenntnis, dass es diese Schreibweise ausgesprochen schwermacht, komplizierte Zusammenhänge auf Anhieb zu verstehen und die Leser-Innen zwingt, Sätze immer wieder neu zu beginnen, habe ich mich entschlossen, zu Gunsten einer einfacheren Lesbarkeit, zur alten „Machoschreibweise“ zurückzukehren. Weder Gender-Gap noch Gender-Sternchen boten dafür eine Lösung. Im Übrigen wollte ich unseren Fachverband auch weder zum Deutschen SeglerInnen Verband noch zum Deutschen Segler*innen Verband umbenennen. In der Hoffnung, dass mir diese gesellschaftliche Unkorrektheit verziehen wird, vertraue ich besonders auf das Verständnis aller Seglerinnen, Trainerinnen, Übungsleiterinnen, Gegnerinnen, Trainingspartnerinnen und Sportlerinnen. Mit der männlichen Form spreche ich einfach nur den Segelsport treibenden Menschen an, wie es grammatikalisch „der Mensch“ vorgibt.
Ich versichere aber, nichts liegt mir ferner, als irgendjemanden, aus welchen Gründen auch immer, zu diskriminieren, ich wollte einfach nur ein verständliches Fachbuch für alle schreiben, die es noch genauer wissen wollen.
Leider hatte kein großer Segelbuchverlag Interesse an einer Veröffentlichung des Buches. Die zu erwartenden Verkaufszahlen entsprachen nicht ihren Vorstellungen. Ich selbst hätte es gerne professioneller, moderner, mit tollen Darstellungen und ansprechender gehabt, aber es blieb mir nur der Weg zum „Selfpublishing“ mit meinen bescheidenen Fähigkeiten der Gestaltung. Ich bitte, mir dies nachzusehen.
Sowohl im Rahmentrainingsplan1 wie auch in „Training im Verein“2 des Deutschen Segler Verbandes werden als sportliche Leistungsfaktoren des Segelsports die folgenden vier Bereiche genannt: Die Technik, die Konzentration, die Kondition und die „Taktik“ (s. Abb. 1). (Das Wort „Taktik“ steht hier bewusst in Anführungszeichen, solange dieser Begriff noch nicht eindeutig definiert ist).
Abbildung 1: Nach „Leistungsstruktur der Sportart Segeln/Surfen“3
Dabei kommt der „Taktik“ nach Überzeugung vieler Autoren eine besondere Bedeutung zu. Malte Philipp begründet dies u.a. folgendermaßen: „Taktik und Strategie sind die Erfolgsgrundlage schlechthin, denn ihre Prinzipien gelten immer. … Wenn taktisches Wissen und strategische Fähigkeiten fehlen, kann man noch so schnell sein – es wird immer Schlauere geben, die vor einem sind.“4
Die meisten Autoren taktischer Lehrbücher sind sich darin einig, dass selbstverständlich alle anderen relevanten Leistungsfaktoren optimiert sein müssen, d.h. man darf gegenüber den Gegnern zumindest keinen Nachteil bezüglich Kondition, Konzentration und der technischen Performance des Bootes bzw. im Umgang mit dem Boot, also der sog. Bootstechnik haben. Walter Mai drückt dies kurz und bündig so aus: „Schlechte Fahrt = schlechte Taktik … Ein langsames Boot verführt zu falscher Taktik. Ehe man auf die Regattabahn geht, muss man daher alles unternehmen, um das Boot und sich selbst in den bestmöglichen Zustand zu versetzen, damit die Bootsgeschwindigkeit stimmt“.5
Es ist sicherlich so, dass sich die Bootsgeschwindigkeiten, insbesondere in den Regatten innerhalb der Einheitsbootsklassen wie dem Laser oder dem 420er wie auch in der Bundesliga mit der J70, nicht signifikant unterscheiden. In aller Regel wahrscheinlich weniger als 1% unter den 10 bis 20 besten Seglern in einer solchen Regatta. Das würde bedeuten, dass auf einer 1000m langen Kreuz (direkte Entfernung der Luv- zur Leetonne), bei einem in Richtung und Windstärke konstanten Wind, die Distanz an der Boje zwischen diesen Booten höchstens 14m betragen dürfte. In der Realität zeigt sich aber ein ganz anderes Bild – das 20-fache ist bestimmt keine Seltenheit und resultiert in der Regel aus strategisch-taktisch unterschiedlichen Handlungen.
Wenn dem so ist, dann ist es an der Zeit, sich mit Strategie und Taktik näher zu befassen, zu schauen, was es an Literatur zum Thema auf dem Markt gibt, was „Taktik“ im Segelsport genau bedeutet und vor allen Dingen, wie die „Taktik“ des Segelsports tatsächlich funktioniert, welche Strukturen herrschen und wie diese Strukturen miteinander verwoben sind, zusammenwirken und welche Gesetzmäßigkeiten dabei herrschen.
Zur Optimierung der Leistungsfaktoren des Wettsegelns sind über die Jahre viele spezielle Lehrbücher erschienen, die sich mit Segelprofilen, Riggtrimm, Konditionstraining, Wetter oder dem spezifischen Trimm einzelner Bootsklassen beschäftigen und damit Einsteigern in diese Bootsklassen, wie auch erfahrenen Regattaseglern wertvolle Hinweise für Verbesserungsmöglichkeiten geben. Das gilt natürlich auch für das Thema Regattataktik.
In den Regalen engagierter Regattasegler und in den Bibliotheken vieler Segelvereine finden sich zahlreiche Bücher zur Regattataktik. Sie reichen von Manfred Currys „Regatta-Segeln“ in der 1. Auflage von 1925 bis hin zu einem der neueren von Malte Philipp „Regattasegeln“ aus dem Jahr 2012. Darunter gibt es Bücher vieler weltbekannter, herausragender Segler der vergangenen Jahrzehnte, wie Jörg Diesch, Rodney Pattison, Stuart Walker (R-I.P), Gary Jobson, Jon Emmett, Ian Proctor oder des legendären Dennis Conner.
Alle diese Bücher sind „Meisterlehren“ im Sinne Barths6. Ihnen ist gemeinsam, dass sie die Regattataktik anschaulich beschreiben und erläutern, mit der Absicht, Handlungsrezepte für taktische Situationen beim
Barth: „Es ist vielleicht das Besondere an vielen ´Taktiklehren´ in den Einzelsportarten, dass ehemalige Sportler und Trainer die Handlungsweisen und Wirkungen, die sie in vielen Wettkämpfen selbst ausgeführt und erfahren haben, im Sinne von ´Meisterlehren´ oder ´Alltagstheorien´ aufbereitet und weitergegeben haben. Dabei wird strategisches und taktisches Handeln und Verhalten nicht begründet und hergeleitet, sondern im Sinne von Ausführungsvorschriften sehr pragmatisch dargestellt.“
Regattasegeln zur Verfügung zu stellen. Sie wenden sich bevorzugt an aktive Regattasegler, deren Absicht es ist, besser zu werden, indem sie die Tricks all der hervorragenden Seglerinnen und Segler lernen sollen, die diese Bücher verfasst haben. Eine andere Zielgruppe sind Übungsleiter und Trainer, die für ihre Arbeit mit dem Regattanachwuchs diese Thematik selbst besser verstehen wollen.
Die Bandbreite des Schreibstils in diesen Büchern ist vielfältig, vom leichten erzählerischen Stil Stuart Walkers, der sehr angenehm zu lesen ist, bis hin zum trockenen, mühsam zu lesenden, nüchtern analytischen Stil Klaus-Jürgen Meyers. In jedem Buch finden sich neue, interessante Betrachtungsweisen der Taktik und aus jedem Buch kann der aufmerksame Leser einen persönlichen Erkenntnisgewinn ziehen.
Der Markt der Möglichkeiten, sich zu informieren und weiter zu bilden, ist in dieser Hinsicht reich gesegnet, zumal es auch viele Fachzeitschriften gab und gibt, die sich dieses Themas angenommen haben, wie etwa „regatta“, eine Zeitschrift, die ganz speziell der Gruppe der Regattasegler gewidmet war, vom Delius Klasing Verlag herausgegeben wurde und zwischen März 1980 und Dezember 1985 monatlich erschien.
Ein Übriges trägt seit den 80er Jahren die Entwicklung in der IT bei. Auf dem Markt gibt es unzählige Taktikspiele als APPs, Lern-, Übungs- und Analysesoftware für den PC, das Tablet und Smartphone zum Thema Taktik. Hervorzuheben ist an dieser Stelle die ausgesprochen wertvolle Lehr- und Lernhilfe „Tactical Sailing“, eine Software, entwickelt von Paul Gerbecks, mit deren Hilfe neben dem virtuellen „Regattaspielen“ vor allem in seinem Modul „Trainer´s Toolbox“ die Visualisierung und Berechnung einer Vielzahl von taktischen Situationen hervorragend möglich ist. „Tactical Sailing“ eignet sich daher auch besonders für das Analysieren und Experimentieren mit meinen „Geometrischen Tools“, die ich in diesem Buch vorstelle. Außerdem werden im Internet eine ganze Reihe Newsletters veröffentlicht bzw. Homepages zu dieser Thematik angeboten.
Es sind hier natürlich auch die Trackingsysteme zu nennen, mit denen die Analyse und Beobachtung bedeutender Regatten im Internet heutzutage für jedermann zu jeder Zeit an jedem Ort der Welt möglich ist.
Allerdings fällt beim Studium der Literatur auf, dass in vielen Veröffentlichungen die seglerischen Begriffe mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt sind. Es fehlt offensichtlich eine allgemein gültige Fachterminologie. Ein Manko, das David Dellenbaugh bereits in seinem Newsletter Speed&Smarts #12 von 1995 auch für den englischen Sprachraum feststellte und zu klären versuchte.7
Außerdem gibt es praktisch keine Veröffentlichung, die im sportwissenschaftlichen Sinn eine Trainingslehre für den Regattasegelsport im Allgemeinen oder die „Segeltaktik“ im Besonderen sein könnte. Mit Trainingslehre ist in diesem Zusammenhang die Schnittstelle zwischen Trainingswissenschaft und Sportpraxis gemeint, wie es in Abb. 2 dargestellt ist. 8
Abbildung 2: Trainingslehre - Brücke zwischen Sportpraxis und Trainingswissenschaft (Wastl)
Es stellte bereits Klaus Kieschke in seinem 1973 erschienen Buch „Segeln - Lehren und Lernen“ fest, dass es für den Bereich der Segelausbildung für Anfänger keine Methodik gäbe, die die Frage beantwortet, wie man das Segeln am besten unterrichtet.9
An dieser Situation hat sich vor allem bezüglich der Vermittlung der Segeltaktik an den Regattanachwuchs nichts geändert. Es existiert bislang keine umfassende allgemein gültige Didaktik bzw. Methodik für die Vermittlung taktischer Fähigkeiten in der Segelausbildung, die Teil einer Trainingslehre sein müsste. Ansätze hierzu finden sich bei Klaus-Jürgen Meyer in seinem bereits zitierten Buch „Taktik des Segelns“, indem er am Ende jedes Kapitels einen Abschnitt mit Trainingsmethoden anfügt,10 sowie besonders in „Training im Verein“ des DSV von Demarez u. a. In diesem Heft werden ebenfalls viele Themen zu Didaktik und Methodik des Segeltrainings angesprochen.11 Auch Ulrich Finckh hat in seinem nach wie vor grundlegenden Werk „Segel-Lehrplan 7 Regattasegeln“ in Kapitel 9 einige Abschnitte den Trainingsmethoden für die Taktik gewidmet.12 Einzelne neuere Bücher wie Malte Philipps „Training für Regattasegler“13 oder „Regattatraining“ von Olive/Hillary14 enthalten viele Übungen für das Taktiktraining. Dellenbaughs Newsletter #139 enthält eine Vielzahl von „Practice Drills“, die wertvolle Anregungen für taktisches Training enthalten15. Allerdings erfüllt mit Ausnahme der Diplomarbeit von Robert Stanjek16 und dem oben bereits erwähnten Lehrbuch für das Anfängersegeln von Klaus Kieschke17 keines der ansonsten auf dem Markt befindlichen Bücher den Anspruch der Wissenschaftlichkeit, indem z.B. Bezug auf (sport-)wissenschaftliche Erkenntnisse genommen worden wäre, oder wenigstens Quellenhinweise gegeben werden.
Ein wesentliches Manko in der bisherigen Auseinandersetzung mit der Segeltaktik ist die Tatsache, dass die zahlreichen „Meisterlehren“ Taktik und Strategie zwar umfangreich beschreiben und natürlich zum allergrössten Teil die richtigen Verhaltensweisen für die jeweiligen Situationen empfehlen, aber für ein tiefergehendes Verständnis der Zusammenhänge und vor allem für die Erstellung qualifizierter Lern- und Trainingsprogramme müssen erschöpfende, wissenschaftlich fundierte Erklärungen vorhanden sein, warum dieses oder jenes taktische Vorgehen erfolgreich sein wird. Erklärungen, wie man sie im Zusammenhang mit dem Streckbugsegeln z.B. immer wieder liest und hört, „man eröffnet sich mehr Chancen, wenn man zuerst den Streckbug segelt“, sind natürlich zweifellos richtig, sind aber letztendlich nur Worthülsen. Ohne zu verstehen, worin diese Chancen tatsächlich bestehen, und wie man diese Chancen erkennt und sie nutzt, kann ein Trainer kein wirklich qualifiziertes Trainingsprogramm erstellen oder eine effektive Fehleranalyse des taktischen Verhaltens seiner Athleten vornehmen. Ich vergleiche das gerne mit einem Speerwurftrainer in der Leichtathletik, der nichts von einer ballistischen Flugkurve, von Biomechanik oder der Aerodynamik weiß; er wird weder eine richtige methodische Übungsreihe noch eine zielsichere Korrektur für einen jungen Speerwerfer zustande bringen, um aus einem begabten mittelmäßigen einen sehr guten Werfer zu machen.
Selbstverständlich dürfen diese teils doch sehr komplexen und intellektuell anspruchsvollen Erklärungen den jungen Seglerinnen und Seglern nur in kleinen Portionen und in altersgemäßer Form nahegebracht werden. Aber wer Spitzensegler auf nationalem oder internationalem Niveau sein möchte, muss m. E. die Hintergründe seiner strategisch-taktischen Handlungen auf alle Fälle wirklich begriffen haben und darf sie nicht nur als erfolgversprechende Handlungsrezepte in seinem Repertoire haben. Nur dann wird er in der Lage sein, neue und überraschende Situationen jederzeit mit kreativen Lösungen zu meistern.
In den beiden vorigen Abschnitten sind die Ziele, die ich mit dem vorliegenden Buch verfolge, im Grunde bereits angedeutet.
Die „Geometrie des Regattasegelns“ soll
Ob mir das alles letztlich gelungen ist, mögen die Leserinnen und Leser selbst beurteilen und mir gerne mitteilen.
1 Dierck/Hantke: RTP des DSV 1996, S. 21
2 Demarez u. A.: Training im Verein, 2005, S. 122 - 127
3 Eigener Entwurf nach RTP S. 21
4 Philipp, M.: Regattasegeln, 2012, S. 11
5 Mai, W.: Regattataktik, 1982, S. 10
6 Box: Barth, B.: Strategie und Taktik im Wettkampfsport, in Leistungssport 3/94, S. 5f
7 Dellenbaugh, D.: Speed&Smarts, #12, 1995, S. 1-3
8 Wastl, P.: Trainingslehre - Brücke zwischen Sportpraxis und Trainingswissenschaft (PDF-Dokument P. Sportinstitut der Universität Düsseldorf, von https://user.phil-fak.uni-duesseldorf.de~wastl/Wastl/MTT/PTTrainingslehre-Internet.PDF am 8.5.16 heruntergeladen)
9 Kieschke, K.: Segeln-Lehren und Lernen, Münsterdorf 1973, S. 20ff
10 Meyer, K.-J.: Taktik des Segelns, 1976, S. 40ff, S. 112ff, S. 131ff, S. 152ff, S. 171ff
11 Demarez u A.: Training im Verein, 2005
12 Finckh, U.: Segel-Lehrplan 7, 1982, S. 183ff
13 Philipp, M.: Training für Regattasegler, 2007, S. 107
14 Olive/Hillary: Regattatraining, 2013
15 Dellenbaugh, D.: Speed and Smarts, #139, Practice Drills, July/Aug 2016
16 Stanjek, R.: Der Raum strategischen Denkens, 2011
17 Kieschke, K.: Segeln, 1973. Er hat der Didaktik und Methodik ein eigenes Kapitel gewidmet, S. 58ff
Immer wieder wird das Regattasegeln mit dem Schachspiel verglichen und tatsächlich ist das Spiel mit Wind und Gegner, die vorausschauende Planung, was machen Wind und Gegner, wie muss ich agieren bzw. reagieren, dem Schachspiel nicht unähnlich. Aber dennoch sehe ich gravierende Unterschiede. Die Taktik im Schachspiel ist binär zu betrachten, nicht ohne Grund gibt es seit Jahrzehnten bereits Schachcomputer, während es im Segelsport noch kein wirklich realitätsnahes Computerprogramm gibt, welches die Komplexität einer Regatta auch nur annähernd wirklichkeitsgetreu wiedergibt. Woran liegt das?
Das Schachspiel ist wie bereits gesagt binär, d.h. jede Figur hat klar definierte Wege, die Spieler ziehen abwechselnd mit einer dieser Figuren aus dem zwar riesengroßen, aber klar begrenzten Reservoir seiner Spielmöglichkeiten. Es gibt keinen halben Springerzug oder einen Zug mit dem Läufer um 2,7 Felder. D.h. die Bewegungsfelder sind binär, nämlich ganzzahlig, 8 mal 8 Felder groß (mathematisch sind diese Züge „diskret“). Ein solches Szenario lässt sich perfekt mittels Programmierung nachstellen.
Demgegenüber ist der Segelsport nur an ganz wenigen Stellen binär, ist also nicht als „ja-nein-Entscheidung“ konstruierbar. Amwindwinkel können in beliebig kleinen Schritten verändert werden (mathematisch nennt man dies „stetig“). Ebenso ist es mit dem gewählten Kurs, auch hier sind alle Zwischenpositionen möglich, Winddreher finden nicht in kleinen Winkelsprüngen, sondern in einem stetigen Hin und Her statt. Lediglich eine Entscheidung für die linke oder rechte Seite der Bahn oder zur Wende oder Halse könnte man als binär bezeichnen, aber bereits die technische Ausführung dieser Manöver ist binär nicht mehr darstellbar.
Das Schachspiel erfordert folglich in punkto Taktik eine ganz andere Herangehensweise als unser Segelsport. Wenn im Schachspiel der Gegner gezogen hat, steht die Situation still, das Spiel findet quasi nur noch in den Köpfen, in Form von „entweder - oder Entscheidungen“ statt. Dagegen ist das Regattasegeln ständig in völliger Dynamik; laufend ändern sich entscheidende Parameter wie Windstärke und -richtung, der Steuerkurs, die Fahrtgeschwindigkeit, die gegenseitigen Positionen, die Peilungen zu den Bahnmarken und vieles mehr. Und jede dieser Änderungen geschieht mathematisch betrachtet stetig. Auch das unterstreicht den nicht binären, sondern stetig-dynamischen Charakter des Regattasegelns. Und dann geschieht beim Segeln etwas für den Schachspieler völlig Unvorstellbares – plötzlich werden durch einen Winddreher die Bewegungsrichtungen und die Positionen der Teilnehmer völlig neu angelegt. Wie wenn im Schachspiel das Spielbrett unter den Figuren hindurch verschoben würde und alle Züge neuen Strukturen unterlägen! - Dennoch ehrt uns der Vergleich mit dem „Spiel der Könige“ natürlich, denn er deutet an, wie viel geistige Leistung unser Sport offensichtlich erfordert.
Betrachten wir also den Charakter des Segelsports und seiner „Taktik“ noch etwas genauer.
Segeln zählt wie Skilauf, Autorennen, Bob- und Rodel, Radrennen und Eisschnelllauf zu den technisch determinierten Fahr- und Gleitsportarten auf vorgegebenen Strecken18. Diesen Sportarten ist eine besonders hohe technische Leistungskomponente gemeinsam, in ihnen allen sind von Zeit zu Zeit teils gravierende Leistungssprünge zu beobachten, ebenso wie deutliche Veränderungen des sportlichen Anforderungsprofils, wenn z.B. neue Materialien oder Bauformen entwickelt werden. Man denke nur an die Entwicklung im Skilauf seit der Einführung der Carving-Skier.
Gemeinsam ist diesen Sportarten die Bindung an eine vorgegebene Strecke und damit eine taktische Komponente, die mit der Wahl der eigenen Fahrlinie zusammenhängt.
Der wesentliche Unterschied des Regattasegelns zu den anderen Sportarten dieser Gruppe ist allerdings die weitgehend freie Kurswahl beim Segeln. Während man als Regattasegler nur relativ wenige Bahnmarken als punktuelle Begrenzung bzw. Zwischenziele hat, müssen z.B. die Skiläufer sehr viele Tore durchgleiten; Autorennfahrer, Radrennfahrer und Eisschnellläufer haben enge Fahrstreifen bzw. Bahnen einzuhalten und die Rodler und Bobfahrer sind in ihren „Kanälen“ quasi gefangen. Sie alle dürfen ihre engen Bahnen nicht verlassen und können nur in minimalen Nuancen unterschiedliche Kurse wählen. Dementsprechend wird in den meisten dieser Sportarten im Tausendstelbereich gemessen, um die Sieger zu ermitteln. Die weitgehend freie Kurswahl ist dagegen eine Besonderheit des Regattasegelns und macht einen Großteil seiner Faszination aus. Auch die Tatsache, dass beim Regattasegeln in aller Regel nur die Reihenfolge des Zieleinlaufs und nicht absolute Zeiten die Platzierung bestimmt, ist ein besonderes Merkmal des Regattasegelsports. Dementsprechend haben die taktische Wahl des Kurses und die unmittelbare Kontrolle des Gegners im Segeln eine herausragende Bedeutung für den Erfolg, wodurch zur technischen Determinierung beim Segeln als weiteres Charakteristikum die besondere Bedeutung der Taktik bzw. Strategie hinzukommt.
Somit ist es zutreffender, das Regattasegeln als eine von Technik bzw. von Taktik dominierte Gleitsportart zu bezeichnen.
Strategie und Taktik sind die beiden Begriffe, die rund um eine Segelregatta immer und überall zu hören sind. Die erfolgreichen Taktiker haben scheinbar ihre eigene Sprache, es umgibt die Segeltaktik eine gewisse Magie. Andere, für einen Sieg wichtige Dinge, sind da viel realer, greifbarer, anschaulicher und vor allem mess- und beobachtbar, etwa ein sauber gepflegtes Unterwasserschiff, ein perfektes Ruderblatt, die neuen Segel vom besten Segelmacher, die Wantenspannung, das Ergebnis des Cooper-Tests oder die Watt, die ein Grinder am Ergometer realisiert.
Dagegen sind Strategie und Taktik geheimnisumwittert. Diese „Geheimnisse“ kennen angeblich nur die „Erfinder des Segelns“, die es wohl in jedem Segelclub gibt. Sie stehen am Ufer, haben vor Jahrzehnten irgendeinen legendären Sieg errungen, wissen aus einem Kilometer Entfernung beim Weizenbier auf der Clubterrasse immer ganz genau, was der Segler da draußen gerade falsch macht. Sie werfen mit Begriffen und Theorien um sich, die einer präzisen Nachfrage in der Regel selten standhalten. Sie tragen oft maßgeblich zur Verunsicherung unserer Nachwuchssegler bei, die sich selten trauen, diesen silbergrauen Eminenzen zu widersprechen. Dabei gibt es bezüglich Strategie und Taktik keine Geheimnisse. Alles liegt offen, ist vielfach beschrieben und auf unterschiedlichste Weise optisch aufbereitet und ist jedem damit zugänglich.
Strategisch-taktisches Können beruht nämlich keineswegs auf Geheimwissen, sondern auf bewusstem Wahrnehmen, Beobachten, richtigem Analysieren der Situation und konsequentem Handeln. Das wissen die wirklichen Experten. Diese verhalten sich meist ruhig, stehen am Ufer, schauen aufmerksam zu und enthalten sich aus guten Gründen eines Kommentars zu ihren Beobachtungen dort draußen auf der Bahn, weil sie sich der Komplexität des Geschehens und ihrer eigenen ungünstigen Position bewusst sind.
Wollen wir unseren Regattanachwuchs durch gezieltes, gutes Training zu Spitzenseglern machen, müssen wir das Thema Regattataktik mehr in den Fokus nehmen und ihr vor allen Dingen eine Struktur geben. Dazu ist zunächst einmal Klarheit darüber herzustellen, wovon wir reden. Dazu brauchen wir zu allererst eine gemeinsame Terminologie bezüglich der Begriffe, die wir verwenden.
Das Thema „Taktik des Segelns“19 besteht im Grunde aus zwei recht wesensverschiedenen Bereichen, die sehr deutlich voneinander getrennt werden sollten, da sie einerseits im Rahmen einer Regatta einerseits zu unterschiedlichen Zeitpunkten ablaufen, andererseits in ihrer Handlungskonsequenz sogar widersprüchlich sein können und letztlich gänzlich anderen Einflussfaktoren unterliegen (s. Abb. 3).
Abbildung 3: Die "Taktik" des Segelns
Der eine Bereich ist die Strategie, die einen Plan für den Ablauf einer Regatta darstellt und vorwiegend Vorhersagen zur Situation und zum Geschehen auf der Bahn macht, also antizipatorisch angelegt ist, mit dem Ziel, den Regattakurs möglichst schnell abzusegeln. Die Strategie enthält im Übrigen auch viele Inhalte, die nicht nur für die Regattasegler Bedeutung haben, sondern gerade auch für Tourensegler von zentralem Interesse sind, denn auch die nicht leistungssportlich orientierten Segler wollen gute Schläge segeln, mit denen sie elegant und ohne unnötige Zeitverzögerung ihr Ziel erreichen und am Abend im vollen Hafen noch einen Liegeplatz ergattern.
Der andere Bereich ist die Taktik im engeren Sinne. In ihr geht es um die konkreten Handlungsalternativen in der Auseinandersetzung mit den Gegnern, Regeln und beobachteten Veränderungen der natürlichen Gegebenheiten im Renngeschehen zur Verbesserung oder Sicherung der eigenen Position. Die Taktik ist daher in erster Linie adaptiv zu sehen.
Die zentralen Themenfelder von Strategie und Taktik stehen in der Abbildung 3 in den grünen Blöcken der dritten Zeile und finden sich natürlich in den Definitionen wieder.
Diese sind für die Strategie einerseits die