Karl Schlögel
Das russische Berlin
Eine Hauptstadt im Jahrhundert der Extreme
Aktualisierte, erweiterte Neuausgabe
Suhrkamp
Den Opfern
Hitlers und Stalins
Vorwort zur erweiterten Neuausgabe
Vorwort zur Erstausgabe (1998) Berlin, russische Stadt
Asien beginnt am Schlesischen Bahnhof
Bahnhöfe als Geschichtsorte
Kursbücher: Fahrplan und Geschichtszeit
Passagiere in der Weltkriegsepoche
Ende eines Zeitalters
Eydtkuhnen oder Die Genese des Eisernen Vorhangs
Das Nadelöhr
Die Grenzgänger
Schleuse zwischen den Welten
Kleine Grenzen, große Grenze
»Displacement« im »Jahrhundert der Flüchtlinge«: Die Brüder Kulischer und Joseph Schechtman in Berlin
»Displacement« – russisch-jüdische Lebensläufe und Jahrhundert-Erfahrung
Europa in Bewegung: Kartenbilder
Transit Berlin – Wege ins Exil, neue Netzwerke des Wissens
Harry Graf Kessler und die Russen
Der Tagebuchschreiber als Ethnologe
Die Russen in Kesslers Welt
Die Berliner Gesellschaft
Das Verschwinden der Tiergartengesellschaft
Anhang: Eine Topographie
Sankt Petersburg am Wittenbergplatz: Eine Hauptstadt im Jahrhundert der Flüchtlinge
Wege nach Berlin
Stadtführer, Adressen
Rußland en miniature
Überlebenskampf
Gutenberg-Galaxis
Gemischte Gesellschaft
Wege fort von Berlin
Im Auge des Taifuns: Europe on the Move
Jenseits von Kommunismus und Faschismus: Nikolaj Berdjajews Schrift »Das Neue Mittelalter«, Berlin 1923
Exiliert. Ankunft in Berlin
»Das Neue Mittelalter«. Suche nach einem Weg aus der Krise
Faszinosum und Schrecken. Projektionsfläche und Resonanzraum
Unter den Linden 7: Sowjetische Botschaft Berlin
UdSSR en miniature
Der Botschafts-Archipel
Das Kurländische Palais
Porta orientis
Deutsch-sowjetische Szene Berlin
Abschied. Der Empfang vom 7. November 1932
Berliner Kreml
Global Village Komintern
Berlin: ›Wie in Moskau‹
In einer Zeitheimat: Berlin, Moskau
Komintern als Org-Welt
Das Rote Berlin
Global Village in der Weltkriegsepoche
Die Erledigung der Berliner Kominterngesellschaft
Rückkehr auf ein Ruinenfeld
Orte des Roten Berlin
Stadtwahrnehmung: Nabokov und die Taxifahrer
Russische Literaten in Berlin
Fremdheit als Produktionsbedingung
Berliner Embleme und urbane Interieurs
Der Chauffeur als Stadtsoziologe
1933: Konformismus und Gewalt
Nikolai Krestinski und Graf von der Schulenburg: Diplomatie als Verrat
Das diplomatische Korps zieht in den Krieg
Die diplomatische Revolution
Moskau/Berlin: Diplomatie und Paradiplomatie
Diplomatisches Korps: »eine Art Freimaurerei«
Wanderer zwischen den Welten
Auf verlorenem Posten: Der Diplomat als Spion
Radeks Salon in Moabit
Der Steckbrief. Zur Person
Zellengefängnis Moabit
Radek und die Berliner Gesellschaft
Visionen für Europa nach dem Großen Krieg
Ernst Reuter: Radeks Begleiter als Berliner Bürgermeister
Simon Dubnows Berliner Tagebuch
Gegenwart als déjà vu
Das Jubiläum. Rückblick
Berlin: In der Diaspora
Eine Berliner Debatte 1923: Rußland und die Juden
Der Geist des neunzehnten Jahrhunderts in der Epoche des »Totalismus«
Orte in Dubnows Berlin
In einer »Landschaft des Verrats«: Das unterirdische Berlin
Schauplatz der Weltrevolution
Der kommunistische Agent als neuer Kulturtyp
Das Ende einer Karriere
Doppelspiel: Aktion »Trust«
Postskriptum
»Raum als Schicksal«: Die Internationale der Geopolitik
Begegnung der Extreme: Die »Zeitschrift für Geopolitik«
Oskar Ritter von Niedermayer: Der geopolitische Mittler
Vom ›Angelpunkt der Geschichte‹ zum ›Kontinentalblock‹
Mental maps und Geopolitik der Komintern
Großraumplanungen und Breitspurphantasien
Ausblick auf die Geopolitik der geteilten Welt
Edwin Erich Dwingers russische Obsession
Urerlebnis Sibirien
Simplicius Simplicissimus des Europäischen Bürgerkrieges
Bolschewismus auf deutsch. Die Synthese aus Weiß und Rot: Nationaler Sozialismus
»Wiedersehen mit Sowjetrußland« am 22. Juni 1941. Sentimentalität und Vernichtungsbereitschaft
Die Dämme sind gebrochen: Der Untergang des Abendlandes
Deutschlands innerer Osten und sein Therapeut
A star was born: Anastasia
Der Fall Anastasia
Geschichte und DNS-Analyse
Identität und Körpermessung
Amnesie und Revolution
Wie man eine Großfürstin macht
Endstation Hollywood
Die Intimität der Generäle: Deutsch-sowjetische Militärbeziehungen
Sieger und Besiegte 1945: Weltkriegsbekanntschaften
Aus fernen Tagen
Unternehmen Barbarossa: Reise in bekanntes Gelände
Vertrautheit als Verbrechen
Der Untergang des Grandseigneurs
Von der Vergeblichkeit eines Professorenlebens: Otto Hoetzsch und die deutsche Rußlandkunde
Zurückgeworfen auf den Ausgangspunkt
Ein politischer Professor in der Berliner Gesellschaft
Synthesen: Deutscher Tory und Salonbolschewist
»Training for Russia«: Berlin als Zentrum der Rußlandkunde
Die letzte Niederlage des Otto Hoetzsch
Russian Connection: Das neue russische Berlin
»Überall hört man Russisch«
Russische Zeitungen: Medium des Alltags
Mental maps, Landschaften des Imperiums
Infrastrukturen und Parallelgesellschaft
Topographie des neuen russischen Berlin
Russian Connection, ursprüngliche Akkumulation und Metropolenwerdung
Danksagung
Bibliographische Notiz
Bildnachweis
Anmerkungen
Seit dem Fall der Mauer hat sich ein russisches Berlin herausgebildet, von dem niemand genau weiß, wie groß es ist. Verläßliche Statistiken gibt es nicht. Aber wahrscheinlich ist es mit mehr als 300 000 russischsprachigen Menschen nach der türkischen die zweitgrößte, und wenn man nach dem Gehör geht, vielleicht die größte Gemeinde von Ausländern oder »Deutschen mit Migrationshintergrund«: Immigranten, jüdische Kontingentflüchtlinge, Rußlanddeutsche, Pendler zwischen Berlin und Moskau, Studierende, Geschäftsleute, Langzeit-Touristen. Man braucht im Internet nur Russkij Berlin aufzurufen, und man bekommt Einblick in eine schon kaum mehr überschaubare russischsprachige Szene mit entsprechender Infrastruktur – von Restaurants, Zahnärzten, Diskotheken über Kindergärten und Fahrschulen bis zu Immobilienmaklern. Viele sprechen dann von einem »neuen russischen Berlin« im Unterschied zu jenem, das es schon einmal gegeben hat – in der Zwischenkriegszeit, in den »Goldenen zwanziger Jahren«, als Berlin Hauptstadt der russischen Emigration nach der Oktoberrevolution geworden war.
Das russische Berlin von heute hat mit dem russischen Berlin, das in den 1920er Jahren »Stiefmutter Rußlands« genannt wurde, nichts gemein. Das wiedervereinigte Berlin hat nach Jahrzehnten der Zerstörung durch die Nazi-Herrschaft, den Krieg und die Teilung im Kalten Krieg nur nachgeholt, was in anderen Metropolen im Zeitalter der Globalisierung längst vollzogen war: die Herstellung einer international gemischten Gesellschaft. Das neue russische Berlin steht nicht für Exil, Bruch mit der Heimat, sondern eher für Immigration, eine Art Zweitwohnsitz in einer Stadt mit (im Verhältnis zu Moskau immer noch) preiswertem Wohnraum, gediegener Infrastruktur, drei Opernhäusern und dem KaDeWe. Der »dekadente Westen« ist etwas für das russische Staatsfernsehen – Russen, die es sich leisten können, bevorzugen das mehr entspannte Leben oder eine Wohnung in Charlottenburg, in wachsender Zahl auch den Ort, der Schutz und Sicherheit vor Verfolgung bietet. Das russische Berlin der frühen 20er Jahre war für einen kurzen Zeitraum »Hauptstadt eines Rußland jenseits der Grenzen«, Zentrum der russischen Diaspora nach der Revolution, ein »Leben auf gepackten Koffern«, Lebenswelt von Hunderttausenden auf der Flucht, die sich ins Ausland gerettet hatten und darauf hofften, nach dem Sturz der Bolschewiki so bald wie möglich wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. Berlin war für sie Zuflucht, Wartesaal, Überlebensort, Durchgangspunkt und für eine gewisse Zeit der exterritoriale Raum, in dem sich die aus Rußland Vertriebenen noch mit den in Sowjetrußland verbliebenen Freunden, Kollegen, Verwandten treffen konnten.
Das vorliegende Buch handelt von diesem russischen Berlin, dem Transitraum, der bald zwischen den Fronten des europäischen Bürgerkriegs aufgerieben werden wird, dem Ort, an dem sich die Knoten der deutsch-russischen Beziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschürzt haben – in vielerlei Hinsicht kreativ und produktiv in der Weimarer Zeit, auf eine unvorstellbar katastrophische Weise in der Zeit des Nationalsozialismus und des Stalinismus und erst recht im deutschen Vernichtungskrieg gegen die Völker der Sowjetunion. Das russische Berlin ist gleichsam die Sonde, mit der den deutsch-russischen Beziehungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgespürt wird.
Das Buch erschien zum ersten Mal im Jahre 1998, in einer erweiterten Neuauflage im Jahre 2007 – hinzugekommen war damals das Schlußkapitel »Russian Connection: Das neue russische Berlin«. Das Buch, seither auch im Russischen und Französischen erschienen, ist seit langem vergriffen, und ich bin dem Suhrkamp Verlag sehr dankbar, daß er das Buch dem Publikum wieder zugänglich macht. Der Neuausgabe konnte ich drei Kapitel über Persönlichkeiten hinzufügen, die in meinem Bild von Berlin als einem Ort der deutsch-russischen Beziehungen immer schon eine große Rolle gespielt haben: Nikolaj Berdjajew, der aus Rußland verbannte Denker, der in Berlin seine Überlegungen für eine Welt jenseits von Bolschewismus und Faschismus formuliert hat; die Brüder Alexander und Jewgeni Kulischer und Joseph Schechtman, die in Berlin zu Pionieren der Erforschung weltweiter Migrationsbewegungen geworden waren und denen wir den Terminus der »displaced persons« verdanken; Edwin Erwin Dwinger als ein Autor, der der Weltkriegs- und Revolutionsepoche mit den Mitteln des Trivialromans zu Leibe rückte und in seinem umfangreichen Werk wie kaum ein anderer sentimentale Russophilie und Vernichtungsbereitschaft im Weltanschauungskrieg zusammenbrachte. Ansonsten blieb der Text unverändert; in der bibliographischen Notiz sind einige Titel erwähnt, die aufgrund der veränderten Forschungslage berücksichtigt wurden.
Die Zuversicht, die der Einleitung zur Originalausgabe eigen war – daß wir nach einem Jahrhundert der Extreme und einem langen Kalten Krieg mitsamt seiner Entfremdung und Verfeindung endlich und vielleicht endgültig in eine Zeit der zwischenstaatlichen Normalität eingetreten sind – kann heute so nicht einfach weiter behauptet werden. Putins Rußland hat mit der Besetzung der Krim, dem fortgesetzten Krieg gegen die Ukraine die Grenzen Nachkriegseuropas in Frage gestellt und die Europäische Union zum Feind erklärt. Sein Konzept der »russischen Welt« – »wo Russen sind, ist Rußland« – kann jederzeit als Rechtfertigung für Intervention, vor allem im sogenannten »nahen Ausland«, genutzt werden. Die staatlich gelenkten Moskauer Fernsehkanäle, aber auch die sozialen Medien, haben in Berlin die Entstehung einer Art Parallelgesellschaft befördert. Wie sich diese neue Entwicklung auf die deutsch-russischen Beziehungen und insbesondere auf das russische Berlin auswirken wird, ist noch nicht absehbar. Das russische Berlin, das, von der Sprache abgesehen, nie sehr viel verbunden hat, ist heute tief gespalten – man denke nur an die russisch-jüdischen Kontingentflüchtlinge einerseits und die Rußlanddeutschen andererseits oder an die russischsprachigen Ukrainer und die russischsprachigen Bürger der EU-Staaten des Baltikums. Angesichts dessen fällt es schwer sich einzugestehen: Von einer »Normalisierung« kann vorerst jedenfalls keine Rede mehr sein.
Berlin im September 2018
Zum ersten Mal nach einem Jahrhundert furchtbarer Verwicklungen und Zusammenstöße gibt es zwischen Deutschland und Rußland keine wirklichen Probleme mehr. Deutschland ist wiedervereinigt. Die sowjetischen Truppen sind abgezogen. Die bestehenden Grenzen sind endgültig anerkannt. Wovon die Generationen davor nur träumen konnten, ist Wirklichkeit geworden: Normalität in den Beziehungen zwischen zwei europäischen Nationen, die sich in diesem Jahrhundert Furchtbares angetan hatten. Deutsch-russische Beziehungen können endlich mehr sein als »negative Polenpolitik« und das alte Spiel, dem zufolge der Feind meines Feindes mein Freund sei. Wir sind endlich heraus aus dem Tumult des zwanzigsten Jahrhunderts. Wir sind frei.
Zu dieser Freiheit gehört auch, daß wir einen Blick zurückwerfen können. Gelassen, denn was geschehen ist, ist geschehen. Ohne Eiferertum und Rechthaberei, denn wir richten im nachhinein nichts mehr aus. Wir können heraustreten aus dem geteilten Horizont der Nachkriegszeit und Abschied nehmen von den Vereinfachungen, die in jedem Entweder-Oder liegen. Die Bereinigung des Feldes hat die alten Frontstellungen und Barrieren abgeräumt. Es gibt nichts mehr, was uns hindern könnte, uns unsere Geschichte zu erzählen. Es sei denn, unser beschränktes Vermögen, von den Ungeheuerlichkeiten zu sprechen, die jener Generation zum Lebensschicksal wurden. So blicken wir zurück auf ein Jahrhundert mörderischer Destruktivität, das in einem einzigen Augenblick zerstörte, woran Generationen gearbeitet hatten. In dem Feuer, in das wir zurückblicken, ist das alte Europa verbrannt, und auch im Verhältnis zwischen Deutschen und Russen konnte es nie mehr so sein wie vor dem Tag, an dem das »Unternehmen Barbarossa« begann.
Nirgends hat sich der Knoten der deutsch-russischen Beziehungen so dramatisch zusammengezogen wie in Berlin. Alle deutschen Wege nach Rußland führten in diesem Jahrhundert über Berlin, und alle russischen Wege nach Europa gingen über Berlin. Berlin war der Schauplatz deutsch-russischer Haupt- und Staatsaktionen und Wendepunkt für das Schicksal unzähliger Deutscher und Russen. Da sich diese Geschichte unter dem Strich als eine Geschichte von Katastrophen darstellt, war Berlin auch Katastrophenort. Nichts, was nicht ausprobiert worden wäre. Keine Allianz und Koalition, die man nicht wenigstens vorübergehend praktiziert hätte. Keine Kombination, die undenkbar gewesen wäre. So verschlingen sich in Berlin die Fäden zu einem Knäuel, das den Erfindungsreichtum jedes noch so genialen Dramatikers weit übersteigt.
Man muß lange suchen, um eine europäische Metropole zu finden, die einen ehemaligen politischen Kommissar und Beauftragten Lenins zum Bürgermeister hatte wie das Berlin der Nachkriegszeit in Ernst Reuter. Die ›Freiheit des Westens‹ wurde während der Blockade von einem Mann verteidigt, der 1918 mit Karl Radek über die ostpreußische Grenze gekommen war und der sich später mit Alexander Kerenski, dem im Berliner Exil lebenden Chef der Provisorischen Regierung, angefreundet hatte. In Berlin stoßen wir auf deutsche Generäle, die fließend Russisch sprechen. General Hans Krebs, der im April 1945 die Kapitulationsverhandlungen mit General Tschuikow führte, hatte es bei den gemeinsamen Manövern von Reichswehr und Roter Armee und während seiner Arbeit an der Moskauer Botschaft gelernt. Im zerstörten Berlin von 1945 treffen wir auf Russen, die Berlin noch aus den zwanziger Jahren kannten, wie jener legendäre und an seiner glatt polierten Glatze schon von weitem erkennbare Kulturoffizier Sergej Tjulpanow, der mehr von Goethe und Schiller als von Brecht und Becher hielt und 1945 noch an ein Deutschland glaubte, das es gar nicht mehr gab. Nur in Berlin war es denkbar, daß eine komplette Regierungsmannschaft aus dem Moskauer Exil eintraf, deren Mitglieder oft so gut Russisch sprachen wie Deutsch und die häufig die sowjetische Staatsbürgerschaft oder einen Rang in der sowjetischen Armee hatten.
Keine andere Stadt war – im Guten wie im Bösen – so sehr verwoben mit dem Russischen. In den zwanziger Jahren wurde Berlin zum Ankerplatz für Hunderttausende russischer Emigranten, russischer Verlags- und Zeitungsort Nummer eins. In Berlin schrieben Ilja Ehrenburg und Vladimir Nabokov ein Stück russischer Kulturgeschichte. Doch auf das russische Berlin der Emigranten folgte ein anderes: Nach dem Überfall auf die UdSSR füllten sich die Katakomben der Stadt mit den Elendsgestalten sowjetischer ›Ostarbeiter‹, die Berlin noch in Gang hielten, als die Bomben fielen. Und als auch dieses russische Berlin untergegangen war, folgte ein drittes: das Berlin der Rotarmisten. Niemand kannte die Stadt so gut wie sie. Meter für Meter, Keller für Keller, Haus für Haus hatten sie sich zu den Bunkern der Reichskanzlei und zum Reichstag vorgearbeitet. Als die Fahne auf der ausgeglühten Kuppel gehißt war, ging ein Kapitel in dem deutsch-russischen Roman zu Ende. Das russische Berlin hatte den Weg vom ›Charlottengrad‹ der Emigranten nach ›Pankow‹, dem neuen Machtzentrum in der sowjetisch besetzten Zone, zurückgelegt.
Es geht nicht um eine weitere Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen. Solche gibt es bereits, einige darunter sind inzwischen Klassiker geworden. Dem Verlauf der Geschichte entsprechend, haben sie meist düstere Titel. Sie heißen: Krieg und Frieden, Unheilige Allianz, Schicksalsgemeinschaft, Teufelspakt, Europäischer Bürgerkrieg. Zu praktisch allen Aspekten deutsch-russischer Beziehungen – ob zur Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee, zur sowjetischen Kulturpropaganda, zur Berliner Osteuropakunde – gibt es zahlreiche und glänzende Untersuchungen. Inzwischen hat eine große Ausstellung zum Thema »Berlin–Moskau« stattgefunden. Es gibt nicht mehr viele Geheimnisse, die noch gelüftet werden müssen, und es ist unwahrscheinlich, daß ein neuer Fund im Archiv die bisher geleistete Arbeit gänzlich über den Haufen werfen wird.
Und doch ist trotz dieser riesenhaften Arbeit kaum eine Vorstellung davon entstanden, was da zerstört worden ist. Wie benommen vom Horror des Krieges im Osten haben wir etwas übersehen, das vielleicht noch wichtiger ist als alle Greuel und Grausamkeiten: das Ende von etwas, das für Generationen fraglos und selbstverständlich gewesen war. Es handelt sich um kulturelle Nähe, die keiner umständlichen Übersetzung bedarf. Dazu gehört ein Vorrat von Vorstellungen und Begriffen, die allen gemein sind. Dazu gehören Umgangs- und Lebensformen, die von allen geteilt werden und als verteidigenswert erscheinen. Was auch geschehen mochte, dieser Referenzrahmen wurde nie angetastet. Man konnte unterschiedlichster Auffassung sein, aber daran rüttelte man nicht. Das Bezugssystem funktionierte, weil alle, die sich darin bewegten, denselben Lebens- und Erwartungshorizont hatten. Ein solcher gemeinsamer Horizont geht nicht aus Absprachen hervor, sondern ist etwas sehr Voraussetzungsreiches, das in Generationen geschaffen wurde. Das Ende der Selbstverständlichkeiten markiert zivilisatorische Brüche drastischer, als der Abbruch von diplomatischen Beziehungen und selbst Kriege es vermögen. Mit den Selbstverständlichkeiten endet die Routine, auf deren stummem Funktionieren unsere Zivilisation beruht. Und gerade dies war geschehen.
Dieses Buch handelt vom Ende der Selbstverständlichkeiten, von der Zerstörung dessen, was es vor dem Ersten Weltkrieg einmal gab und was Zivilisationsnormalität genannt werden kann. Es sind Studien über kulturelle Nähe und kulturelle Dichte und über deren Auflösung in der Weltkriegsepoche. Es ist die Erzählung davon, wie ein zur Routine gewordenes Verhältnis aufhört, so daß die Nachgeborenen wieder ganz von vorne beginnen müssen. Es kann nichts Radikaleres über die Geschichte einer Beziehung gesagt werden, als daß der Vorrat an gemeinsamen Vorstellungen, an ›Werten‹ sich erschöpft hat, weil es keinen gemeinsamen Horizont mehr gibt und die Beteiligten am Ende nicht einmal wissen, wovon der jeweils andere spricht. Die Spaltung der Welt ist dann vollständig geworden, die Erfahrung von Krieg und Zerstörung hat alles andere überlagert und scheint das einzige zu sein, was als gemeinsamer Bezugspunkt übrigbleibt.
Wenn Berlin der Ort kultureller Nähe und Dichte, aber auch von deren Auflösung ist, dann muß geschichtliche Arbeit ihr auf die Spur kommen. Man muß versuchen, das Netzwerk, die Beziehungen und Verbindungen, die sichtbaren und die unsichtbaren Fäden zu fassen. Dies gelingt nicht, wenn man die zahlreichen Einzeluntersuchungen zu einer Synthese, zu einem Mosaik oder einem Panorama addiert oder montiert. Es bedarf eigener Sichtachsen und einer ganz eigenen Arbeit der Verknüpfung. Die disziplinär angelegten Untersuchungen interessieren sich nur selten für das, was jenseits ihres ›Fachgebiets‹ liegt. Damit bringen sie sich oft um die aufregendsten, die weiterführenden Einsichten. Für sie hat es keinen Belang, daß es ein Treffen von Karl Radek, dem Inbegriff des international agierenden Revolutionärs, mit Karl Haushofer gab, in dem manche den ›Mann hinter Hitler‹ sahen; es ist nicht von Relevanz, daß Anastasia, die ›falsche Zarentochter‹, von einem Professor Bonhoeffer behandelt wurde; es ist nur eine Anekdote wert, wenn Ernst Jünger am Jahrestag der Oktoberrevolution zum Empfang in der sowjetischen Botschaft Unter den Linden erscheint.
Aus meiner Perspektive hingegen sind dies alles Momente eines Textes, den wir erst wieder lesbar machen müssen. Das bedeutet Verknüpfungsarbeit – oft bis an den Rand der Erschöpfung. Wenn man die Tröstungen der Geschichtsphilosophie hinter sich gelassen hat, kann man sich auf keiner ›Gesetzmäßigkeit‹, keiner ›Logik der Geschichte‹ ausruhen. Man kann sich nach dem, was geschehen ist, nicht mehr einem ›Prozeß‹ oder einer ›Struktur‹ anvertrauen. Wir folgen keinem Plan, keinem Schema, sondern allein dem, was sich zur Kontingenz fügt. Wir arbeiten uns vor von Knoten zu Knoten und kommen im Grunde nie zu einem Ende. Das einzige Kriterium, das wir haben, ist die Festigkeit des Gewebes und das Bild, das sich aus den Tausenden von Knoten irgendwann abzeichnet. Die Arbeit von Historikern ist, so könnte man formulieren, nichts anderes als Wiederverknüpfen und Aufrollen von gerissenen Biographien, Lebenszusammenhängen und Ereignisketten. Unsere Arbeit hat sich gelohnt, wenn wir etwas bis dahin Verborgenes zur Anschauung gebracht haben.
Mich führten viele Wege ins russische Berlin. Die ersten russischen Ortsnamen, die sich mir einprägten, habe ich aus den Suchmeldungen des Deutschen Roten Kreuzes gelernt, die noch in den fünfziger Jahren im Radio verlesen wurden. Als ich zu lesen begann, waren die Illustrierten voll von Anastasia-Reportagen – das war meine erste Begegnung mit den Überresten der russischen Emigration auf deutschem Boden, noch bevor ich wußte, was das ist. Dwingers »Armee hinter Stacheldraht« las ich, weil es in der Bibliothek meiner Schule vorhanden war. Im Berlin der sechziger Jahre, in dem ich zu studieren begann, waren die Spuren des Krieges noch allgegenwärtig, in den Einschlägen im Putz des Kreuzberger Hauses, in dem ich wohnte. Relikte des russischen Berlin waren noch zu sehen: in der Reklame des Ladens für Samoware in der Marburger Straße, in den Antiquariaten, in denen man noch Überreste der russischen Bücherwelten der zwanziger Jahre finden konnte. Viele der historischen Akteure, die ich bei der Arbeit an meinem Buch über den Untergang Sankt Petersburgs kennengelernt hatte, fand ich im Berlin der zwanziger Jahre wieder, gerettet, aber im Exil. Viele, denen ich in meinen Studien über das Moskau der dreißiger Jahre begegnet war, waren aus Berlin dorthin gekommen. Sogar das Komintern-Berlin kehrte für einen Augenblick wieder: in den »Inprekorr«-Reprints der späten Studentenbewegung und in den Erzählungen der kommunistischen Arbeiterveteranen aus dem Berliner Norden. Ich fand Pjotr Krasnows Roman »Vom Zarenadler zur Roten Fahne« in den Berliner Antiquariaten und gewann so eine Vorstellung davon, daß es einmal einen russischen Autor gegeben hatte, dessen Bestseller auf deutsch erschienen waren.
Berlin erzog zur Wahrnehmung russischer Präsenz. Kein Meter, der nicht gezeichnet schien. Die Ehrenmäler in Treptow und im Tiergarten. Delegationen absolvierten dort nicht nur ihr Pflichtpensum. Im Institut, an dem ich studierte, gab es noch Schüler des großen Otto Hoetzsch, der vor dem Kriege Berlins Weltruhm in der Osteuropaforschung begründet hatte. Hier lebte noch eine Dichterin, die als junges Mädchen bei Nikolai Gumiljow in Petersburg gelernt hatte, wie man Gedichte schreibt. In den Programmheften der Deutschen Oper standen die Namen einer russischen Ballettmeisterfamilie, die schon in den zwanziger Jahren nach Berlin gekommen war. Und alle kannten irgendwie Erzpriester Malzew. Vom Alexanderheim in Tegel, das wie so vieles in den sechziger Jahren dem Abriß zum Opfer fiel, blieb nichts außer ein paar Photos und ein schmiedeeiserner Kleiderständer, den ein Bekannter aus dem Schutt rettete. Irgendwann in den siebziger Jahren setzte eine Entdeckungsbewegung ein, die der frühen Sowjetunion galt – der Avantgarde, El Lissitzky, Rodtschenko, Tretjakow, und damit auch deren Berliner Verbindungen. Und dann kam das Ende des Kommunismus und das Ende von Ost- und Westberlin. Ein neuer Blick auf die Geschichte war freigegeben, jenseits des ›deutschen Historikerstreits‹, in dem Zusammenhänge bestritten wurden, die unbestreitbar waren, und Kausalitäten behauptet wurden, die nur Konstruktionen waren.
Das Ende der Selbstverständlichkeiten. Jahrzehntelang war in Berlin der Ausnahmezustand Normalität: ein Niemandsland mitten in der Stadt, eine scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen Ost und West. Die Wüste zwischen Potsdamer und Pariser Platz nahm der englische Photograph Aidan O’Rourke zu Beginn der achtziger Jahre auf.
Geschichte findet nicht im luftleeren Raum statt. Geschichte hat einen Ort. Berlin ist der Raum, wo die deutschen und die russischen Wege sich kreuzen. Fast jeder Meter ist markiert. Da gibt es die dichte Stadt des »Sankt Petersburg am Wittenbergplatz« mit seinen Cafés, Dielen, Konditoreien, Kunstgewerbeläden, seinen Verlagen und Buchhandlungen. Da gibt es das andere, das sowjetisch-kommunistische Berlin, dessen Zentren in der alten Mitte und im Osten der Stadt liegen: um die Botschaft Unter den Linden, um den Bülowplatz, um die Kneipen, die proletarischen Vereine, die Sportplätze, das Rote Berlin. Da gibt es die Salons und Gesellschaften des Alten und Neuen Berliner Westens, in denen Russen dazugehören, nicht als exotisch bestaunte Kosaken, sondern weil sie Europäer sind. Da gibt es die Komintern-High-Society, dieses einzigartige Biotop, aber auch die Gefängnisse von Moabit und Plötzensee. Diese Karten ergeben übereinandergelegt die russische Topographie Berlins.
Wer dem russischen Berlin auf der Spur bleiben will, dem wird einiges abverlangt. Er muß in Berlin und in Moskau ein wenig zu Hause sein und wenigstens zwei Sprachen sprechen. Er sollte sich im »Taribari« in der Nürnberger Straße, wo die russischen Emigranten verkehren, ebenso auskennen wie im Klub im Haus Kronprinzenufer 10, wo sich Berlins linke Intelligenz mit sowjetischen Autoren und Regisseuren auf Durchreise trifft. Er sollte die Strecke nach Moskau mit den Reiseberichten von damals mehr als einmal zurückgelegt haben, um zu verstehen, was Eydtkuhnen oder Negoreloje einmal war: ›Porta orientis‹ und Nadelöhr, durch das alle – von den Diplomaten bis zu den Unternehmern, von den ›Fellow travellers‹ bis zu den Agenten – kommen mußten. Er muß den Grundriß des Moabiter Zellengefängnisses, in dem Radek eingesperrt war, im Bauarchiv auffinden. Er muß bereit sein, nach Karaganda zu fahren, wenn ein Leben, das in Berlin begonnen hat, dort zu Ende gegangen ist.
Das russische Berlin, das man beschreiben will, ist eine Schule, in der man viel lernt. Es ist eine Schule der Sinne und des historischen Instinkts. Man lernt, daß hinter dem Zeremoniell des diplomatischen Korps die Zivilisierungsarbeit von Generationen steckt und daß es zu welthistorischen Umbrüchen gekommen sein muß, bevor auch nur eine Nuance geändert wird. Kursbücher sind mehr als nur eine Liste von Reisezielen, Zügen und Zeiten. Ihre Frequenzen haben zu tun mit Krieg und Frieden. Der Nord-Expreß steht wie der Orient-Expreß für das alte Europa, das Gefährt, das ›Schienenwolf‹ genannt wird, steht für den technisierten Krieg, für verbrannte Erde und totale Mobilmachung. Wir sehen in Harry Graf Kessler einen großen Ethnographen des untergehenden Europa und lesen sein Tagebuch als eine Art teilnehmende Beobachtung der Berliner Gesellschaft. Wir lernen, wie man aus literarischen Texten mehr herausholt als nur literarische Anspielungen und daß auch das Exoterische gelesen werden kann: als Zeit, in Worte gefaßt. Botschaftsempfänge, auf denen ›tout Berlin‹ zusammenströmt, sind für uns das Prisma, in dem man erkennt, wen man kennen muß, wenn man etwas verstehen will. Wir nehmen die Skandalgeschichten der Regenbogenpresse um Anastasia ernst, denn wir haben begriffen, was es für die Welt bedeutete, fortan ohne Zar und Kaiser auskommen zu müssen. Fast überall, wohin wir kommen, entdecken wir weiße Flecken: Es gibt kaum Untersuchungen zur historischen Formenwelt der diplomatischen Kultur, kaum etwas über den Kosmos der Komintern-Boheme, gar nichts über die Epochenfigur des Agenten. Die vorliegenden Studien sind daher nichts anderes als Anfänge, Versuche, Eröffnungen, die die fälligen Arbeiten anregen und vorbereiten, nicht vorwegnehmen können.
Was man dabei zu sehen bekommt, ist kein Schluß und keine Lehre, sondern eine Reihe von Geschichten, aus denen sich der Knoten geschürzt hatte. Es ist wenig sinnvoll, eine Anweisung zur Lektüre zu geben. Der Leser muß sich selbst zurechtfinden. Er kann davon ausgehen, daß ich viel Zeit und viele Gedanken darauf verwendet habe, herauszufinden, welches die Schwerpunkte der Recherche und der Darstellung – also die Knoten, die Sonden, die Stollen – werden sollten. Es versteht sich von selbst, daß weitere zu nennen wären. Aber auch dieses Buch ist endlich.
Es wird an den einzelnen Kapiteln selbst klar, weshalb sie notwendig und triftig sind. Es sind Drehbücher für den Untergang. Einzelne Studien kreisen, wie man leicht sehen kann, um Orte: Bahnhöfe, Grenzpunkte, Salons, Gefängnisse, Botschaften, Redaktionen, Cafés, Institute. Wieder andere haben Bilder und Bildwelten zum Mittelpunkt: Berlin als Metropole, die mental maps, die inneren Landkarten der Generation zwischen den Kriegen. Und schließlich geht es in fast allen Kapiteln um Personen, kulturelle Typen, Charaktere, also das Personal der Weltkriegsepoche: Emigranten, Agenten, Diplomaten, Militärs, Literaten, Funktionäre, Professoren, Virtuosen des Bürgerkrieges. Sie sind in der Regel Russen, Deutsche, Juden. Die Geschichten stehen für sich und können für sich gelesen werden, aber der Reiz des Buches besteht in den Linien, die aus dem einen Kapitel in ein anderes hinüberlaufen. Der Leser kann sich an den Titeln und Zwischentiteln rasch einen Überblick verschaffen und entscheiden, wo er einsteigen will. Der Personenindex wird ihm helfen, Querverbindungen und Querverweise ausfindig zu machen.
Wenn der Sinn der hier vorgelegten Studien schon nicht eine Lehre sein kann, sondern eine Einladung, sich in den Unübersichtlichkeiten und Verworrenheiten eines heillosen Jahrhunderts umzusehen, dann ist es auch müßig, eine Quintessenz formulieren zu wollen. Manche mögen es für ein sehr dürftiges Resultat halten, wenn man am Ende dieser Studien nichts anderes zu sehen bekommen hat als die Abwicklung und Überwältigung des neunzehnten Jahrhunderts. Aber sich einzugestehen, daß mehr nicht ›drin war‹, ist zuweilen weit schwerer zu ertragen, als sich auf dramatisch-pompöse Weise von Illusionen zu verabschieden, die verantwortlich gewesen sein sollen dafür, was mit Europa geschah. Wir können ruhig davon ausgehen, daß die Generationen vor uns nicht dümmer waren als wir selbst.
Wenn heute dennoch, wie ich annehme, alles anders ist und anders werden könnte, dann nicht weil wir klüger geworden sind, sondern weil die heillosen Machtverhältnisse, die den Generationen zuvor so unbegreifliche Konfusion und so unermeßliche Leiden aufgebürdet haben, vergangen sind. Die Konstellation der ineinander verkrallten Totalitarismen, in der die Völker Europas zur Geisel selbstmörderischer Bewegungen wurden, ist aufgelöst. Machtzerfall, Selbstdemontage und Erschöpfung durch Krieg haben die Fesseln gesprengt und die unseligen Allianzen zerstört, in denen noch die schöpferischsten Geister der Epoche befangen und gefangen waren. Organisationsgenie und intellektuelle Leidenschaft, bürgerschaftliches Engagement, energisches Intervenieren können nun zum Zuge kommen, ohne zugleich in tödliche Verstrickung münden zu müssen. Was der Totalitarismus ins Destruktive gewendet hatte, hat nun die Chance, sich produktiv auszuleben. Die Tugenden der verlorenen Generationen, einmal emanzipiert vom Zwangszusammenhang der Weltkriegsepoche, können zu Schubkräften zivilgesellschaftlicher Entwicklung werden. Das war nach 1945 wenigstens im Westen der Fall, und nach 1989 auch anderswo.
Vieles spricht dafür, daß sich die alte Konstellation erledigt hat. Die heroischen Anstrengungen und die phantastischen Projekte der Sturm-und-Drang-Periode des zwanzigsten Jahrhunderts sind überflüssig geworden. »Schicksalsgemeinschaft« oder »Geist von Rapallo«, oder wie die Epochen-Chiffren sonst noch geheißen haben, sind Geschichte geworden und ohne Relevanz für die heutige Situation. Die Notlage, in der sie erfunden wurden und aus der sie herausführen sollten, existiert nicht mehr. Die Generalität spricht weder Russisch noch Deutsch, sondern das Amerikanisch, das im europäischen headquarter üblich ist. Die Flüchtlinge, die das russische Berlin von einst gebildet hatten, sind abgelöst von den ›neuen Russen‹ im Berlin von heute. Business as usual am Ende eines Jahrhunderts der Katastrophen. So langsam arbeitet Geschichte.
Bis zum Ersten Weltkrieg war Berlin der zentraleuropäische Eisenbahnknoten und der Durchgangspunkt für alle, die Europa von Ost nach West oder von West nach Ost durchquerten. Berlin war die erste Station für alle Reisenden aus dem Russischen Reich auf dem Weg ›nach Europa‹, und Berlin war die Station, auf der man sich einstellte auf das ganz andere, das einen nach zwei Tagen Zugfahrt erwartete. Berlin ist – neben Wien – in den russischen Reiseführern, die von der Jahrhundertwende an in Mode kamen, der Ausgangspunkt für die Erkundung Europas. Direkt vis-à-vis dem Südportal des Bahnhofs Friedrichstraße im Stadtzentrum lag denn auch das Hotel de Russie mit seinen zweihundert komfortablen Zimmern. Und als der junge Dichter Lew Lunz Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin kam, war er nicht wenig erstaunt. Den ersten Menschen, den er, soeben aus dem Zug gestiegen, ansprach, war – ein Russe: »Als ich in Berlin ankam und aus dem Bahnhof heraustrat, fragte ich aufs Geratewohl einen jungen Mann: ›Wie komme ich zu der und der Straße.‹ Der Bursche guckte mich dumm an und schüttelte den Kopf: ›Keine Ahnung.‹ Dann fragte er traurig in gutem Russisch: ›Sind Sie eventuell Russe?‹ Das war der erste ›Deutsche‹, dem ich begegnete. So betrat ich die fremde Hauptstadt.«1
Aber das Gefühl, daß in Berlin etwas endete und etwas anderes begann, galt auch für die andere Richtung. »Der östlichste Bahnhof von Berlin war der Schlesische, der nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt lag«, schrieb Hans von Herwarth, der als junger Diplomat im April 1931 von hier aus seine erste Dienstreise nach Moskau antrat. »Man fühlte, daß hier eine andere Welt begann. Die Menschen auf den Bahnsteigen, die Gerüche, die ganze Atmosphäre war unverkennbar östlich. Unser Militärattaché in Moskau, General Ernst Köstring, behauptete immer: ›Asien beginnt am Schlesischen Bahnhof‹. Von hier aus erstreckt sich eine weite, unendliche Ebene bis Wladiwostok, die nur vom Ural unterbrochen wird. Je weiter der Zug nach Polen hineinfuhr, um so spärlicher war das Land besiedelt, und der Zug bewegte sich langsamer, weil die Gleise nicht geschottert waren.«2 Tatsächlich konnte man seit 1927 durchgehende Fahrscheinbücher bis nach Fernost erwerben. Die Reise von Berlin nach Tokio kostete etwa 650 Reichsmark. Sie ging über zwölftausend Kilometer, durchmaß sieben Zeitzonen und dauerte von Moskau bis Tokio zwölf Tage (statt einer Seereise von 45 Tagen).3 Der amerikanische Korrespondent William L. Shirer nannte den Zug, der am Schlesischen Bahnhof ankam, den »Orientexpress«.4
West und Ost als geokulturelle Pole waren sogar in die soziale Topographie Berlins eingeschrieben. Die Gegend um den Schlesischen Bahnhof war typisches Bahnhofsmilieu mit Nachtlokalen, Bordellen und billigen Hotels. Ein berühmtes Etablissement wie das »Scala« war ganz in der Nähe. Der Berliner Theatermann Julius Berstl hat das Milieu um den Schlesischen Bahnhof als eine Art inneren Orient, ohne den auch Berlin nicht auskam, als den Ort der verdrängten Wünsche und Triebe beschrieben. »In Witvogels Hippodrom dröhnt Musik. Russenkapelle. Drei Mann in bunten Blusen, aber schäbig. Es riecht nach Zigaretten, Roßäpfeln und Azethylen. Vier geduldige Gäule traben im Ring. Ihre Reiter sind junge Arbeiter in Fabrikhemdchen. Die Mädchen im Herrensitz. Die Röckchen übers Knie verschoben. Man sieht die Schlüpfer und zwischen Schlüpfer und Strumpf ein Stück Fleisch. In der Mitte vom Reitring das große Tanzrad. Betrieb! Da liegen die Mädchen den Jungen im Arm, Brust an Brust, es riecht nach Menschen und Staub, in blassen Gesichtern offene, gierige Lippen, manche geschminkt, und Augen, keß, sanft, frech und ungeduldig. Das ist ein Markt hier. Man kauft und verkauft sich. Für’n Abendbrot, für’n Bett im Absteigequartier, vielleicht auch noch Strumpfgeld. Die Russen geben sich Mühe, muß man schon sagen, sie blasen unermüdlich: Liebling, wie ist dein Name, die Adresse und dein Telefon? Wohnst du bei deiner Tante, deinem Gatten oder in Pension? Oder: Ein süßer Kuß! Vorschuß auf das Himmelreich, ein kleiner Scheck von dir aufs Paradies! Glaub mir, es muß nicht sein fürs ganze Leben gleich, ein schwaches Stündchen nur mit dir, allein mit dir! O, öffne nur die Himmelstür.«5
Auch Alfred Döblin hatte seinen »Vorstoß nach dem Westen« vom Schlesischen Bahnhof aus begonnen.6 Noch ein anderer – Ilja Ehrenburg – sah in Berlin weder Ost noch West, sondern etwas Drittes und für ihn Wesentliches: »Nähert man sich Berlin, so leuchtet es aus der Ferne wie ein riesenhaftes Zifferblatt, seufzt gleichmäßig wie ein musterhaftes Chronometer. Das ist das Herz des alten Europa. Das Denken kann eilen, die Füße können zurückbleiben – das Herz aber kennt die Zahl seiner Schläge, kennt sein Maß. Meine diesmalige Ankunft in Berlin werde ich nennen: Begegnung mit meiner Zeit. In Rußland lebten wir in den ersten Revolutionsjahren im 21. Jahrhundert … Hier machte ich Bekanntschaft mit unserer Epoche.«7
Der Schlesische Bahnhof, der heutige Ostbahnhof, ist über alle Umbauten, Umbenennungen und politischen Umbrüche hinweg seit mehr als anderthalb Jahrhunderten Berlins Tor zum Osten. Hier traten Touristen, Rußlandbegeisterte und Revolutionäre ihre Reise gen Osten an, und hier traf 1945 auch Stalins Sonderzug auf dem Weg nach Potsdam ein. Seine bis zum Zweiten Weltkrieg bestehende Form erhielt der Bahnhof in den Jahren 1880 bis 1882.
Jahre später war die Ost-West-Verbindung unterbrochen und der »Nord-Expreß« nur noch eine Reminiszenz an alte Zeiten. Die Berliner Bahnhöfe waren zum Ausgangs- und Endpunkt von Hitlers Krieg im Osten geworden, zunächst im Krieg gegen Polen, dann im Krieg gegen die Sowjetunion. »Die Stadtbahn, der Güterbahnhof, aber auch zunehmend der Personenbahnhof bildeten wichtige Ausgangspunkte für Transporte von Soldaten und militärischem Gut, von Urlaubern der Ostfront sowie von Frauen und Kindern in weniger bombengefährdete Gebiete.« Urlauber mußten sich hier an der Frontleitstelle melden, erhielten ihre Marschpapiere und Verpflegung. Während die Wohngebiete großflächig von englischen Fliegerbomben zerstört wurden, blieben die Bahnanlagen relativ lange intakt. In den letzten Kriegsmonaten wandelte sich indes das Bild. »Im Schalterraum, in den Gängen und Wartesälen herrscht ein tolles Durcheinander, fliegende Sanitätstrupps, Feldküchen, Stäbe, Munitionsdepots sind hier untergebracht, aber alles im Aufbruch begriffen, hastig, eilig, nervös. Verbandsmull, zerbrochene Medikamentenflaschen, leere Konservendosen, Aktenbündel, Stahlhelme, Gasmasken, geborstene, zerbrochene Stühle und Tische, Knäuel von Telefondraht, Zigarettenstummel, Zeltplanen liegen umher, alles bedeckt von den grauweißen Wolken des unaufhörlich von den Decken und Wänden rieselnden Kalkstaubes, dem Rauch der Feldküchen, dem Qualm der brennenden Häuser.«8
Am 22. April 1945 begann der Sturm der Roten Armee auf den Schlesischen Bahnhof unbd endete am Abend des folgenden Tages. Rund 1400 Soldaten traten hier den Weg in sowjetische Kriegsgefangenschaft an. Sofort begannen die Aufräumungsarbeiten, und schon am 25. April trafen gegen 18 Uhr schwere Eisenbahngeschütze ein, die General Shukow aus Küstrin hatte heranführen lassen, um das Feuer auf die Innenstadt zu eröffnen. Auch wenn die Bahnhofshalle und das von dreizehn Bombentrichtern übersäte Bahnhofsgelände rasch wiederhergestellt wurden, so war die Stellung des Schlesischen Bahnhofs von nun an eine grundlegend andere. Und das gilt für die ›Berliner Spinne‹ als Ganzes. Berlin hatte aufgehört, der west-östliche Transitpunkt zu sein. Aus seinen Durchgangsbahnhöfen waren Endstationen geworden. Viele wurden wenige Jahre nach Kriegsende ›aus dem Verkehr gezogen‹, die meisten, darunter der Anhalter, der Potsdamer Personenbahnhof, der Stettiner, der Lehrter und der Görlitzer Bahnhof, wurden später abgerissen.9
Der Schlesische Bahnhof – faktisch Berlins Ostbahnhof – steht für eine Geschichte, die hier zu Ende ging. Ihre Folgen sind bis in die Gegenwart hinein spürbar, denn erst jetzt, nach dem Ende der Teilung der Stadt, konnte sich Berlin, stillgestellt durch fünfzig Jahre der Teilung, an die Modernisierung seines Bahnsystems machen, die zunächst nichts weiter ist als die Wiederherstellung des Vorkriegsniveaus. Endstationen sind wieder Durchgangsbahnhöfe geworden. Es gibt kaum ein exakteres Barometer für das Auf und Ab in den Beziehungen zwischen Berlin und Moskau als die Strecke, die am Schlesischen Bahnhof beginnt.