»Manchen ist es vergönnt, zahllose Jahre im Licht ihrer Jugend zu verbringen. Andere müssen schneller erwachsen werden.«

Ein Buch über die

Macht der Erinnerung

und die Zeit, die uns bindet.

Ich war 16 und hatte ein Idol. Sein Name war Jules. Ein hagerer Mann mit weißen, zurückgekämmten Haaren, in schwarzer Lederhose und ebensolchen Stiefeln. Er konnte Motorrad fahren wie kein anderer; an einer Steilwand, gegen die Gesetze der Schwerkraft. Damit tingelte er durch die Lande und erfreute das Publikum mit seiner Show jeden Abend aufs Neue. Aber auch er erfreute sich an etwas. Denn in Wirklichkeit hatte Jules noch einen ganz anderen Job. Das erfuhr ich, als er verschwand. Und mit ihm die Kinder der Erde. Jetzt ist es an mir, ihn zu retten. Nicht nur sein Schicksal liegt in meinen Händen.

Die Geschichte von einem Jungen und seinem magischen Erbe. Ein Abenteuer um den Zauber der Jahreszeiten, den Mythos von Santa und die Realität, wenn man zu retten versucht, was von der Vergangenheit noch zu retten ist.

Der Autor

Jay Kay ist nicht nur Schriftstellername, sondern seit jeher Spitzname des Autors von Ich, Santa. Wenn er keine Bücher schreibt, macht er die Weltmeere unsicher und die Unterweltmeere sicher. Er war schon Journalist, Übersetzer, Fotograf, Pressesprecher, Grafiker und Programmierer. Lesen und Schreiben ist rein passionsmäßig bei ihm nicht zu trennen.

MAGISCHER REALISMUS IN DER TRADITION

DER GROSSEN FANTASY-ERZÄHLER.

1. Auflage

Hardcover 2018

Even Terms Press

a division of TopList® Communications

Postfach 1352, 85435 Erding

Korrektorat: EMB

Lektorat: H.P. Roentgen / Textkraft

Copyright Poem 'Santa'

by Jay Kay 2018

Lektorat: Edwin Miles / Modern Nomads

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Titeldesign & Layout: jk

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

Satz: DTP Service Durchschuss, 62291 Versatz

Herstellung / Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7528-7442-6

Inhalt

Lasst mich erzählen

von Liebe und Hass,

von Hoffen und Irren

aus Schicksal gemacht.

Schnee gibt es auch

und zarten Glitzer,

wenn auch beizeiten

wird es hart und bitter.

Wie die kalt klarste Nacht

mit viel Wind und Hallo,

rausch ich dahin,

ruf nur Ho, Ho, Ho!

Intro

Grabesunruh, Waldesrund, Schattenschrift

Manchen ist es vergönnt, zahllose Jahre im Licht ihrer Jugend zu verbringen. Andere müssen schneller erwachsen werden. Das hängt davon ab, wie man sich entscheidet. Da kann es so oder so gehen. Aber an einer Entscheidung hängt es doch meistens. Für oder gegen die Vergangenheit. Für oder gegen die Geschichte.

Wäre ich ein braver Junge gewesen?

Es steht mir nicht zu, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Ebenso frage ich mich, ob ich ein böser Junge hätte werden können. Vielleicht war ich dafür nicht lange genug Junge.

Dies ist mein Moment und ich glaube, das Schicksal hält etwas für mich bereit. Ich weiß nicht, was es ist, aber dass es gerade auf mich zurast, das spüre ich sehr genau.

Ich stehe auf einer Lichtung, und sie ist von grünem Gras bedeckt. Rund ist sie, mit einer leichten Erhöhung in der Mitte. Das Gras steht nicht hoch, eine wilde Wiese sieht anders aus. Aber es ist auch nicht kurz, als ob es jemand einmal in der Woche auf Format stutzt.

Ringsherum steht ein Wald aus hohen Tannen. Dicht an dicht blockieren sie den Blick in die Ferne. Auf der Borke der Bäume wächst Moos. Hinter den Stämmen unergründliches Dunkel.

Ich schaue zurück. Dort sehe ich einen Pfad. Festgetretene Erde und hier und da ein Hauch von Schotter markieren seinen Verlauf. Mitten durch die Wiese läuft er mit sanftem Schwung den Hügel herunter. Dort öffnet sich die Bewaldung mit einer breiten Bresche und dort unten kreuzt ein breiter Weg. Das kann ich selbst von hier oben sehen.

Doch der Grund, warum ich hier stehe, scheint vor mir zu liegen. Es ist ein großer Stein. Wie ein gefallener Monolith liegt er am höchsten Punkt des Hügels. An der Front sehe ich einen rechteckigen Bereich. Er sieht aus wie gemeißelt und glattgeschmirgelt. Die kunstvoll gearbeitete Umrandung macht daraus eine Plakette. Dort wäre Platz für eine Inschrift. Aber es ist nichts zu sehen. Der Raum inmitten der Rahmung ist blank und leer wie ein Silbertablett.

Für mich fühlt es sich an, als wäre dies ein Grab. Jemand liegt dort unten, das ahne ich. Doch so sehr ich auch in meinen Erinnerungen krame, es fällt mir nicht ein, wer es sein könnte.

Wie bin ich an diesen Platz gelangt?

Meine Kleidung fühlt sich an, als hätte ich sie schon ein paar Tage auf der Haut.

Ruhig ist es im Rund. Wie ein Ort außerhalb der Zeit. Der Himmel über der Waldwiese strahlt blau. Fern und weiß ziehen ein paar Wolken Streifen über seinen Rücken. Die Sonne ist noch über den Spitzen der Tannen zu sehen, aber sie hat ihren Zenit überschritten. So als wolle sie sich bald zur Ruhe begeben. Die Wiese ist nur zur Hälfte erleuchtet. Noch stehe ich neben dem massigen Stein im Licht, die andere Hälfte liegt im Schatten. Der Geruch von Holz und Moos und Beeren zieht von dort herüber.

Ein ungutes Gefühl macht sich in meinem Magen breit, als ich versuche, mich zu erinnern.

Gräber? Warum müssen es immer Gräber sein?

Was ist so besonders an Plätzen, die Vergangenes verwahren? Ist es das Gleichgewicht, das wir suchen? Der Ausgleich zu all dem Neuen, das uns jeden Tag umströmt und mitreißt? Etwas, das uns zeigt, wer vor uns kam, wo wir herkommen, wer wir sind?

Ich würde gerne jemanden fragen, warum ich hier stehe. Doch niemand ist zu sehen. Niemand, der mir mit Rat und Tat zur Seite steht, der meine Hand nimmt, um mich aus meinen Gedanken zu reißen.

Als ich auf den Stein starre, zieht ein Schatten über die Front. Eine flüchtige Ahnung in schwach flackerndem Grau tanzt über die die polierte Tafel. In ihrem Inneren erscheinen Schriftzeichen. So als würde ein unsichtbarer Geist mit einem ebenso unsichtbaren Werkzeug die Lettern windschnell in den Granit meißeln.

Auf einmal kann ich entziffern, was dort steht.

Es ist ein Name.

Jetzt fällt mir ein, warum ich gekommen bin. Alles hat mit dem Anfang zu tun.

Ein Mädchen irrlichtert durch meinen Geist. Und nicht nur eines, da sind noch ein paar. Eine von ihnen ist etwas Besonderes. Ich meine, das sind sie alle, aber eine ist etwas ganz Besonderes. Ihr Lächeln blitzt vor meinen Augen, als stünde sie vor mir. Es ist nicht die mit dem Licht. Obwohl die auch etwas damit zu tun hat, aber da fühle ich nur Chaos.

Ich muss meine Gedanken ordnen.

Ich muss mich erinnern.

Vielleicht ist es am besten, wenn ich da beginne, wo für mich alles begonnen hat.

Ganz am Anfang.

Und wie sollte es anders sein, da steht ebenfalls ein Grab.

Kapitel I

Friedhof, Pinguin, Lächeln

Er war ein seltsamer Mann. Schon damals, bei unserer ersten Begegnung, hatte ich ihn nicht berührt und kaum näher betrachtet, aber er hatte mich bemerkt. Und das hatte ihm ganz sicher gereicht.

Wenn meine Erinnerung nicht trügt, traf ich ihn das erste Mal auf einem Friedhof. Ganz und gar unpassend könnte man meinen. Noch dazu befand ich mich in einer ganz und gar unpassenden Situation. Ich stand am Grab meiner Mutter und hatte nichts. Nichts zu geben, nichts zu sagen und auch kein Zuhause. Alles, was sich am Horizont abzeichnete, war nicht gut, bestenfalls unangenehm und meistenteils bedrohlich.

Der Rest meiner Verwandtschaft und ein paar Mitarbeiter des Jugendamtes standen um mich herum. Ich starrte in die Grube, in die der Sarg gleich einfahren würde.

Ich wollte etwas geben. Etwas, das mit ihr hinunterfährt und dort für alle Zeiten verbleibt. Eine Blume vielleicht, oder ein Licht; eine Seite aus meinem Schulheft mit der besten Note der letzten Klassenarbeit, oder auch eines von meinen Lieblingsspielzeugen aus alter Zeit. Hätte ich doch etwas dabei gehabt, aber tatsächlich hatte ich nichts.

Mir war nichts erlaubt gewesen und mein Geist hatte sich in den letzten Tagen dermaßen auf Tauchstation begeben, dass ich nicht daran gedacht hatte, etwas in meine Taschen zu schmuggeln.

Doch ich wollte etwas haben und wenn ich es suchen musste mit aller Macht, die ein Junge mit sechzehn Jahren aufbringen kann.

Ich schaute mich unauffällig um. Trocken und steinkalt lag die Luft an diesem Tag über der Erde. Es war Ende Februar und der Morgen hatte verschlafen. Er wollte partout nicht hell werden.

Was für ein Brimborium wurde veranstaltet, nur um jemanden unter die Erde zu betten. Der Glaube an irgendetwas oder irgendjemand konnte sie jetzt auch nicht mehr retten. Der Glaube an ein gutes Ende war mir gerade abhandengekommen.

So fühlte ich mich verlassen, als Letzter der Familie. Meine einzige Bezugsperson war vor nicht einmal einer Woche unwiderruflich gegangen. Überraschend und nach kurzer Krankheit, wie es ebenso mitleidslos wie knapp im Fachjargon heißt. Für mich stellte sich das eher leidvoll und einprägsam dar.

Meinen Vater hatte ich nie kennengelernt. Wenn meine Mutter von ihm sprach, dann nur das Nötigste. Ich hatte immer das Gefühl, sie wollte nicht über ihn sprechen. Kaum mehr wusste ich, als dass er gegangen war, kurz nachdem ich das Licht der Welt erblickt hatte. Es war einfach so passiert. Damals scheinbar nichts Ungewöhnliches. Er war schlicht verschwunden. Hatte sie allein gelassen. Etwas, das sie ihm nie vergeben konnte.

Heute stand ihre letzte Reise an, und auf ähnliche Weise hatte sie mich verlassen. Einfach so. Als ich am Endpunkt ihres Weges durchs Leben stand, fühlte es sich für mich zumindest so an.

Wahrscheinlich war es mein Verlangen, dem Endgültigen nicht ins Auge zu sehen. Konnte man es mir verdenken? Sicher nicht, wenn die richtigen Leute um mich herum gestanden hätten. Aber das war nicht der Fall. In der zweiten Reihe lauerten zwei Beamte des Jugendamtes, denn auf ihr Geheiß musste ich hier erscheinen. Obwohl ich noch heute der Ansicht bin, dass auch bei dieser Sache mein Onkel seine Finger im Spiel hatte. Aber wer kann das jetzt noch wissen.

Als ich ein kleiner Junge war, hatte meine Mutter mich zum ersten Mal alleine gelassen. Sie war zum Einkaufen gegangen und der Meinung, ich wäre schon soweit. Ich saß vor dem Fernseher und wie es der Zufall wollte, lief eine Dokumentation über Pinguine. Einer der Kleinen war noch nicht lange aus dem Ei geschlüpft, da passierte es, dass seine Mutter auf Nahrungssuche ging. Er wartete und wartete, doch sie kehrte nicht zurück. Er saß verlassen auf seinem Felsen, umringt von all den anderen Pinguinen, aber keiner wollte ihm helfen. Seine Mutter würde nicht zurückkehren. Sie war im Meer verschollen. Sie würde nie wieder aus den Fluten auftauchen. Am Ende war klar, auch er würde es nicht überstehen.

Als meine Mutter nach Hause kam, war ich kaum zu trösten und für Wochen traumatisiert. Das mit dem Trauma und den unangenehmen Erinnerungen legte sich erst nach ein paar Monaten. Dann konnte ich nur noch den Kopf darüber schütteln. Bald hatte ich es völlig verdrängt.

Nun stand dieser Pinguin am Rand der Grube. Meine Mutter würde aus dem Meer der Zeit nie wieder auftauchen.

Der Pfaffe trat gegen einen kleinen Hebel und der Sarg glitt nach unten. Er schwebte in Richtung Erdmittelpunkt, so als würde ein Magier ihn verschwinden lassen. Mir war gar nicht magisch zumute, als die schwarzgelackte Holzkiste über den Rand der Grube aus dem Blickfeld geriet.

Ich nahm all meinen Mut zusammen, drehte mich um und rannte. Ich rannte, so schnell ich konnte und ich konnte schon immer verdammt schnell rennen. Zudem war niemand darauf gefasst. Die schwarzen Schuhe taten meinen Füssen weh. Die schwarze Hose flatterte bei jedem Schritt um meine Beine und das Jackett war weit, aber nicht zu weit, als dass es mich behindert hätte. Alles von Onkel Frank für diesen Anlass gekauft. Damit ich seiner Vorstellung von einer weihevollen Beerdigung entspräche.

Jetzt kam mir der Friedhof entgegen. San Michele war sein Name. Wie passend. Es war der einzige Friedhof der Stadt, auf dem vorwiegend Einwanderer aus dem Süden ihre Verwandten, ihre Clans, ihre Zweige und ihre Ableger beisetzten. Auf diesem Platz hatte meine Mutter bestanden. Ihre Familie ruhte dort. Auch wenn ich keinen von ihnen jemals zu Gesicht bekommen hatte. Außer meinen Onkel Frank, aber der war zu allem Unglück der Einzige, den das Leben noch nicht verlassen hatte.

San Michele war nicht groß, von einer hohen Mauer umrahmt. Im Innern über und über gefüllt mit einer Landschaft aus Stein, als hätte ein unsichtbarer Gott seine phänomenale Sammlung marmorner Bauklötze in einen viel zu kleinen Sandkasten gekippt. Zwischen den unzähligen Gräbern und Steinen, Altären und Mausoleen, Grabplatten und Grabwänden breitete sich ein labyrinthisches Gangsystem aus, in dem man sich leicht verlieren konnte.

Ich würde meinen Weg schon finden und etwas, das ich nehmen und wieder geben konnte. Der Begriff Stehlen kam mir damals weder in den Sinn, noch hätte ich in meinem Zustand einen Pfifferling darauf gegeben.

Sie riefen meinen Namen. Überrascht selbstverständlich, das waren die Beamten. Unverhohlen spöttisch, das waren meine Cousins. Unverzeihlich erbost, das war mein Onkel.

Ich hörte ihre Echos, als ich einen Gang nach dem anderen durchmaß, eine Ecke nach der anderen nahm. Bald hörte ich kaum noch ihre Stimmen, bald hörten sie nicht mal mehr meine Schritte. Bald senkte sich die Stille der Totenstadt auf meine Ohren.

Zuerst wollt ich nichts weiter als Abstand gewinnen. Dann begann ich zu suchen. Manch mickriger Altar war vergittert, die Kerzen brannten in einem Gefängnis aus Stein und Eisen. Mächtige Mausoleen waren mit Türen verschlossen. Viele Gräber bestanden aus tonnenschweren Platten und imposanten Skulpturen. Doch als ich um eine Ecke bog, sah ich am Ende eines schmalen Pfades zwischen hochaufragenden Kolumbarien einen Mann stehen. Er war unscheinbar gekleidet, und hätten nicht auf dem Grab vor ihm ein paar Lichter gebrannt, ich hätte ihn womöglich übersehen. So aber schlich ich langsam voran, meine Hände an die kalten Wände in den grauen Schatten gepresst. Er hielt etwas in der Hand. Es war eine Blume. Als ich näher kam, erkannte ich eine langstielige Rose.

Still stand er, in Gedanken versunken. In einiger Entfernung blieb ich stehen und hoffte, er würde gehen und mehr noch hoffte ich, er würde die Blume dort lassen. Zu meiner Überraschung tat er das auch. Er murmelte etwas, ich konnte jedoch nicht verstehen, was er sagte. Dann fuchtelte er kurz in der Luft, wies hierhin und dorthin und gestikulierte auf eine wunderliche Art, als würde er mit jemandem sprechen. Erst war ich ungehalten, er sollte lieber verschwinden. Dann musste ich lächeln. Wahrscheinlich hat mich das Lächeln damals offenbart. Er hat es mir nie verraten. Mir schien es, als würde er mit den Geistern reden oder mit den Toten, die dort begraben lagen, was ich ziemlich absurd fand.

Meine Mutter hatte mich so wenig gläubig erzogen, wie es ihr möglich war. Und ich war nicht mehr in dem Alter, an Geister, Feen oder womöglich den Weihnachtsmann zu glauben. Über nichts in meinem Leben sollte ich mich mehr täuschen.

Schließlich schwang der Mann seinen Arm, so als wollte er das Universum einladen. Dann legte er die Blume auf das Grab und ging seines Weges.

Ich wartete keine Sekunde länger, huschte zu dem Grab hinüber und griff nach der Blume. Die Rose war weiß. Ich war in Eile, das möge man mir verzeihen. Ich kann mich erinnern, dass ich für einen winzigen Moment auf die Inschrift auf dem Grabstein schaute, aber schon Sekunden später hatte ich sie wieder vergessen. Heute wünschte ich mir, ich würde noch wissen, was dort geschrieben stand. Dann könnte ich die Stelle wiederfinden. Vielleicht noch einmal die Historie aufarbeiten, die Namen auflösen, die Geschichten nachverfolgen. Doch ich bin mir sicher, selbst heute würde ich dieses spezielle Grab nicht wiederfinden, so schnell hastete ich zurück in die Richtung, aus der ich fern und verloren meine Verwandtschaft rufen hörte.

An diesem Tage war das alles, was ich wollte. Ich würde die Blume zurückbringen und mir war ein letzter Gruß vergönnt. Alles unter den Anschuldigungen und strafenden Blicken von Frank und meinen Cousins. Ein ganz und gar unrühmliches Ende eines unrühmlichen Tages. Unter seine Obhut würde ich kommen. Er war mein letzter Verwandter, mein verbliebener Onkel Frank Ward. Meine Nemesis für eine unabsehbare Zeit.

Eines bleibt mir von diesem Tage unklar. Soll ich sagen, vielleicht hätte alles so kommen müssen und ich hätte genau diese Rose nehmen müssen. Oder sollte ich besser sagen, sicherlich musste alles so kommen und eben dieser Mann musste mir dort zwischen den Gräbern begegnen. Eines weiß ich ganz sicher, er hatte meine Witterung aufgenommen. Nicht nur meine Tat hatte mich verraten. Es war mein Lächeln gewesen.

Kapitel II

Winter, Villa, Artefakte

Es fiel noch in die Zeit des Winters, da ich zum ersten Mal seit langen Jahren das Haus meines Onkels betrat. Eine kalte Zeit, schneelos und frostig, war fast vorüber und schon bald würde der Frühling kommen. So wie er das jedes Jahr tat. Doch das konnte meine Stimmung nicht heben. Das Haus meines Onkels lag am anderen Ende der Stadt auf einem Hügel. Eine Seite des Grundstücks gehörte zum Stadtgebiet, die andere Seite bereits zu den umliegenden Feldern. Auch die angrenzenden Villen standen auf großen Grundstücken mit altem Baumbestand. Offenbar gab es einmal eine Zeit, da man es sich leisten konnte, so zu bauen.

Die Villa hatte mein Onkel geerbt. Es war ein verschachtelter Klinkerbau, der so gar nicht zu den anderen Bauten in der Umgebung passen wollte. Spitzgiebel und Türmchen, Gauben und Dachreiter erinnerten an hochherrschaftlichen, wenn nicht gar ritterlichen Einfluss. Der über Jahrzehnte verrankte Efeu hatte die Fassade derart überwuchert, dass der abweisende Eindruck des mächtigen Bauwerks sanft gemildert wurde. Die Ranken auf der Fassade erinnerten an ein Märchen, für mich sah es aus wie die Zweitwohnung von Dornröschen.

An wenige Besuche konnte ich mich erinnern. Der Letzte lag Jahre zurück. Meine Mutter hatte sich nie besonders mit meinem Onkel verstanden und ihn gemieden, wo und wann es nur ging. Als ich die Fassade der Villa vor mir sah, wurde mir bewusst, dass sie mir nie erzählt hatte, warum sie Onkel Frank so gerne links liegen ließ. Es sollte nicht lange dauern, bis ich es herausfand.

Mit nichts als zwei Koffern stand ich eines kühlen Märzmorgens vor seiner Tür. Die Fahrt mit dem Bus quer durch die Stadt war mir ewig vorgekommen; wie eine Reise in ein fernes Land. Ich betätigte den massiven Türklopfer aus Messing; eine löwenähnliche Maske mit schwerem Ring, denn eine Klingel gab es nicht. Das metallene Klacken verhallte gedämpft hinter der Tür.

Tito hörte ich Sekunden darauf. Er war zwar schon alt, aber seine Stimme war noch mit der furchteinflößenden Kraft und rotzigen Belligkeit ausgestattet, die die Kehle eines Rottweilers nun einmal prägt. Das war mir schon als Kind bei den Besuchen aufgefallen. Es kam mir vor wie aus ewig vergangenen Zeiten. Manchmal zum Geburtstag meines Onkels im Sommer und selten genug zum Weihnachtsfest. Aber nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Soweit ich wusste, hatten wir von Frank durchaus weitere Einladungen erhalten. Immer und immer wieder. Die meisten davon hatte meine Mutter abgelehnt. Gründe zu finden und so manches Mal zu erfinden, war ihr nicht schwergefallen. Deswegen waren mir nicht nur das Gebäude, vor dem ich jetzt stand, sondern auch seine Bewohner zwar bekannt, aber nicht vertraut. Onkel Frank und seine Söhne Tobias und Sebastian, nicht zu vergessen Tito, der Rottweiler.

Als mir der Jüngste von allen die Tür öffnete, erkannte ich neben Bastian den massigen Kopf des Rüden. Mein Cousin hielt ihn vorsorglich am Halsband. Ich vermute, sonst wäre ich möglicherweise einiger Finger verlustig gegangen. Oder vielleicht gleich meiner Haut im Gesicht. Wer weiß, wohin er gebissen hätte, wäre er nicht zurückgehalten worden. Er war hässlicher, als ich ihn in Erinnerung hatte. Das Alter hatte seiner Fratze nichts Gutes getan. Hängende Augen und ebensolche Lefzen. Viel zu verfressen und entsprechend bullig kam er daher. Die Zähne leider spitz wie eh und je.

»Ho, ho, langsam, langsam«, rief ich, als die Tür aufschwang und sich das ruppige Biest am liebsten auf mich geworfen hätte. Vielleicht war es der Meinung, ich wäre der Postbote (was musste der hier draußen für ein schweres Leben haben). Ich war sicher, Tito würde jeden Brief, der durch den Türschlitz hereingesteckt wurde, in kleine Schnipsel zerlegen. So viel zum Thema Reißwolf.

»Keine Panik! Hab ihn!«, rief mir Bastian entgegen.

Ich war mir nicht so sicher, denn er musste sich dem bulligen Köter vehement entgegenstemmen. Ich schätzte meinen Cousin auf kaum mehr als das Doppelte des Gewichts des Hundes an seiner Seite.

»Komm rein«, sagte Bastian. »Tito wird's schon schnallen, dass du ab jetzt dazugehörst.«

»Ach ja?« Ich nahm meine Koffer auf und folgte den beiden in den Hausflur.

»Na klar. Sobald du deine Vorstellung bei Frank hinter dir hast, gehörst du zur Familie.«

Und mit gedämpfter Stimme flüsterte er: »Du solltest heute vorsichtig mit deinen Kommentaren sein. Frank ist nicht so gut drauf.«

»So, so«, flüsterte ich zurück und wunderte mich, wieso Bastian meinen Onkel nicht mit Vater, Paps oder Daddy anredete. Ich konnte in meiner Erinnerung nichts darüber finden, dass er und sein Bruder Tobias das jemals getan hatten.

»Wieso sagst du eigentlich Frank und nicht…?«

Weiter kam ich nicht.

»Ich sag's dir nur, damit du Bescheid weißt«, sagte Bastian und beugte sich herüber, da er seine Stimme noch weiter gedämpft hatte. »Das mit Onkel kannst du dir schenken. Auf solche Anreden fährt Frank gar nicht ab. Hat er noch nie, auch als du ihn früher so genannt hast. Hat er nur deswegen durchgehen lassen, weil deine Mom dabei war.«

Inzwischen hatte Tito kapiert, dass ich kein Fremder war und auch nicht der Postbote. Vielleicht hatte er sich an meine früheren Besuche in der Villa erinnert. Wie weit mag ein Hundegedächtnis zurückreichen? Meiner Einschätzung nach war er so brülldumm wie ein Streichholz, aber eines, das nicht entzündet war. Obwohl ich mir sicher bin, dass er an sich nichts gegen Menschen hatte und schon gar nicht gegen den Postboten. Er war nur böse, weil er nie Post bekam. Mein Cousin konnte ihn loslassen und er begann, an mir zu schnüffeln. Das endete mit einem lauten Schnaufer, so als wäre ich ein ungenießbares Stück Bitterbrot.

Fast hätte ich laut »Gesundheit« gerufen, aber ich nahm Bastians Ratschlag zu Herzen und fing schon mal bei Tito an, meine Klappe zu halten. Mal sehen, wie lange ich durchhalten würde.

»Frank ist hinten im Arbeitszimmer. Stell deine Koffer erst mal hier ab. Ich zeig dir nachher dein Zimmer im zweiten Stock. Jetzt meldest du dich am besten an. Das Arbeitszimmer ist da drüben.« Und er wies auf eine mächtige Doppeltür am Ende des Flurs.

»Danke«, antwortete ich knapp und wollte mich schon den Türen zuwenden, da nahm mich Bastian am Arm.

»Hey, du scheinst ja wirklich ein Netter zu sein«, sagte er von dem Danke sichtlich überrascht. »Tu mir den Gefallen und sag nichts darüber, was ich dir geraten habe. Dann kann ich dir in Zukunft vielleicht mit ein paar Tipps aushelfen. Wenn du verstehst, was ich meine.«

Mir war nicht klar, ob ich verstehen wollte, aber ich stimmte ihm zu, auch wenn sich meine Augenbrauen unwillkürlich zusammenzogen.

Er folgte mir mit Tito im Schlepptau, als ich die letzten Schritte durch den zunehmend dunkler werdenden Flur zurücklegte. Enger wurde es auch, da die Treppe ins obere Stockwerk hier an der Wand verlief. Die Vertäfelung aus dunklem Holz und die grüne Tapete, die sich ebenso ergraut wie flächendeckend an den Wänden ausbreitete, machten die letzte Strecke zu einem düsteren Tunnel.

Dann konnte ich meine Klappe doch nicht halten.

»Hier gibt's aber nicht noch mehr Monster wie Tito?«, warf ich meinem Cousin über die Schulter zu.

»Und wenn schon«, flüsterte er hinter mir. »Vor Monstern brauchst du keine Angst zu haben. Ich hab jedenfalls keine Angst vor Monstern.«

Das fand ich mutig von einem Jungen, der ein paar Jahre jünger war als ich. Trotzdem musste ich stocken, als ich nach dem Türknauf griff.

Das lag daran, dass ich ihn murmeln hörte: »Höchstens vor den Träumen, in denen die Monster auftauchen.«

Ich entschied mich, zweimal vehement anzuklopfen, bevor ich die Tür öffnete. Wahrscheinlich eine meiner besseren Entscheidungen an diesem Tag.

Nach einem kernigen Herein meines Onkels öffnete ich und trat ein.

Zu meiner Überraschung war nicht nur mein Onkel, sondern auch Tobias anwesend. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass sie nicht nur auf mich gewartet hatten, sondern dass ich das Thema ihrer Gespräche gewesen war.

Tobias lümmelte mit seiner spindeldürren Statur auf einem Sessel gegenüber dem riesigen Schreibtisch herum. Er war zwei Jahre älter als ich. Nicht der Schreibtisch selbstverständlich, sondern mein Cousin. Mein Onkel saß ihm auf einem ledergepolsterten Chefsessel gegenüber und erhob sich, als ich eintrat. Ähnlich wie Tobias hatte Frank eine schlanke, ja fast dürre Figur. Ein hagerer Mann unbestimmbaren Alters mit einem ebensolchen Gesicht und einer schneidend dünnen Nase.

Das Arbeitszimmer hatte ich noch nie von innen gesehen. Bei all den früheren Besuchen hatte Frank uns nie hierher gebeten. Die wenigen Besuche und Feiern hatten entweder im vorderen Wohnzimmer oder in der Küche stattgefunden.

Im Zimmer roch es nach Rauch, so als hätte jemand vor Kurzem eine Zigarette ausgedrückt. Die beiden großflächigen Fenster waren auf kipp gestellt. Ein verschließbarer Aschenbecher stand auf der lederüberzogenen Platte des mächtigen Schreibtisches.

»Setz dich«, wies Frank mich statt einer Begrüßung an, obwohl ich mir ein freundliches Hallo abgezwungen hatte.

Er bot mir den zweiten Ledersessel vor seinem Tisch an und ich setzte mich. Tito war mit mir hereingetrottet und beobachtete mich argwöhnisch. Hatte ich ihm gerade seinen Platz streitig gemacht? Zu meiner Überraschung setzte er sich neben den Schreibtisch, behielt mich aber im Auge.

Frank wartete, bis ich in dem Sessel neben meinem Cousin eingesunken war. Bastian blieb im Türrahmen stehen.

Ich konnte in diesem und auch in den folgenden Momenten nicht beurteilen, was mich mehr ablenkte oder faszinierte. War es mein Onkel und das, was er tat und sagte, oder die Wand hinter seinem Rücken und, wie ich bald bemerkte, auch die restlichen Wände um uns herum.

Gegenüber dem Schreibtisch befand sich ein imposanter Kamin mit offener Feuerstelle und schmiedeeisernem Funkenfang. Allerdings war kein Feuer zu sehen und es sah auch nicht so aus, als wäre Frank ein Freund dieser altmodischen Art der Heizmethode, so sauber erschien mir die Feuerstelle. Ansonsten war der Raum über und über zugestellt mit Vitrinen und Regalen voller Waffen und Reliquien, die aus allen Zeitaltern der Weltgeschichte zu stammen schienen. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte. Wie ein typisches Arbeitszimmer sah es hier jedenfalls nicht aus. Und wenn, dann musste mein Onkel einen sehr seltsamen Job ausüben. Mir kam es eher wie in einem Museum vor.

Wie ich bald herausfand, hatte Frank eigentlich gar keinen Job, außer dass er ab und zu mit den Antiquitäten handelte, die sich hier stapelten. Neue kaufte und alte gegen noch ältere und vor allem wichtigere eintauschte. Woher er das Geld dafür nahm, war mir ein Rätsel.

»Freut mich, dass wir dich endlich unter unsere Fittiche nehmen können«, sagte Frank in eher unerfreulichem Tonfall. Das fixierte meine umherirrenden Augen ganz automatisch auf seinem Gesicht.

»Wir werden schon miteinander klarkommen«, setzte er nach.

Ich fand schon damals verwunderlich, dass Erwachsene, immer wenn sie wir sagen, ihr Gegenüber mit unauffälliger Unverschämtheit vereinnahmen. Bevor ich mit jemandem klarkomme, wollte ich mir doch lieber selbst ein Bild machen.

»Halte dich an die Regeln …«, ergänzte er mit lapidarem Unterton, was für mich so gar nicht zu dem Inhalt passen wollte, »… und wir werden eine prima Zeit haben.«

Mein Gesichtsausdruck muss daraufhin wohl eine animierende Mischung aus überrascht und fragend gehabt haben, obwohl mir mit den angesprochenen Regeln etwas schwante. Frank jedenfalls fuhr unmittelbar fort.

»Ich weiß, du bist Regeln aus dem Haus deiner Mutter nicht gewohnt. Verzeih', dass ich sie so kurz nach den Ereignissen ansprechen muss, aber sie war schon immer solch eine schwache Person. Sie hätte meine Hilfe annehmen sollen, wann immer ich sie ihr angeboten habe. Und das war wahrlich nicht selten gewesen in all den Jahren, seit du auf die Welt kamst. Sie hatte es schließlich nicht einfach, nachdem dein Vater euch so schmählich verlassen hat. Was ich meiner kleinen Schwester im Übrigen prophezeit hatte. Ich habe ihr so vieles geraten und war immer für sie da, auch wenn sie das nie verstanden und viel zu selten genutzt hat. Du musst wissen, Junge, ich habe sie immer geschätzt, über die Maßen. Auch wenn sie das zu meinem Leidwesen selten erwidert hat. Aber nun kann ich meinen Teil doch noch erfüllen. Wir werden schon auf dich aufpassen.«

Das klang so ganz anders, als das, was mein Onkel hatte verlauten lassen, wenn ich an die früheren Besuche in diesem Haus zurückdachte. Da war er überaus freundlich und bemüht gewesen. Ich konnte mich bestenfalls an nichtssagende Floskeln und eifrige Bedienung während der Geburtstagsfeiern und Weihnachtstage erinnern.

»Nun zu den Regeln«, sagte er mit einem Unterton, der auch zu einem Bankberater hätte passen können, der gerade die ach so unwichtigen Passagen im Kleingedruckten mit ein paar komprimierten Floskeln erklärt.

»Alles halb so wichtig wie es sich anhört. Unterschreiben Sie hier, Sie wollen doch in den Genuss der Zinsen kommen?«

Soweit ich mich erinnere, sagte er aber: »An drei Sachen haben sich alle Mitglieder dieses Haushaltes zu halten. Pünktlichkeit, Sauberkeit, Verschwiegenheit.«

Er ließ eine Pause. Nicht, um Luft zu holen, sondern wohl um der Wirkung willen.

Im ersten Moment war mein Hirn mit der Verarbeitung der Begriffe beschäftigt. Mit dem, was sie bedeuten könnten und wie ich in dieses Konzept hineinpassen würde. Deswegen fiel mir erst nach einigen Gedanken auf, dass da ein Begriff nicht so ganz zu den anderen passen wollte.

Ich war nie als der schlampigste und unpünktlichste Schüler bekannt und durchaus an einen gewissen wiederkehrenden Tagesablauf gewöhnt. Sprich, mein Zimmer in der kleinen Mietwohnung, die ich mit meiner Mutter bewohnt hatte, war von vorneherein zu winzig gewesen, um es mit Müll zu überladen. Aufräumen, Instandhalten, Ausmisten waren demnach Begriffe, die mir keineswegs Probleme bereiteten. Nebenbei hatte ich mir in der Schule eine gewisse Überpünktlichkeit angewöhnt. Einfach weil ich vorzog, jede Lage im Voraus zu sichten.

Ich atmete auf und freute mich schon darauf, etwas über die Zinsen zu hören, die sich bei Erfüllung dieser Tugenden im Hause Ward hoffentlich einstellen würden. Da prallte mein Geist vor den dritten Begriff, der sich wie eine imaginäre Schranke vor weiterem Verständnis und besonders vor Hoffnung auf glückselige Tage in der neuen Familie herabsenkte.

Mein Onkel lächelte mir wohlwollend zu. Das machte mir Mut.

»Ein gewisses Maß an Ordnung, Bemühen und Befolgen der Regeln wirst du schnell erlernen«, fuhr er fort. »Schließlich bis du ein Ward.«

Das war ich zwar nicht. Zumindest nicht dem Namen nach, denn meine Mutter hatte den Namen meines Vaters angenommen. Aber natürlich hatten wir dieselben Vorfahren.

Dann kam er auf die von mir sehnsüchtig erwarteten Zinsen zu sprechen.

»Wenn ihr Jungs euch an die Regeln haltet, ist mir ansonsten egal, für was ihr euch interessiert. Solange ihr aus der Schule passable Noten mitbringt, könnt ihr euch die Zeit vertreiben, mit was auch immer euch Spaß macht.«

Das klang ja geradezu verführerisch. Wo war der Vertrag, den ich unterschreiben konnte?

»Wie hört sich das für dich an?«, fragte er mich.

Ich nickte vorsichtshalber etwas bedächtiger, als ich im ersten Moment vorgehabt hatte und sagte: »Ziemlich Okay.«

»Ziemlich Okay?«, fragte er mich und zog die Augenbrauen nach oben, während er meinen Tonfall nachahmte. »Wie wäre es mit Großartig, Junge. Ziemlich ist vielleicht etwas, das du aus dem Haus deiner Mutter kennst oder vielleicht aus der Schule, oder aus dem Fernsehen. Das, was jeder da draußen blubbert, wenn er nicht erkennt, was wirklich gut ist, was noch Gehalt hat, was uns alle zusammenhält.«

Zu meinem Unbehagen über diese Äußerungen ging er bei seinen Worten um den Schreibtisch herum und blieb neben meinem Sessel stehen. Er beugte die Knie und hockte sich neben mich, so dass sein Kopf auf Höhe des meinen war. Sein Gesicht kaum mehr als eine halbe Armlänge entfernt.

Ich verriet meine Aufregung dadurch, dass sich meine Arme für einen Moment mit einem unbedachten Zucken verselbständigten. Vielleicht hatten sie gedacht, sie müssten sich in Abwehrstellung begeben. Das mag für manche im Raum vielleicht lustig ausgesehen haben. Für einen der Anwesenden jedoch war es das Signal, ein tiefkehliges Knurren zu starten. Tito war offenbar der Meinung, ich wollte sein Herrchen von mir schubsen oder schlimmeres. Er blieb auf seinem Platz neben dem Schreibtisch sitzen, aber das Knurren und ungefällige nach vorne Schnappen mit dem Kopf sollten mir Warnung genug sein.

Ich hielt inne, während Frank mit einem Wischer seiner Hand sowie einem bösen Blick den Rüden zur Ruhe brachte.

»Entschuldige«, sagte er zu meinem Erstaunen. »Tito ist sicher noch verwirrt darüber, dass du jetzt Teil unserer Familie bist. Er wird sich bald daran gewöhnen und dann wird er auf dich genauso aufpassen wie auf uns. So wie er es schon immer getan hat. Und nicht nur auf uns, sondern auf dieses Haus und ganz besonders alles, was sich darin befindet.«

Er schaute sich um und wies mit einer knappen Geste an die Wände ringsum.

»Ganz besonders auf das, was du in diesem Raum siehst. Tito hier,« und er tätschelte dabei den bulligen Kopf des Rottweilers, »bewacht uns und meine Sammlung zuverlässig und treu. Viel treuer, als je ein Mensch es könnte.«

Da war ich mir ganz sicher. Tito war für derartige Aufgaben wie gemacht.

Frank wandte sich wieder mir zu. Als er begann, in meine Richtung zu reden, fiel mir sein Atem auf, vor dem sich meine Nase nicht verstecken konnte. Ich wusste, sie hätte es gerne getan, denn was sie mir mitteilte, kam der Beschreibung eines Aschenbechers, der sich gerade geöffnet hat, unliebsam nahe.

»Ich möchte dir etwas darüber erzählen, was mir so wichtig ist, wie die Regeln für unser Beisammensein unter diesem Dach«, fuhr Frank fort und ließ sich durch meine Nase ebenso wenig aus der Ruhe bringen, wie durch meine Arme zuvor.

So so, dachte ich, jetzt kommt der Teil mit dem Vertrag und der verkauften Seele.

»Alles, was du hier siehst, ist unendlich wertvoll«, sagte er in ruhigem Tonfall, schaute mich aber dabei verschwörerisch über ein Auge an. »Nicht nur für mich, sondern auch für eine Menge Leute da draußen. Und deshalb ist Verschwiegenheit unsere oberste Pflicht. Wir wollen doch nicht, dass uns etwas abhandenkommt. Oder schlimmer noch, gestohlen wird.«

Aha, da war er also. Der letzte Punkt.

»Wie du siehst, bin ich ein Sammler.« Er machte erneut eine Pause und ließ mir einige Sekunden Zeit, mich umzuschauen.

Die Wand hinter seinem Schreibtisch bestand zur Gänze aus eingelassenen Schränkchen und Regalen. Sie glänzten mattschwarz wie das Holz der Türen und die Vertäfelung an der Zimmerdecke. Alles war vollgestellt mit Gegenständen jeglicher Couleur. Einige Meter Bücher waren auch darunter. In den Vitrinen längs der Seitenwände und sogar neben den Fenstern waren die auffälligsten und größten Objekte untergebracht.

»Ich bin mir sicher, das alles hier sieht sehr wertvoll aus«, sagte ich vorsichtig. »Was ist das genau?«

Ich befürchtete schon, ich wäre vielleicht für seinen Geschmack zu vorlaut gewesen, aber genau das Gegenteil trat ein. Mein Interesse schien ihm zu gefallen und seine Haltung entspannte sich merklich.

»Ich jage besondere Objekte«, fuhr er fort. »Objekte, die nicht nur eine außerordentliche Historie und einen gewissen Ruf haben, sondern sich durch etwas anderes auszeichnen.« Während er sich aufrichtete, wedelte er mit seinen dünnen Armen, so als wollte er etwas herbeirufen.

»Magie!«, rief er. »Allen Gegenständen hier wohnt eine ganz besondere Magie inne.«

Er ging zu einer der Vitrinen neben seinem Schreibtisch und wies auf den Inhalt.

»Siehst du das hier?«

Er zeigte auf eine kleine Nachbildung einer Kanone, die auf einem blauen Brokattuch stand, das auf einem Glasboden in Augenhöhe vor ihm zu schweben schien. Sie sah aus wie eine kleine Tischkanone für Silvester. Das Original hätte vielleicht aus der Französischen Revolution oder ebenso aus dem amerikanischen Bürgerkrieg stammen können. Das Metall war poliertes Gold und die Lafette aus Holz.

Ich nickte meinem Onkel auffordernd zu, damit er weiter erzählen konnte.

»Genau diese Kanone war alles, was Napoleon geblieben war, als er aus Russland zurückkam. Mit nur mehr seinem Pferd, ein paar Getreuen und nichts weiter in den Satteltaschen als dieser Kanone musste er am Abend des sechzehnten Dezember 1812 nach seinem missglückten Feldzug und dem Untergang seiner Armee eine Ruhepause einlegen. Einer der schwersten Winter der damaligen Jahre. Er kam von Dresden und wollte nach Paris weiterreisen. Doch im kleinen Gasthaus Laub im Pfinztal kehrte er ein, um sich zu erholen. Bezahlt hat er mit dieser goldenen Kanone, zweifelsohne ein Raubstück aus dem fernen Moskau.«

Für einen Moment schien es mir, als wehte plötzlich ein ganz anderer Wind durch das Zimmer. Es klang unglaublich und ich erinnere mich noch, dass mein Blick für einen Moment aus den großflächigen Zimmerfenstern auf den Garten fiel, der sich hinter dem Haus in sanftem Schwung den Feldern zuneigte. Ich stellte mir vor, wie die Landschaft unter einer eisigen Schneedecke versank und wie schwer es gewesen sein mochte, bei solchen Verhältnissen zu Pferd quer über einen Kontinent zu reiten.

Mir war so, als wäre die Temperatur im Raum tatsächlich um ein paar Grade abgesackt. Vielleicht war es aber nur meine Gänsehaut. Ob ich davon überzeugt war oder nicht, Frank hatte es so vorgetragen, als hätte er alle Beweise für die Richtigkeit seiner Angaben und würde felsenfest daran glauben.

»Oder das hier«, sagte er und wies auf ein anderes Objekt. Es war ein Revolver, der an der Wand neben dem Fenster hing. Er sah aus wie ein Colt aus der guten alten Zeit des Wilden Westens. Ein blankgewienerter, ziemlich langer Silberlauf; ein abgegriffener, dunkel gebeizter Holzgriff. Er hing auf einer Platte an der Wand, die mit blauem Samt beschlagen war.

»Das ist General Custers Armeerevolver, den er an jenem schicksalhaften Tag des fünfundzwanzigsten Juni 1876 trug. Du weißt vielleicht, dass er selbst für die Entscheidung verantwortlich war, sich einer Übermacht der verbündeten Indianerstämme zu stellen, ohne vernünftige Aufklärung zu betreiben oder auf Verstärkung zu warten. Auf einem Hügel am Little Bighorn River in Montana hat er die letzten Schüsse mit diesem Colt Cavalry Single Action abgegeben, bevor er und sein gesamtes Regiment überrannt wurden.«

Ich musste schlucken. Wenn das wirklich stimmte, war einiges aus dem Arbeitszimmer und womöglich auch aus dem Keller meines Onkels eine Menge wert. Jetzt verstand ich seine Bedenken, was die Aufbewahrung und damit verbundene Verschwiegenheit anging. Wer weiß, wer sonst gerne diese historischen Objekte sein eigen genannt hätte.

Doch jetzt war Frank in seinem Element. Er ging durch den Raum und zeigt hierhin und dorthin.

»Siehst du diesen Dolch hier.«

Ich schaute auf ein großes, plumpes Messer mit ledergewickeltem Kurzgriff und sehr breiter, bauchiger Klinge.

»Es ist ein Pugio und dazu noch ein besonderer. Er hat Brutus gehört und der hat ihn am fünfzehnten März des Jahres 44 als letzter in Caesars Körper versenkt, um den römischen Imperator zu beseitigen. Mit seiner hinterlistigen Bande an Senatoren, die im Übrigen alle zugestochen haben, nachdem sie Caesar auf eine Versammlung gelockt hatten. Wusstest du, dass er nur ein Ziehsohn des Kaisers und kein leibliches Kind war.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Oder hier. Dieser Bogen hat einmal Marco Polo gehört. Und du weißt ja, dem wird nachgesagt, er hätte seine Reisen nicht wirklich vollendet und China nur aus Erzählungen gekannt. Aber er war dort und er hat mit diesem Bogen den letzten chinesischen Drachen erlegt. Auch wenn das nur ein sehr kleiner Brunnenwurm war.«

Ich wollte mich mehr und mehr schütteln ob der kaum zu glaubenden Geschichten, die mein Onkel da über die Objekte verlauten ließ. Ich musste mich zusammenreißen.

»Und sieh hier.«

Er zeigte auf ein Arrangement von steinern aussehenden Pfeilspitzen, die kunstvoll auf einer Wandplatte drapiert waren.

»Das sind die Pfeilspitzen von Nimrod, dem königlichen Herrscher von Babylon. Du erinnerst dich? Der meinte, er könne einen ganz besonders hohen Turm bauen, um den Himmel zu erreichen. Leider kam ihm eine lancierte Sprachverwirrung in die Quere.«

So ging es weiter. Ein Eckzahn des Beowulf aus Norwegen, das Drachenglas des Qi Wu, legendärer Zauberer am Hof von Xanadu, das Hufeisen eines Zentauren, ein Irrlicht in einem Kristall gefangen, die Haarlocke eines Sasquatch und immer wieder viele berühmt-berüchtigte Waffen. Eine BAR Maschinenpistole aus dem Arsenal von Bonny & Clyde, eine Elefantenbüchse von Hemingway, ein Säbel von Mussolini, und eine Hacke für Bergsteiger. Zu der sagte er jedoch nichts. Sie fiel mir nur deswegen auf, da sie direkt über seinem Lehnstuhl an der Wand aufgehängt war. Sah aus wie ein Eispickel. Ich war mir sicher, das Ding hatte eine ebenso fragwürdige wie unheilvolle Geschichte. Nicht viel anders, als die anderen Antiquitäten im Zimmer.

Ich war beeindruckt, aber vor allen Dingen sprachlos. Das lag nicht nur an den Objekten und Beschreibungen. Ich wusste nicht, ob ich auch nur das Geringste glauben konnte von dem, was mein Onkel da so voller Überzeugung von sich gab. Insofern war es besser, dass mir im ersten Moment die Stimme den Dienst versagte.

Zuletzt wandte er sich einem seltsam aussehenden Gegenstand zu, der sogar in der verschlossenen Vitrine noch unter einer gläsernen Haube gesichert war. Es sah aus wie ein zusammengebundenes Säckchen, nicht größer als eine Faust, mit allerlei Schnüren, bunten Perlen und winzigen Knochenfragmenten bestickt. Ich wollte glauben, die Knochen würden von Vögeln stammen.

»Was du hier siehst, ist etwas Besonderes. Es ist ein Mojo. Ein abgrundtief böser, widerlicher Zaubersack. Den hat der Häuptling der Taíno auf dem ehemaligen Santiago angefertigt. Das ist die Insel, die heute Jamaika heißt. Die hat Kolumbus auf seiner letzten Reise entdeckt und nebenbei einige Seuchen auf die Insel eingeschleppt. Nachdem die Tochter des Häuptlings eines der Opfer war, hat der mit diesem verfluchten Objekt eine Krankheit auf Kolumbus übertragen, obwohl der bereits wieder in Spanien weilte. Es scheint gewirkt zu haben. Der große Entdecker ist mit unbekannten Symptomen und völlig alleine verstorben.«

Das ist nicht nur widerlich, sondern völlig irre.

Laut sagte ich jedoch: »Das ist ja phantastisch. Woher kommen all diese Dinge? Und woher weißt du, ob all diese Geschichten stimmen?«

»Ich habe Verbindungen in die ganze Welt, mein Sohn«, sagte er mit verschwörerischem Unterton. Das Erste verwirrte mich, das Letztere ließ mich innerlich zusammenzucken. Ich wollte ganz sicher eine Menge im Leben sein, aber bestimmt nicht sein Sohn. Trotzdem sagte ich nichts, ich wollte ihn nicht unterbrechen.

»Meine Lieferanten sind handverlesen und ich habe sie mir über die Jahre aufgebaut. Wer schon so lange sammelt wie ich, kennt seine Lieferanten bereits aus einer Zeit, da wart ihr Jungs nichts weiter als Quark im Schaufenster.«

Ich musste nicht alles verstehen, was Frank so von sich gab, aber in meinen Ohren klang das irgendwie abwertend.

»Nun ja«, fuhr er fort. »Zu dem zweiten Teil deiner Frage kann ich nur sagen, dass ich weiß, dass es außergewöhnliche Objekte sind.« Er betonte das ich in seinem Satz ganz besonders und schaute mir dabei in die Augen.

»Ich spüre es. Ich weiß es, wenn ich es in Händen halte. Manchmal sogar schon, wenn ich die Dinge angeboten bekomme und nur auf Bildern sehe. Es ist etwas tief in mir, dass mir sagt: Dieses Ding ist nicht nur echt. Es ist einzigartig und ganz sicher das Original. Ich habe mich noch nie geirrt.«

Von dieser Art des Irrens hatte ich in diesem Moment eine etwas andere Meinung, aber ich behielt sie vorsichtshalber für mich. Ich wollte nur wissen, auf was man sich im Hause Ward einstellen musste und das wurde mir gerade sehr plastisch vor Augen geführt.

»Du musst verzeihen«, sagte Frank plötzlich freundlich und zuvorkommend, »wenn ich euch jetzt entlasse. Aber ich erwarte eine Lieferung. Leider ist der Termin überfällig und von Unpünktlichkeit halte ich gar nichts. Aber macht euch auf etwas Besonderes gefasst. Etwas, das euch Jungs sicher ebenso begeistern wird wie mich. Ich kann euch versichern, ihr dürft es auch anfassen.«

Er schmunzelte, ja lächelte fast ein bisschen bei diesen Worten.

»Denn ihr wisst ja, dreimal im Jahr steht ein großer Hausputz an und alles muss gereinigt, überprüft und gewienert werden.«

Auch das noch.

Ich war mir sicher, den alten Zaubersack wollte ich garantiert nicht anfassen.

»Aber keine Angst«, sagte er und wandte sich mir zu. »Wir werden dir beibringen, wie das geht und was zu tun ist.«

Das war mir klar.

Ich nickte und fragte: »Wo soll ich denn wohnen und was ist sonst zu erledigen?«

»Das werden dir die Jungs erzählen. Ihr werdet euch vortrefflich verstehen.«

Er deutete dabei in Richtung Tobias und wartete kaum auf eine Reaktion.

»Hast du sonst noch Fragen?«

Ich schüttelte den Kopf.

Nach allem, was ich gesehen und gehört hatte, wollte ich nichts weiter als das Arbeitszimmer von Frank verlassen. In mir warteten einige Dinge darauf, verdaut zu werden.

Ich stand auf und wollte mich gerade dem Ausgang zuwenden, da sagte Frank mit leiser Stimme: »Hast du nicht etwas vergessen?«

Ich zuckte zusammen und schaute ihn über die Schulter an.

»Keine Fragen zu dem, was ich dir eben erklärt habe?«

Da war etwas. Sonst hätte er wohl kaum seine Augenbrauen hochgezogenen. Ich dachte fieberhaft nach.

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Schätze, das ist alles noch sehr neu für mich.«

»Nun, ich hatte erwartet, dass du deutlich schlauer bist«, sagte er und sein Blick verdüsterte sich.