Titelangaben


Cornelius Tacitus

 


Germania


 

De origine et moribus Germanorum







Idealisiertes Germanenbild von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, 19. Jahrhundert







 





Cornelius Tacitus


Publius (oder Gaius) Cornelius Tacitus (58 - um 120) war ein römischer Historiker und Senator. Möglicherweise war er Sohn des Prokurators von Gallia Belgica, er hätte damit also ursprünglich dem Ritterstand angehört und wäre dann als erstes Familienmitglied in den Senatorenstand aufgestiegen.

 

Tacitus schlug die übliche Laufbahn eines römischen Rechtsanwaltes ein. Etwa im Jahr 76 oder 77 verlobte er sich mit der Tochter des Konsuls Gnaeus Iulius Agricola und heiratete sie bald darauf. Unter Kaiser Vespasian begann er die politische Karriere eines römischen Senators (cursus honorum), die er unter den beiden folgenden flavischen Kaisern fortsetzte.

 

Während der Herrschaft Nervas (96 - 98 n. Chr.) im Jahre 97 wurde Tacitus Suffektkonsul – umstritten ist, ob ihn hierzu bereits Kaiser Domitian, der Vorgänger Nervas, bestimmt hatte. Etwa in dieser Zeit, spätestens mit Beginn der Herrschaft Trajans (98 - 117 n. Chr.), nahm er seine Tätigkeit als Autor auf.

 

Tacitus galt als einer der wichtigsten Redner seiner Zeit, Nachruhm erlangte er aber durch seine historischen Werke. Er verfasste seine Geschichtswerke aus der Sicht eines Senators, der die Zeit der römischen Kaiser von Tiberius bis Domitian an den alten Werten der römischen Republik maß. Seine Aufzeichnungen haben das neuzeitliche Bild vom Römischen Reich im 1. Jahrhundert n. Chr. wesentlich mitbestimmt. Er kritisierte zeitgenössische Zustände als Verfallserscheinungen und versuchte, diese Sicht durch ausgewählte historische Episoden zu stützen.

 

Als Quellen dienten Tacitus neben mündlichen Berichten und Senatsakten auch mehrere Geschichtswerke, die allerdings nicht überliefert sind. Dies erschwert es, die Originalität und Bedeutung des Tacitus im Vergleich zu seinen Vorgängern zu beurteilen. In der neueren Forschung wird davon ausgegangen, dass Tacitus jeweils mehrere Quellen benutzt hat.

 

Tacitus bekleidete, wohl im Jahr 112/113, das Prokonsulat der Provinz Asia. Er hat vermutlich Kaiser Trajan überlebt; sein genaues Todesjahr ist nicht bekannt.




„Ja, sie schreiben den Frauen etwas Heiliges, Seherisches zu ...“


Ja, sie schreiben den Frauen etwas Heiliges, Seherisches zu und verschmähen nicht ihren Rat, überhören nicht ihren Bescheid. Wir haben gesehen, wie zu des erlauchten Vespasianus‘ Zeit Veleda weit und breit als göttliches Wesen galt. Aber auch früher haben sie Albruna und manche andere Frau verehrt, doch nicht aus Schmeichelei, noch als machten sie Göttinnen aus ihnen.“


 

„Inesse quin etiam sanctum aliquid et providum putant, nec aut consilia earum aspernantur aut responsa neglegunt. Vidimus sub divo Vespasiano Veledam diu apud plerosque numinis loco habitam; sed et olim Albrunam et compluris alias venerati sunt, non adulatione nec tamquam facerent deas.“





Was Sie über diese Texte wissen sollten

Die ethnografische Abhandlung über die Germanen, die der römische Senator Tacitus vermutlich gegen Ende des 1. Jahrhunderts nach Christi Geburt schrieb, gehört zweifellos zu den antiken Texten mit der größten geschichtlichen Wirkung. Ein Grund ist ihre häufige Verwendung als politische Kampfschrift – und zwar für wechselnde Zwecke. So diente die „Germania“ bereits kurz nach ihrer Auffindung (ca. 1425) als Beleg für die zivilisatorische Kraft, die die Kirche im Laufe des Mittelalters auf die ursprünglich barbarischen Zustände nördlich der Alpen ausgeübt hatte. Doch schon wenige Jahrzehnte später nutze sie die Kirche als politisches Pamphlet, um – mit Verweis auf die Kriegstüchtigkeit ihrer vermeintlichen Vorfahren – den deutschen Adel für einen Kreuzzug zu motivieren.

 

Dieses rezeptionsgeschichtliche Schicksal ist der „Germania“ über die Jahrhunderte erhalten geblieben. Mit der allmählichen Entstehung der Nationalstaaten ab dem 17./18. Jahrhundert und ihrer Hochzeit ab dem 19. Jahrhundert entfaltete der Text, vor allem für das politisch zersplitterte Gebiet des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches, seine identitätsstiftende Wirkung. Diese Entwicklung kulminierte schließlich im Dritten Reich, das einzelne Passagen zur Legitimierung des staatlich verordneten Rassenwahns und der vermeintlich überlegenen Moralität der deutschen Volksgemeinschaft missbrauchte.

 

Interessanterweise ist die politische Lesart des Textes bereits beim antiken Autor angelegt. Auch Tacitus gibt sich nicht mit einer – quasi auf Objektivität zielenden – Beschreibung der germanischen Gebiete und ihrer Bewohner an und hinter der nördlichen Reichsgrenze zufrieden. In seiner Beschreibung dieser „Anderen“ will er seinen römischen Zeitgenossen zugleich einen Spiegel eigener Zustände und Fehlentwicklungen vorhalten. Dies wird vor allem in den Passagen zur Ehemoral und Erziehung der Germanen explizit deutlich. Inwiefern und in welchem Maße bei ihm Hören und Sagen, also Anekdotisches, über Faktisches dominiert, lässt sich rückblickend nur noch vermuten. Was der Blick des römischen Senators aber auf jeden Fall enthüllen soll, ist eine eher unwirtliche und ärmliche Welt, dessen Eroberung zur Mehrung der imperialen Macht nicht taugt. In diesem Sinne liegt schon bei Tacitus die Bedeutung Germaniens eher in ihrer politischen Funktion als ideologischer Kampfbegriff für die eigene Identitätsstiftung Roms.

 

Neben der persönlichen Bereicherung, die die Lektüre dieses antiken Originaltextes bietet, liegt hier auch der besondere Reiz der „Germania“: nämlich zu erkennen, wie geschichtliche Weltbilder und Mythen über Jahrhunderte die Politik und nationale Identitäten bestimmen und einen kulturellen Antipoden als Zerr- oder Gegenbild brauchen.


Den Text von Tacitus finden Sie hier in der lateinischen Originalfassung und in neu bearbeiteter deutscher Übersetzung.



Germania


1. Geografische Einordnung

 

Ganz Germanien trennen die Flüsse Rhein und Donau vom gallischen und rätisch-pannonischen Gebiet; gegen Sarmater wie Daker bilden Gebirge oder gegenseitige Furcht die Grenze. Weitere Gebiete umfließt in weiten Buchten der Ozean, unermessliche Inseln umschließend; dort sind kürzlich einige Völkerschaften und Herrscher durch einen Feldzug bekannt geworden. Der Rhein entspringt in einem unzugänglich steilen Hang der Rätischen Alpen, er wendet sich in mäßiger Biegung gegen Westen und mündet ins nördliche Meer. Die Donau strömt in dem sanft und gemächlich ansteigenden Gebirgszug Abnoba hervor und kommt an mancherlei Völker heran, bis sie in sechs Mündungen ins Pontische Meer durchbricht. Ein siebter Auslauf verliert sich in Sümpfen.

   


2. Vorgeschichte und Namensfindung

 

Das Volk der Germanen scheint mir ureingeboren zu sein und ganz und gar nicht berührt durch den Zuzug oder die Aufnahme fremder Stämme. Denn nicht zu Lande, sondern auf vielen Schiffen kamen in der Urzeit die Wanderer, die einen neuen Wohnsitz suchten. Ins unermessliche Meer dort droben, in eine, ich möchte sagen andere Welt gelangen Fahrzeuge aus unserem Erdkreis kaum. Und wer hätte denn auch, ungerechnet die Gefahr auf dem schauerlichen, unbekannten Meere, Asien, Afrika oder Italien verlassen und nach Germanien ziehen mögen, in ein ungestaltes Land unter rauem Himmel, wüst zu bewohnen und anzuschauen für alle, die da nicht heimisch sind?

 

Die Germanen feiern in alten Liedern, den einzigen Mitteln ihrer Überlieferung und Geschichte, einen erdgeborenen Gott Tuisto und seinen Sohn Mannus, den Urvater und Begründer ihres Stammes. Mannus habe drei Söhne gehabt, nach denen die Völker nächst dem Nordmeer Ingävonen, die im Innern Herminonen, die übrigen Istävonen genannt würden.

 

Andere behaupten (handelt es sich doch hier um fernste Sage und Willkür), es habe mehr Söhne des Gottes, also auch mehr Volksbezeichnungen gegeben: Marsen, Gambrivier, Sueben, Vandilier, und das seien echte alte Namen. Das Wort Germanien sei ziemlich neu und erst vor einiger Zeit aufgekommen: Die ersten, die den Rhein überschritten und die Gallier vertrieben, jetzt Tungrer, seien damals Germanen genannt worden, und allmählich habe sich der Name eines einzelnen Stammes und nicht eines Volkes behauptet. So nämlich, dass zuerst die Sieger, der Schreckenswirkung zuliebe, der Gesamtheit den eigenen Namen beigelegt hätten und dass diese ihn dann angenommen und sich Germanen genannt hätten.

   


3. Mythen und Sagen

 

Es heißt auch, dass Herkules bei ihnen gewesen sei, und sie singen von ihm als dem ersten aller Tapferen, wenn sie in den Kampf ziehen. Auch eine Art Schlachtgesang besitzen sie, dessen Vortrag „barditus“ genannt wird. Er befeuert sie, ja er lässt den Ausgang der kommenden Schlacht im bloßen Klang erahnen; denn sie schrecken oder erschrecken selbst, je nachdem wie es durch die Reihen dröhnt, gleichsam als wäre das nicht so sehr der Hall ihrer Stimmen als ihres Heldenmuts. Ein gewollt rauer Schall, ein jäh abbrechendes Brausen entsteht, wenn sie die Schilde vor den Mund halten, so dass die Stimme zurückprallend noch voller und tiefer klingt.

 

Doch auch Odysseus, so meinen einige, habe auf seiner langen, sagenreichen Irrfahrt, die ihn in jenes Nordmeer verschlagen habe, germanische Länder betreten; Asciburgium, am Ufer des Rheins gelegen und noch heute bewohnt, sei von ihm gegründet und benannt worden. Ja, ein Gedenkstein, sei vorzeiten von ihm errichtet und an diesem Ort aufgefunden worden, der auch den Namen seines Vaters Laertes trage. Noch heute gäbe es etliche Denk- und Grabmäler mit griechischer Schrift in dem germanisch-rätischen Grenzgebiet. Dies alles will ich nicht mit Gründen stützen oder abweisen: Jeder mag es glauben oder auch nicht.

   


4. Das Aussehen der Germanen

 

Ich selbst schließe ich mich denen an, die Germaniens Stämme, rein und vor jeglicher Mischung mit Fremden bewahrt, für ein eigenes, unverfälschtes, keinem anderen vergleichbares Volk halten. Daher auch, unerachtet ihrer großen Menschenzahl, sind sie sich überall ähnlich: hellblaue, trotzige Augen, rotblondes Haar, gewaltige Körper, die nur zur Tat und ungestümem Drängen taugen; anstrengender Arbeit sind sie nicht in gleichem Maße gewachsen. Durst und Hitze können sie nicht aushalten, Kälte aber und Hunger sind sie in ihren Gebieten und auf ihrem Boden gewohnt.

   


5. Das Beschaffenheit des Landes

 

Das Land sieht wohl nicht überall gleich aus; doch allenthalben sieht man schrecklichen Urwald und es dehnen sich hässliche Sümpfe aus. Richtung Gallien ist es feuchter, windiger gegen Noricum und Pannonien. Das Land trägt Saatgut, Fruchtbäume gedeihen nicht, Vieh gibt es häufig, aber es ist meist unansehnlich. Nicht einmal den Rindern ist ihre Zierde oder Schmuck der Stirn: Nur die Zahl der Herde erfreut sie, nur sie bildet das einzige und sehr geschätzte Vermögen.