„Es sollte doch alles besser werden“
Schriften des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel
Band 34
Rummelsberger Reihe
Band 21
Karsten Wilke, Hans-Walter Schmuhl,
Sylvia Wagner und Ulrike Winkler
„Es sollte doch alles besser werden“
Die Behindertenhilfe der Rummelsberger Diakonie
1945 bis 1995
Verlag für Regionalgeschichte
Bielefeld 2021
Umschlag:
Bewohnerinnen und Bewohner des Wichernhauses in Altdorf, 1970er/1980er Jahre (Fotografie, Bestand: Rummelsberger Diakonie, Diakoniemuseum)
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© Rummelsberger Diakonie e.V.
Alle Rechte vorbehalten
ISSN 1868-047X
ISBN 978-3-7395-1264-8
www.rummelsberger-diakonie.de
www.regionalgeschichte.de
Gestaltung, Satz, Bildverarbeitung: büro-für-design.de, Martin Emrich, Lemgo
Druck und Verarbeitung: Beltz, Bad Langensalza
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier nach ISO 9706
Printed in Germany
REINER SCHÜBEL
Geleitwort
UWE KAMINSKY
Vorwort
Einleitung
1. Die Erforschung der Geschichte der „Behindertenhilfe“
2. Vorarbeiten und Quellen zur Geschichte der Rummelsberger Behindertenhilfe
3. Arbeitsansatz
4. Aufbau des Bandes
5. Redaktionelle Anmerkungen
6. Danksagung
KARSTEN WILKE
Das Wichernhaus Altdorf der Rummelsberger Anstalten der Inneren Mission 1925–1990
Von der „Krüppelfürsorge“ zur „Normalisierung“
1. Einleitung
2. Die Begründung der „Krüppelfürsorge“
2.1 Die „Krüppelpflege“ der Inneren Mission
2.2 Die „Moderne Krüppelfürsorge“
Konrad Biesalski
Gesetzliche Regelungen
2.3 Die „Kriegskrüppelfürsorge“
3. Die Gründung des Wichernhauses in Altdorf
3.1 Einrichtungen der Behindertenhilfe im Königreich Bayern
3.2 Der Einstieg des Landesvereins für Innere Mission in die „Krüppelfürsorge“
Gründe für den Einstieg in die „Krüppelfürsorge“
3.3 Der Standort: Das frühere Universitätsgebäude in Altdorf
4. Organisation des Wichernhauses
4.1 Die Orthopädische Klinik
Wirtschaftliche Schwierigkeiten
4.2 Schul- und Werkstättenbereich
Probleme
4.3 Altenheim
5. Das Wichernhaus im Nationalsozialismus
5.1 Maßnahmen des NS-Regimes gegen das Wichernhaus
Strafprozess nach § 175 Reichsstrafgesetzbuch
5.2 Konsolidierung des Wichernhauses
Die Kaufmännische Schule
„Nützlichkeits“-Abwägungen
5.3 Das Wichernhaus im Zweiten Weltkrieg
6. Reorganisation des Wichernhauses
6.1 Die Auflösung des Lazaretts
6.2 Verwaltung und Organisation
6.3 Der Erwerb des Gebäudes
6.4 Infrastruktur
6.5 Neubau der Orthopädischen Werkstatt
7. Das Wichernhaus in den 1950er und 1960er Jahren
7.1 Neue gesetzliche Grundlagen
Das Körperbehindertengesetz von 1957
Das Bundessozialhilfegesetz von 1961
7.2 Die Orthopädische Klinik unter Leitung Dr. Beckers
Improvisierte Abhilfe
Klinikneubau am Ende der 1950er Jahre
7.3 Wohnheim und Werkstätten
7.4 Neukonzeptionierung der Ausbildung
Kaufmännische Ausbildung
Industrie-Ausbildung
7.5 Schule und Therapie
Schulwesen
Ausbau des Therapiebereichs: Das Zentrum für körperlich Schwerbehinderte
Schulische Kooperation
8. Die 1970er und 1980er Jahre: Modernisierung und Expansion
8.1 Schwerbehindertengesetz und Rehabilitationsangleichungsgesetz
8.2 Das „Neue Wichernhaus“ in Rummelsberg
Orthopädische Klinik
Industriehalle und Wohnbereich
8.3 Das Wichernhaus in Altdorf während der 1970er und 1980er Jahre
Bildungsoffensive für Menschen mit Behinderung
Das Konzept des Rehabilitationszentrums Wichernhaus Altdorf
Neue Perspektiven
8.4 Projekte und Maßnahmen zur „Öffnung“ und „Normalisierung“
9. Bedeutende Ereignisse in der Geschichte des Wichernhauses
KARSTEN WILKE
Der Auhof
Vom „Erziehungsinstitut für arme und verwahrloste Knaben“ zur Wohneinrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung 1820–1990
1. Einleitung
2. Der Auhof
2.1 Vom „Rettungshaus“ zur Fürsorgeeinrichtung
Das „Erziehungsinstitut für arme und verwahrloste Knaben“ in Nürnberg
Fürsorgeerziehung
2.2 Der Auhof in der Zeit des Nationalsozialismus
2.3 Nachkrieg auf dem Auhof
Fürsorgeerziehung auf dem Auhof nach 1945
Kinderheim und Flüchtlingsbetreuung
„Mischlingskinder“ auf dem Auhof
Unterkunft für Erwachsene und Pflegeheim
2.4 Die Reorganisation des Auhofs nach 1945
Trägerschaft
Ein neuer Arbeitsschwerpunkt: Kinder und Jugendliche mit geistigen Beeinträchtigungen
Finanzen
2.5 Der Auhof zwischen den 1960er und 1980er Jahren
Ausgangsbedingungen
Erste Vergrößerungen des Auhofs
Außenstellen: Wurzhof und Schloss Ditterswind
Neukonzeption des Auhofs unter den Vorzeichen des pädagogischen Wandels
Die Realisierung des Bau-Projekts
Hindernisse
2.6. Vom Verwahren zum Fördern
Pflege und Heilpädagogik
Arbeit
Mitwirkung
Einbindung
3. Fazit
Bildteil
ULRIKE WINKLER
„Ich wollte einfach deren Bruder sein. Mehr wollte ich nicht.“
Arbeiten in der Behindertenhilfe der Rummelsberger Anstalten
1. „Bruder sein“ – Anmerkung zum Titel
2. Quellen und Methode
3. Die Aufnahme von geistig behinderten Menschen – Mehr als nur ein neues Arbeitsfeld für die Brüder
4. Die Umwidmung des Auhofs als Verlusterfahrung – Die Frankensteiner Diakonissen
5. Das BSHG und die Expansion der Arbeit an geistig behinderten Menschen
6. Die Rummelsberger Anstalten und das BSHG – Neue Dependancen für Menschen mit geistiger Behinderung
7. „Brüdergrab“ Auhof – Der Ruf der Behindertenhilfe der Rummelsberger Anstalten bei den Brüdern
8. Arbeitsalltag im „alten“ Auhof
9. Arbeitsalltag in Schloss Ditterswind und im Haus Altmühltal in Pappenheim
10. Exkurs: Dienst der Brüder am „grausigen Elend“ in Gallneukirchen
11. „Die Gespräche sind oft albern.“ – Die Diakonenanwärter
12. Die Erweiterung des Auhofs und brüderliche Bedenken
13. Ausbildung und Arbeitszufriedenheit
14. „Uns [erwartet] wieder einmal eine personelle Durststrecke.“ – Brüdermangel
15. „Weder Insel, noch heile Welt.“ – Im „neuen“ Auhof
16. Mitarbeiter testen Medikamente – an sich selbst
17. „Und es war schon bekannt, dass man nicht schlägt.“ – Gewalt gegen Schutzbefohlene
18. „Hauptmissstand: die Schulkinder sind vernachlässigt.“ – Probleme im Wichernhaus
19. Gewalt gegen Mitarbeitende
20. Vom Umgang mit dem „Weltkugelchef“ – Problemlösungsstrategien
21. „Normalisierung“
22. „Ich wollte einfach deren Bruder sein.“ – Schlussbetrachtung
HANS-WALTER SCHMUHL
„Die Stimmung auf der Gruppe glich einem Wespenhaufen.“
Alltag und Gewalt in der Behindertenhilfe der Rummelsberger Anstalten
1. Ein Tag auf der Gruppe
2. Das Konzept der „totalen Institution“
3. Der Begriff der Gewalt
4. Quellen und Methoden I: Interviews
5. Auswertung der Interviews – Welche Gewaltformen sind nachweisbar?
6. Die „Richtlinien für den Dienst im Pflegeheim Auhof“, 1961
7. Quellen und Methoden II: Die „Tag- und Nachtbücher“ der Gruppe 9 und ihre Kontextualisierung
8. Der „Neue Auhof“
9. Die Bewohner
10. Konzepte zur Förderung unter den Vorzeichen der „Normalisierung“
11. Die Gruppenräume
12. Das Personal
13. Quellen und Methoden III: Die „Tag- und Nachtbücher“ als Grundlage einer „dichten Beschreibung“
14. Arbeiten, die auf jeden Fall gemacht werden müssen
15. Förderung
16. Gute Tage, schlechte Tage
17. Verhältnis zu anderen Arbeitsbereichen
18. „Alle brav und trocken“
19. „Kloerfolg beim Peter*“. Die Nacht
20. Verhaltensauffälligkeiten
21. Erklärungen
22. Gegenstrategien
23. Der Fall Klaus Walz*
24. Die 1980er Jahre auf der Wohngruppe 9
25. „[…] das Schlagen von Behinderten ist im Auhof nicht erlaubt, sondern verboten.“ Ein Rundschreiben an die Mitarbeiterschaft aus dem Jahr 1990
26. „… ist das konsequente Handeln der Leitung gefordert“. Veränderungen in der Unternehmenskultur in den 1990er Jahren
27. Fazit
Gerhard Schaer
„Ich war in meinem Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht …“
SYLVIA WAGNER
Arzneimittelprüfung und „soziale Medikation“ in den Rummelsberger Anstalten (1945–1995)
1. Einleitung
2. Der Zusammenhang zwischen der Heimsituation und Arzneimitteln
3. Rechtliche und ethische Rahmenbedingungen pharmazeutischer Forschung
4. Nomifensin (Alival®)
4.1 Nomifensin und seine Geschichte
4.2 Quellenlage für die Prüfung von Nomifensin im Auhof
4.3 Die Prüfung von Nomifensin im Auhof
Martin Hackl
Franz Angerer*
Florian Gruber*
Max Stadler*
Michael Brandl*
Harald Raab*
Markus Hartmann*
Thomas Böhm*
Matthias Weiding*
4.4 Zur Indikation von Nomifensin bei Kindern
4.5 Bewertung der Nomifensin-Prüfung im Auhof
5. Der Umgang mit der Sexualität und das triebhemmende Präparat Androcur®
5.1 Androcur® und die rechtliche Situation
5.2 Der Einsatz von Androcur® im Auhof
5.3 Weibliche Bewohner und Sexualität im Auhof
5.4 Der Einsatz von Androcur® im Wurzhof
5.5 Fazit zum Umgang mit Sexualität und Einsatz von Androcur®
6. Der Einsatz sedierender Präparate
7. Ein Beispiel: Michael Brandl*
8. Schlussbetrachtung
Personenregister
Autorinnen und Autoren
Ende November 2017 fragte der Bayerische Rundfunk in unserer Pressestelle nach, ob es uns bekannt sei, dass es in Rummelsberger Häusern für Menschen mit Behinderung bis in die 1980er Jahre hinein Medikamententests an Bewohnerinnen und Bewohnern gegeben habe. Die Anfrage hat die damaligen Verantwortlichen aufgeschreckt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie keine Kenntnis über derartige Vorkommnisse. Der durch den Bayerischen Rundfunk vermittelte Kontakt zum ehemaligen Bewohner des Hilpoltsteiner Auhofs Martin Hackl und die vorgelegten Unterlagen belegten: In unserem Verantwortungsbereich gab es mindestens einen Medikamenten-Test an Menschen.
Herrn Hackl haben wir besucht und ihn um Entschuldigung dafür gebeten, was an ihm geschehen ist. Ihm war es wichtig, seine Geschichte zu erzählen und aufzurütteln, damit sich solche Vorgänge nicht wiederholen können. Der Bayerische Rundfunk, verschiedene Zeitungen und wir, im „Gruß aus Rummelsberg“, haben darüber bereits berichtet.
Martin Hackl war leider nicht der einzige Betroffene. Es sind insgesamt neun Menschen bekannt, die mit dem Medikament Nomifensin behandelt worden waren, bevor das Mittel in Deutschland auf den Markt kam.
Die Forschungen für dieses Buch brachten weitere Fälle ans Licht. Mindestens zehn Bewohner unserer Einrichtungen wurden mit dem Medikament Androcur® behandelt. Die Gabe dieses Mittels führt dazu, dass der Sexualtrieb unterdrückt und letztendlich eine reversible chemische Kastration eintritt. Der Gesetzgeber hat für die Verabreichung dieses Medikaments hohe medizinische, juristische und ethische Hürden vorgesehen. Diese Vorgaben wurden nach den uns vorliegenden Akten nicht eingehalten. So fehlt beispielsweise jeder Hinweis darauf, dass die Betroffenen oder ihre Angehörigen über die Gabe und Wirkung informiert wurden, geschweige denn, dass sie einverstanden waren.
Wo es uns möglich ist, stehen wir mit den Menschen in Kontakt, an denen der Medikamentenmissbrauch geschah. Wir bitten um Vergebung und suchen den Weg zu einer Versöhnung. Auch in materieller Hinsicht stellen wir uns unserer Verantwortung.
Der Vorstand der Rummelsberger Diakonie initiierte unmittelbar nach der Anfrage des Bayerischen Rundfunks im Jahr 2017 eine umfassende Untersuchung durch externe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Durch die Vermittlung des Diakonie-Historikers Dr. Uwe Kaminsky konnte mit Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl, Dr. Sylvia Wagner, Dr. Karsten Wilke und Dr. Ulrike Winkler ein Forschungsteam beauftragt werden, das über eine ausgewiesene Erfahrung und hervorragendes Renommee in der Untersuchung der Lebensumstände bei Diakonischen Trägern insbesondere für die Zeit nach 1945 verfügt.
Über den konkreten Anlass hinaus lag uns daran, einen möglichst umfassenden Überblick darüber zu gewinnen, wie Menschen mit Behinderung nach dem Krieg bis in die 1990er Jahre in unseren Einrichtungen lebten. Mit den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung erhalten wir einen bisher nicht erreichten Erkenntnisgewinn über die Geschichte der Rummelsberger Dienste für Menschen mit Behinderung.
Ohne in irgendeiner Weise Ergebnisse der Untersuchung oder die beschriebenen Vorkommnisse in ihren schädigenden Auswirkungen auf Menschen relativieren zu wollen, gehört zur angemessenen Würdigung der Beiträge dieses Buches eine Einordnung in die Zeit, in der diese geschehen sind.
„Es sollte doch alles besser werden.“ Dieses Zitat aus einem der Interviews wurde zum Titel des Buches. Es beschreibt die Spannung zwischen dem Wollen und dem Vollbringen derjenigen, die in bester Absicht angetreten sind, Menschen mit einer Beeinträchtigung das Leben zu erleichtern und ihnen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Zu den Spannungen gehören die Verfehlungen, die aus Überforderung, Unkenntnis, mangelnder Empathie und ähnlichen Gründen zu Schuld gegenüber Menschen geführt haben.
Es geht weder den Autorinnen und Autoren noch uns als Auftraggeber darum, den Finger zu erheben und auf jene zu zeigen, die seinerzeit auf ganz unterschiedlichen Ebenen Verantwortung trugen.
Dies gilt umso mehr, als die spärlichen Akten, Aufzeichnungen und die Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern sowie mit überwiegend ehemaligen Mitarbeitenden auch zu Tage förderten, mit welcher Hingabe, Mut zum Widerspruch und Veränderung sowie großer Bereitschaft zu fachlichem Lernen und Handeln der Dienst auf unbekanntem Terrain an- und aufgenommen wurde.
Die auf dem Auhof aufgefundenen Tag- und Nachtbücher stellen für die Forschung einen unschätzbaren Wert dar. Dort wurde der Alltag beschrieben, um auf der kollegialen Ebene das alltägliche Leben auf einer Wohngruppe an die nachfolgenden Dienste zu dokumentieren. Den Autorinnen und Autoren war sicher niemals im Sinn, dass ihre Aufzeichnungen Jahrzehnte später eine überaus authentische und wertvolle Quelle bei der Untersuchung der Lebensumstände auf dem Auhof werden. Die Sprache in den Heften ist einfach, klar und manchmal derb. Sie zeugt von Empathie, von Ablehnung, von Überforderung und von erwachender Fachlichkeit.
Wir haben allen zu danken, die an diesem Buch mitgewirkt haben. Als erstem Martin Hackl dafür, dass wir ihm zuhören und uns entschuldigen durften. Dem Bayerischen Rundfunk, dessen Redakteurinnen uns auf eine Spur gesetzt haben, die die Kenntnisse über uns selbst sehr vertieft haben. Dr. Uwe Kaminsky für die Vermittlung des Forschungsteams um Dr. Karsten Wilke, unter dessen Koordination die Beiträge zu diesem Buch gereift sind. Meinem Vorgänger als Rektor und Vorstandsvorsitzenden, Dr. Günter Breitenbach, für seine Initiative und seine Begleitung dieses Buches auch in seinem Ruhestand.
Nicht zuletzt geht ein herzlicher Dank an alle diejenigen, die bereit waren, uns Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die sich haben interviewen lassen und bereit waren, ihre Erinnerungen mitzuteilen und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Für ihre Offenheit verdienen sie unsere Achtung und Wertschätzung.
Vieles in diesem Buch schmerzt und löst neben Betroffenheit große Scham aus. Neben der verwerflichen Gabe von medizinisch nicht indizierten Medikamenten haben Menschen, die in unseren Einrichtungen lebten, Gewalt erfahren. Es wäre umsonst geschrieben worden, wenn wir nicht bereit wären, aus dem zu lernen, was hier aufgeschrieben wurde. Unsere Aufgabe ist es, wach und kritisch zu bleiben und eine Kultur zu schaffen, in der Gewalt kein toleriertes Mittel ist und bleibt.
„Es sollte doch alles besser werden“ – wirken wir daran mit, diesen Wunsch in die Tat umzusetzen.
Ihr
Rektor Reiner Schübel, im Januar 2021
Die Rummelsberger Diakonie stellte in Bayern vielfach das Personal für Gemeindedienst, Erziehungsfürsorge und Behindertenarbeit. So z.B. auch in der Erziehungsanstalt Fassoldshof. Deren Anstaltsleiter beklagte sich Ende 1957 über die bei ihm eingesetzten Diakone und Diakonenanwärter. Sie seien überfordert. Doch einen Abzug der Kräfte könne die Einrichtung mangels Ersatz ebenfalls nicht verkraften. Böttingers Brief stieß in Rummelsberg wie in der Inneren Mission in Bayern eine Diskussion über den Einsatz der Diakone als Erzieher in Heimen an. Aus einer eigens beim Evangelischen Erziehungsverband gefertigten Aufstellung über die Rummelsberger diakonischen Erzieher in Anstalten (ohne Hausväter) vom Januar 1958 ging hervor, dass von 28 nur vier ausgebildete Erzieher, zwölf Zwischenpraktikanten und zwölf noch nicht Ausgebildete waren. Neun von ihnen arbeiteten in den Rummelsberger Heimen, sechs im Fassoldshof und die anderen verteilt über andere Heime. Mit dem sich darin ausdrückenden geringen Grad von Professionalisierung in der Erziehungsarbeit steht man mitten im Thema, das auch für das Feld der Hilfe für Menschen mit Behinderungen galt.
Wie fruchtbar die historische Bearbeitung aufgrund eines kritischen Anlasses, im aktuellen Fall des Einsatzes von Medikamenten vor ihrer Markteinführung Anfang der 1970er Jahre, sein kann, zeigt sich in dem vorliegenden Werk, das am Beispiel von Einrichtungen der Rummelsberger Diakonie allgemeine Geschichte der Behindertenfürsorge in Deutschland mit einer regionalen, lokalen und thematischen Beschreibung verbindet. Den Autorinnen und Autoren gelingt eine multiperspektivische Betrachtung, welche bayerische Regionalgeschichte mit der Geschichte der Diakonie, der Geschichte von Menschen mit Behinderungen und Medizingeschichte in eins setzt.
Dabei geht es nicht nur um die historische Kontextualisierung der Medikamentengabe von Neuroleptika, Hormonpräparaten (Androcur®) oder der Prüfung des Antidepressivums Nomifensin. Es wird eine problemorientierte Geschichte der Häuser Auhof, Wurzhof und Wichernhaus der Rummelsberger Diakonie und der Fürsorge für Menschen mit Behinderungen erzählt, umfangreich und detailliert. Die Innere Mission insgesamt und die Diakonie Rummelsberg erscheinen darin als Schrittmacher wie als pfadabhängiger Träger staatlicher Sozialpolitik.
Die Entwicklung staatlicher Fürsorge, gerade auch in seiner kommunalen Gestalt und in Form des Modells der Diakonenanstalt als Personalgesteller zwischen religiöser Grundmotivation und Professionalisierung in den Fürsorgefeldern wird im Detail beschrieben.
Der Kampf um die Wahrung traditioneller Fürsorgefelder im NS-Staat ließ die Innere Mission und ihre Einrichtungen keineswegs zu einem Gegner der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik werden. Das war auch am Beispiel der damaligen Rummelsberger Anstalten nicht anders. Die Beteiligung an der NS-Zwangssterilisation, das Eingehen auf das nationalsozialistische Volksgemeinschaftskonzept und die pflegerische Absicherung des Krieges waren aufzeigbare Entwicklungen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es mit einer zunehmenden Differenzierung der Arbeit und Abdeckung von fürsorgerischen Notlagen weiter. Die Ablösung der verwahrenden Pflege durch eine fördernde Heilpädagogik verstärkte den Anspruch, auf eine Öffnung der Einrichtungen und Integration der Bewohnerinnen und Bewohner in die Gesellschaft. Doch das Leben in einer ‚totalen Institution‘ lässt sich für viele Bewohner auch für die Jahre nach dem kulturellen Bruch von „1968“ beschreiben.
Unschätzbare Dienste leisten in diesen historischen Rekonstruktionen Interviews sowohl mit ehemaligen Bewohnern und Bewohnerinnen wie auch mit Mitarbeitenden, die Pfade in das Dickicht der Alltagsgeschichten schlagen helfen. Quellen wie die „Nachttagebücher“ geben daneben als zeitgenössische Quelle Auskunft über die praktische Verwirklichung der z.T. hochtrabenden Förderkonzepte der 1970er Jahre wie auch über die individuellen Bemühungen des Personals. Das Paradigma der „Normalisierung“ und damit auch einer Emanzipation der Bewohner fanden ihre Grenzen an den unzureichenden Bedingungen – sowohl der Bauten wie auch des Personals.
Das Personal verbesserte sich sowohl quantitativ wie qualitativ von den 1960er zu den 1970er Jahren. Der mentale Wandel gelang auf einer äußeren Ebene. Es gab mehr Personal und eine bessere Ausbildung, aber es war nicht genug, wie an den detaillierten Beschreibungen gesehen werden kann. Es kam weiter zu Gewaltanwendung, nicht nur zur klassischen Fixierung und einzelnen Übergriffen.
Was besonders imponiert, ist die „medikamentöse Gewalt“. Damit ist die Verabreichung von Schlafmitteln und Neuroleptika gemeint. Auch der Einsatz von Androcur® zur Dämpfung des Sexualtriebs ist belegt. Es scheint, dass gerade auch der Einsatz von Medikamenten zur Erfüllung des „Normalisierungs“-Versprechens ausdrücklich dazu gehörte. Die Überforderung des Personals in z.T. extrem belastenden Situationen des Umgangs mit den Bewohnern zeitigte zwar keine extremen Gewaltformen, wie sie in anderen Einrichtungen nachgewiesen werden können, wie körperliche Züchtigungen mit Beteiligung der Mitbewohner, demütigende Strafen für Bettnässer, zwangsweises Eintrichtern von Essen oder sexualisierte Übergriffe beim Baden und Duschen der Bewohner. All das ist in den Häusern Auhof und Wurzhof der Rummelberger Diakonie nicht nachweisbar. Aber der Ruf nach dem Arzt, die Abschiebung in eine Klinik oder die Einstellung der schwierigen Bewohner auf Medikamente wurde zu einem Standard. Nur selten wurde dies von einzelnen Mitarbeitenden angefragt.
Hier agierten Mitarbeitende und Ärzte bzw. Ärztinnen in den Rummelsberger Anstalten nicht anders als in vielen anderen Einrichtungen auch. Das ist aber gerade nicht dazu angetan, das Leid der Betroffenen zu relativieren, vielmehr in der Breite zu skandalisieren. Der Umfang dieses leidbringenden Umgangs ist bislang an verschiedenen Einrichtungen im Detail belegt. Gerade die Autoren und Autorinnen dieses Bandes haben sich bislang in diesem Feld als historisch Forschende engagiert und profiliert. Forschungen für viele andere Einrichtungen, insbesondere für Minderjährige stehen als Ergebnis eines Forschungsprojektes im Rahmen der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ kurz vor dem Abschluss. Verschiedene Bundesländer haben zudem eigene Projekte auf den Weg gebracht. Für einzelne Einrichtungen wie Bethel und das Franz Sales Haus wurde gerade der Einsatz von Arzneimittelpräparaten und Medikamenten untersucht. Die Ergebnisse sind erschreckend ähnlich.
Im Bereich der Arzneimittelerprobung ist es die fehlende informierte Einwilligung der Betroffenen bzw. deren Eltern oder gesetzlichen Vertreter, was gegen geltende rechtliche und ethische Richtlinien verstieß. Im Bereich der medizinischen Erziehungshilfe bedeutete es die Ablösung physischer durch medikamentöse Gewalt in der ‚totalen Institution‘. Die ‚soziale Medikation‘, auf die hier hingewiesen wird, diente auch zur Erreichung der ‚Normalisierung‘ für viele ansonsten isolierte Menschen mit Behinderungen. Die Kosten des Fortschritts waren allerdings beträchtlich.
Dass die Rummelsberger Diakonie bereit war, sich diesem schwierigen Kapitel in einer multiperspektivischen wissenschaftlichen Form anzunähern, verdient Respekt. Sie steht auf diese Weise an der Spitze der Erforschung gesellschaftlich wichtigen Wissens und einer ethischen Unternehmensführung – ein Beispiel, das Schule machen sollte.
Uwe Kaminsky
Im Jahre 2018 berichtete das Regionalfernsehen des Bayerischen Rundfunks über ethisch und rechtlich fragwürdige Arzneimittelerprobungen an Kindern, die während der 1970er Jahre in bayerischen Heil- und Pflegeeinrichtungen durchgeführt worden waren.[1] Den Anstoß hierzu gab der Bericht eines früheren Bewohners des „Auhofs“, einer Wohneinrichtung für Kinder und Jugendliche mit geistigen Beeinträchtigungen im mittelfränkischen Hilpoltstein. Ein Abgleich mit der Bewohnerakte erbrachte den Nachweis, dass dem damals Zehnjährigen im Jahre 1975 im Rahmen einer Versuchsreihe das Medikament Nomifensin verabreicht worden war. Das Präparat kam einige Jahre später als Antidepressivum unter der Bezeichnung Alival® auf den Markt, musste jedoch bereits nach kurzer Zeit aufgrund seiner heftigen Nebenwirkungen zurückgezogen werden.[2]
Träger des Auhofs ist – damals noch unter der Bezeichnung „Rummelsberger Anstalten“ – bis heute die „Rummelsberger Diakonie e.V.“ Die Medienanfrage veranlasste deren Vorstand wenig später dazu, die Autorinnen und Autoren damit zu beauftragen, den Geschehnissen nachzugehen. Der Auftrag bestand aber nicht nur darin, die Hintergründe und den Verlauf der Arzneimittelerprobung auf dem Auhof zu rekonstruieren. Vielmehr wurde eine umfassende wissenschaftliche Studie zur Geschichte der Behindertenhilfe der Rummelsberger Anstalten zwischen 1945 und den 1990er Jahren angefragt, die neben dem Auhof sowie in geringerem Maße dessen Nebenstelle „Wurzhof“ in Postbauer-Heng auch das im Jahre 1925 gegründete „Wichernhaus“ in Altdorf einbezieht. Dabei sollten nicht zuletzt Gewaltverhältnisse und -vorkommnisse in den genannten Einrichtungen erforscht werden. Die Rummelsberger Diakonie stellte sich damit ihrer historischen Verantwortung. Schließlich hat eine derartige Aufarbeitung für (ehemalige) Bewohnerinnen und Bewohner eine große praktische Bedeutung: Neben der Anerkennung des erlittenen Unrechts geht es für sie um die Möglichkeit einer finanziellen Entschädigung.[3] Die vorliegende Publikation ist das Ergebnis dieses Auftrags.
Ohne eine Einbindung in den historischen Kontext müssen Befunde zu den genannten zentralen Fragen unvollständig bleiben. Die Autorinnen und Autoren haben sich daher bewusst dafür entschieden, die Arbeit sowohl chronologisch als auch inhaltlich breit zu konzipieren sowie einen theoretischen Bezugsrahmen anzulegen. Die Geschichte der im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehenden Einrichtungen wird aus diesem Grund von ihrem Beginn her erzählt und vielfältig mit politischen, ökonomischen und sozio-kulturellen Entwicklungen verzahnt.
Die Ursprünge des Auhofs finden sich im Nürnberg des frühen 19. Jahrhunderts. Im Jahre 1824 gründete dort der Geologe, Geograf und Pädagoge Karl von Raumer (1783–1865)[4] ein „Rettungshaus“ für in Armut lebende Jungen und Mädchen.[5] Die Einrichtung durchlief in den folgenden Jahrzehnten einen Funktionswandel hin zu einem Fürsorgeerziehungsheim.[6] Im Jahre 1921 bezog sie in der damals noch selbstständigen Gemeinde Solar nahe Hilpoltstein einen Gutshof und firmierte fortan als Auhof. Seit Anfang der 1950er Jahre diente der Auhof schließlich der Unterbringung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit geistigen Beeinträchtigungen.
Das Wichernhaus hingegen war und ist eine Einrichtung für Kinder und Jugendliche mit körperlichen Beeinträchtigungen. Als Eigengründung Rummelsbergs entstand es 1925 während der „guten Jahre“ der Weimarer Republik als eines der ersten und modernsten „Krüppelfürsorge“-Heime in Bayern. Der Ansatz der „Krüppelfürsorge“ war im späten Kaiserreich durch den Berliner Orthopäden Konrad Biesalski (1868–1930) entwickelt worden und verband medizinische Hilfe, schulische Ausbildung und berufliche Qualifizierung zu einem ganzheitlich angelegten Förderkonzept.[7] Bis in die Gegenwart hinein betreibt das Wichernhaus Altdorf Wohn-, Therapie- und Lerneinrichtungen sowie Werkstätten.
Das Erkenntnisinteresse dieses Bandes geht darüber hinaus, die Entwicklungsgeschichte beider Einrichtungen nebeneinanderzustellen. Er zielt insgesamt darauf, anhand der Beispiele Auhof und Wichernhaus signifikante Zäsuren und Entwicklungen in der bundesdeutschen „Behindertenhilfe“ nachzuzeichnen und zu analysieren. Seit dem Ende der 1960er Jahren kam es in den Heimen und Anstalten – bedingt durch die gesellschaftlichen Reformprozesse – zu einem „großen Umbruch“, in dessen Folge sich u.a. moderne heilpädagogische Konzepte durchsetzten, die langfristig zu einer „Öffnung“ und „Normalisierung“ führten.[8] Das Hauptaugenmerk liegt somit auf den Wechselbeziehungen zwischen politischen Vorgaben, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der Praxis vor Ort.
Die Erforschung der Geschichte der Einrichtungen der „Behindertenhilfe“ in Deutschland erscheint – im Sinne des Historikers Christian Meier (*1929) – auf den ersten Blick als eine fortgesetzte Auseinandersetzung mit „schlimmen Vergangenheiten.“[10]
Die ersten Arbeiten entstanden während der 1980er Jahre im Rahmen der Aufarbeitung der Mitwirkung der Träger der „Behindertenhilfe“ an den biopolitischen Maßnahmen des NS-Regimes, konkret am Programm der Zwangssterilisierung[11] und an den „Euthanasie“-Morden.[12] Als darüber hinaus am Ende der 1990er Jahre das Thema NS-Zwangsarbeit aufgrund der Entschädigungsdebatte intensiv öffentlich diskutiert wurde,[13] geriet mit der Beteiligung der Heil- und Pflegeeinrichtungen an der Entrechtung und Ausbeutung ausländischer Arbeitskräfte ein weiterer Verbrechenskomplex in den Blick.[14]
Nach der Jahrtausendwende konzentrierte sich die Forschung zunehmend auch auf die Phase der frühen Bundesrepublik. Ein ganz besonderes Interesse lag hier von Beginn an auf dem Thema „Gewalt im Alltag“, nicht zuletzt, weil vermehrt Betroffene an die Öffentlichkeit getreten waren und Entschädigungen für das ihnen zugefügte Leid einforderten.[15]
Aufbauend auf Pionierstudien aus den 1970er Jahren, begannen Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler daher damit, Heime und Pflegeanstalten anhand des Modells der „totalen Institution“ des Soziologen Erving Goffman (1922–1982) zu analysieren.[16] Da Goffmans Modell auch in diesem Band – in den Beiträgen von Hans-Walter Schmuhl und Sylvia Wagner – als analytischer Bezugsrahmen herangezogen wird, sollen an dieser Stelle einige Grundgedanken bereits erläutert werden: Innerhalb einer totalen Institution existieren zwei klar voneinander abzugrenzende soziale und kulturelle Welten: die „Welt des Stabes“ und die „Welt der Insassen“. Diese Welten durchdringen sich kaum, bleiben sich – belastet durch feindselige Stereotype – fremd und sind durch ein enormes Machtgefälle getrennt. Die durch die Institution vorgegebenen Regeln und Logiken werden durch den „Stab“ repräsentiert und durchgesetzt sowie von den „Insassen“ verinnerlicht und reproduziert.[17] Die handelnden Personen dürften sich vielfach darüber bewusst gewesen sein, dass der hierfür erforderliche Einsatz von Gewalt, etwa durch Drohungen, Essensentzug, Schläge oder sexuellen Missbrauch – zumal unter dem Vorzeichen der christlichen Nächstenliebe und Barmherzigkeit – dem eigentlichen Organisationsziel der Hilfe, Heilung oder Besserung diametral entgegenstand.[18]
Das galt zweifellos auch für die Durchführung der Arzneimittelerprobung auf dem Auhof, die den Anlass für diese Veröffentlichung bildet. Aktuelle Forschungen weisen nach, dass z.T. bis in die 1980er Jahre in verschiedenen bundesdeutschen Heil- und Pflegeeinrichtungen unter der Ägide der dort beschäftigen Ärzte derartige Testreihen an minderjährigen Bewohnerinnen und Bewohnern durchgeführt wurden – häufig ohne dass diese oder deren Erziehungsberechtigte darüber informiert worden waren bzw. eine Einwilligung erteilt hatten.[19]
Die Auseinandersetzung mit den „schlimmen Vergangenheiten“ der Heil- und Pflegeeinrichtungen – das ist wichtig hervorzuheben – verstellt vielfach den Blick auf die inzwischen erreichte Bandbreite und Tiefe wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Geschichte der konfessionellen und staatlichen „Behindertenhilfe“. Inzwischen erstrecken sich die Forschungen über einen Zeitraum von 150 Jahren[20] und befassen sich u.a. mit der Entstehung der Einrichtungen im 19. Jahrhundert bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges,[21] mit der Rolle der Diakone[22] und Diakonissen[23] sowie mit dem ärztlichen Personal,[24] mit theologischen Aspekten und pädagogischen Konzepten,[25] mit Fragen der Architektur- und Baugeschichte, mit dem Alltag in den Einrichtungen.[26] Weitere Aspekte sind die Leitungs- und Verwaltungsstrukturen, die Finanzierung, das Personal,[27] Fragen der Medizin und der Heilpädagogik, geschlechtergeschichtliche Aspekte,[28] der internationale Transfer von know-how[29] sowie ganz besonders die Frage nach der allmählichen „Öffnung“ der Einrichtungen seit den späten 1960er Jahren.[30]
Wissenschaftlich fundierte Darstellungen, die sich explizit mit der Arbeit auf dem Auhof und im Wichernhaus befassen, existieren bisher jedoch nicht. Bis 1990 erschienen lediglich kurze Überblicksarbeiten zur Geschichte der Rummelsberger Anstalten, die allenfalls dazu herangezogen werden können, um einzelne ereignisgeschichtliche Aspekte und statistische Informationen beizubringen.[31]
Eine sehr wichtige Quelle bilden hingegen die Hefte der seit dem Ende der 1990er Jahre herausgegebenen sogenannten „Rummelsberger Reihe.“ Auch hier liegt der vorrangige Erkenntnisgewinn eher auf der Ereignisgeschichte, doch ist unverkennbar, dass sich die Autorinnen und Autoren zunehmend den Veränderungen innerhalb der Organisationsstruktur und der Arbeit vor Ort angenommen haben und beides mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpften.[32] Unter den bisher erschienenen Bänden befinden sich zwei Arbeiten, die zusammen einen historischen Längsschnitt durch die Geschichte der Rummelsberger Anstalten von 1905 bis 2001 vollziehen.[33] Die darin enthaltenen Ausführungen bilden einen wichtigen Ausgangspunkt für die Erstellung dieses Bandes.
Das trifft auch auf die lange Zeit wichtigste Darstellung zur Geschichte der Rummelsberger Anstalten aus dem Jahre 1989 zu. Der Verfasser war der Rummelsberger Diakon Gerhard Wehr (1931–2015).[34] Da der Schwerpunkt der Arbeit jedoch auf der Brüderschaft liegt, spielt die Behindertenhilfe darin lediglich eine untergeordnete Rolle. Es findet sich gerade einmal eine dreiseitige Abhandlung über das Wichernhaus;[35] ein eigenes Kapitel zum Auhof fehlt.
In den vergangenen Jahren entstanden zwei durch Thomas Greif (*1968), den Historiker und Archivar der Rummelsberger Diakonie, herausgegebene Ausstellungs-Begleitbände mit Texten auf hohem wissenschaftlichen Niveau.[36] Sie versammeln mehrere Beiträge zu einschlägigen Protagonisten und organisatorischen Aspekten der Rummelsberger Behindertenhilfe. Hervorzuheben ist hier ein durch Greif selbst verfasster instruktiver Aufsatz über die Wicherhaus-Ärzte Franz-Theophil Becker (1902–1996) und Heinz Wagner (1929–2001).[37] Gleichermaßen von Thomas Greif stammt ein kommentierter Neudruck einer chronologischen Darstellung der Entwicklung der Rummelsberger Anstalten des früheren Verwaltungsleiters Konrad Deinlein (1907–1982), aus der sich Informationen zur Ereignis- und Organisationsgeschichte des Auhofs und des Wichernhauses gewinnen lassen.[38]
Hinzu kommen lediglich noch die Schriften der früheren Anstaltsleiter Hans Autenrieth (1907–1993) für den Auhof und Christian Tölken für das Wichernhaus, die beide sowohl regelmäßig wichtige Geschehnisse während ihres Arbeitsalltages aufzeichneten als auch retrospektiv Texte über die durch sie geleiteten Häuser verfassten.[39]
Über die genannten Darstellungen hinaus konnten die Autorinnen und Autoren insbesondere auf die Quellensammlungen in den Archiven der Rummelsberger Behindertenhilfe-Einrichtungen zurückgreifen.[40] Genutzt wurden darüber hinaus die einschlägigen Bestände des Landeskirchlichen Archivs der Ev.-Luth. Landeskirche in Bayern (Nürnberg) sowie Dokumente aus dem Archiv des Ev. Werks für Diakonie und Entwicklung (Berlin). Eine insgesamt mehrwöchige Recherche förderte umfangreiches einschlägiges Material zutage, führte aber auch zu der Erkenntnis, dass insbesondere innerhalb der Sammlungen der Rummelsberger Diakonie bedeutende Überlieferungslücken bestehen.[41]
Mit Bezug auf Goffmans Konzept der totalen Institution entwickelten Schmuhl und Winkler vor einigen Jahren ein überzeugendes analytisches Instrumentarium zum Verständnis des Alltags in evangelisch-diakonischen Heimen sowie in Heil- und Pflegeeinrichtungen, welches auch in diesem Band zur Anwendung kommt. Danach werden die spezifischen Lebenssituationen der „Insassen“ über den möglichen Zugang zu Dingen, Räumen und Menschen analysiert sowie mit den Lebenswirklichkeiten des Personals kontrastiert.[42]
Das wesentliche Erkenntnisinteresse dabei besteht zum einen darin, herauszuarbeiten, welche konkreten Veränderungen seit dem Ende der 1960er Jahre im Bereich der Rummelsberger Behindertenhilfe dazu beitrugen, die „totale Institution“ allmählich aufzulösen, sowie darüber hinaus darin, die in der Folgezeit geschaffenen „neuen Realitäten“ abzubilden. Die Anstöße hierzu gaben neue Konzepte und besser qualifiziertes Personal, die Entwicklungen resultierten aus staatlichen Vorgaben, beruhten auf Initiativen von Angehörigen, aber auch auf dem Engagement von Menschen mit Behinderungen selbst, wie etwa im Rahmen der „Krüppelbewegung“ während der 1970er und 1980er Jahre.[43] Der Weg in die Moderne, so wird zu zeigen sein, verlief – wie an anderen Orten auch – jedoch keineswegs stringent, sondern blieb durch „Ungleichzeitigkeiten“ geprägt. Nicht alle Bewohnerinnen und Bewohner konnten zeitnah in Neubauten untergebracht werden, nur wenige konnten zunächst eine Einzelförderung erhalten oder das kommunale Gymnasium besuchen und nicht immer war das Personal in der Lage, neue pädagogische Konzepte reibungslos umzusetzen. Der Gesamtbefund, so viel sei hier bereits vorweggenommen, ist eindeutig: Auch wenn die in den Rummelsberger Anstalten geleistete Arbeit für Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen und diejenige für körperlich Beeinträchtigte jederzeit räumlich voneinander getrennt blieben, durchliefen beide Bereiche ganz ähnliche Entwicklungen bis hin zu einer „Normalisierung“.
Um möglichst tiefe Einblicke in die Abläufe in den Häusern selbst zu gewinnen, haben sich die Autorinnen und Autoren dazu entschlossen, über leitfadengestützte Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen neue Quellen hinzuzugewinnen. Für die Erstellung dieses Bandes wurde daher mit Männern und Frauen gesprochen, die während des Untersuchungszeitraums in den genannten Einrichtungen wohnten oder dort arbeiteten. Im Rahmen dieser teils mehrstündigen Interviews entstand ein Konvolut, aus dem Informationen hervorgehen, die in den Verwaltungsakten naturgemäß nicht auftauchen, aber eine wichtige Ergänzung darstellten. Hierzu ein Beispiel: So mag in der offiziellen Korrespondenz vermerkt sein, dass eine Untersuchung in der Praxis des Anstaltsarztes stattfand. Mit welchen Haltungen und Gefühlen sich die handelnden Personen hierbei begegneten, was dabei gesprochen wurde oder wie der Vorgang konkret ablief, geht daraus nicht hervor. Derartige Informationen sind für ein Verständnis des „Anstaltsalltags“ jedoch unerlässlich. Die Autorinnen und Autoren führten zwischen März 2019 und März 2020 daher Interviews mit elf (früheren) Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen (zehn Männer, darunter mehrere Diakone, und eine Frau), 15 Bewohnern und Bewohnerinnen des Auhofs (14 Männer und eine Frau) sowie mit vier Bewohnern des Wurzhofs.
Der vorliegende Band enthält fünf Beiträge zu unterschiedlichen Teilaspekten der Geschichte der Behindertenhilfe der Rummelsberger Anstalten. Alle Beiträge stehen für sich, greifen aber aufgrund der übergeordneten Fragestellung, aufgrund der verwendeten Quellen sowie durch die inhaltlichen Überschneidungen an vielen Stellen ineinander. Über die Anordnung der Beiträge innerhalb des Bandes möchten die Autorinnen und Autoren aber zumindest eine Struktur für die Lektüre vorschlagen.
Zuvorderst steht der Beitrag von Karsten Wilke zur Geschichte des Altdorfer Wichernhauses, einer 1925 eröffneten Betreuungseinrichtung für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Der Ausgangspunkt der Untersuchung liegt jedoch bereits im späten 19. Jahrhundert, da er hinführend die Entwicklung des Konzepts der „Krüppelfürsorge“, dem sich das Wichernhaus verschrieb, nachzeichnet. Das Konzept verband die verwahrende Pflege in Heimen mit der auf Heilung und körperliche Befähigung ausgerichteten Orthopädie.
Entsprechend bot das Wichernhaus Wohn- und Schulplätze in einem hauseigenen Internat, medizinische Behandlung und Physiotherapie in einer orthopädischen Klinik sowie Möglichkeiten der Berufsausbildung in verschiedenen Werkstätten. Der Beitrag betrachtet die Entwicklung der drei genannten Abteilungen über einen Zeitraum von siebzig Jahren. Er arbeitet organisatorische und konzeptionelle Zäsuren heraus und zeichnet die Entwicklung zu einer modernen Einrichtung der Rehabilitation und Eingliederung nach. Jederzeit wird deutlich, dass politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen erheblich auf die Situation vor Ort einwirkten. Das Wichernhaus litt unter der Weltwirtschaftskrise, profitierte kurzfristig von den Konjunkturmaßnahmen der Nationalsozialisten, musste sich mehrerer Übernahmeversuche des NS-Regimes erwehren und wurde während des Zweiten Weltkrieges als Reservelazarett genutzt.
Die Reorganisation begann bereits während der späten 1940er Jahre, da aufgrund der Kriegsfolgen ein erheblicher Bedarf bei der Versorgung Körperbehinderter bestand. Motor und Aushängeschild hierbei war die Orthopädische Klinik. Obwohl deren Kapazitäten durch Um- und Anbauten laufend vergrößert wurden, ließ sich der Bedarf an stationärer Versorgung und ambulanter Behandlung jeweils lediglich kurzfristig decken. Das führte während der 1970er Jahre schließlich zu der Entscheidung, die Orthopädie nach Rummelsberg auszulagern. Neben dem Klinikneubau entstand hier kurz darauf ein modernes Berufsbildungswerk, das die Ausbildungswerkstätten aus Altdorf aufnahm und als „Neues Wichernhaus“ bezeichnet wurde. Vor Ort verblieb lediglich noch der Internats- und Schulbetrieb mit Vor- und Sonderschulen für Körperbehinderte sowie Therapie- und Freizeitbereichen.
Auch der zweite Beitrag, der sich mit der Geschichte des Auhofs befasst, stammt aus der Feder von Karsten Wilke. Nachdem ein erster Versuch, den Auhof zu übernehmen, während der 1930er Jahre am Widerstand der Nationalsozialisten gescheitert war, gelangte der frühere Gutshof kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den Besitz der Rummelsberger Anstalten.
Zu diesem Zeitpunkt diente das Anwesen vor allem als Flüchtlingsunterkunft. Der Beitrag zeigt, dass es wenig später entgegen den eigentlichen Planungen aufgrund einer günstigen Gelegenheit zu einer Betreuungseinrichtung für Kinder und Jugendliche mit geistigen Beeinträchtigungen umstrukturiert wurde. Im Verlaufe mehrerer Jahrzehnte entstanden ein Berufsbildungsbereich, ein Therapiezentrum mit Intensivabteilung, eine Arztpraxis, eine Kirche, Wirtschaftsgebäude sowie mehrere Wohnhäuser.
Der Schwerpunkt des Beitrags liegt auf der Realisierung des Neubauprojektes während der 1970er und 1980er Jahre, das trotz einiger Planungsfehler den Ansprüchen seiner Erbauer gerecht wurde und einen „großen Umbruch“ einleitete. Die neuen Gebäude ermöglichten die Einrichtung kleinerer Wohngruppen, die Beschäftigung von mehr und besser ausgebildetem Personal sowie neuer Berufsgruppen, die Einführung moderner heilpädagogischer Konzepte sowie die Etablierung kollegialer Arbeitsstrukturen.
Der Beitrag von Ulrike Winkler verzahnt die Darstellungen zum Wichernhaus und zum Auhof durch den Blick auf die Lebens- und Arbeitssituation von Diakonen, Diakonissen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Bereichen in der Behindertenhilfe der Rummelsberger Anstalten tätig waren. Aus den geführten Interviews rekonstruiert Winkler minutiös und detailliert den Arbeitsalltag in verschiedenen Häusern, konkrete Probleme, die sich hierbei ergaben, sowie die vielfältigen kleineren und größeren „Erfolgsgeschichten.“ Das Hauptaugenmerk liegt – vorrangig aus der Perspektive der in den Einrichtungen beschäftigten Rummelsberger Brüder – auf den Begleiterscheinungen und Auswirkungen von Veränderungsprozessen. So stellt Winkler heraus, dass das Leitbild des „generalistisch“ ausgebildeten Diakons erst allmählich durch eine systematische spezifische Personalqualifizierung für den Bereich der „Behindertenhilfe“ abgelöst wurde. Entsprechend konnte bis in die 1960er lediglich ansatzweise professionell gearbeitet werden. Hinzu kamen tradierte Vorbehalte gegenüber dem neuen Arbeitsfeld. Der Auhof beispielsweise wurde von vielen Diakonenschülern und Diakonen lange Zeit als vermeintliches „Brüdergrab“ abgelehnt und, sofern möglich, gemieden.
Zu einem grundlegenden Wandel kam es hier erst, als seit Mitte der 1970er Jahre die Neubauten sukzessive fertiggestellt und in Betrieb genommen werden konnten. Die neuen Räumlichkeiten trugen wesentlich dazu bei, die Arbeitsabläufe allmählich den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner anzupassen, Teamstrukturen gestatteten eine bessere Planung und eröffneten den Diakonen, Diakonissen und den „zivilen“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Möglichkeiten, eigene Kreativität einzubringen.
Der Beitrag von Hans-Walter Schmuhl befasst sich mit dem Auhof und unternimmt den Versuch, den Alltag „auf Station“ in Form einer „dichten Beschreibung“ nachzuzeichnen. Als Quellen dienen zum einen leitfadengestützte Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern sowie – als Zufallsfund – eine größere Anzahl sogenannter „Tag- und Nachtbücher“, in denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Station handschriftlich wichtige Vorkommnisse während ihrer Dienstzeit für die Kolleginnen und Kollegen festhielten. Ein wertvolles Dokument bildet darüber hinaus eine Ausarbeitung eines leitenden Mitarbeiters zur Situation im Auhof, die – ohne dass ein ausdrücklicher Bezug erfolgt – einige Aspekt des oben schon erwähnten Konzepts der „totalen Institution“ nach Erving Goffman berührt.[44]
Dieses Konzept dient Schmuhl als Interpretationsfolie. Es liegt in der Logik einer solchen Institution und im Interesse des darin tätigen Personals, die „Insassen“ den Bedürfnissen „des Betriebs“ anzupassen – und das heißt allzu oft: ihre individuellen Lebensäußerungen zu kontrollieren und zu unterdrücken. In diesem Sinne entstehen in totalen Institutionen aus (scheinbaren) Sachzwängen mehr oder weniger manifeste Gewaltverhältnisse. Im vorliegenden Beitrag wird aus der Soziologie Goffmans eine Definition von Gewalt entwickelt: Gewalt wird dabei aufgefasst als bewusste Verletzung der persönlichen Integrität (des „Selbst“) eines Menschen mit dem Ziel, Macht über ihn zu gewinnen. Daraus lässt sich eine Typologie verschiedener Gewaltformen ableiten, auf deren Hintergrund das Gewaltpotential bestimmter Strukturen und Praktiken im Alltag „auf Station“ sichtbar wird. In diesem Sinne werden die Tagesstruktur, der zur Verfügung stehende persönliche Raum, der persönliche Besitz, die Kleidung, Essen und Trinken, Hygiene, Schule, Arbeit und Freizeit, das Verhältnis zu den Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern und schließlich das Verhältnis zwischen dem Personal und den ihm anvertrauten Menschen untersucht.
In den Interviews scheinen vielfältige Formen von Gewalt auf: Schläge, Fixierungen, Wegsperren in eine „Zelle“, medikamentöse Ruhigstellung, demütigende Strafen und in einem Fall, der ausführlich geschildert wird, auch eine stereotaktische Operation. Dabei wird deutlich, dass sich die überkommenen Gewaltverhältnisse „auf Station“ mit dem Umzug in neue Räumlichkeiten und der Einführung eines heilpädagogischen Konzepts nicht über Nacht auflösten. Vielmehr führten „Sachzwänge“ – nach wie vor unzureichende Räumlichkeiten, zu große Gruppen, ein sehr hoher Anteil an verhaltensauffälligen Bewohnern, ein ungünstiger Personalschlüssel, ein zu niedriges Qualifikationsniveau der Mitarbeitenden – dazu, dass gewaltsame Praktiken noch über Jahre hinaus fortgeführt wurden, obwohl man konzeptionell längst darüber hinweg war.
Am Ende des Bandes steht der Beitrag der Pharmazeutin Sylvia Wagner, der sich zum einen mit der Durchführung einer Arzneimittel-Erprobung an Bewohnern des Auhofs unter Leitung des Anstaltsarztes Dr. Anton Seyberth (1923–1991) befasst. Das noch nicht lizenzierte Präparat Nomifensin wurde im Jahre 1975 mit großer Wahrscheinlichkeit ohne sogenannte „informierte Einwilligungen“ an mindestens neun Jungen getestet. Wagner weist nach, dass Seyberth hierbei bereit war, unkalkulierbare Risiken für die Probanden in Kauf zu nehmen. In einigen Fällen stellten sich Nebenwirkungen ein, die z.T. derart heftig waren, dass die Vergabe ausgesetzt werden musste.
Den zweiten Schwerpunkt legt Wagner auf das Thema „soziale Medikation“. Mit diesem Begriff bezeichnet sie die Praxis, statt über eine (zeit-)aufwändige pädagogische Intervention über die Vergabe von Medikamenten auf „angepasste“ Verhaltensweisen hinzuwirken bzw. „auffälliges“ Verhalten zu unterbinden. Im Auhof und im Wurzhof wurde während der 1980er und 1990er Jahre das triebhemmende Präparat Androcur®45