„TUE RECHT UND SCHEUE NIEMAND!!!“

(Mein Lebensmotto)

Kriegskind

Winzersohn

Realschüler

Klaviermusiker

Gesangssolist

Weingutsbesitzer

Frauenfreund

Globetrotter

Weltbürger

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2017 Ludwig Eser, Mühlstr. 54, 65375 Oestrich-Winkel: Lu.37@gmx.de Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH

ISBN: 978-3-7448-4294-5

Ich widme dieses Buch meinen Enkelkindern

Elías, Jannes sowie Celine und Luise.

Vielleicht ergeben sich am Ende, aus allen Ereignissen –

die auch für Nachkommen aufschlussreich sind –

Einsichten, die einen Menschen, seine Erkenntnisse,

seine Beweggründe, seine Entscheidungen,

besser verstehen lassen.

Meine Familie

Wohl wissend, dass ich nicht zum Schreiben geboren bin, möchte ich nach fast achtzig Jahren Dasein Erinnerungen schildern, wie sie sich in mir bewahrt haben. Aber bevor ich beginne, will ich mich vorstellen.

Ich wurde am 30.04.1937 geboren, getauft auf den Namen Ludwig Alois Eser. Wie auf dem Foto mit meiner Mutter zu erkennen, konnte ich meine Mutter mit meiner Geburt glücklich machen und Vater August mit einem Stammhalter sowieso.

Um ein gelebtes Leben zu verstehen, sollte man die Wurzeln kennen.

Meine Mutter, geb. 28.08.1914, war das jüngste Kind aus der alteingesessenen Winzerfamilie Körner aus Rauenthal. Wie man auf dem Bild mit Freundinnen und Gitarre erkennt, war sie lebenslustig, hübsch, wohl auch musikalisch. Nach der Volksschule besuchte sie mit Ehrgeiz die Näh- & Kochschule in Eltville. Dies war es, was man Winzertöchtern angedeihen ließ, um sie für das Leben fit zu machen, und eine „gute Partie“ sollte sie natürlich auch sein.

Meine Mutter Josefine und ich

Josefine mit Freundinnen

Doch jetzt zu meinem Vater August Johann Eser, geb. 04.05.1904. Er war der zweite Sohn des Johann Josef Eser, seine Mutter war Margareta Eser, geborene Nikolai, aus Erbach.

Brautleute August und Josefine

Um die familiären Zusammenhänge besser zu verstehen, zunächst ein Bild von meinen Urgroßeltern mit ihren acht Kindern.

Sitzend die Eltern Barbara Eser (geb. Fetzer) und Johann Josef Eser (meine Urgroßeltern) und von links nach rechts ihre Kinder Elisabeth (bleibt Junggesellin), Katharina (später verheiratete Augstein), Anton Johann, Johann Josef, Leonhard, Albert, Maria (später verheiratete Nikolai) und Barbara (später verheiratete Kunz)

Dieses ausdrucksvolle Familienfoto dürfte um 1890 entstanden sein. Sitzend sehen wir den Familienpatriarchen, meinen Urgroßvater Johann Josef Eser, der am 20.06.1834 geboren wurde. Seine energisch blickende Frau Barbara Eser, geb. Fetzer, erblickte am 28.12.1835 das Licht der Welt. Aus dieser Ehe entstanden acht Kinder: vier Mädchen und vier Jungen.

Drei männliche Nachkommen heirateten und blieben in Oestrich ansässig, doch Anton Johann vermählte sich und ging nach Johannisberg. Von den weiblichen Kindern heiratete eine in die Familie Kunz in Oestrich ein. Eine andere schloss den Bund fürs Leben und war fortan Teil der Familie Augstein, und die Dritte blieb unverheiratet. Die Vierte nahm einen Nikolai zum Mann und zog auf sein Weingut nach Erbach.

Dieser Urgroßvater, Johann Josef Eser, war ein heller Kopf und sehr früh schon im Gemeinderat. Sein Lehrer hat ihn immer als „meinen Primus“ tituliert, und so ist im Volksmund daraus unser Spitzname: die „Primbes“ oder „Primbeser“ entstanden.

Auf diesem aussagefähigen Bild kann man gut die einzelnen Persönlichkeiten erkennen. Ihr gepflegtes Aussehen zeigt uns, dass wir uns mit niveauvollen Vorfahren schmücken können.

Alle vier Brüder – und ihre Nachkommen – sind bis heute dem Weinbau treu geblieben. Von den vier Schwestern haben drei wiederum Winzer geheiratet, und so spricht man in Oestrich mit Recht von dem Eser-Clan oder auch der Eser’schen Weindynastie.

Festhalten kann man, dass alle Nachkommen mit Fleiß, Anstand, Beharrlichkeit und Liebe zum Beruf erfolgreich im Weinbau ihren Lebenssinn und ihren Lebensweg gefunden und behalten haben.

Wenn früher über Geld geredet wurde, lautete die Devise: Einem Winzer geht es gut, wenn ein Jahrgang am Stock (Weinberg) reift, ein Jahrgang sich im Keller gut entwickelt und die Einnahmen eines Jahrgangs als Polster auf der Bank liegen.

Doch zurück zu meinem Großvater Johann Josef Eser (auf dem Foto hinten der zweite Mann von links): Er war verheiratet mit der Schwester seines Schwagers Nikolai aus Erbach. Er hatte fünf Kinder: Josef Kaspar (geb. 30.04.1901), August (geb. 04.05.1904) mein Vater, Hermann (geb. 23.02.1906), Katharina (geb. 30.09.1907) und Margarete (geb. 16.08.1909).

Hochzeit von Tante Katharina. Brautjungfer ist ihre Schwester Magarete.
Dritter von links ist Onkel Josef. Zwischen Braut und Brautjungfer meine Mutter Josefine.
Links neben Josefine mein Vater August.

Die Hochzeit fand 1936 im neuen Elternhaus statt. Ein Jahr später kam der Kindersegen.

Der Patriarch Johann Josef Eser (geb. 1863) mit 74 Jahren im Jahr 1937.
V. l. n. r.: Lina Eser (Frau von Josef Kaspar) mit Sohn Josef, Elisabeth Eser (Frau von Hermann Eser) mit Tochter Barbara, Katharina Schlesinger (geb. Eser) mit Sohn Peter und meine Mutter Josefine Eser mit mir.

Diese fünf Kinder, meine Onkel und Tanten, haben in ihrer Kindheit den 1. Weltkrieg erlebt und Entbehrungen erfahren. In der großen Schulpause waren zu Hause Bratkartoffeln und Kuhmilch vorbereitet. Es gab kein Radio, die Zeitung bestand aus einem Blatt. Man hat sich mit den Nachbarn am vorbeifließenden Pfingstbach getroffen, geschwatzt und gesungen. Wie mein Vater erzählte, habe er in Erinnerung, dass die Familie vor dem 1. Weltkrieg von den Zinseinnahmen habe leben können. Darum hätten die Preissteigerungen vor der großen Inflation 1923 den Vater dazu verführt, den Wein mit Fass zu verkaufen. Die beiden Ältesten, Josef und August (damals 22 und 19 Jahre alt), haben daraufhin das Zepter in die Hand genommen, um das Überleben zu sichern, da sie kein Zutrauen in die Geldgeschäfte des Vaters mehr hatten.

Der Weinbau war zu dieser Zeit von Handarbeit geprägt. Mit sogenannten Fahrkühen oder Ochsengespannen – wer es sich leisten konnte, hatte ein Pferd – wurden die Rebzeilen bearbeitet. Der Drahtrahmen zur Unterstützung der Reben setzte sich durch. Mit Sichel und Sense musste man die Vegetation zähmen. Im Winter – auch bei Schnee und Frost – wurde der Boden für Neuanlagen systematisch 60–70 cm tief umgegraben, die Steine entfernt und sogenannte Findlinge für den Mauerbau verwandt.

Das Wissen um den Rebenanbau und den Weinausbau wurde vom Vater auf den Sohn weitergegeben. Vater August – mit einer guten Weinzunge ausgestattet – hat in jungen Jahren mit seinem Bruder Josef Kaspar viel im Weinbau experimentiert und im Keller ausprobiert. Unter den Geschwistern sowie den Cousins wurde viel über den Weinanbau und Ausbau debattiert. Gerätschaften – für uns heute vorsintflutlich – kamen auf den Markt und wie zu allen Zeiten ließen sich Entwicklungen nicht aufhalten. So reifte in den späten 1920er Jahren bei den Gebrüdern Eser die Überzeugung, sich zu „Selbstvermarktern“ zu entwickeln. Die wirtschaftliche Depression Deutschlands zwang, zu „neuen Ufern“ aufzubrechen.

Der Wein wurde dann nicht mehr im Fass verkauft, sondern selbst in Flaschen abgefüllt. Aber nun kam die Herausforderung: Die Flaschen mussten auch verkauft werden! Da war Vater August gefragt. Sein erster Kunde war wohl in Schierstein Familie Horscher vom „Grünen Baum“. Geliefert wurde per Pferdewagen von Onkel Herrmann. Die schriftlichen Aufzeichnungen oblagen Onkel Josef. Tante Katharina verwaltete das Geld. Doch ihre Hauptaufgabe war die Mutterrolle, denn die Mutter Margareta, geb. Nikolai, war bereits gestorben. Tante Katharina hatte bei ihren vier Machos, ihren Vater mit eingerechnet, keinen leichten Stand. Die Herren der Schöpfung bekamen alles vor den Hintern getragen und waren zu hilflos, sich selbst einen Schlips zu binden.

Der eingeschlagene Weg ging erfolgreich weiter. Es kamen immer wieder neue Kunden dazu. Man muss wissen, in den 1930er Jahren gab es keinen Getränkemarkt und auch kein Flaschenbier. Die Gastronomie war der Ansprechpartner für den Privatmann. Entweder man feierte in der Wirtschaft oder man holte sich die Getränke beim Wirt. Der Privatmann war Selbstversorger und hatte im Keller diversen vergorenen Mostvorrat, zum Beispiel Apfelwein. Die Winzer hatten ihren „Bubbes“ oder „Leier“. Dieser durfte für den Eigenverbrauch gemacht werden: Dafür wurden die ausgepressten Weintrauben in Wasser eingeweicht und nach circa 24 Stunden Standzeit erneut ausgepresst. Dann wurde dem Saft Zucker zugesetzt und alles vergoren. Natürlich war auch damals für den gehobenen Anspruch Wein zum Feiern angesagt, den der Wirt dann vermittelte.

Mit der Machtergreifung Adolf Hitlers kam Bewegung in die Volkswirtschaft. Es gab die ersten Autos, wie die von Opel. Die Esers bekamen ein Auto, einen Opel Olympia, Baujahr 1935. Damit wurde der Kundenkreis immer größer. Es ging Richtung Limburg, Westerwald, Siegerland und Rhein-Main-Gebiet samt Frankfurt. Aber in Frankfurt war das „Stöffche“, der Apfelwein, beheimatet und ein starker Konkurrent des Weins.

Aus Erzählungen weiß ich, dass 1934 und 1935 sehr große Weinernten eingefahren wurden. Dementsprechend lagen die Preise für Fassweine am Boden. Erschwerend kam hinzu, dass das neue Regime der NSDAP unter Adolf Hitler Kontakte zu Spanien pflegte. So entstand 1936 die Legion Condor, die General Franco zum Gelingen seines Aufstands inoffiziell helfen sollte. Es kam nach der Machtergreifung Francos zu einem Abkommen zur Lieferung spanischer Weine nach Deutschland. Diese wurden von den Deutschen gut angenommen, sehr zum Leidwesen der deutschen Weinerzeuger. Deshalb wurden die Winzer aktiv, wie mein Vater mir erzählte. So sollen sich Hallgartener Winzer zusammengeschlossen haben und gemeinsam gastronomische Betriebe besucht haben. Sie fragten dann immer die Wirte: „Haben Sie Hallgartener Weine im Ausschank?“ Wenn diese verneinten, gingen sie wieder. Einen Versuch war es ja wert!

Die Marktlage, insbesondere bei den Fassweinpreisen, war sehr, sehr bescheiden und auch die Weinversteigerungen liefen schlecht. Mein Vater – der alle Versteigerungen im Rheingau besucht hat – kam mit den Konterproben der von ihm gekauften Weine nach Hause. Er war von der Qualität der Weine, die niemand haben wollte, so überzeugt, dass er einige Halbstück (was 600 Liter entspricht) übernahm. „August, wie kannst du nur? Wir haben kein Geld!“, fuhr ihn seine Schwester Katharina unter heftigem Kopfschütteln an. Aber er entgegnete nur: „Koch mir einen Kaffee.“ Dann nahm er seine Konterproben und fuhr mit dem Auto davon. Am nächsten Abend kam er mit stolz geschwellter Brust zurück, warf seiner Schwester das Geld auf den Tisch mit den Worten: „Ihr Kleingläubigen, ich habe alles verkauft. Du kannst den Wein bezahlen, und verdient haben wir auch noch was!“

Ja, Vater August konnte Menschen überzeugen. Er hatte ein total vertrauenerweckendes Auftreten und die Gabe, auf potenzielle Kunden zugehen zu können. Ich habe ihn erlebt. Bei seinen Geldgeschäften gab es selten eine Quittung, es galt das Wort!!!

Der geschäftliche Erfolg ging weiter, die Gebrüder Eser konnten gegenüber ihrem Elternhaus auf dem damaligen Horst-Wessel-Platz 1935 eine Hofreite erwerben. Es war ein sogenanntes Patrizierhaus der Familie Hey, mit großem Gewölbekeller und dazugehörigem Gartengelände. Das Haus war groß genug für zwei Familien und für die zu erwartende Kinderschar. Onkel Josef Kaspar zog mit Frau und Sohn Josef in die Erdgeschosswohnung und Vater August nahm die Wohnung im ersten Stock mit separatem Eingang. Jetzt konnte er 1936 heiraten!

Mein Elternhaus im Jahr 2015, jetzt Weingut August Eser auf dem Friedensplatz 19.

Die Toreinfahrt, für LKWs geeignet, war Zugang für ein circa 120 Meter langes Grundstück. Direkt neben dem Tor – heute ist dies zugemauert – war der Zugang zu der Wohnung im ersten Stock. Im hervorragenden Gebäudeteil waren jeweils zur Straße hin die Elternschlafzimmer von Josef Kaspar im Erdgeschoss und August Eser im ersten Stock. Dahinter zum Innenhof lagen die Küchen der Familien. Im leicht zurückliegenden Gebäude war der Zugang zu einer geschmackvollen, geräumigen Diele, die als Eingang für Josef Kaspar und die Kundschaft diente. Von der Diele aus rechts gelangte man in das Wohnzimmer meines Onkels, dieser Raum wurde auch für Weinproben genutzt. Wenn man sich das Bild ansieht, ist dies der Bereich hinter den Geranienfenstern. Um die Ecke waren das Zimmer von Sohn Josef und das Büro.

Im ersten Stock, hinter dem ersten Fenster oberhalb der Tür, befand sich ein Raum, der nach dem Krieg zum Bad mit Kohleofen ausgebaut wurde. Samstags war dann Badetag. Dieses Zimmer war gleichzeitig das Schlafzimmer meiner Schwester Marianne. Vorher stand die Zinkwanne in der Küche. Wenn Vater fertig mit dem Baden war, kamen die Kinder ins Wasser.

Daneben war das Zimmer meines Bruders Joachim und mir, dann unser Wohnzimmer (das Eckzimmer rechts außen). Um die Ecke war das Schlafzimmer der Cousinen Edith und Irene. Neben ihrem Schlafzimmer, welches über dem Büro war, wohnten seit 1943 in zwei Zimmern Herr und Frau Krause aus Mainz, die dort ausgebombt waren.

Dies war jetzt eine kurze Zusammenfassung der Wohnsituation während des Krieges und mit Modernisierungen auch bis zum Jahr 1955, dem Trennungsjahr der Brüder Josef Kaspar Eser und August Eser.

Im Jahr 1935/36 war eine große Halle entstanden, parallel zum Wohnhaus, mit Verbindung zum Büro. Auf dem Bild ist links die Giebelseite dieser Halle zu erkennen. Es war für die damalige Zeit ein moderner Bau mit Verladerampe. Es gab einen elektrischen DEMAG-Aufzug zum Keller. Dieser transportierte Flaschen und Fässer. In der sogenannten Packhalle wurden die Flaschen mit Etiketten versehen, in Papier eingewickelt, zum Transportschutz mit einer Strohhülse versehen und in eine 25er oder 50er Holzkiste für den Bahnversand verpackt.

Hinter der neu erbauten Halle entstand im Abstand von circa 40 Metern eine Scheune mit Speicher für Heu und Stroh. Rechts war ein Stall für Pferd und Kuh sowie zwei Schweine und diverse Hühner. Dazu gehörte eine Jauchegrube und darüber lagerte der Stalldung. Im hinteren Teil des Stalls war noch eine Miete ausgehoben, um Kartoffeln und Rüben für das Vieh zu lagern.

Vor der Scheune war eine circa 10 Meter lange, den ganzen Hof überspannende Stahlkonstruktion entstanden, die den gesamten Fuhrpark vor Wetter schützen sollte. Hinter der Scheune war ein circa 40 Meter langer Garten, den wir Kinder später gern plünderten oder in den wir uns zum Spielen zurückzogen. Er war unser Eldorado.

Der alte Fasskeller unter dem Haupthaus

Der neu entstandene Tankkeller von 1954

Diese Baulichkeiten, in den Vorkriegsjahren entstanden, waren mit Leben erfüllt. Sie boten die Voraussetzungen, um für mehr als zehn Personen einen Arbeitsplatz zu sichern und einen Weinbaubetrieb zu organisieren. Mit Kriegsausbruch 1939 ging diese positive Entwicklung zu Ende. Die Mitarbeiter wurden zum Kriegsdienst verpflichtet und der Reichsnährstand verwaltete die Ernten.

Ich hoffe, liebe Enkel, verehrte Leser, dass ihr mit dem bisher Gehörten eine Vorstellung bekommen habt, wo ich glücklicherweise hineingeboren wurde.

Aber nun zu meinen Erinnerungen.

Mein erstes Erinnern

Am 25. März 1942 wurde mein Bruder Joachim geboren, aber von allem habe ich nichts mitbekommen, nur Folgendes: Am Morgen wurde meine Schwester Marianne und ich von Oma Dillmann, der Mutter meiner Tante Lina, abgeholt und gegen unseren Willen mit zu ihr nach Hause genommen. Ich erinnere mich, dass ich immer wieder zum Tor lief, um zu entkommen. Aber die Tür war zu. Nachmittags gab jemand Entwarnung und wir gingen endlich wieder heim.

Man hatte uns auf diese Art aus dem Weg geschafft, denn bei einer Hausgeburt hatten die Erwachsenen Angst, dass wir ihnen in die Quere kommen würden. Das Ereignis habe ich aber nicht registriert und keine Erinnerungen daran. Nur dass andere mein Freiheitsbedürfnis einschränken wollten, blieb mir im Gedächtnis. Es liefert eine Erklärung dafür, warum ich den Versuch meiner Eltern, mich in den Kindergarten zu schicken, erfolgreich verhindert habe.

Ein Unfall mit Joachim, ein Armbruch und die Einschulung

An einem warmen Tag im Jahre 1943 spielten wir Kinder der Brüder Eser wie meistens im Hof. Josef war acht Jahre alt, seine Schwester Edith sechs, genau wie ich. Meine Schwester Marianne fünf Jahre alt, die Cousine Irene zwei und mein Bruder Joachim gerade mal ein Jahr alt.

Joachim saß in der bereitgestellten Zinkwanne, die noch mit warmem Wasser gefüllt werden sollte, als das Unglück seinen Lauf nahm.

Josef – mit acht Jahren noch ein Kind – holte aus dem Kessel heißes Wasser und kippte es freudestrahlend über die Beine von Joachim. Die stundenlangen Schmerzensschreie bleiben immer in meiner Erinnerung. Es waren Verbrennungen dritten Grades, keine Medikamente zur Hand, nur unser dienstverpflichtetes Hausmädchen Herta Fischer holte bei ihrer Mutter das kostbare Johanniskrautöl, das die Schmerzen angeblich lindern sollte.

Als Onkel Josef von der Arbeit aus den Weinbergen kam, war er über das Geschehene so erbost, dass er seinem Sohn auf dem Fahrrad den Eimer hinterherschleuderte. Dieser hinterließ auf dem Schutzblech des Fahrrads eine tiefe Kerbe.

Gott sei Dank blieb diese Affekthandlung ohne Folgen. Ich dachte mir mit meinen sechs Jahren: Was soll das? Man konnte es ja nicht mehr ungeschehen machen. Auch wenn dies heute verpönt ist, ich hätte dem Josef den Hintern versohlt.

Mir hat man aber auch nicht den Hintern versohlt, als ich auf wackelige Kisten geklettert war, dabei runterfiel und den Arm gebrochen hatte. Im Eltviller Krankenhaus hat man den Gipsverband so eng gewickelt, dass am nächsten Tag meine Hand blau wurde. Wir mussten erneut in das Krankenhaus. Mit der Schere trennte die Krankenschwester den Verband auf, was mir Schmerzen verursachte. „Was haben Sie für ein ungezogenes Kind!“, herrschte die Krankenschwester meine Mutter an. Als der Verband endlich ab war, sah man den Grund meines Schreiens: Diese „dumme Kuh“ hatte mir beim Weiterschieben der Schere meinen ganzen Arm aufgeschlitzt.

Ein weiteres Ereignis war meine Einschulung in die Volksschule Oestrich. Eine Schultüte gab es nicht, aber einen Ranzen, eine Schiefertafel und zwei Griffel. Das Schwämmchen zum Löschen der Schrift hing aus dem Ranzen heraus. Unsere Lehrer wollten alles Mögliche von uns: Wir mussten immer anständig sitzen bleiben, den Mund halten und zuhören – wieder waren da welche, die etwas von mir wollten, und nannten es Erziehung. Na, das kann ja was werden, und ich dachte mir: „Ludwig, tröste dich, der Nachmittag gehört ja noch dir.“ Der Garten, der Hof und der Horst-Wessel-Platz gehörten uns Kindern.

Der Alltag 1943, der Papa kommt heim!

Zu Hause kamen immer mehr Leute zu den Mahlzeiten zusammen. Da war ein junger französischer Kriegsgefangener, der morgens zum Frühstück kam und tagsüber bei uns lebte und arbeitete. Abends, zu einer gewissen Uhrzeit, musste er in sein Quartier zurück. Zu unserem Hausmädchen Anni Herdt kam noch eine Russin, die tagsüber bei uns lebte und arbeitete. Es machte mir Spaß, die Mädchen zu ärgern. Ich genoss es, wenn sie mich drückten, und ich drückte zurück, manchmal trat ich ihnen auch gegen das Schienbein.

1943 kam mein Vater aus dem Kriegsdienst zurück. Er wurde entlassen, da er ansteckende Gelbsucht hatte. An seiner Stelle wurde Onkel Josef einige Zeit später für den Kriegsdienst verpflichtet. Damals musste ein Bruder in den Krieg, der andere nicht, damit sich jemand weiter um den Betrieb kümmern konnte. Als sogenannte Selbstversorger mit Pferd, Kuh, Schwein und Hühnern musste für alle etwas zum „Beißen“ wachsen.

Vater August hat mit einer Hand-Drillmaschine Erbsen und Bohnen in die Weinberg-Junganlagen ausgesät, denn alle haben fürs tägliche Brot gearbeitet. Wenn die Polen aus dem Lager der Firma Koepp kamen, um im Weinberg zu arbeiten, gab es zuerst etwas zu essen. Man wusch die Wäsche nur montags im Kessel, da er sonst für dicke Suppen gebraucht wurde. Meine Mutter sagte im Zusammenhang mit der Suppe stets, sie stopfe allen die „Wurmlöcher“. Sie meinte damit sicher: Davon werden sie alle satt!!!

Zu essen war immer etwas da. Zugegeben, die Auswahl war stark eingeschränkt, aber Zuckerrübensirup schmeckt auch auf Brot. Die Treppe zum Keller diente als Kühlschrank. Unten war das leicht Verderbliche, weiter oben das Haltbarere.

Augusts selbst gemachte Handkäse reiften auf dem Küchenschrank. Alles aus dem Garten wurde gegessen und eingeweckt. Ein Fest war es, wenn Sauerkraut-Anna, wie wir sie nannten, das Weißkraut schabte, um es einzulegen. Sie war eine Alterskameradin von Vater August. Aus dem Weißkraut wurde nach einem gewissen Gärprozess Sauerkraut.

Das Kriegsgeschehen spitzt sich zu

Im Herbst 1943 bekam unsere Familie Zuwachs durch die Familie Schlesinger aus Offenbach. Tante Kathi mit Sohn Peter, er war damals sechs Jahre alt, und Hermann, vier Jahre, waren wegen der Luftangriffe in und um Frankfurt am Main aus Offenbach zu uns geeilt.

Wir alle waren im Hof, als Mutter Josefine ihre ersten Fahrradversuche startete. Aufgeregt kam sie den langen Hof heruntergefahren, begleitet von unseren aufmunternden Rufen: „Bravo, weiter, und jetzt die Kurve noch linksherum!“ Aber sie rollte ungebremst gegen das Kellergewölbe und fiel um. Mit verachtendem Blick zum Fahrrad war zu hören: „Auf das Ding setze ich mich mein Leben nicht mehr!“

Tante Kathi konnte nach der Kapitulation wieder nach Offenbach zurück, ihr Haus war nicht den Bombenangriffen zum Opfer gefallen.

Joseph Colleghia – unser französischer Kriegsgefangener

Zwischen 1943 und 1945 wurde uns ein französischer Kriegsgefangener zugeteilt, der tagsüber bei uns lebte und arbeitete. Eines Tages sollte Joseph Colleghia eine Lieferung mit Gemüse aus den Weinbergen ins Altenheim Clemenshaus bringen. Emma, unsere Hannoveraner Stute, stand bereit. Sie war einem leichten Einachshänger vorgespannt. Wir Jungs, Josef und sein Freund Rudolf Collong, Peter, Hermann und ich, wollten natürlich den Ausflug begleiten, was wir auch taten. Angekommen im Clemenshaus lud Joseph Colleghia das Gemüse ab.

Doch Josef und Rudolf hatten in der Zwischenzeit nichts Besseres zu tun, als das lammfromme Pferd am Schwanz zu ziehen. Das Pferd galoppierte ruckartig los. Die zwei Schwanzzieher blieben im Hänger liegen, aber Peter, Hermann und ich fielen aufs Pflaster. Als Joseph Colleghia zurückkam, fragte er: „Wo Pferd?“ Ich erklärte ihm die Lage. Daraufhin hörte ich nur: „Mon dieu! Oh, là, là!“ Und er lief hinterher.

Emma kam wohlbehalten zu Hause an. Die Schwanzzieher hatten das Weite gesucht und der Monsieur wurde in keinster Weise beschuldigt. Überhaupt war er, gegen den Willen des Regimes, ein Mitglied der Familie, der mit uns am Tisch aß, dem meine Mutter die Strümpfe stopfte und der Joachim auf den Schoß bekam, wenn der nicht im Weg sein sollte.

Joseph Colleghia in Ausgehuniform mit Widmung

So hat in unserer Familie, damals wie heute, das Menschliche im Vordergrund gestanden. Einmal sagte mein Vater August zu dem Monsieur, der Mitte zwanzig war: „Josef, du arbeitest, als gehörte es dir.“ Er antwortete spontan mit französischem Akzent: „Herr Eser, ich betrachte die Arbeit als Sport!!!“

Die nächtlichen Fliegeralarme

Neue Situation für uns Kinder waren die Fliegeralarme, die uns nachts zwangen, den Keller aufzusuchen.

Da saßen wir dann zusammen mit Leuten aus der Nachbarschaft. Mein Vater nahm mich, wenn die Sirenen Entwarnung gaben, mit nach oben. Vater August ging dann mit mir zum „Datzeberg“ – hinter der Schmalgasse gelegen, einem höher gelegenen Platz, um zu sehen, was passiert war. Es war für mich ein Trauerspiel, das brennende Mainz oder das brennende Schloss Johannisberg zu sehen. Mein Vater sagte dabei einmal zu mir: „So ist es, wenn Völker sich bekriegen, statt in Eintracht zu leben.“ Damals war die Angst, Stellung zu beziehen, selbst gegenüber den eigenen Kindern groß, denn das Regime war empfindlich gegenüber negativen Äußerungen.

In diesem Zusammenhang war für Vater August und mich ein Erlebnis schicksalhaft: Nachdem wir nachts schon lange im Keller waren, wollte Vater nach oben, um nach dem Rechten zu sehen. Er nahm mich an die Hand. Wir gingen um die Kurve im Keller und hatten bereits die erste Treppenstufe von circa fünfzehn Stufen erreicht, als eine starke Detonation eine riesige Druckwelle auslöste. Diese schnürte mir die Brust zu und schleuderte uns die Kellertür entgegen. Zehn Stufen weiter hätte es unser Tod sein können!

Was war passiert? In Oestrich war eine Mine auf die Oestricher Volksbank gefallen und alle umliegenden Dächer waren teils abgedeckt oder stark beschädigt worden, und die Fenster waren zu Bruch gegangen.

Zu einem späteren Zeitpunkt erfolgte die Bombardierung von Rüdesheim. Hier musste Vater August Aufräumarbeiten leisten. Nachdem er die eingestürzten Keller gesehen hatte, ging er bei keinem Alarm mehr in den Keller. Nur noch bei Artilleriebeschuss. Mutter Josefine regte sich zwar fürchterlich darüber auf, aber er blieb stur.

Das Käppi wird gesucht

Richtung Hattenheim war auf dem „Hohen Doosberg“ eine Flagbatterie stationiert. Diese musste nachts von Zivildienstleistenden betreut werden. Das bedeutete für die Männer, die nicht eingezogen waren, dass sie abends dort Dienst hatten. Dazu musste Uniform getragen werden und eine kleine längliche Uniformmütze, das Schiffchen oder, wie wir es nannten, das Käppi.

Mutter Josefine, Vater August mit „Käppi“, Schwester Marianne und ich am 14. Juli 1940.

Eines Abends, es war wie immer spät, das Fahrrad stand für August bereit, aber das Käppi war nirgends zu finden. Mutter Josefine und Tante Kathi waren ganz aufgeregt und fragten: „Wo ist das Käppi, Ludwig, Peter, Hermann, Marianne? Habt ihr das Käppi gesehen?“ Wie es ausging, weiß ich nicht mehr.

Der Flagbatterieabend auf dem Doosberg

Lustig war die Erzählung von dem Ablauf einer Nacht in der Flagbatterie. Da waren Scheinwerfer in den Weinbergen zwischen Oestrich und Hattenheim installiert, die ausländische Bomberverbände beim Überfliegen anleuchten sollten, damit die Flak, die „Flugzeugabwehrkanonen“, eingesetzt werden konnten. Dazu waren keine Soldaten, sondern Männer vom Vokssturm eingesetzt worden. Die Männer, durch die Tagesarbeit müde, hätten abwechselnd Wachdienst gehabt. Am nächsten Morgen – alle hatten ausgeschlafen, keiner hatte die Wachablösung miterlebt. Da gestand der ältere Peter Rothenbach mit seinem immer roten Gesicht, verschmitzt lächelnd: „Ich hab für euch alle die Nachtwache übernommen.“ Zum Glück war diese Nacht ohne Vorkommnisse, sodass es nicht schlimm war, dass alle geschlafen hatten.

Winter 1944, mein Lieblingsplatz auf dem „Wasserschiff“

Der Herbst und Winter von 1944 waren nicht nur an der Ostfront eisig, auch bei uns war die Weinlese im Oktober/November von Schnee begleitet und eine eiskalte Prozedur.

Wir Kinder waren mit einer kleinen Schere beim Traubenschneiden zugange und haben uns ein bisschen nützlich gemacht. Die Frauen haben getratscht, die Kleinen haben sich zwischendurch die Finger am Feuer gewärmt. Vater August hat Trauben gestoppelt, das heißt, er ging den Leserinnen nach, kontrollierte, ob alle Trauben abgeschnitten waren, und mit dem Spazierstock wurden die am Boden liegenden Blätter gewendet, damit die darunter schon abgefallenen Trauben aufgelesen wurden. Diese Aufgabe habe ich mir dann ausgesucht und ihn mit einem metallenen Leseeimer begleitet.

Ihr könnt es sicher nachempfinden. Was war für uns Kinder die Zeit von Herbst bis Weihnachten sooooooooo lang, und wenn Nikolaustag war und wir ihn total verstört überstanden hatten, zoooooooooooooooog sich die Zeit bis Weihnachten gnaaaaaaaaadenloooooos dahin!!! Während dieser Winterzeit ist mir das morgendliche Zeremoniell auf dem „Wasserschiff“ unseres Küchenherds im Gedächtnis. Der Herd rechts unten mit seinem länglichen Feuerraum für Holz und Briketts. Darüber die Stellflächen für Töpfe und Pfannen. Zwei davon hintereinander waren herausnehmbare Ringe, damit der Topf unmittelbar am Feuer war, das ging schneller und wurde heißer. Zum Backen war links die Klappe und es entstand eine Umlufthitze zum Garen der Nahrung im eisernen Bräter. Den Abschluss auf der linken Seite bildete das sogenannte Wasserschiff, eine längliche, herausnehmbare Wanne mit stabilem Deckel. Das war morgens mein Lieblingsplatz vor dem Anziehen. Denn man saß warm, lehnte mit dem Oberkörper am beheizten Kamin und mit den Füßen auf der Holzkiste. Der Platz war begehrt und man hörte das Holzfeuer prasseln. Ja, in den frostigen Nächten wurde mit Briketts durchgeheizt; denn an den Zimmerfenstern waren regelrechte Eisblumen entstanden.

Einige Male musste ich eine Prozedur über mich ergehen lassen, die mir in schlechter Erinnerung ist. Ich musste das Leibchen, ein miederartiges, selbstgestricktes Kleidungsstück für Kinder anziehen, an dem Strumpfhalter befestigt waren. Dieses kratzige Ding auf der Haut war eine Tortur. Ich sagte meiner Mutter unter Tränen: „Ich fühle mich wie ein Tier mit einem Kummet um den Hals.“ Daraufhin gab sie nach. Ich bekam lange Unterhosen und Kniestrümpfe, die einen Gummi hatten, der über den Waden Halt gab.

Brennholz holen

Im Krieg mussten die Anforderungen des Alltags gemeistert werden. Tante Lina konnte die Kuh melken. Mutter Josefine musste unter anderem für das Brennmaterial sorgen. Ich nehme an, dass das Brennholz zu dieser Zeit von der Gemeinde zugewiesen wurde. Es musste selbst im Wald abgeholt werden. So fuhr der Vater unseres Hausmädchens, Herr Herdt, der bei der Firma Koepp Schicht arbeitete, morgens zusammen mit meiner Mutter an die sieben Wegweiser. Pferd Emma war hierfür am zweiachsigen Deichselwagen vorgespannt. Ich war zum Helfen mitgenommen worden oder nur aus dem Grund, zu Hause nichts anstellen zu können.

Bei der Heimfahrt hatte ich eine ganz wichtige, verantwortungsvolle Funktion: Ich war zum Bedienen der Bremse bestimmt. Die Bremse bestand aus zwei starken Holzkeilen, die mit einer Zwingentechnik die Holzkeile gegen die Eisenräder drückte. Ich habe die „Hemme“ bedient. Dabei war zu beachten, dass das Tempo bergab ruhig war, denn diese Keile erwärmten sich und konnten schlimmstenfalls zu brennen anfangen. Ich musste, dem Gelände angepasst, die „Hemme“ linksherum drehen, um zu lockern, und rechtsherum, um fester zu ziehen. Dies war der übliche Ablauf beim Bremsen.

Bis zur „Alten Kniebrech“ hatte ich den Bogen raus. Aber meine Nervosität stieg, je näher wir dem starken Gefälle kamen. Wir hielten an, legten Steine vor die Räder und ließen die Bremsklötze abkühlen. Emma wurde fleißig gestreichelt und bekam etwas von unserer Vesper ab.

Gott sei Dank war Emma eine lammfromme Stute, die dieser Aufgabe gewachsen war. Herr Herdt führte Emma am Halfter und meine Mutter versicherte sich, ob bei mir hinten alles klappte. Mit einem Stopp hatten wir das Gefälle gemeistert und waren heil, erschöpft, aber glücklich zu Hause angekommen.

Anfang 1945 – Besuch beim Volkssturm

Es muss in den ersten Monaten des Jahres 1945 gewesen sein. Vater August war vom Volkssturm rekrutiert worden. Kein Mann mehr im Haus, nur Mutter Josefine, Tante Lina, Tante Kathi und wir acht Kinder.

In dieser Volkssturmzeit habe ich mit Mutter Josefine ein kleines Abenteuer erlebt. Sie hatte erfahren, dass die Einheit von Papa aus dem Rheintal bei Sankt Goarshausen in Richtung Westwall verlegt werden sollte. Deshalb wurde Proviant vorbereitet und Mutter und ich fuhren mit der Eisenbahn nach Sankt Goarshausen. Dort angekommen, mussten wir zu Fuß zu dem oben liegenden Ort über Schleichwege der Einheimischen laufen. Da hieß es dann: „Die sind heute Morgen schon abmarschiert.“ So konnten wir Papa nicht mehr sehen. Aber die Männer, die Mama kannte, sollten später mit ihrem Pferdewagen zu der Einheit stoßen. So gab ihnen Mutter den Proviant mit. Im Gegenzug wollten sie uns ins Tal mitnehmen. Andere haben aber wegen der Tiefflieger dringend abgeraten, und so sind wir wieder über Fußpfade ins Rheintal gelangt. Die Entscheidung zu laufen war glücklich, denn das Fuhrwerk wurde tatsächlich angegriffen und es gab Tote.

Die Heimfahrt von Sankt Goarshausen wurde mehrmals unterbrochen. Verwundete, die teilweise sehr jung waren, waren überall zu sehen. Ein Elend! Ein Durcheinander! In Rüdesheim angekommen – es war schon dunkel –, mussten alle Reisenden in den Asbach-Bunker, denn es war Fliegeralarm! Spät in der Nacht kamen wir erschöpft zu Hause an. Doch der Wahnsinn tobte weiter!

Der Horst-Wessel-Platz, unser Treffpunkt

Der Horst-Wessel-Platz, der heutige Friedensplatz, war unser Spielgelände. Aus Lumpen wurden Stoffbälle gemacht und wir Anwohnerkinder konnten hier toben. Die Erwachsenen machten die Klappläden zu, und die Eser Bagage, die Collongs, Petrys, Wassermänner, Paulys, die Brüder Bibo und Mooses, teilweise die Hiltmänner aus der Nähe hatten freie Fahrt. Wenn der Gemüsehändler Rickes Reutershahn mit seinem Dreirad Marke Goliath kam, war die Gaudi groß, denn die Meute hielt das Gefährt fest und Reutershahn schnaubte wutentbrannt.

Horst-Wessel-Platz um 1905 (?)

An so einem Tag, kurz vor Kriegsende, kam ein älterer Mann mit einer Schelle, der als Gemeindeausrufer angestellt war. Unsere Mütter kamen herbei und der Schellenmann, der unter starkem Alkoholeinfluss stand, verkündete, dass wir den Ort verlassen müssen. Wir sollten uns im Dornbacher Graben, einem Bachlaufgelände, in den Weinbergen gelegen, einrichten. Wir Kinder johlten und sorgten so für Unterbrechungen seiner Botschaft. Die Frauen schrien: „Ihr Lumpen, wollt ihr uns das Dorf anstecken?“ Wir Kinder waren uns nicht über den Ernst der Lage im Klaren und unter unserem Gejohle zog der alte Schellenmann ab.

Irgendwann an diesem Tag bin ich zur nahe gelegenen Hauptstraße an den Abzweig zur Gartenstraße gegangen, um mir die „Panzersperre“ anzusehen. Da waren Baumstämme in der Fahrbahn verankert worden, die auf 2 x 3 Meter, in einer Höhe von circa 1,5 Meter, zusammengekettet waren, um die Militärfahrzeuge am Weiterfahren zu hindern. So ein lächerlicher Versuch, das Ende aufzuhalten!

Und es kam, was kommen musste! Die Hauptstraße war voller Menschen und bereitete den durchziehenden Amerikanern einen freudigen Empfang. Ich stand am Lebensmittelgeschäft Kling und bewunderte die Fahrkünste der Panzerfahrer, die versuchten, durch das „Scharfe Eck“ zu kommen, ohne hängen zu bleiben. Die ersten Schwarzen, die ich sah, saßen auf den Panzern und lachten breit und freundlich über das ganze Gesicht. Sie warfen Schokolade und „orangefarbene Äpfel“ unters Volk. Für mich war diese Frucht genauso neu und exotisch wie der schwarze Mann auf dem Panzer. Der Sohn einer Kriegswitwe brachte Tage später eine Frucht mit in die Schule. Ich wollte die Schale essen, aber irgendeiner wusste: Man isst die Apfelsinenschale nicht. Wieder was gelernt!

Der Einzug wurde wie eine Befreiung gefeiert. Später bekamen wir mit, dass die Amerikaner Quartiere organisierten. Wir lebten mit drei Familien und mit dem ausgebombten Mainzer Ehepaar Krause zusammen auf engem Raum, wie die meisten.

Vater August, der vom Volkssturmeinsatz wieder zurück war, hatte gleich eine Idee. Diese setzte er mit vollem Elan um. Es wurde ein Hausputz inszeniert, der alles so chaotisch erscheinen ließ, dass wir verschont blieben. Bei uns wurde niemand einquartiert.

Am selben Abend kam ein angetrunkener weißer Ami und wollte mit uns palavern. Man muss an dieser Stelle erwähnen, dass man die Häuser nicht abschließen durfte, sodass jedermann Zugang hatte. Aber unsere Russin machte ihm in gebrochenem Englisch klar: „Good people, no Nazi!“, und komplimentierte ihn vor die Tür.

Geschehnisse aus den letzten Kriegsjahren

Was mir noch in den Jahren 1943–1945 aufgefallen war, dass bei Hausschlachtungen immer getuschelt wurde und die Türen abgeschlossen wurden. Die Nachbarn bekamen ein Fresspaket, das ich meistens ablieferte. Wie viele Schweine geschlachtet wurden, darüber spricht man nicht, war zu hören. Ich hab das ja kapiert. Mitbekommen habe ich ebenfalls, dass Vater August vom Volkssturm ausgebüxt war und sich zu Hause versteckte. Ich durfte ihm nicht das Essen bringen, das tat meine Mutter. Sie gab mir auch immer zu verstehen, dass ich nichts sagen sollte; dies tat sie, indem sie den Zeigefinger auf ihre Lippen legte. Da ich schon „groß“ war, verstand ich sofort. Mein Vater hat sich erst wieder gezeigt, als das Ende des Krieges nah war. Nachts hat er den Feindsender BBC abgehört, was zwar verboten war, aber dort hörte man die Wahrheit. Die Propagandawelt des Adolf Hitler redete von einer Wunderwaffe, diese wurde aber, dem Schicksal sei Dank, nicht fertiggestellt.

An dem Tag, an dem die Leute zum Auszug aus Oestrich aufgefordert wurden, hat mein Vater heimlich Weinbergsarbeiten verrichtet. Als er abends in den Ort kam, kamen ihm Frauen entgegen und erzählten von der geplanten Evakuierung. Per Zufall kam auch der damalige Bürgermeister vorbei und mein Vater verlor die Fassung: „Ihr Lumpen, was wollt ihr noch alles mit den Leuten machen?“ Später gestand er mir, dass er in diesem Moment leichtsinnig gewesen sei, denn der Bürgermeister habe noch die Macht gehabt, ihn abführen zu lassen.

Nach diesem Vorfall hatte ich mitbekommen, dass er gemeinsam mit dem alten Franz Herke am Friedhof und mit Josef Spreitzer in der Villa an der Hauptstraße nachts Kontrollgänge machte, um eventuelle Maßnahmen verhindern zu können. Dabei ist auf meinen Vater von der anderen Rheinseite aus auch geschossen worden.

Das Regime merkte, dass in diesem Stadium des Krieges das Volk passiven Widerstand leistete. Soldaten entfernten sich von ihren Einheiten, und die sogenannten Kettenhunde kamen zum Einsatz, die Lanzer ohne amtliche Papiere einfach erschossen oder aufhängten.

Mein Vater hatte sich folgendermaßen vom Volkssturm-Einsatz Richtung Westwall verabschiedet. Seine Einheit hatte den Rhein überquert und in Hirzenach wegen Fliegeralarm Unterkünfte aufsuchen müssen. Er lag mit vielen anderen Volksstürmern in einem Keller. Als der Befehl zum Abmarsch gegeben wurde, blieb er einfach liegen. Er hatte Zivilkleidung unter der Uniform, die er im Keller zurückließ. Als die Luft rein war, ging er zum Rhein, um ein Boot für die Überfahrt zu bekommen. Seine Schwester lebte zu dieser Zeit in Kestert gegenüber von Hirzenach. Durch die überfallartig erscheinenden Jagdflieger der Alliierten war die Fahrt über den Rhein sehr schwierig und gefährlich. Da erschienen zwei Offiziere, die ein Schnellboot von der anderen Seite herbeiorderten. Mein Vater fragte, ob sie ihn mit rüber zu seinem Weinberg nehmen würden, aber die Offiziere lehnten ab: „Nein, Militäreinsatz!“ Doch beim Einsteigen ist er einfach mit ins Boot gesprungen und im Sturm ging es auf die andere Seite. Kaum angekommen, kamen auch schon wieder die Tiefflieger durch das Rheintal. Bei Tante Margarete versteckte er sich einige Tage, dann ging es durch den Taunus Richtung Oestrich. Mit einer Hacke auf der Schulter, der Pfeife im Mund, sah er aus wie ein Bauer, der zu seinem Acker unterwegs ist. Er erregte keinen Argwohn bei den kontrollierenden Kettenhunden, und seine Entlassungspapiere von 1942 hatte er auch dabei. Er hatte Glück. Aber viele sind in diesen letzten Tagen des 2. Weltkrieges für Volk und Vaterland aufgehängt worden!

Passiver Widerstand

In diesem Zusammenhang möchte ich an die Menschen erinnern, die den für unrechtmäßig erachteten Krieg passiv durchlebten, die keinen Heldentod sterben, sondern leben wollten. Dazu gehörte auch Onkel Josef, der 1943 eingezogen wurde. Er war in Trier kaserniert, um dort zum Kraftfahrer ausgebildet zu werden. Aber immer, wenn eine Prüfung anstand, versagte er! In Trier waren Bomben gefallen, etliche Blindgänger, vor denen die Bevölkerung geschützt werden sollte. Onkel Josefs Vorgesetzte gaben ihm ein Schild, das er aufstellen sollte. Onkel Josef lief mit aufgesetztem dummen Gesicht, das Schild hoch erhoben vor sich hertragend, im Stechschritt durch die Straßen. Auf dem Schild stand zu lesen: „Vorsicht, Blindgänger!“ Ja, auch in diesen schweren Zeiten konnten die Menschen darüber lachen!

Auch er kam in diesen Endtagen auf abenteuerliche Weise vor Kriegsende zu Hause an, er hatte sich aus dem süddeutschen Raum abgesetzt.

Der jüngste Bruder meines Vaters kam nicht zur Wehrmacht. Er überstand alle Musterungen als untauglich. Mit seinen Gichtknoten an den Händen hatte er zwar ein Alibi, aber seine Unbeweglichkeit war wohl zum Teil gespielt. Ich habe noch seine Schilderungen zu einer seiner letzten Musterungen in Erinnerung. Um die typischen Musterungsgriffe des Militärarztes geschehen zu lassen, ließ er die Hosen fallen; dann kam der schneidende Befehl: „Bücken und husten Sie mal! Hosen hoch! Abtreten!“ Dann schlurfte er mit heruntergelassener Hose zu den Übrigen, die zur Musterung erschienen waren. Unter großem Gelächter bat er einen, ihm die Hose hochzuziehen. Wieder hatte er es geschafft!

Schilderungen von Vater August

Außerdem habe ich mitbekommen, wie eines Morgens, noch vor Kriegsende, unsere Russin weinend und ganz aufgelöst meinem Vater erzählte, dass ein geflohener Kriegsgefangener schwer erkrankt sei. Sie hatten ihn bei sich im Kriegsgefangenenlager versteckt und er konnte sich daher nicht krankmelden. Die Russin ließ meinem Vater den ganzen Tag keine Ruhe. Was konnte er tun?

Dr. Schäfer, unser Hausarzt, war eingezogen worden. Die Praxis hatte einen neuen Arzt, den mein Vater nicht näher kannte. Daher besprach er mit Frau Schäfer, die die Praxis leitete, was man tun könnte. Der Arzt war bereit, den Kranken zu besuchen, und bei Nacht stiegen sie in das Barackengelände ein. Sie wurden von einer Aufsichtsperson überrascht, ein Sangesfreund meines Vaters, der, als er meinen Vater sah, sich umdrehte und weiterging. Der Arzt konnte den Patienten behandeln, und wie ich von der Russin mitbekommen habe, hat er überlebt.

Nach dem Krieg schilderte mir mein Vater die Begegnung mit einem Alterskameraden von ihm, der auf dem Eichberg bei Kiedrich arbeitete. Wenn er zum Batteriewachdienst auf den „Hohen Doosberg“ ging, begegnete ihm des Öfteren dieser Alterskamerad, der sturzbesoffen gen Oestrich taumelte. Auf die Frage: „Was ist mit dir?“, bekam mein Vater keine Antwort, nur ein „Ach Gott, ach Gott“. Später wurde dann die ganze Wahrheit publik: Das Regime hatte Experimente an geistig Behinderten durchgeführt. Kein Ruhmesblatt für die Medizin und die Männer, die einen Eid auf Hippokrates geleistet hatten.

Ich erinnere mich auch, dass ein Rheinbesuch für uns Kinder strengstens verboten war, denn es gab immer wieder Unfälle mit gefundener Munition. Besonders nach dem Krieg haben sich junge Männer beim Experimentieren mit Munition und Schwarzpulver das Leben verkürzt.

Einmal lagen im Feld zwei abgestürzte Piloten der Alliierten und wir liefen dorthin. Es war in der Nähe des Heiligen Häuschens, die Körper der Leichen waren vom Aufprall ineinandergeschoben, eine blutige Masse. Ich habe in respektvollem Abstand das Geschehen nicht verinnerlicht, aber mir klargemacht, dass man so im Leben enden kann. Furchtbar!

Wenige Jahre später habe ich mich mit Fragen über Schuld und Sühne an meinen Vater gewandt: „Wie bist du mit den Leuten, die so viel Unrecht getan haben, umgegangen? Wie bist du dem Nazibürgermeister entgegengetreten? Wie mit den Akteuren der Reichspogromnacht umgegangen? Er hat mich dann verdutzt angeschaut und geantwortet: „Ja, dem Bürgermeister habe ich vor die Füße gespuckt, worauf einige, die das gesehen hatten, zu mir sagten: August, das hast du doch nicht nötig! Doch Bub, ich will dir eins sagen: Wir blickten nach vorn, stellten uns den Herausforderungen, die uns die Zukunft bringt. Dankbar waren wir, dass wir diese fürchterliche Kriegszeit in der Familie ohne Verlust von Menschenleben und ohne große materielle Schäden überstanden haben. Das biblische Wort: Auge um Auge, Zahn um Zahn, lass uns vergessen! Denn wer Liebe sät, wird Liebe ernten; wer Hass sät, wird …“ In meinem späteren Resümee, in einem Exkurs, werde ich noch auf einige persönliche Ansichten näher eingehen.

In der Nachkriegszeit soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Menschen aus Hunger und blanker Not nicht mehr „Mein“ und „Dein“ unterschieden haben. Mundraub war an der Tagesordnung. In Gärten wurde eingebrochen, Bäume abgeerntet, stehende Güterwaggons mit Kohle oder Briketts teilweise organisiert entladen. Von den Feldern wurden Rüben, Kartoffeln, Gemüse und alles Essbare illegal beschafft.

Ein aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrter Bekannter meines Vater sprach ihn an: „August, warum habe ich nicht auf dich gehört, ich Rindvieh! Mein Material ist geklaut worden und das Ersparte ist auch weg!“ Wie kam es zu der Erkenntnis? Vor Beginn des Krieges hatte dieser Bekannte Ziegelsteine auf seinem Bauplatz deponiert. Auf die Frage meines Vaters, ob er bauen wolle, hatte dieser mit Ja geantwortet, sobald er das Material zusammen habe. Den Rat meines Vaters: „Fang an, was gemacht ist, ist gemacht. Wer weiß, was kommt!“, hatte er nicht befolgt.

Die Schule nach dem Krieg

Nach dem Krieg änderte sich für uns Kinder nicht viel, nur der Unterricht war wieder regelmäßig. Im August ging es für mich mit der 3. Klasse weiter. Ich erinnere mich an den Lehrer Herrn Michel, unseren Klassenlehrer Herrn Seufert aus Hallgarten und an eine Lehrerin, Frau Ensinger, die so ergreifend Märchen erzählte, dass diese für mich noch grausamer wirkten und ich laut zu heulen anfing.

Zu Hause setzte ich meiner Mutter oft stark zu. Für die Hausaufgaben war ich mit Schiefertafel, Griffel und Schwämmchen ausgerüstet. Lieber Leser, hier zeigt sich, mit welchen vorsintflutlichen Gegenständen wir etwas bewirken sollten. Ich musste, wie meine Klassenkameraden, zu allem Überfluss ganze Sätze schreiben. Was ich mit vielen Fragen an meine Mutter tat. Josefine hatte aber vieles andere zu tun. Ich habe sie so genervt, dass sie mir mit einem Mal die Kreidetafel aus der Hand nahm und auf den Kopf haute. Im selben Atemzug erkannte sie: „Oh Gott, jetzt habe ich das einzige Schreibgerät kaputt gemacht!“ Ich habe sie in diesem Moment wohl sehr verdutzt angesehen, denn sie drückte mich und sagte: „Du bist mir aber auch einer!“

Meine Volksschulklasse nach dem Krieg mit Lehrer Seufert, ich sitzend der Sechste von links.

Klavierspielen lernen

Es bahnte sich eine Wende in unserem Dasein an. Mutter Josefine war mit ihren 32 Jahren eine junge, ehrgeizige Mutter, die gern zu Hause in Rauental Klavier gespielt hätte. Sie konnte „Du, du liegst mir am Herzen“ im Walzertakt spielen. Deshalb sorgte sie dafür, dass wir ein Klavier bekamen. Der Klavierlehrer war Alfred Stehr aus Berlin, der nach dem Krieg in unserer Gegend hängen geblieben war. Wo die Köhler Klavierschule, ein uralter schwarzer Schinken, herkam, wissen die Götter. In dieser Zeit, die man auch als Tauschbörse bezeichnen könnte, war alles möglich. Aber zurück zum Klavierunterricht.

Man fängt klein an, legt die rechte Hand auf die Klaviatur. In der Mitte der Tastatur befindet sich das C. Auf dieses C legt man den Daumen, um die Taste zum Klingen zu bringen. Den Zeigefinger auf das D, den Mittelfinger auf das E, den Ringfinger auf das F und den Kleinen auf den Ton G. Na toll! Jetzt das Ganze rückwärts und wieder vorwärts. Prima! Noch mal und wieder. Dann kommt die linke Hand dran. Da ist es genau umgekehrt: Der kleine Finger kommt zuerst dran und der Daumen zuletzt. Hin und her, auf und ab, immer wieder. Daraufhin hat der Herr Stehr in sein Brot gebissen und unter aufmunternden Zurufen und brotmahlenden Mundbewegungen mir das Ganze eine Oktave höher mit zwei Händen parallel vorgemacht. Das lern ich nie, dachte ich erst, aber das war schnell vergessen.

Mittlerweile war das Brot aufgegessen, die Flasche Wein getrunken, ich durfte wieder spielen gehen und meine Schwester Marianne kam dran.

Für Musik generell war mein Interesse geweckt. Den ersten Chorgesang habe ich immer sonntags mit Vater August bei der Kirchenchorprobe ab 14 Uhr erlebt.

Der Alltag

Im täglichen Leben gab es viele Aufgaben, die uns die Realität näherbrachte. Das Wasserholen am Wilhelmi-Brunnen, wenn die Wasserleitungen versiegten, oder Straßefegen waren nur einige. Ich musste den Teil der Straße vom Tor bis zum Hauseingang kehren; Kopfsteinpflaster mit tiefen Rillen, wo die Pferdeäpfel mit einem abgenutzten Besen nicht mehr erreicht werden konnten. Während des Krieges hatte Moose Hoppes aus der Dillmannstraße mit seinem Wägelchen die Pferdeäpfel aufgekehrt, zum Düngen der Tomaten. Er war ein kleiner Mann, mit zusammengekniffenem Gesicht, das eine Hasenscharte erkennen ließ. Dementsprechend besaß er eine quietschende Stimme. Ein Dialog zwischen ihm und meiner Mutter, an den ich mich erinnere, lautete so: