Daniel Kehlmann
Mein
Algorithmus
und Ich
Stuttgarter Zukunftsrede
Klett-Cotta
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH,
gegr. 1659, Stuttgart, 2021
© 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Christoph Niemann
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-98480-4
E-Book: ISBN 978-3-608-10093-8
Am 14. Februar 2020 flog ich von New York nach San Francisco, nicht ahnend, dass das eine gefährliche Unternehmung war. Das Virus stand schon in allen Zeitungen, aber es war für uns noch nicht ganz real. Ich stand in einer langen Schlange am Flughafen Newark, ich stand an einem Abfluggate voller Menschen, ich stand eine halbe Stunde in der sogenannten Fluggastbrücke, um in die Maschine zu kommen, und dann saß ich in einem bis zum letzten Platz besetzten Flugzeug. Das Virus muss auch an Bord gewesen sein, das legt die Statistik nahe, aber ich hatte Glück, blieb unangesteckt und kam gesund wieder nach New York zurück.
Mein Ziel war Palo Alto im legendären Silicon Valley. Eingeladen hatte mich eine österreichische Institution namens Open Austria, und der Zweck meiner Reise war ein Experiment: Eine Cloud-Computing-Firma hatte einen mächtigen Algorithmus für natürliche Sprache entwickelt. Nun war Open Austria auf die Idee gekommen, einen Schriftsteller gemeinsam mit der Künstlichen Intelligenz schreiben zu lassen. Kann ein Algorithmus Geschichten erfinden? Kann man ihn als Werkzeug für die literarische Arbeit einsetzen, kann dabei etwas herauskommen, das man publizieren könnte – nicht als Kuriosität, sondern als echte Literatur? Ohne auch nur eine Sekunde nachdenken zu müssen, hatte ich zugesagt. Wie oft bekommt man schon die Möglichkeit zu einem Ausflug in die Zukunft? Falls die Technik bald schon meinen Berufsstand überflüssig machen würde, so würde ich es wenigstens als Erster wissen.
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Flugzermürbt erreichte ich San Francisco. Ich wusste schon jetzt nicht mehr, welchen Film ich gerade noch gesehen hatte, meine Augen schmerzten, ich hatte Kopfweh. Mich erwarteten Martin und Clara von Open Austria: Sie waren so fröhlich, ironisch, lustig, wie nur Österreicher es sein können, wenn sie einen Österreicher vom Flughafen einer weit von Österreich entfernten Stadt abholen. Martin ist ein erfahrener Diplomat, den ich aus seiner Zeit in New York noch gut kannte, Clara ist eine großartige Sängerin, die neben ihrer musikalischen Karriere noch Aufgaben als Kuratorin und Organisatorin übernimmt; die beiden sind ein fantastisches Team voll unkonventioneller Ideen, die sie tatsächlich in die Tat umsetzen.
Auf der Fahrt in die Stadt standen wir lange im Stau, dann erreichten wir Martins Haus, wo ich für die Nacht untergebracht war. Zum Abendessen hatte Martin einige Fachleute eingeladen, um mir einen Schnellkurs in Sachen Künstliche Intelligenz zu geben. Ich war nicht ganz unbelastet, ich hatte Bücher gelesen, aber wie so oft im Leben ist es doch etwas Anderes, mit den wirklichen Praktikern zu sprechen – den Menschen, für die die Belange, mit denen man sich im Abstrakten beschäftigt hat, konkreter Alltag sind.
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