Die Handlung und die handelnden Personen sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen ist zufällig.
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7431-2333-5
© 2016 Gerhard Treichel
Alle Rechte vorbehalten.
Jede Verwertung und Vervielfältigung – auch auszugsweise – ist nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Autors gestattet.
Alle Rechte, auch die der Übersetzung des Werkes, liegen beim Autor.
Zuwiderhandlung ist strafbar und verpflichtet zu Schadenersatz.
Titelfoto: Tischenko Irina / Shutterstock
Lektorat: Catrin Stankov, Bernau
Umschlaggestaltung und Satz: Julia Karl / www.juka-satzschmie.de
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Kurzbiografie
Gerhard Treichel, Jahrgang 1944, studierte Geschichte.
Er unternahm umfangreiche Bildungsreisen nach Russland, Brasilien und Nordamerika, die ihn zu Orten der Handlung führten.
Der Autor lebt mit seiner Frau im Schwarzwald, wo er schriftstellerisch tätig ist.
Leben bedeutet, sich auf den Weg zu machen.
Aus der unendlichen großen Liebe Gottes erwachsen den Menschen Fähigkeiten, ein glückliches, freudvolles Leben in Verantwortung zu gestalten, wenn er sich aufmacht, den Sinn zu entdecken.
»Du tust mir kund den Weg zum Leben.« (Ps. 16)
Unsere Welt braucht Menschen, die Schritte wagen im Vertrauen auf einen guten Weg; die Schritte gehen in dem Bewusstsein, dass Gott mit ihnen ist, die die Herausforderung annehmen im Vertrauen auf Jesus Christus, der gesagt hat: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.
Darum sollten wir Schritte wagen im Vertrauen auf einen guten Weg. Man kann nicht immer warten, bis sich ein sicherer, befestigter Weg im Leben zeigt. Neue Wege entstehen da, wo jemand es wagt, zuversichtlich in eine Richtung zu gehen. Dadurch fassen auch andere Mut und machen sich ebenfalls auf den Weg.
Darum: Geh deinen Weg, nur Mut, es geht!
(M. Stochmann)
Die Piloten waren jetzt mehr denn je auf die Kommandos vom Tower angewiesen, die Zeit saß ihnen im Nacken. Über Bordfunk wurden die Passagiere informiert, dass eine Notlandung notwendig sei. Durch das dicke Glas der Bullaugen waren Meer und Küste von New Found Island nur schwach zu erkennen, eine Grenzlinie zwischen Himmel und Meer ließ sich nur schwer ausmachen. Je tiefer sie sanken, desto heftiger geriet die Maschine in winterliches Inferno.
Nach einer weiteren Kurve senkte sich die Maschine, nur noch 3.000 Fuß. Die Passagiere wurden über das bevorstehende Landemanöver informiert und gebeten, Ruhe zu bewahren. Der Anflug war nicht einfach, spiralförmig glitt die Maschine nach unten. Schemenhaft waren die vereisten Riffe der Küste von Neufundland erkennbar. Die Boeing setzte auf. Ein Rütteln erfasste den Rumpf, als sie über die Landebahn rollte. Nach wenigen Minuten war der Spuk vorüber. Ein Rettungswagen mit Sirenengeheul kam zur Maschine herangerast. Die Gangway wurde heruntergelassen. Die Passagiere verließen die Maschine und fuhren mit dem Airportbus in das naheliegende Terminal des Militärflughafens.
»Darf ich Sie zu einem Trink einladen, nach dem Schock, Sie haben mich vor Schaden bewahrt. Ich kam von der Toilette, plötzlich dieses Rütteln, ich glaubte die Maschine würde abstürzen. Mich riss es zu Boden, glücklicherweise hatten sie mich aufgefangen.«
»Schon gut, jeder andere hätte auch so reagiert.«
»Setzen wir uns hinüber in die Bar. Was möchten Sie trinken?«
»Okay, trinken wir einen Whisky, darauf, dass alles noch so glimpflich ablief.«
»Sie haben Recht, der Pilot hat wunderbare Arbeit geleistet und es geschafft, dass mehr als 150 Menschen das Flugzeug lebend verlassen konnten.«
»Von einer Stewardess war zu hören, dass wahrscheinlich durch den Aufprall eines oder mehrerer großer Vögel ein Triebwerk beschädigte wurde. Der Pilot hatte über Funk technische Probleme gemeldet und die Notlandung angekündigt. Sie sprachen von einigen Verletzten, wahrscheinlich mit Knochenbrüchen.«
Das Gespräch wurde durch eine Meldung der Flugleitung unterbrochen. Aufgrund des Getriebeschadens und des starken Schneetreibens könne in der nächsten Zeit kein Weiterflug erfolgen, zumal das Fahrwerk der Boeing bei der Landephase leicht beschädigt worden sei. Über den Weiterflug würden die Passagiere informiert.
»Das sieht nicht rosig aus, wir werden hier wohl für längere Zeit festsitzen. Neufundland ist bekannt für seine Schneestürme in dieser Jahreszeit. Aber was soll’s, wir können froh sein, dass alles so glücklich ausging.«
»Sie haben Recht, trinken wir auf unsere Rettung. Ich heiße Stiefel, Johannes Christian Stiefel. Ich komme aus Deutschland und wohne in Heilbronn.«
»Das ist eine große Überraschung. Mein Name ist ebenfalls Stiefel, Chris Stiefel. Ich komme aus Calgary im Bundesstaat Alberta in Kanada. Mein Großvater erzählte mir, dass wir aus Deutschland stammen. Meine Vorfahren sind irgendwann mal aus Deutschland nach Südrussland, später von dort nach den USA ausgewandert. Dann sind wir ja irgendwie verwandt, zumindest dem Namen nach. Johannes, was führt Sie nach Kanada?«
»Ich bin Historiker und wollte in Toronto an einem Kongress teilnehmen, der heute Nachmittag beginnt. Wie es aussieht, wird daraus wohl nichts werden, denn bis wir hier wegkommen, wird die Tagung zu Ende sein.«
»Wissen Sie, Johannes, bei uns in Alberta leben eine Menge Leute aus Deutschland. Viele von ihnen sind Farmer unten in Brooks, andere leben in Calgary, wie ich. Meine Vorfahren wanderten im 19. Jahrhundert in die USA ein, genauer gesagt nach Norddakota. Unglaublich, da kreuzen sich nach über 100 Jahren die Wege zweier Enkel.«
»Sie haben Recht, unglaublich, dass sich zwei Menschen begegnen, die weit voneinander leben, vereint durch familiäre Bande. Ich wurde Ende des Zweiten Weltkrieges in Polen geboren«, erwiderte Johannes. »Meine Eltern kamen aus Bessarabien und wurden während des Zweiten Weltkrieges Heim ins Reich geholt, in den Warthegau umgesiedelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang meiner Mutter die Flucht nach Deutschland. Sie hat mir viele Geschichten erzählt, vom Auswandern unserer Vorfahren aus Schwaben, als sie Mitte des 19. Jahrhunderts aufbrachen ins ferne Russland, in eine unwirtliche Steppe am Schwarzen Meer.«
»Es ist unbegreiflich für mich, Johannes, dass wir uns während einer Flugreise begegnen, ich kann es noch gar nicht fassen. Ich hab mich wenig um die Vergangenheit gekümmert. Studium, Beruf waren mir wichtiger. Doch wenn ich Sie so erzählen höre, fallen mir auch einige von unseren Geschichten ein. Großvater erzählte viel davon, von den Wirren des Krieges. Sein Vater ist 1905 aus Bessarabien ausgewandert nach Nord-Dakota. Von Hamburg mit dem Schiff über den großen Teich. Doch von den Vorfahren aus Schwaben weiß ich so gut wie nichts. Trinken wir auf unsere Begegnung, ist es Zufall oder Fügung, das mag in den Sternen stehen. Es ist doch ein Wunder, trinken wir auf die gemeinsamen familiären Wurzeln. Ich freue mich, lieber Johannes, dass ich dich kennen lernen darf, wenn auch unter fast abenteuerlichen Umständen. Du weißt sicherlich als Historiker mehr als ich.«
»Es mag so sein. Doch als Kind hatte ich wenig Interesse. Erst viel später, als ich mich beruflich mit Geschichte befasste, habe ich vieles entdeckt. So auch die Geschichte der Familie Stiefel. Daher konnte ich im Laufe der Zeit die Erzählungen meiner Mutter im historischen Prozess einordnen. Doch Grundlage für mich waren immer ihre Schilderungen. Somit blieben viele Geschichten aus der Heimat Bessarabien, in der sie geboren wurde, in mir erhalten. Von dem Land zwischen Pruth und Dnjestr. Doch auch Geschichten vom Ursprungsland Schwaben. So erfuhr ich auch die Geschichtete unserer Vorfahren.«
Der Wind fegte über die sanften Berge, er trieb die weißen Wolken wie Schneebälle vor sich her, weiße Schäfchenwolken verdeckten die schräg am Horizont stehende Sonne. Die Hügel waren bewachsen mit Reben, deren Laub grell in der Sonne aufleuchtete. In den Blättern begann sich der Herbst widerzuspiegeln. Das Weinlaub hatte sich zeitig gefärbt und schillerte bunt zwischen den grünen Flächen des Unterbodens. Eine Frau rannte hinauf zum Weinberg. Keuchend rief sie: »Johannes, Johannes, komm schnell, deine Mutter lässt dich rufen!«
Außer Atem erreichte sie den Jungen. Er strich sein schwarzes Haar aus dem Gesicht. »Was hast du, warum bist du so aufgeregt?«
»Du musst schnell nach Hause kommen, ein Mann ist angekommen, der zusammen mit deinem Vater in Russland war.«
Johannes ließ die Trage stehen und rannte den Abhang hinunter, an der Kirche vorbei zum Rand des Dorfes, wo eine Reihe Häuser dicht am Waldrand stand. Dort lebte er seit zwei Jahren allein mit seiner Mutter, seit der Vater mit einem Kontingent Württemberger mit Napoleon nach Russland gezogen war. Er riss die Tür auf und rannte in die Kammer, wo seine Mutter am Tisch saß. Vor ihr sah er ein Buch. Ihre Augen richteten sich auf ihn, als er den Raum betrat. Neben der Mutter saß ein Mann in Uniform.
Als der Junge hereintrat, stand der Mann auf. Er ging auf Johannes zu. »Du bist also Johannes, dein Vater hat viel von dir erzählt, dass du gern liest und am liebsten auf dem Weinberg bist, um Reben zu schneiden.«
»Wo ist Vater, wer seid Ihr?«
»Johannes, das ist Christoph aus Raststatt. Er war mit deinem Vater in Russland.«
»Sagt, wo ist mein Vater?«
»Johannes, du bist schon ein großer Junge, dein Vater wäre bestimmt stolz auf dich, könnte er dich sehen.«
»Was ist mit meinem Vater, sprecht.«
»Dein Vater wird für immer in Russland bleiben.«
»Ihr wart mit Vater im Krieg?«
»Ja, wir gehörten zum Württembergischen Kontingent.«
Johannes konnte seine Tränen nicht mehr verbergen. Er sah, wie seine Mutter zu ihm schaute. Sie nahm seine Hand. »Johannes, du musst tapfer sein.« Die Mutter nahm seinen Kopf und streichelte sein Haar.
Johannes hielt das Tagebuch und blätterte darin, die Seiten waren zum Teil durch Nässe und Schmutz unleserlich geworden. Er las Notizen, die mit einem Bleistift geschrieben waren.
Gott sei mit uns jeden Tag, er beschütze uns in seiner Barmherzigkeit, in seiner unendlichen Gnade. Gott ist in uns durch seine Liebe und Herrlichkeit, jeden neuen Morgen und jeden neuen Tag.
In der Wohnstube wurde es dunkel, die Mutter stellte eine Kerze auf den Tisch, die Kerze flackerte auf. Johannes las:
Mai 1812: Ludwigsburg, Sammelplatz. Nachdem man uns eingekleidet hat, befiehlt man uns, auf dem Stellplatz anzutreten. Hier macht man uns deutlich, dass wir dem König Friedrich II. verpflichtet seien und als seinen Soldaten habe man uns befohlen, den Kaiser der Franzosen bei seinem Russlandfeldzug zu unterstützen. Friedrich II. von Württemberg sei stolz auf seine Soldaten. Zumindest äußert er seine Befriedigung darüber, 15.000 Mann für Napoleon zu verpflichten, Ehre für Gott und König. Vor sieben Jahren, als Württemberg ein Bündnis einging mit Napoleon, waren die Männer noch begeistert vom Kaiser der Franzosen, signalisierte er doch mit dem Code civil, wie er sagte, Freiheit für die Menschen. Doch schnell entpuppte es sich als Trug und Schein. Kaiser Napoleon überzog ganz Europa mit Krieg.
Wir bekommen jetzt dafür die Quittung. Dies ist das Pfand für die Königskrone, die einen Herrscher zwingt, Menschenleben für das Schlachtfeld zu opfern, für einen Krieg weit ab von der Heimat.
»Ihr wart zusammen mit meinem Vater in Russland?«
»Ja Johannes, dein Vater hat darüber in seinem Tagebuch geschrieben, lies und du wirst alles selbst erfahren.«
Es war etwa Mitte Juni 1812 in Polen, täglich kamen Soldaten an. Das Heer rüstete zu einem Krieg gegen Russland. Ich wurde in eine Sondereinheit gestellt. Es blieb genügend Zeit, uns in die Armee Napoleons gut einzuleben. Anfangs war alles ruhig, so konnten wir Land und Leute kennenlernen. Die Menschen hier sind recht freundlich zu uns. Was uns am meisten auffällt, ist die große Hitze. Wir schwitzen fürchterlich in unseren Uniformen. Zum Glück gibt es in den Dörfern Brunnen, die reichlich Wasser für uns spenden. Dort begegneten wir auch den Bewohnern. Die Polen sprechen, als ob sie Steine im Mund hätten, die Leute sehen uns als Beschützer und Befreier. Sie sehen in Napoleon einen Garanten für ein unabhängiges Königreich Polen. Ob Napoleon auch so denkt, ich weiß nicht. Ich habe eher den Eindruck, er braucht das Land für seine strategischen Pläne gegenüber Russland und Preußen. Ich kann mich genau erinnern, Ende Juni kamen immer mehr Truppen ins Land .
In der Sondereinheit haben wir die Aufgabe, als Kuriere zwischen den Armee-Einheiten Befehle und Order zu überbringen. Warum man gerade uns auserwählte, vielleicht lag es daran, dass wir beide französisch sprechen. Warum auch immer, man ist mit uns zufrieden. Unser Sonderkommando von etwa 50 Mann ist der Heeresleitung direkt unterstellt. Wir sind jetzt beim Stab in Gdynia. Die übrigen Soldaten wurden zur Grand-Armee an die russische Grenze beordert. Im Generalstab erfahren wir Hintergründe des Krieges. Napoleon hat ein Ziel: die Engländer aus Europa zu verdrängen. Mit einer Kontinentalsperre beabsichtigt Napoleon, die Briten auszuhungern. Dazu braucht er das Bündnis mit dem Zaren gegen die Engländer. Der Zar aber wich einem Friedensvertrag mit Frankreich immer wieder aus. Im Heer verbreitet sich die Meinung, dem Kaiser bleibt keine andere Wahl, als den Krieg gegen Russland zu erklären.
»Johannes, das ist das Verrückte daran. Keiner will Krieg und doch begann der Krieg gegen den Zaren.«
Der Kaiser hielt Ende Juni 1812 eine Ansprache vor der Grand-Armee. Vor über 530.000 Soldaten, Offizieren und Befehlsinhabern erklärte er, dass heute der zweite Feldzug gegen Russland beginne, dass der Zar die Freundschaftsbande von Erfurt gebrochen habe. Russland werde durch diesen Eidbruch in den Abgrund gerissen, sprach der Kaiser. »Vorwärts, Soldaten, wir werden heute den Njemen überschreiten und den Krieg ins Feindesland tragen«, verkündet er mit schwingendem Säbel, auf seinem weißen Schimmel sitzend.
Es war eine großartige Parade. Napoleon in seiner Kaiseruniform begeisterte seine Truppen. Dann, Tage später, die Grand-Armee überschreitet den Njemen, die russische Grenze, der Krieg hatte begonnen. Wir waren voll des Mutes, die Russen so bald wie möglich zu besiegen. Es ist ein weites Land, das Heer zieht durch Dörfer. Bald schon erfahren wir, dass auch die Russen uns zuwinken, sie sehen uns nicht als Feinde, eher als Befreier von den Bojaren. Von ihnen erfahren wir, dass sie noch in Leibeigenschaft leben. Auf die Frage, ob sie in Freiheit leben wollten, nach dem Sieg der Französischen Revolution, in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, erhält man zur Antwort: »Es ist zwar schön, in Freiheit zu leben, aber wer soll uns ernähren, kleiden und Sicherheit geben, wenn es keinen Zaren mehr geben wird?« Sie sprechen von »Väterchen Zar«, obwohl der heutige Zar Alexander noch ziemlich jung ist. Dass der Zar beim Volk beliebt ist, hören wir immer wieder. Die Adligen, die Bojaren, wie man sie in Russland nennt, betrachtet man eher als Blutsauger. Darum ist es nicht verwunderlich, dass der Zar im Volk eine so große Verehrung erfährt, trotz Leibeigenschaft und Versklavung. Sie betrachten ihn als von Gott gesandten Herrscher.
In den ersten Wochen seit Kriegsbeginn hatten wir so gut wie keine Feindberührung. In den Dörfern und Städten, durch die wir zogen, begrüßten uns die Bewohner mehr als herzlich.
Napoleon drängt auf eine Schlacht, um dem Zaren einen Friedensvertrag zu diktieren. Doch der Zar spielt mit dem Kaiser Katz und Maus.
Die Sonne brannte unbarmherzig im Juli, trockene Stürme fegten über die weite Ebene. Anfang des Monats hatte Napoleon Kuriere ausgeschickt, um den Zaren doch noch für einen Frieden mit Frankreich zu überzeugen. Nach acht Tagen kamen die Abgesandten zurück. Wir erfuhren von den französischen Offizieren, dass Napoleon regungslos die Reaktion des Zaren entgegennahm. Alexander hatte sich geweigert, die Unterhändler zu empfangen. Trotzdem war Napoleon bereit, sein Heer bis zum Njemen zurückzuziehen. Für Napoleon musste es eine Hiobsbotschaft sein, die Würfel waren gefallen, der Zar war nicht auf das Angebot eingegangen. Misstrauen wuchs auf beiden Seiten.
Warum ging der Zar nicht auf das Angebot Napoleons ein, im Stab und Heer herrschte Ratlosigkeit.
Ein Gerücht verbreitete sich rasch. Die Unterhändler hatten berichtetet, dass zwei Tage vor ihrer Ankunft in der Residenz des Zaren von einer gewissen Freifrau Barbara Juliane von Krüdener ein Brief an den Zaren eingetroffen war. Wer ist diese Frau? Von ihr ist wenig bekannt. Es heißt, sie sei eine baltische Baronin aus gehobenem Haus. Ihr Mann verkehre angeblich am Zarenhof. Napoleon reagierte missmutig auf diese Information. Er bezeichnete die Baronin als gefährliche Strippenzieherin. Es heißt, dass der Kaiser tobte, als er davon erfuhr. Wütend verkündete er, dass damit Alexander einen Krieg mit ihm provoziere.
Tags darauf ließ er das in Wilna versammelte Heer zu einer großen Parade formieren. Napoleon zeigte sich als Imperator Rex, Soldaten und Offiziere, seine ruhmreiche Armee feierte ihn, Wein und Bier flossen in Strömen. Natürlich löste sich auch bei Offizieren und Generalen bei solch einer Feier die Zunge. Einer der Boten erzählte, dass am Hof von Zar Alexander die Baronin v. Krüdener großen Einfluss auf den Zaren ausübe. Auch auf französischer Seite kannte man Barbara Juliane v. Krüdener. Die Offiziere sprachen voller Verwunderung von der Baronin de Salone, einer adligen Schriftstellerin. Berühmt wurde sie in Europa durch ihren Roman: »Valerie«, der 1803 in Paris für viel Aufsehen sorgte. Sie, eine baltische Adlige, hofierte in Clubs und Salons des Hochadels in Europa. Sie war eine sehr gebildete und tief religiöse Frau. Gleichermaßen durch ihre tiefe Liebe und Menschlichkeit war sie nicht nur am Hof der Preußen, sondern hielt sich oft bei Napoleons Familie auf. Sie erregte große Aufmerksamkeit durch ihre diakonische Tätigkeit in den Lazaretten, Hospitälern und Gefängnissen. Ihr tiefer Gottesbezug war verbunden mit einer leidenschaftlichen Mystik und Sendungswillen.
»Wie entschied sich Napoleon?«, fragte Johannes.
»Von den französischen Offizieren hörten wir, dass sich Napoleon schwer tat, entgegen seinen bisherigen Strategien. Er wirkte unentschlossen, saß stundenlang in seinem Zelt, unruhig und unsicher, wie man es von ihm nicht kannte. Sie erzählten, dass er wie ein Wolf aufgeregt im Zelt hin und her lief. Am späten Nachmittag rief er seinen Adjutanten, er solle sofort den Generalstab zusammenrufen.
›Der Zar wollte es, so sei es, machen Sie alles bereit, wir überqueren die Berisina. Der Zar soll seinen Krieg haben.‹
Johannes, für uns begann der Marsch in ein unbekanntes Land. Mit 250.000 Mann rückten wir dem Feind auf die Spur. Auf unserem Marsch begrüßten uns immer wieder die Russen freundlich, wenn wir durch die Dörfer zogen, sie nannten uns Freunde. Man gab uns Brot und Salz. Die Russen leben in erbärmlichen Zuständen. Ihre Häuser sind mehr schilfbedeckte Katen, winzige Hütten, in denen oft bis zu zehn Personen hausen. Die Straßen sind die reinsten Kloaken, aller Unrat wird vor die Tür geworfen. Auffallend sind die vielen Hunde, die wild herumstreunen. Wenn wir durch die Siedlungen kamen, fanden wir die meisten Russen sitzend vor ihren Katen oder angelnd an den Bächen oder Flüssen. Man sagt, sie seien Leibeigene.
Auf unsere Antwort hin, dass jetzt in Europa, 25 Jahre nach der Revolution von 1789, die Bürger in Freiheit lebten, begrüßen sie dies, aber für Russland sei das nicht möglich, der Adel beherrsche ihr Leben. Unser Napoleon solle Russland bezwingen, um sie von der Bojaren-Knute zu erlösen. So oder ähnlich sprechen die Russen von ihrem Zaren. Nur die Kosaken sind anderer Gesinnung, sie wollen sich keinem Fremden unterwerfen, obwohl sie auch oft von den Zaren blutig bekämpft wurden. Man spricht von Stepan Raspin, einem Anführer der Kosaken, der gegen die Bojaren kämpfte. Er wurde auf dem Kreml Platz gevierteilt. Noch heute wird er verherrlicht. Im Tagebuch wirst du alles genau nachlesen können, dein Vater war ein aufmerksamer Beobachter, abends im Quartier machte er stundenlang seine Notizen.
Es war so gegen Mitte August. Das Heer wurde von Unruhe ergriffen, die Soldaten waren von den tagelangen Märschen erschöpft, die Vorräte gingen zur Neige. Napoleon gab deshalb den Befehl, aus den zurückliegenden Landesteilen Lebensmittel heranzuschaffen und bei Smolensk das Hautdepot zu errichten. Die Armee wurde angewiesen, Richtung Moskau zu gehen und in Smolensk Station zu machen. Wir waren oft tagelang im Sattel, die einzelnen Heeresteile lagen manches Mal tagesweit auseinander. Es waren harte Wochen auf dem langen Marsch nach Moskau. In Russland, Johannes, herrscht eine ganz andere Welt, völlig anders als bei uns im Westen Europas.«
Die Tage sind lang, die Sonne scheint den ganzen Tag. Trotz der großen Hitze fühlen sich die Soldaten wieder frisch und sind gestärkt. In Smolensk treffen wir auf die Vorhut unserer Armee. Bereits am Vortag wurde die 27. russische Division gänzlich vernichtet. Die Russen wagten nicht, dem Ansturm unserer Armee standzuhalten, der Feind registrierte ca. 4.000 Tote und 10.000 Verwundete. Smolensk gehört der Grand-Armee, wir haben fast keine Opfer zu beklagen. Die Russen haben sich in Richtung Moskau zurückgezogen. Man sagt im Generalstab, dass Kutosow die Russen befehlen solle. Mit einer Vorhut begleiten wir Napoleon nach Moskau. Die Truppen marschieren jetzt auf schönen mit Birken eingesäumten Straßen, durch grüne Ebenen. Die gesamte Artillerie sowie Tausende von Versorgungswagen mit Lebensmitteln sind auf dem Weg nach Moskau. »Nach Moskau!«, rufen die Soldaten fast übermütig und folgen dem Kaiser der Franzosen.
»Ich glaube es war Ende August oder Anfang September, das genaue Datum steht im Tagebuch, es war ein schrecklicher Tag. Ach ja, hier steht es, Johannes, es war der 30. August 1812.«
Das Wetter hat sich verschlechtert, die Artillerie kommt nur schwer vorwärts und bleibt häufig in den durch heftigen Regen aufgeweichten Straßen stecken. Die Verluste der Artillerie waren an diesen Tagen besonders groß. Nicht wegen der Kampfhandlungen, sondern wegen des mörderischen Regens. Sintflutartig stiegen Bäche an und wurden reißende Flüsse, Schlamm und Wasser wurden unsere schlimmsten Feinde. Hitze und Feuchtigkeit bildeten Fliegenschwärme, die sich blutgierig auf alles Lebendige stürzten. Pferd und Mensch waren ihnen völlig wehrlos ausgesetzt. Dann schlug das Wetter wieder um, scharfer Wind trocknete die Straßen. Es war ein Krieg ohne Gegner.
Wir zogen durch unendlich weites Land. Immer weiter ostwärts, hin und wieder kleine Scharmützel. Der Russische Zar wich mit seiner Armee immer wieder aus, er spielte Katz und Maus mit dem Kaiser. Die Abhänge sind mit Truppen der Russen und deren Geschützen bedeckt. Die Russen sind den Höhen gefolgt und haben an den Stellen, an denen sie weniger geschützt sind, armierte Schanzen errichtet. Es hat den Eindruck, dass die Russen hier eine Schlacht liefern würden. Napoleon beschließt, seiner Truppe ein paar Tage Ruhe zu gönnen. Die seit Smolensk in Richtung Moskau ziehende Vorhut umfasst 170.000 Soldaten und 580 Geschütze. Für uns wird es immer deutlicher und die Truppenlage weist darauf hin, dass es zur Schlacht kommen wird.
Anfang September standen wir vor den Toren Moskaus. Die Sonne hat kaum den Horizont erreicht, da dröhnt am rechten Flügel der erste Kanonenschuss. Sofort folgt ein fürchterliches Krachen und Donnern. Man glaubt, die Welt gehe unter. Ein langer Schleier Feuer und Dampf steigt von den Stellungen der Russen in den blauen Himmel. Die Russen leisten erheblichen Widerstand. Gefangene Russen sagen uns, dass Kutosow die 170.000 befehligt und er geschworen habe, Moskau nicht preiszugeben. Der Kampf tobte hin und her, wir nehmen Dörfer ein und müssen an anderer Stelle wieder zurückweichen. Auf beiden Seiten wird erbittert gekämpft. Die Franzosen wollen ihren alten Ruf nicht einbüßen. Die Russen zeigen sich sehr stark und ohne Furcht. Die Erde zittert unter dem Donner der Geschütze. Die Schlacht dauert den ganzen Tag, die 200 Kanonen speien ihre Ladungen in die Mitte der Feinde. Feuerbälle fliegen hinein in die Stellung des Feindes, die Erde fliegt weit hinauf, Bäume zersplittern, Schanzen fliegen in die Luft. Die Kavallerie nutzt die Lage aus und dringt von Nebelschwaden gedeckt zu den Russen vor. In einen feuerspeienden Artillerieangriff hinein zeigt sich die Infanterie in der Mitte des Gegners und bricht die im Zentrum liegende Schanze auf. Die Russen sind wie verwirrt und ziehen sich immer mehr zu einem angrenzenden Saum des Waldes zurück. In dieser Stellung werden sie von einem Hagel der Artillerie regelrecht überschüttet. Unsere Artillerie feuert aus etwa 400 Geschützen mehrere Stunden lang auf die Russen, bis die Dämmerung das Höllenfeuer beendet. Die aufgehende Sonne beleuchtet ein grauenvolles Schauspiel, das Schlachtfeld ist über und über mit Toten und Verwundeten bedeckt, wie wir es bisher noch nie gesehen haben.
Die Russen waren tapfere Kämpfer. Bei Verhören gestehen die gefangenen Offiziere der Russen, dass sie 60.000 Tote zu beklagen hätten. Wir trauern um ca. 9.000 Opfer. Die Luft riecht nach Pulver und Blut. Die Russen haben sich wie vom Nebel aufgelöst nach Moskau zurückgezogen. Ihre Toten liegen auf dem Schlachtfeld, ohne dass man sie bestattet. Napoleon hat den Gefangenen befohlen, ihre Toten zu begraben. Die Schlacht ist gewonnen, der Weg nach Moskau frei. Er ist immer unter uns, der Kaiser, beim großen Marsch durch Russland, immer wieder reitet er nach vorn, zeigt sich seinen Soldaten. Er wird stets bejubelt, wenn er ihre Reihen erreicht, er ähnelt in vielem Cäsar bei seinem gallischen Feldzug, gleich ihm ist er bei seinen Legionen sehr beliebt. Er gleicht dem großen Alexander, der bis nach Indien zog, oder auch Hannibal, der Rom erzittern ließ, als er die Alpen überquerte und vor den Toren Roms stand.
Wir haben die Vororte Moskaus erreicht. Weit ab von der Heimat bringen wir die Freiheit für Russland, schütteln ab das Joch des Zarenreiches, verkünden den Sieg der Revolution von 1789. Verkünden mit unserem Sieg, dass überall in Europa der Schlachtruf der Bastille erschallt: Gleichheit, Brüderlichkeit und Freiheit. Die Farben der Trikolore wehen über ganz Europa bis hinein nach Russland.
Mitte September: Kundschafter berichten, dass die Russen die Stadt verlassen haben. Napoleon gibt den Befehl, ihnen sofort mit einer Vorhut zu folgen. Die Armee erhofft in Moskau einige Tage der Erholung, zu sehr ist man von der Schlacht der letzten Tage gezeichnet. Man will den Überfluss der Stadt genießen. Am Morgen des Tages ziehen wir in die Stadt ein. Die Armee verteilt sich in verschiedenen Quartieren. Es scheint, als ob die Russen ziemlich überrascht wurden und Hals über Kopf ihre Häuser verlassen haben. In den Räumen und Schlafzimmern liegt Schmuck umher, die Betten sind aufgewühlt, man hat den Eindruck, dass die Bewohner fluchtartig ihre Stadt verlassen haben. Die Häuser sind voll von Lebensmitteln.
Moskau ist eine einzigartige Stadt, mit Zwiebeltürmen, die den Kreml zieren, mit Häusern, die zum Großteil aus Holz gebaut sind, und mit schmalen Straßen. Von den zurückgebliebenen Bewohnern erfahren wir, dass sich das russische Heer in Richtung Osten zurückgezogen habe. Wir marschieren mit Napoleon Richtung Kreml, begleitet von einer Eskorte. Er steigt hinauf auf den Turm des Iwan, um von dort oben seine Eroberung zu betrachten. Es herrscht eisiges Schweigen, als der Kaiser wieder nach unten kommt. Die Stadt macht einen verlassenen Eindruck und ähnelt einer Geisterstadt. Uns ergreift Unbehagen, trotz des Sieges. Es drängt sich die Frage auf: Was hat der Feind vor, ist die Entscheidungsschlacht schon geschlagen? Wir wissen es nicht.
»Feuer, Feuer!« Mit diesen Rufen werden wir aus dem Schlaf geschreckt. Alles rennt hinaus, wir sehen überall Rauchsäulen in den Morgenhimmel aufsteigen. Fast gleichzeitig bricht überall in der Stadt dieses Inferno aus, mit einer so starken Heftigkeit, dass jeder Löschversuch scheitert. Der Wind schürt das Feuer. Die Magazine, Lager und Depots laufen Gefahr, Opfer der Flammen zu werden. Jeder versucht zu retten, was zu retten geht, doch wir werden der hundertfachen Brände nicht Herr. Zucker, Kaffee, Tee, Lebensmittel, Teppiche und all die feinen Waren werden vom Feuer gefressen.
Ein aufkommender Sturm fegt die Flammen über die ganze Stadt, die Stadt aus Holz fällt in Schutt und Asche. Am späten Nachmittag fassen wir einen Kosaken. Von ihm erfahren wir, dass es zum Teil Kosaken waren, die Moskau anzündeten, doch seine Aussagen sind zweifelhaft.
Die Armee ist demoralisiert. Welch Sieg! Welch Beute! Nur alles Asche und rauchgeschwärzte Häuser, ein schrecklich scharfer Geruch nach verbranntem Holz. War das der erhoffte Sieg? Die Soldaten sind erschöpft. Sie hatten gehofft, sich in der Stadt zu stärken und von den Strapazen der Kämpfe und Märsche zu erholen. Nun stehen sie alle vor dem Nichts, aufgelöst in den Flammen einer Feuersbrunst. Der gefangene Offizier berichtet, dass der Zar mit seinem Heer nach Petersburg ausgewichen sei. Napoleon bekam einen Tobsuchtsanfall – ein Papyrus-Sieg . Er hoffte immer noch auf ein Zeichen vom Zaren für Friedensverhandlungen. Die Soldaten entdecken Vorräte an Wodka. Sie betranken sich und gerieten außer Rand und Band. Die Armee schlittert ins Chaos. Die bange Frage tut sich auf: Wie lange reichen die Vorräte an Lebensmitteln? Kundige Berater empfehlen, schnellstmöglich nach Westen aufzubrechen, ehe der Winter einzieht.
Das Wetter schlägt um, eisige Winde wehen durch die Stadt. Immer wieder trifft man auf betrunkene Soldaten, sie grölen durch die Straßen, sie wollen nach Hause.
Sie sagen uns, dass sie frieren und nur durch Alkohol die Kälte zu ertragen sei. Ihre Bekleidung ist nicht auf einen Winter eingestellt. Verzweiflung macht sich breit, die in Verwünschungen gegen den Kaiser ausbricht. Viele Soldaten fürchten, sie würden erfrieren und verhungern, wenn sie noch länger in Moskau blieben. Es herrscht eine gereizte Stimmung.
Am 3. Oktober brach Meuterei aus, die Soldaten fordern von Napoleon, den Befehl zum Rückmarsch zu geben. Er verspricht ihnen, sich in den nächsten Tagen zu entscheiden. Endlich, gegen Ende Oktober, kam der Befehl zum Rückzug Richtung Westen. Die unbesiegbare Armee hat in Moskau einen Sieg errungen, doch ist es ein Papyrus-Sieg, der schmerzlich ist.
Johannes las im Tagebuch.
Was bleibt uns, was wird uns noch alles in diesem fremden Land widerfahren? Warum mussten wir diesem Wahnwitz eines genialen Feldherren folgen? Wäre es nicht besser gewesen, wir wären in Wilna geblieben und hätten dort abgewartet, was der Zar willig ist zu tun, als sich von ihm in die Falle locken zu lassen? Es war eine Falle, dies wird immer deutlicher, in die der Kaiser hineinschlitterte und seine Grand-Armee mit hineinriss. Die Soldaten versuchen, diese Gefühle im Wodka zu ersticken. In dieser Zeit begreifen wir, dass Napoleon der Schlächter Europas ist, der eher seine egoistischen Pläne sieht, als an das Wohlergehen seiner ihm bis dahin treu ergebenen Grand-Armee auch nur im geringsten zu denken. Es ist schmerzlich, dies in der Fremde, vor dem Abgrund stehend, zu begreifen.
»Was dann begann, Johannes, war ein Inferno. Es waren nicht allein die Russen, die uns zusetzten, es war der schreckliche Winter. Eis und Schneestürme, wie man es sich kaum vorstellen kann.«
Unser Erwachen ist furchtbar, der Winter ist über Nacht eingebrochen. Eisige Stürme fegen über das flache Land, weit und breit kein Schutz, um sich gegen diese frostige Kälte zu wehren. Die meisten Soldaten haben keine Winterbekleidung, nicht mal Stiefel, die sie vor diesen eisigen Stürmen schützen. Viele haben Papierfetzen um ihre Füße gewickelt, um die eisige Luft abzuschirmen. Von Biwak zu Biwak stapft die Grand-Armee in einem bejammernswerten Zustand dahin. Rechts und links häufen sich Gräber, Tausende erfrieren oder verhungern.
Die Feldscher haben alle Hände voll zu tun, die blau und schwarz gefrorenen Zehen und gar Beine zu amputieren. Ein Hauch des Todes liegt über der Ebene. Es ist, als ob all die Dämonen dieses Landes sich gegen uns erhoben haben. Die seit Tagen einsetzende Kälte hat Hunderte von Pferden hingerafft, sie erfrieren in den Biwaks. Die Pferde werden geschlachtet und auf die Versorgungswagen geladen. Die jetzt dezimierte Reiterei war maßgeblich beteiligt am Sieg der Schlacht von Moskau. Uns allen ist klar, dass wir nicht noch mal gegen die Russen so leicht siegen werden, die Moral der Armee ist auf Null gesunken. Es herrscht Verzweiflung im Heer. Bald schon wird uns allen klar, dass das Land uns keinen Schutz und keine Versorgung bieten kann. Der kalte russische Winter begräbt in den letzten Tagen alles Lebende unter sich. Viel zu weit sind die Ansiedlungen verstreut, die Dörfer verlassen, als wir auf dem Rückmarsch dort durchziehen. Mitte November, als ob das Land sich gegen uns verschworen hätte, sinkt das Thermometer auf minus 28 Grad. Die Wege sind jetzt oft spiegelglatt, was besonders die Pferde ziemlich stark in Mitleidenschaft zieht. Die Kanonen frieren regelrecht ein, sie müssen von Hand geschoben werden, die Pferde brechen sich ihre Gelenke und müssen getötet werden. So verlieren wir immer mehr Zugtiere, bisher sind es 30.000 Pferde. Es wird immer schlimmer, wir sind wehrlos in diesem feindlichen Land. Was der Armee der Russen nicht gelang, erreicht der unerbittliche Winter, der uns seit Wochen fest im Griff hat. Es scheint jetzt unmöglich, eine Schlacht gegen die Russen zu schlagen. Skorbut beginnt sich auszubreiten, viele siechen dahin, erfrieren oder verhungern. Die Armee, die bei Moskau so erfolgreich die Russen schlug, ist in diesen Tagen nicht mehr wiederzuerkennen. Gebe Gott, dass wir heil aus diesem Land herauskommen. Der Frost ist tief in die Erde eingedrungen, so können nicht mal Gräber ausgehoben werden, um die unzähligen Toten in Ehre zu begraben. In der Nacht kommen die Wölfe immer dreister werdend bis an unser Lager heran.
Doch dann gerieten wir in einen Hinterhalt. Tagelang wurden wir von Kosaken attackiert. Sie brechen blitzschnell in unsere Flanken, die Armee wirkt wie ein erstarrter Eisblock. Die Kosaken greifen urplötzlich an und bei der ersten Gegenwehr stieben sie wie die Wilden davon. Sie zu verfolgen, fehlt uns immer mehr die Reiterei. Wir erreichen den Dnjepr, nur einzeln attackieren uns Russen. Die Armee überschreitet den Dnjepr, seit Tagen immer wieder von vorpreschenden Russen angegriffen, doch es sind zum Glück kleine Scharmützel.
Spähtrupps melden, dass sich das Heer der Russen in drei Tagesmärschen von uns entfernt aufhält und uns nach Westen folgt.
Doch dann ändert sich die Situation: Je weiter wir Richtung Berisina kommen, umso häufiger kommen wir mit dem russischen Heer in Berührung. Ohne direkten Kampf ziehen wir weiter. Kundschafter melden, dass die Russen die Beresina belagern.
Eines frühen Morgens bricht der Feind wie in einer Apokalypse über uns herein. Es ist ein erbitterter Kampf, der bis in die Abendstunden tobt. Dieses Höllenfeuer, das die Russen über uns niederbrennen, versucht unsere Artillerie abzuschütteln. Doch es gelingt immer seltener, der Nachschub von Pulver und Kugeln klappt nicht. Nur noch einzelne Abwehrfeuer kommen von unserer Artillerie. Die Russen sind in der Überzahl, bald schon haben sie die Flanken aufgebrochen.
Der Kampf tobt seit den Morgenstunden weiter und wird vom Feind mit großer Härte geführt. Gegen Mittag gelingt es der Armee, ins Zentrum der Russen vorzustoßen, doch bald schon wendet sich das Blatt zugunsten des Feindes. Immer mehr Truppenteile werden eingekesselt und aufgerieben. Gegen Abend verebbt der Kampf. Die Grand-Armee ist auch durch den Marsch der letzten fünfzig Tage stark geschwächt und beklagt dadurch große Verluste im Kampf um die Berisina. Die versprengten Einheiten der Armee ziehen sich bei der einbrechenden Dunkelheit im Schutz der angrenzenden Wälder nach Westen zurück. Der Kaiser gibt Befehl, dass sich alle Heeresteile nach Wilna zurückziehen, um sich dort zu sammeln. Das versprengte Heer beklagt einen großen Teil seiner Kavallerie und Munition.
Es ist Anfang Dezember: Mit letzter Kraft erreichen wir das Hauptquartier in Pleschtzschneizy, Tausende Verletzte und Kranke mitschleppend. Hier kann die Armee sich sammeln. Von Wilna her kommen die ersten Nahrungs- und Versorgungstrecks.
Tage später, die Lage der Grand-Armee, seit der Schlacht an der Berisina, ist katastrophal. Sie hat sich zersplittert, die einzelnen Heeresabteilungen versuchen sich weiter nach Wilna an der Grenze zu Polen durchzuschlagen. Der Rückzug birgt die Gefahr in sich, in den Hinterhalt der Russen zu gelangen. Es wird immer bedrohlicher durch die anhaltende Verfolgung der Russen und Kosaken. Napoleon befiehlt, einen Sondertrupp zusammenzustellen, der die Order erhält, auf schnellstem Weg nach Wilna zu reiten und von dort Verstärkung und Rückendeckung anzufordern.
Am späten Nachmittag brechen wir mit zehn Mann auf. Wir reiten zunächst in der Deckung des Waldes einige Zeit zurück nach Osten, um eventuelle Verfolgung durch die Russen abzuschütteln und sie in die Irre zu führen. Als die Dämmerung einbricht, biegen wir nach Nordwesten ab. Die Nacht verbringen wir am Rande einer Lichtung. Am frühen Morgen brechen wir auf, der Schnee ist meterdick, wir kommen nur schleppend vorwärts. Wir müssen vor der Dunkelheit die Straße nach Wilna erreichen. Solange es hell ist, schleichen wir uns im Wald entlang. Ein Rudel Wölfe verfolgt uns für ein paar Stunden, mit brennenden Ästen können wir sie vertreiben. So gelangen wir am Rand des Waldes in die Nähe der Straße. Gegen Mittag machen wir seitlich in einer Lichtung an einer Birkengruppe Rast, um Feuer für ein Biwak zu entfachen. Die Sonne steht im Zenit, eine wohltuende Wärme, jeder hat für ein paar Augenblicke nur eins im Sinn, sich auszuruhen.
Wie viel Zeit vergangen ist, kann keiner genau sagen. Vor uns tauchen blitzschnell Reiter auf. Sie haben unsere Fährten entdeckt. Es sind Kosaken, sie schwingen ihre Säbel und fordern uns auf, mitzukommen. Sie nehmen uns die Waffen ab. Wir reiten zurück in eine Lichtung, wo ein paar Zelte stehen. Im Lager angekommen werden uns die Pferde abgenommen, man bindet uns die Arme auf den Rücken. Sie geben uns Wodka zu trinken, am Feuer tauen sie Brot und Suppe auf, man gibt uns jedem eine Schüssel mit einer roten Suppe, die sie Borschtsch nennen. Sie haben die Pferde am Rande des Lagerplatzes angebunden. Bald schon merken wir, dass es die Kosaken lediglich auf unsere Pferde abgesehen haben. Man nimmt uns die Mäntel ab und jagt uns in den Wald davon. Uns ist klar, dass es für uns der sichere Tod sein wird, ohne Pferde inmitten des rauen Winters. Um zu überleben, müssen wir unsere Pferde zurückholen. Es scheint völlig aussichtslos zu sein, doch uns bleibt keine andere Wahl, wenn wir nicht in der Tiefe des Waldes erfrieren wollen.
Im Schutz der hereinbrechenden Nacht schleichen wir uns an das Lager heran. Die Kosaken sitzen am Lagerfeuer, vermummt in ihren Pelzen, grölen ihre Lieder und saufen ihren Wodka, sie lassen die Flaschen ringsherum kreisen. Wir warten, bis alles ruhig geworden ist. Nach ein paar Stunden ertönt lautes Schnarchen, es schallt weithin im Wald. Zwei von uns schleichen sich an den Lagerplatz heran. Es gelingt ihnen, die beiden Wachen zu überrumpeln und ihnen die Kehle abzuschnüren, kein Laut kommt über ihre Lippen. Wir schleichen zu unseren Pferden, die sind zum Glück gesattelt. Die Tiere verhalten sich ruhig. Wir nehmen einige Decken mit. Im Schutz der Nacht gelingt uns die Flucht. Wir reiten wie vom Teufel besessen die Straße entlang, nur noch eins im Sinn: Vorsprung vor den Kosaken zu erreichen.
Die Nacht ist angebrochen, wir müssen den Pferden eine Ruhepause gönnen. Da ertönt aus der Nähe das Wiehern von Pferden. Bald erkennen wir, dass es die Kosaken sind, die unsere Spur entdeckt und uns bis hierher verfolgt haben. Wir satteln die Reittiere und reiten wie wahnsinnig davon. Plötzlich ertönen Schüsse hinter uns, sie haben uns eingeholt. Noch einmal werden sie uns nicht laufen lassen, wir sind verloren. Sie feuern wie wild um sich. Dabei schonen sie die Pferde, sie zielen auf die Reiter. Wir haben zwei Pistolen, es ist ein ungleicher Kampf. Bald schon haben sie unsere Gruppe erreicht, stürzen mit ihren Säbel auf die Ersten. Im Pulverdampf gelingt es uns zu zweit zu fliehen. Wir reiten wie die Teufel durch ein Birkenwäldchen , Schüsse krachen hinter uns.
»Da sehe ich, wie dein Vater getroffen wurde, er hielt den linken Arm über seine Brust. Unser Glück war die Dunkelheit, die dann hereinbrach. Wir hielten an einer Lichtung an, die Verfolger hatten sich zurückgezogen. Ich half deinem Vater vom Pferd, oberhalb der Lunge hatte eine Kugel seine Schulter durchschlagen. Ich legte ihm einen Verband an. Im Dunkel der Nacht gelingt uns die Flucht, acht unserer Männer sind in den Händen der Kosaken, die unsere Verfolgung aufgeben. Mit Erschrecken wird uns bewusst, dass wir in dem tief verschneiten Wald den sicheren Tod finden und nicht weit kommen werden. Dein Vater hatte viel Blut verloren. Wir hatten eine Hütte im Wald gefunden, dort fanden wir Schutz. Am Morgen sah ich, wie dein Vater im Fieber lag, seine Augen glänzten, seine Hände zitterten. Er hatte sein Tagebuch in der Hand und schrieb mit unruhiger Hand. Ich werde sein Worte immer in Erinnerung behalten, Johannes.