VENEDIG (1)
Zauber verlorener Geschichten
die im Dunst der Lagune schweben
und dir im spiegelnden Wasser
der Kanäle wieder begegnen
undurchdringlich
in bleierner Schwere
und hingehauchter Leichtigkeit
formulierte Geschichten
von denen du wenig begreifst
und von denen du dich
nicht zu lösen vermagst
die versinken im Wasser der Kanäle
die über die Brücken huschen
sich in Toreingängen verbergen
Masken die sich verändern
wie die Fassaden der Häuser
in den kleinen Gassen
Orte die du nicht wiederfindest
oder doch nur durch Zufall
sobald du dich auf die Suche machst
musst du dich verirren
in diesem Labyrinth aus Wasser und Stein.
Und liegt nicht gerade darin der Zauber
dieser unendlichen Geschichten?
Venedig
aufgetaucht
aus einer fernen Zeit
wie eine kostbare Stunde
herausgeschnitten
aus einem goldenen Zeitalter
unverbundene Handlungen
aneinander gerückt
wie stehende Bilder
aus einem alten Film
Venedig hat das Fenster
geöffnet zur Nacht
der Wind streift leise
über die gesenkten Lider
Meeresduft und Taubenflügel
dringen unter das
halb geschlossene Auge
bis sich der Kanal
zur Lagune hin weitet
dieses Sich-Öffnen
und Schließen
dieses Versteckspiel
hinter dem Fächer
Venedigs Paläste
erstarrt hinter verschlossenen
Mauern ihre Fassaden
sind gegerbte Masken
faszinierend in ihrem
abgetragenen Glanz
ihre Schattenspiele
versinken und beginnen
in den Kanälen
Wasserblüten zu treiben -
die sterbenden Blumen
einer todgeweihten
Zauberin
Kanäle
die fließend stagnieren
Gerüche die aufsteigen
an den Korsagen
nächtlicher Paläste
zugeknöpft und voll
hochmütigen Stolzes
die Hände in Abwehr
erhoben - noch immer
beherrschend
Wasser,
in dem sich der Stein löst
der falsche Zauber erblüht
die versunkene Utopie
erwacht
kalter feuchter Atem
von weither
vom Meer
von der Lagune
von ganz nah
Gondeln wie Weberschiffchen
ziehen ihre Fäden
durch das Labyrinth der Kanäle -
damals in der Nacht
klang das Kichern
der kleinen Japanerin
wie das Kreischen eines
exotischen Vogels
der Voliere entkommen
zu laut
zu schrill
um zu überzeugen
Juwelen
hinter bröckelndem Prunk
vergraben und dennoch
spiegelt sich die Farbigkeit
der Steine im Wasser,
unfassbar, nicht zu greifen,
immer nur lockend
wird die Hand zur Abwehr
mitgereicht
trauernde Schatten
Gespenster
verschwinden
in dunklen Wänden
das Medusengesicht
dieser Stadt die
das Schreckliche
hinter dem Schönen
verbirgt die Liebe
die dringlicher
und näher am Tod
- so sagen die Dichter
Strohfeuer entflammen
im Abendlicht
auf dem Wasser
es ist Oktober
und das Licht sanft
um vier Uhr
auf dem Markusplatz
haben die Schatten
ihre Trauer verloren
steigt der Phönix
aus der Asche
bekommt der Traum
von Utopia
Gewicht
VENEDIG (2)
am Canal Grande
reihen sich die Paläste
ein Übergreifen von Arkaden
schlanken Säulen
Überblenden von
Ornamenten
auf der Folie gleißenden Lichts
Kuppeln überhaupt alles Runde
so wie der elegante Schwung
des Rialto
der Canal Grande
eine Verkettung
von Palästen
ein Film zieht vorbei
ein Überblenden der Bilder,
die sich ineinander
verwandeln
verwickeln
eins werden
und lösen
die schwarz lackierten Gondeln
wenn sie des Nachts
angedockt liegen
und nervös schwanken
wie elegante Damen
in hochhackigen Schuhe
oder wie hochgezüchtete Hunde -
und losgelöst
wie erlöst sanft durch die Nacht gleiten
am Morgen liegen sie da
umkost vom leichten
Wellenschlag der Lagune -
die sieben Silberstreifen
am Bug werden
zum Schlüssel
zur Laute
Licht und Schatten
hängen in den engen Fluchten
der Zufall erhält Relevanz
Dunkles wird hell
die Ruine zum lichten Palaste
und das verfallene Portal
spiegelt die Unterwelt
Venedigs Lebenslinien
laufen entlang der Kanäle
in der Tiefe der Häuserfluchten
auf bleiernen Schlieren
Überblendungen
von Arkaden
die wie Amöben
ihre Form wechseln
abblätternde Fassaden
schaffen Spiegelreflexe
von bizarrer Schönheit
Häuserfluchten
mit hellen Sonnenflecken
funkelnde Augen
in einem kokett
verschleierten Gesicht.
VENEDIG (3)
Campo di Ghetto (1)
Hier sind die Häuser am höchsten
doch über der Synagoge der Himmel!
Ein schöner, von einem hohen Baum
beschatteter Platz, der
vor der Sommerhitze bewahrte.
Man war sich nahe, zu viele lebten
in diesem abgezirkelten Bezirk.
Und abends wurden die Tore geschlossen.
Sie gehörten unterschiedlichen Gruppen an,
Westjuden und solche von der Levante
sie folgten unterschiedlichen Riten.
Die Thora repräsentierte Gott, und
zehn Männer fanden sich allemal,
um dem Ritus zu genügen.
Ein Handwerk auszuüben
war ihnen nicht erlaubt,
so wurden sie Ärzte und Händler.
Ihnen war Zins zu nehmen erlaubt,
das führte zum Drama,
nicht nur bei Shakespeare.
Campo di Ghetto (2)
Hohe Mauern und bröckelnder Putz
eingeschlossen - ausgeschlossen
Soldaten am Brunnen
doch friedlich der Platz
- warum ist sie so nervös,
die Frau mit den Schlüsseln?
Hier sind die Häuser am höchsten
doch über der Synagoge der Himmel!
Anklänge Anpassung neben Ausgrenzung
es gibt heute hier nur Orthodoxe -
wie ein Theater mit den Rängen oben
für die Frauen - und doch ist Jude,
wer von einer Jüdin geboren
auch der Rabbiner sollte nicht
auf die Thora schauen
du sollst dir kein Bildnis machen.
Campo del Ghetto
aus der Zeit gefallen
eine Uhr ohne Zeiger
verlassen
verwunschen
mit geschlossenen
Fensterläden –
doch in den Vitrinen
spielen als gläserne Schachfiguren
die Levantiner gegen die Askenasen.
Der Platz groß und leer
zwischen den hohen Mauern
ausgegrenzt -
die einzelnen Synagogen
überlappen in der Erinnerungen
zu barocken Theatern
in kleinen Formaten
zerfließen in rote und
goldene Töne – die Bühne
als Oval in der Mitte
bleibt leer –
stets bleibt verhüllt
das Antlitz des Einen Gottes –
ist nicht der Raum als solcher
schon sprechendes Bild?
Arlecchino
Sie war den ganzen Tag durch die Gassen Venedigs gelaufen, über die kleinen Brücken und Plätze, vorbei an den großen Kirchen, den Monumenten und hatte all dem wenig Beachtung geschenkt. Vielmehr hatte sie die Auslagen der Boutiquen durchforstet nach einer Maske, nach der Maske eines Arlecchino. Doch musste sie sich eingestehen, dass sie nicht genau wusste, wonach sie suchte. Es gab Masken in allen Größen. Und es gab sie aus unterschiedlichen Materialien, aus Pappmaché, aus Metall, aus Porzellan, aus Stoffen und wer weiß aus was noch. Es gab Masken in Gold gefasst, solche, deren Oberfläche mit schwarzen und roten Rauten bedeckt war und solche, die die Unterschiedlichkeit der beiden Gesichtshälften betonten. Manche lachten und weinten gleichzeitig, irgendwie eine Zwiespältigkeit betonend. Manche trugen Tränen auf ihrem Antlitz, das in ein Lachen überwechselte. Solche Masken waren trügerisch und verwirrten. Es gab Maskenaugen, aus denen eine einzige große Träne kullerte, die aber dazu geeignet schien, eine Sintflut auszulösen. Und es gab die verspielten Masken mit Schmetterlingen auf dem Auge, der Blume auf der Stirn, Blättern, die über das Gesicht wucherten. Und dann die grotesken Masken, die Tierhaftes suggerierten, Vogelschnäbel umgeben von roter und schwarzer Seide. Unter ihnen vermutete sie zu Recht das Dunkle.
Aber irgendwie trafen alle diese Masken, diese immer wiederkehrenden Gesichter, nicht ihre Vorstellungen. Sie blieben letztlich flach und entbehrten der Tiefe, da sie eine Lebensgeschichte entbehrten. Ihre Tränen, ihr Leid war aufgesetzt, gespielt, ihre Emotionen irreführend, nicht nur die tierischen Masken waren grotesk und überzeichnet. Sie war müde und im Begriff aufzugeben. Der Abend dämmerte schon heran. Es war Oktober. Sie machte sich auf den Rückweg zum Hotel, ohne Eile und ohne eine genaue Vorstellung von der Richtung, in die sie gehen sollte. Ihrer Aufgabe entledigt hatte sie nun Muße, konnte sich gehen lassen und genoss dieses Schlendern. Sie ging über eine der vielen Brücken und blickte hinunter ins Wasser des in schattigen Schlieren ruhenden Kanals. Auf dem Wasser sah sie wie auf einem halbdunklen Spiegel ihr Gesicht, seltsam abstrahiert und zerfließend und wusste plötzlich, was sie gesucht hatte: das eigene Gesicht, eine Maske, die ihr eigenes Leben widerspiegelte, ihren eigenen Arlecchino.
Die goldenen Engel
der Mariensäule als Nabe,
auf der geräumigen Drehscheibe
von Dom und Bischofspalast -
in einer Nische der Grünmarkt
farbstrotzend vom Rot
der Früchte und Blumen.
Die Bäuerin von jenseits des Waldes
trägt ihren bronzenen Korb
zu allen Jahreszeiten
hinunter, wo einst der Bach floss
und hinüber zur Stadt des Adels,
seinen barocken und später
gründerzeitlichen Bauten,
der Pfarrkirche mit den Wappen
aus bunten Ziegeln,
die markante Zeichen setzen
für die Kronländer Kroatien,
Dalmatien, Slowenien.
Im einzig erhaltenen Stadttor,
geborgen im Dämmerlicht
das Gnadenbild der schwarzen Madonna.
Hier wird soziale Zugehörigkeit durchlässig.
In der Unterstadt schwingt Ban Jelačić,
der Nationalheld von 1848, den Säbel.
So lokalisiert sich Geschichte
in ein Unten und Oben,
das von der Neuzeit unterlaufen wird.
Erster Spaziergang
Grün, saftig, üppig der Rasen
mit langen Schatten der Bäume
die Bank als Fixpunkt der Ruhe:
Betonung auf Stille und Bleiben.
Laubwald sich selbst überlassen.
Licht lässt grüne Blätter aufleuchten.
Efeu rankt über die Stämme, die
flechtenbärtig mit expressiven Gebärden
gestikulieren. Ins Riesenhafte vergrößerte
Hände von Rodin, von Meštrović.
Schließlich ein See sanft und
milchig im abendlichen Dunst.
Spiegelungen, Verdoppelungen,
ein Verwischen von oberirdisch klaren
kantigen Konturen, die ans Magische
grenzen in verwunschener Tiefe -
verschweben, verschwimmen,
verschleiern und sich gleichzeitig öffnen:
Pflanzen, die schemenhaft
sich wiegend ans Licht drängen.
Der ins Wasser geworfene Stein
zieht konzentrische Kreise.
Überschneidungen bilden
ein gemeinsames Segment,
lösen sich auf in Licht.
Die junge Katze liegt entspannt
im Schatten, putzt sich und
lässt es sich wohl sein
durchdrungen von der Wärme
des allmählich scheidenden Tages.
Wasser fällt in Strängen,
überschlägt sich
überschneidet,
verzopft sich
trennt sich -
riesige Pferdeschwänze
in verschleiertem Weiß,
ephemere Spuren,
Zeichen aus schäumender Gischt –
ein vorläufiges Ende
in einem türkisblauen Auge
einem halbgeschlossenen Lid.
Fische ausgerichtet gegen das fließende Wasser
über von Seekreide überzogenem totem Holz;
in Leben sprühenden Gräsern Schwärme von
Fischen in Altershierarchien gegliedert.
Wasser sich fügend
in den geformten Grund
der von Linien durchdrungen
von Muschelformen geprägt
begrenzt wird durch das Grün,
den begleitenden Stein.
Fische, klein wie Kaulquappen,
schweben über mit Kalk überzogenen Stämmen,
die einmal die Ufer im Lichte begleiteten.
Hell und geschmeidig läuft das Wasser
den Sinterbarrieren entgegen,
sich kräuselnd, aufschäumend,
Gestalt annehmend:
Skulpturen des Augenblicks
immer aufs Neue geschaffen.
Tönerne Stufen
Wohlklänge in Dur,
wenn das Licht dominiert,
in Moll, wenn die Schatten
zu Schemen sich wandeln.
Eine Ente und ihre Küken
im Schilfgras.
Austernschalenwellen,
blaugrau auf dem Weg nach Grün.
Orgelpfeifen,
wo die Töne aus dem Innern
nach außen greifen.
Wassermusik,
die aus der Stille gleitet,
hinunter ins Drama
der schäumenden Gischt.
Pfade aus natürlichem Stein gepflastert
ausgetreten erodiert
mineralisiert in Rot- und Blautönen
von Flechten chiffriert;
in den Ritzen angesiedelt
Farn, Gras und Moos.
Die Wanderer -
Tausendfüßler
in gegliederter Ordnung.
Türkisblaues Becken
geriffelte Oberfläche
von hohen Bäumen umgeben –
eines Tages werden auch sie
unter den Wasserspiegel sinken
und zum Fossil einer vergangenen Zeit,
zum Zungenbelag dieser abgründigen Seen,
deren Wasser Barrieren brechen
und neue Wege suchen –
sollte der Mensch sich nicht
an ihnen ein Beispiel nehmen?
Von Zwergen und Gnomen,
von leichtfüßigen oder
fischschwänzigen Feen
erzählen die Seen einander
im Dunkel der Nacht,
wenn der Mondschein
die Schatten belebt.
Am flachen Boden von Seekalk
überzogene Raster, die an das Skelett
vorzeitlicher Boote erinnern,
ausgeaperte Moorleichen,
für Augenblicke sichtbar geworden
aus dem kollektiven Gedächtnis
einer längst versunkenen Geschichte.
Riesengräten und moosgrünes Gewürm,
vom Augenblick aufgetischt.
Wasserstränge, Tonkaskaden,
eine Coda, die die Jahreszeiten
unterschiedlich gestaltet.
Ein Vorhang zierlicher Blätter
vor das schaumbekrönte Fließen gehängt –
Milchige Batik aus Wurzelgeflecht
wird zur Gestalt, zur Figuration –
fossile Formen in leiser Farbe
von der klaren Linie des Ufers begrenzt.
Sekundenbilder einer Wasserwelt,
die Vergangenes mit dem Augenblick
verfugen.
Blüteninseln zwischen schäumender Gischt,
Licht und Schatten –
ein Huschen von Ort zu Ort,
ein behutsames Tasten.
Schließlich das große
endgültige Fallen
in die von Licht und Schatten
getränkte Schale.
„Und vergessen Sie nicht vom Steine zu träumen, vom moosigen Stein, der im Bergbach liegt seit tausend und tausend Jahren, gebadet, gekühlt, überspült von Schaum und Flut! Sehen Sie mit Sympathie seinem Dasein zu, das wachste Sein dem tiefst schlummernden, und begrüßen Sie ihn in der Schöpfung! Ihm ist wohl, wenn Sein und Wohlsein sich irgend vertragen.“ 1)
Der Krieg 1991-95 hat seine Spuren hinterlassen. So die Einschläge in einer Fassade, den bröckelnden Putz, der den Stein freilegt. – Es fehlen auch nicht die Geranien, denen für mich von jeher das Attribut traurig anhaftet, da sie mich an meine Nachkriegskindheit erinnern. Im Kontrast dazu die glänzenden, von unzähligen Füßen abgeschliffenen Pflastersteine, die hier im Grätenmuster verlegt sind, und auf die unsere Schatten fallen.
Zadar, das damalige Zara, war am 15. November 1202 von einem Kreuzfahrerheer unter der Führung des Dogen Enrico Dandolo eingenommen und verwüstet worden. Auf diese Weise sollten die Kreuzfahrer Venedig für die Bereitstellung von Schiffen entschädigen. Die Dogenrepublik hatte wohl schon damals die Eroberung Konstantinopels im Sinn. Denn der Vierte Kreuzzug sollte ja am 12. April 1204 in die Stadt am Bosporus einfallen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Es ist also nicht verwunderlich, dass uns hier in Zadar auf Schritt und Tritt Venezianisches begegnet: Bögen und Kapitelle ruhen auf schlanken Säulen. Fensterbögen werden rechteckig gefasst und zum Schmuck der Fassaden. Putten tragen aristokratische Balkone. Ihr Schutz konnte nicht verkehrt sein. Zähnefletschend blickt ein Löwe über das Gesims, eine abschreckende, eine apotropäische Geste. Putten bekränzen mit Girlanden das Wappen der Familie, man will sich wohl göttlichen Beistands versichern. Auch der erst spät errichtete Uhrturm ist noch der venezianischen Epoche nachempfunden. Hinter einem eleganten Café verbergen sich die Kapitelle der romanischen Kirche Sveti Lovro, die dem Heiligen Laurentius geweiht ist. Ein pralles Gesicht verknotet ein Abflussrohr hoch oben am Sims der Fassade, die Augen sind auf die gegenüberliegende Seite des Platzes gerichtet.