Ingeborg Bauer

Im Bannkreis Venedigs

Venedig – Kroatien - Korfu

Books on Demand GmbH

Venedig – 1991, 2000, 2004

VENEDIG (1)

Zauber verlorener Geschichten

die im Dunst der Lagune schweben

und dir im spiegelnden Wasser

der Kanäle wieder begegnen

undurchdringlich

in bleierner Schwere

und hingehauchter Leichtigkeit

formulierte Geschichten

von denen du wenig begreifst

und von denen du dich

nicht zu lösen vermagst

die versinken im Wasser der Kanäle

die über die Brücken huschen

sich in Toreingängen verbergen

Masken die sich verändern

wie die Fassaden der Häuser

in den kleinen Gassen

Orte die du nicht wiederfindest

oder doch nur durch Zufall

sobald du dich auf die Suche machst

musst du dich verirren

in diesem Labyrinth aus Wasser und Stein.

Und liegt nicht gerade darin der Zauber

dieser unendlichen Geschichten?

Venedig

aufgetaucht

aus einer fernen Zeit

wie eine kostbare Stunde

herausgeschnitten

aus einem goldenen Zeitalter

unverbundene Handlungen

aneinander gerückt

wie stehende Bilder

aus einem alten Film

Venedig hat das Fenster

geöffnet zur Nacht

der Wind streift leise

über die gesenkten Lider

Meeresduft und Taubenflügel

dringen unter das

halb geschlossene Auge

bis sich der Kanal

zur Lagune hin weitet

dieses Sich-Öffnen

und Schließen

dieses Versteckspiel

hinter dem Fächer

Venedigs Paläste

erstarrt hinter verschlossenen

Mauern ihre Fassaden

sind gegerbte Masken

faszinierend in ihrem

abgetragenen Glanz

ihre Schattenspiele

versinken und beginnen

in den Kanälen

Wasserblüten zu treiben -

die sterbenden Blumen

einer todgeweihten

Zauberin

Kanäle

die fließend stagnieren

Gerüche die aufsteigen

an den Korsagen

nächtlicher Paläste

zugeknöpft und voll

hochmütigen Stolzes

die Hände in Abwehr

erhoben - noch immer

beherrschend

Wasser,

in dem sich der Stein löst

der falsche Zauber erblüht

die versunkene Utopie

erwacht

kalter feuchter Atem

von weither

vom Meer

von der Lagune

von ganz nah

Gondeln wie Weberschiffchen

ziehen ihre Fäden

durch das Labyrinth der Kanäle -

damals in der Nacht

klang das Kichern

der kleinen Japanerin

wie das Kreischen eines

exotischen Vogels

der Voliere entkommen

zu laut

zu schrill

um zu überzeugen

Juwelen

hinter bröckelndem Prunk

vergraben und dennoch

spiegelt sich die Farbigkeit

der Steine im Wasser,

unfassbar, nicht zu greifen,

immer nur lockend

wird die Hand zur Abwehr

mitgereicht

trauernde Schatten

Gespenster

verschwinden

in dunklen Wänden

das Medusengesicht

dieser Stadt die

das Schreckliche

hinter dem Schönen

verbirgt die Liebe

die dringlicher

und näher am Tod

- so sagen die Dichter

Strohfeuer entflammen

im Abendlicht

auf dem Wasser

es ist Oktober

und das Licht sanft

um vier Uhr

auf dem Markusplatz

haben die Schatten

ihre Trauer verloren

steigt der Phönix

aus der Asche

bekommt der Traum

von Utopia

Gewicht

VENEDIG (2)

am Canal Grande

reihen sich die Paläste

ein Übergreifen von Arkaden

schlanken Säulen

Überblenden von

Ornamenten

auf der Folie gleißenden Lichts

Kuppeln überhaupt alles Runde

so wie der elegante Schwung

des Rialto

der Canal Grande

eine Verkettung

von Palästen

ein Film zieht vorbei

ein Überblenden der Bilder,

die sich ineinander

verwandeln

verwickeln

eins werden

und lösen

die schwarz lackierten Gondeln

wenn sie des Nachts

angedockt liegen

und nervös schwanken

wie elegante Damen

in hochhackigen Schuhe

oder wie hochgezüchtete Hunde -

und losgelöst

wie erlöst sanft durch die Nacht gleiten

am Morgen liegen sie da

umkost vom leichten

Wellenschlag der Lagune -

die sieben Silberstreifen

am Bug werden

zum Schlüssel

zur Laute

Licht und Schatten

hängen in den engen Fluchten

der Zufall erhält Relevanz

Dunkles wird hell

die Ruine zum lichten Palaste

und das verfallene Portal

spiegelt die Unterwelt

Venedigs Lebenslinien

laufen entlang der Kanäle

in der Tiefe der Häuserfluchten

auf bleiernen Schlieren

Überblendungen

von Arkaden

die wie Amöben

ihre Form wechseln

abblätternde Fassaden

schaffen Spiegelreflexe

von bizarrer Schönheit

Häuserfluchten

mit hellen Sonnenflecken

funkelnde Augen

in einem kokett

verschleierten Gesicht.

VENEDIG (3)

Campo di Ghetto (1)

Hier sind die Häuser am höchsten

doch über der Synagoge der Himmel!

Ein schöner, von einem hohen Baum

beschatteter Platz, der

vor der Sommerhitze bewahrte.

Man war sich nahe, zu viele lebten

in diesem abgezirkelten Bezirk.

Und abends wurden die Tore geschlossen.

Sie gehörten unterschiedlichen Gruppen an,

Westjuden und solche von der Levante

sie folgten unterschiedlichen Riten.

Die Thora repräsentierte Gott, und

zehn Männer fanden sich allemal,

um dem Ritus zu genügen.

Ein Handwerk auszuüben

war ihnen nicht erlaubt,

so wurden sie Ärzte und Händler.

Ihnen war Zins zu nehmen erlaubt,

das führte zum Drama,

nicht nur bei Shakespeare.

Campo di Ghetto (2)

Hohe Mauern und bröckelnder Putz

eingeschlossen - ausgeschlossen

Soldaten am Brunnen

doch friedlich der Platz

- warum ist sie so nervös,

die Frau mit den Schlüsseln?

Hier sind die Häuser am höchsten

doch über der Synagoge der Himmel!

Anklänge Anpassung neben Ausgrenzung

es gibt heute hier nur Orthodoxe -

wie ein Theater mit den Rängen oben

für die Frauen - und doch ist Jude,

wer von einer Jüdin geboren

auch der Rabbiner sollte nicht

auf die Thora schauen

du sollst dir kein Bildnis machen.

Campo del Ghetto

aus der Zeit gefallen

eine Uhr ohne Zeiger

verlassen

verwunschen

mit geschlossenen

Fensterläden –

doch in den Vitrinen

spielen als gläserne Schachfiguren

die Levantiner gegen die Askenasen.

Der Platz groß und leer

zwischen den hohen Mauern

ausgegrenzt -

die einzelnen Synagogen

überlappen in der Erinnerungen

zu barocken Theatern

in kleinen Formaten

zerfließen in rote und

goldene Töne – die Bühne

als Oval in der Mitte

bleibt leer –

stets bleibt verhüllt

das Antlitz des Einen Gottes –

ist nicht der Raum als solcher

schon sprechendes Bild?

Arlecchino

Sie war den ganzen Tag durch die Gassen Venedigs gelaufen, über die kleinen Brücken und Plätze, vorbei an den großen Kirchen, den Monumenten und hatte all dem wenig Beachtung geschenkt. Vielmehr hatte sie die Auslagen der Boutiquen durchforstet nach einer Maske, nach der Maske eines Arlecchino. Doch musste sie sich eingestehen, dass sie nicht genau wusste, wonach sie suchte. Es gab Masken in allen Größen. Und es gab sie aus unterschiedlichen Materialien, aus Pappmaché, aus Metall, aus Porzellan, aus Stoffen und wer weiß aus was noch. Es gab Masken in Gold gefasst, solche, deren Oberfläche mit schwarzen und roten Rauten bedeckt war und solche, die die Unterschiedlichkeit der beiden Gesichtshälften betonten. Manche lachten und weinten gleichzeitig, irgendwie eine Zwiespältigkeit betonend. Manche trugen Tränen auf ihrem Antlitz, das in ein Lachen überwechselte. Solche Masken waren trügerisch und verwirrten. Es gab Maskenaugen, aus denen eine einzige große Träne kullerte, die aber dazu geeignet schien, eine Sintflut auszulösen. Und es gab die verspielten Masken mit Schmetterlingen auf dem Auge, der Blume auf der Stirn, Blättern, die über das Gesicht wucherten. Und dann die grotesken Masken, die Tierhaftes suggerierten, Vogelschnäbel umgeben von roter und schwarzer Seide. Unter ihnen vermutete sie zu Recht das Dunkle.

Aber irgendwie trafen alle diese Masken, diese immer wiederkehrenden Gesichter, nicht ihre Vorstellungen. Sie blieben letztlich flach und entbehrten der Tiefe, da sie eine Lebensgeschichte entbehrten. Ihre Tränen, ihr Leid war aufgesetzt, gespielt, ihre Emotionen irreführend, nicht nur die tierischen Masken waren grotesk und überzeichnet. Sie war müde und im Begriff aufzugeben. Der Abend dämmerte schon heran. Es war Oktober. Sie machte sich auf den Rückweg zum Hotel, ohne Eile und ohne eine genaue Vorstellung von der Richtung, in die sie gehen sollte. Ihrer Aufgabe entledigt hatte sie nun Muße, konnte sich gehen lassen und genoss dieses Schlendern. Sie ging über eine der vielen Brücken und blickte hinunter ins Wasser des in schattigen Schlieren ruhenden Kanals. Auf dem Wasser sah sie wie auf einem halbdunklen Spiegel ihr Gesicht, seltsam abstrahiert und zerfließend und wusste plötzlich, was sie gesucht hatte: das eigene Gesicht, eine Maske, die ihr eigenes Leben widerspiegelte, ihren eigenen Arlecchino.

In Venedig schickt eine junge Frau in Schwarz unentwegt schillernde Seifenblasen-Träume in den immerwährenden Augenblick.

Kroatien – Im Mai 2009

Reisetagebuch

Zagreb

Die goldenen Engel

der Mariensäule als Nabe,

auf der geräumigen Drehscheibe

von Dom und Bischofspalast -

in einer Nische der Grünmarkt

farbstrotzend vom Rot

der Früchte und Blumen.

Die Bäuerin von jenseits des Waldes

trägt ihren bronzenen Korb

zu allen Jahreszeiten

hinunter, wo einst der Bach floss

und hinüber zur Stadt des Adels,

seinen barocken und später

gründerzeitlichen Bauten,

der Pfarrkirche mit den Wappen

aus bunten Ziegeln,

die markante Zeichen setzen

für die Kronländer Kroatien,

Dalmatien, Slowenien.

Im einzig erhaltenen Stadttor,

geborgen im Dämmerlicht

das Gnadenbild der schwarzen Madonna.

Hier wird soziale Zugehörigkeit durchlässig.

In der Unterstadt schwingt Ban Jelačić,

der Nationalheld von 1848, den Säbel.

So lokalisiert sich Geschichte

in ein Unten und Oben,

das von der Neuzeit unterlaufen wird.

Plitwitzer Seen am späten Nachmittag

Plitwitzer Seen

Erster Spaziergang

Grün, saftig, üppig der Rasen

mit langen Schatten der Bäume

die Bank als Fixpunkt der Ruhe:

Betonung auf Stille und Bleiben.

Laubwald sich selbst überlassen.

Licht lässt grüne Blätter aufleuchten.

Efeu rankt über die Stämme, die

flechtenbärtig mit expressiven Gebärden

gestikulieren. Ins Riesenhafte vergrößerte

Hände von Rodin, von Meštrović.

Schließlich ein See sanft und

milchig im abendlichen Dunst.

Spiegelungen, Verdoppelungen,

ein Verwischen von oberirdisch klaren

kantigen Konturen, die ans Magische

grenzen in verwunschener Tiefe -

verschweben, verschwimmen,

verschleiern und sich gleichzeitig öffnen:

Pflanzen, die schemenhaft

sich wiegend ans Licht drängen.

Der ins Wasser geworfene Stein

zieht konzentrische Kreise.

Überschneidungen bilden

ein gemeinsames Segment,

lösen sich auf in Licht.

Die junge Katze liegt entspannt

im Schatten, putzt sich und

lässt es sich wohl sein

durchdrungen von der Wärme

des allmählich scheidenden Tages.

Wanderung entlang der Plitwitzer Seen

Wasser fällt in Strängen,

überschlägt sich

überschneidet,

verzopft sich

trennt sich -

riesige Pferdeschwänze

in verschleiertem Weiß,

ephemere Spuren,

Zeichen aus schäumender Gischt –

ein vorläufiges Ende

in einem türkisblauen Auge

einem halbgeschlossenen Lid.

Fische ausgerichtet gegen das fließende Wasser

über von Seekreide überzogenem totem Holz;

in Leben sprühenden Gräsern Schwärme von

Fischen in Altershierarchien gegliedert.

Wasser sich fügend

in den geformten Grund

der von Linien durchdrungen

von Muschelformen geprägt

begrenzt wird durch das Grün,

den begleitenden Stein.

Fische, klein wie Kaulquappen,

schweben über mit Kalk überzogenen Stämmen,

die einmal die Ufer im Lichte begleiteten.

Hell und geschmeidig läuft das Wasser

den Sinterbarrieren entgegen,

sich kräuselnd, aufschäumend,

Gestalt annehmend:

Skulpturen des Augenblicks

immer aufs Neue geschaffen.

Tönerne Stufen

Wohlklänge in Dur,

wenn das Licht dominiert,

in Moll, wenn die Schatten

zu Schemen sich wandeln.

Eine Ente und ihre Küken

im Schilfgras.

Austernschalenwellen,

blaugrau auf dem Weg nach Grün.

Orgelpfeifen,

wo die Töne aus dem Innern

nach außen greifen.

Wassermusik,

die aus der Stille gleitet,

hinunter ins Drama

der schäumenden Gischt.

Pfade aus natürlichem Stein gepflastert

ausgetreten erodiert

mineralisiert in Rot- und Blautönen

von Flechten chiffriert;

in den Ritzen angesiedelt

Farn, Gras und Moos.

Die Wanderer -

Tausendfüßler

in gegliederter Ordnung.

Türkisblaues Becken

geriffelte Oberfläche

von hohen Bäumen umgeben –

eines Tages werden auch sie

unter den Wasserspiegel sinken

und zum Fossil einer vergangenen Zeit,

zum Zungenbelag dieser abgründigen Seen,

deren Wasser Barrieren brechen

und neue Wege suchen –

sollte der Mensch sich nicht

an ihnen ein Beispiel nehmen?

Von Zwergen und Gnomen,

von leichtfüßigen oder

fischschwänzigen Feen

erzählen die Seen einander

im Dunkel der Nacht,

wenn der Mondschein

die Schatten belebt.

Am flachen Boden von Seekalk

überzogene Raster, die an das Skelett

vorzeitlicher Boote erinnern,

ausgeaperte Moorleichen,

für Augenblicke sichtbar geworden

aus dem kollektiven Gedächtnis

einer längst versunkenen Geschichte.

Riesengräten und moosgrünes Gewürm,

vom Augenblick aufgetischt.

Wasserstränge, Tonkaskaden,

eine Coda, die die Jahreszeiten

unterschiedlich gestaltet.

Ein Vorhang zierlicher Blätter

vor das schaumbekrönte Fließen gehängt –

Milchige Batik aus Wurzelgeflecht

wird zur Gestalt, zur Figuration –

fossile Formen in leiser Farbe

von der klaren Linie des Ufers begrenzt.

Sekundenbilder einer Wasserwelt,

die Vergangenes mit dem Augenblick

verfugen.

Blüteninseln zwischen schäumender Gischt,

Licht und Schatten –

ein Huschen von Ort zu Ort,

ein behutsames Tasten.

Schließlich das große

endgültige Fallen

in die von Licht und Schatten

getränkte Schale.

„Und vergessen Sie nicht vom Steine zu träumen, vom moosigen Stein, der im Bergbach liegt seit tausend und tausend Jahren, gebadet, gekühlt, überspült von Schaum und Flut! Sehen Sie mit Sympathie seinem Dasein zu, das wachste Sein dem tiefst schlummernden, und begrüßen Sie ihn in der Schöpfung! Ihm ist wohl, wenn Sein und Wohlsein sich irgend vertragen.“ 1)

Venezianischer Triumphbogen in Zadar

Die dalmatinische Küstenstadt Zadar

Der Krieg 1991-95 hat seine Spuren hinterlassen. So die Einschläge in einer Fassade, den bröckelnden Putz, der den Stein freilegt. – Es fehlen auch nicht die Geranien, denen für mich von jeher das Attribut traurig anhaftet, da sie mich an meine Nachkriegskindheit erinnern. Im Kontrast dazu die glänzenden, von unzähligen Füßen abgeschliffenen Pflastersteine, die hier im Grätenmuster verlegt sind, und auf die unsere Schatten fallen.

Zadar, das damalige Zara, war am 15. November 1202 von einem Kreuzfahrerheer unter der Führung des Dogen Enrico Dandolo eingenommen und verwüstet worden. Auf diese Weise sollten die Kreuzfahrer Venedig für die Bereitstellung von Schiffen entschädigen. Die Dogenrepublik hatte wohl schon damals die Eroberung Konstantinopels im Sinn. Denn der Vierte Kreuzzug sollte ja am 12. April 1204 in die Stadt am Bosporus einfallen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Es ist also nicht verwunderlich, dass uns hier in Zadar auf Schritt und Tritt Venezianisches begegnet: Bögen und Kapitelle ruhen auf schlanken Säulen. Fensterbögen werden rechteckig gefasst und zum Schmuck der Fassaden. Putten tragen aristokratische Balkone. Ihr Schutz konnte nicht verkehrt sein. Zähnefletschend blickt ein Löwe über das Gesims, eine abschreckende, eine apotropäische Geste. Putten bekränzen mit Girlanden das Wappen der Familie, man will sich wohl göttlichen Beistands versichern. Auch der erst spät errichtete Uhrturm ist noch der venezianischen Epoche nachempfunden. Hinter einem eleganten Café verbergen sich die Kapitelle der romanischen Kirche Sveti Lovro, die dem Heiligen Laurentius geweiht ist. Ein pralles Gesicht verknotet ein Abflussrohr hoch oben am Sims der Fassade, die Augen sind auf die gegenüberliegende Seite des Platzes gerichtet.