Studien zur Kunstgeschichte | Band 4

Beunruhigung durch Kunst und Wissenschaft

Martin Warnke/Michael Küstermann/Barbara Schellewald/Barbara Welzel

mit einem Beitrag von Birgit Franke

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Verleihung der Ehrendoktorwürde der TU Dortmund an Prof. Dr. Dr. h. c. Martin Warnke

Festakt: 9. Juni 2010, 17 Uhr in der Stadtkirche St. Reinoldi, Dortmund

Die Veranstaltung fand statt im Rahmen der Sommerakademie RUHR.2010. Das Ruhrgebiet in Europa (Veranstalter: Universitätsallianz Metropole Ruhr – UAMR, Universität Witten/Herdecke, Fachhochschule Dortmund, Hochschule Bochum, Kulturwissenschaftliches Institut Essen – KWI) und von LichtKunstRaum sanktreinoldi, Projekte der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010.

Mit einem Festakt hat die Technische Universität Dortmund dem Hamburger Kunsthistoriker Professor Dr. Dr. h.c. Martin Warnke am 9. Juni 2010 die Ehrendoktorwürde verliehen. Sie ehrt damit einen der bedeutendsten Kunsthistoriker in Deutschland. Martin Warnke, der 1937 in Brasilien geboren wurde, 1953 nach Deutschland kam, nach kurzer Schulzeit in Gütersloh und Dortmund in Darm-stadt Abitur machte, studierte in München und Berlin Kunstgeschichte, ergänzt um einen längeren Studienaufenthalt in Madrid. Er promovierte 1963 mit einer Arbeit über Rubens. 1963 berichtete er für die Stuttgarter Zeitung vom Ausch-witzprozess. Nach einem Museumsvolontariat in Berlin und einem Stipendium am Kunsthistorischen Institut in Florenz wurde er Assistent am Kunsthistorischen Institut in Münster, wo er sich 1969 mit einer Arbeit »Organisation der Hofkunst« habilitierte. 1970 leitete er die Sektion »Das Kunstwerk zwischen Wissenschaft und Weltanschauung« auf dem Kölner Kunsthistorikertag, die in der Rückschau eine Neuformation der Kunstgeschichte in Deutschland einleitete. 1971 wurde er nach Marburg berufen, 1978 wechselte er auf eine Professur nach Hamburg. 1988-1991 war Martin Warnke einer der drei Gründungsdirektoren des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. Martin Warnke erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1991 den Leibnizpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und 2006 den Internationalen Forschungspreis der Gerda Henkel Stiftung.

Seine zahlreichen Forschungen galten der niederländischen und spanischen Kunstgeschichte sowie der Politischen Ikonographie, um nur die wichtigsten Felder zu nennen. Der Erwerb des Bibliotheksgebäudes von Aby Warburg in Hamburg, der ursprünglichen Heimstatt der nach London emigrierten »Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg« durch die Stadt Hamburg und der Ausbau dieses Gebäudes zu einer Forschungsstätte war ihm ein gleichermaßen wichtiges Anliegen. In Verbundprojekten mit jüngeren Kolleginnen und Kollegen, auch von anderen kunsthistorischen Instituten in Deutschland, hat sich Warnke für die Aufarbeitung der Fachgeschichte des 20. Jahrhunderts eingesetzt.

Immer hat Martin Warnke Wissenschaft als »Beunruhigung«, als aufklärerisches Korrektiv scheinbar selbstverständlicher Denkmuster, verstanden. Und immer hat er das Potential der Kunst zur »Beunruhigung« in seinen Analysen freizulegen versucht.

Von links nach rechts
Von links nach rechts
Von links nach rechts: Pfarrer Michael Küstermann, Stadtkirche St. Reinoldi – Prof. Dr. Friedrich Jäger, Kulturwissenschaftliches Institut Essen – Prof. Dr. Barbara Schellewald, Universität Basel – Prof. Dr. Ursula Gather, Rektorin der Technischen Universität Dortmund – Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Warnke, Universität Hamburg – Prof. Dr. Barbara Welzel, Technische Universität Dortmund – Prof. Dr. Günther Rötter, Dekan der Fakultät Kunst- und Sportwissenschaften der Technischen Universität Dortmund

Inhaltsverzeichnis

DER »FALL CÉSAR« IN DER REINOLDIGEMEINDE ZU DORTMUND 1906

Martin Warnke

Der Pastor August César wurde am 19. April 1906 von der Reinoldigemeinde in Dortmund für eine ihrer Pfarrstellen, für die neuerbaute Lutherkirche im Höschviertel, gewählt. Da er aus einer anderen Landeskirche – aus Thüringen – kam, musste er nach dem Preußischen Kirchengesetz auf seine »Anstellungsfähigkeit und Vorbildung« hin von dem Königlichen Konsistorium in Münster-Westfalen in einem dreieinhalbstündigen Kolloquium befragt werden. In dem auch von César unterschriebenen Protokoll heißt es unter anderem:

»[Christus ist geboren wie jeder andere Mensch, die jungfräuliche Geburt wird ausdrücklich abgelehnt]. Jesus ist Gottessohn nicht in einem physischen oder metaphysischen Sinn, sondern weil er religiös-sittlich mit Gott eins ist.« – »Wunder im ›eigentlichen‹ Sinn habe ich abgelehnt. Sie sind für unsern Glauben wertlos… [Die Heilwunder Jesu sind durch seelische Beeinflussung des Herrn zu erklären.]«

»Die Auferweckung des Lazarus … lehnte ich ab. Ich sagte, dass wohl kein wissenschaftlicher Theologe unserer Tage die Wiederbelebung eines in Verwesung übergegangenen Leichnams festhalte.«

»Den Osterglauben bekenne und predige ich freudig: Jesus lebt… Das leere Grab habe ich allerdings abgelehnt… [Der Leib Christi ist im Grabe geblieben.] Wem es ein Bedürfnis für den ganzen Glauben ist und wem es notwendig erscheint, um andere zu überzeugen, mag an der Überzeugung … festhalten, dass der ganze Leib verklärt und dadurch das Grab leer geworden sei; aber man vergesse nicht, dass solche Stützen des Glaubens für viele unnötig und für sehr viele geradezu Hindernisse sind.«1

Obwohl in der evangelischen Kirche seit Anfang des 19. Jahrhunderts ein sogenannter Apostolikumstreit tobte, in dem über Für und Wider zu einzelnen Sätzen des Glaubensbekenntnisses gestritten wurde, leuchtet ein, dass das Konsistorium einen Pfarrer, der Aussagen, die so unverblümt dem Apostolikum widersprachen, für ungeeignet hielt, die Pfarrstelle an der Reinoldi-Kirchengemeinde zu übernehmen. Seit 1905 lief das Verfahren gegen Carl Wilhelm Jatho aus Köln, und es erfolgte die Absetzung des württembergischen Pfarrers Christoph Schrempf, bei der es ebenfalls um die Jungfrauengeburt ging. Es war sozusagen die Kampfzeit der liberalen Theologie, die eine »Volkskirche« anstrebte, in der die persönliche