Kapitel 8
Marianne saß mit Ursula im Schdüble des Hotel Hirschen, hörte der Freundin aber nur bedingt zu. Ihre Aufmerksamkeit galt der Binokel-Runde am Stammtisch. Wie so oft hatten die Männer sich schon in den Morgenstunden getroffen. Sie frühstückten gemeinsam, wälzten die Probleme der Welt und schoben Karten über den Tisch, wobei sie sich abwechselnd aufzogen und anfauchten. Je nachdem, wie das Reizen, das Melden oder die Stiche ausgefallen waren, was sie – da sie zu viert spielten – jeweils mit einem Partner auszuführen hatten.
Im Moment diskutierten sie darüber, weshalb sich eine reizende junge Dame, die ihnen erzählt hatte, dass sie sogar schon in New York gelebt habe, mit Motoren auskannte. Die Bewunderung der vier älteren Herren gegenüber der Fremden war offensichtlich. Und das missfiel Marianne gehörig.
Sie fand es bezeichnend, dass kein Ost-Schuster zu der Binokel-Runde gehörte, andererseits wusste sie selbst nicht, wem diese Rolle hätte zufallen sollen. Ihr Vater war bereits verstorben und wäre ohnehin zu jung gewesen. Ihr Onkel, Edmund der Dritte, war mit seinem Sägewerk beschäftigt – und ebenfalls nicht ganz der Jahrgang der Stammtischbrüder, wobei Bens Vater auch nicht wirklich dazupasste. Zwischen ihm und Otto lagen mindestens fünfzehn Jahre. Ebenso verhielt es sich mit ihrem Onkel Hardi. Bei den Ost-Schusters gab es keine Senioren mehr, sie waren alle bereits gestorben. Und mit ihnen der Hass auf die anderen Schusters?
Marianne gab einen zustimmenden Laut von sich, um ihrer Freundin zu signalisieren, dass sie deren viele „Himmlischs“ hörte, war aber zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, als dass sie den Grund für Ursulas Begeisterung hätte erfassen können.
Einige Generationen zuvor war eine fremde Frau nach Vierbrücken gekommen, die von sich behauptet hatte, nur auf der Durchreise zu sein. Sie war geblieben, hatte einem Ost- und einem West-Schuster den Kopf verdreht und mit den Gefühlen der beiden gespielt … so lange, bis die Männer mit Fäusten aufeinander losgegangen waren. Ab jenem Tag – so stand es im Tagebuch ihrer Urgroßmutter, die die Hintergründe der Fehde von ihrer eigenen Großmutter erzählt bekommen hatte – hatte die Eiszeit zwischen den Schusters begonnen. Fortan hatte man sich bei jeder Gelegenheit mit Dreck beworfen. Es hieß sogar, die West-Schusters hätten mehrere Scheunen der Ost-Schusters in Brand gesetzt, im Gegenzug seien etliche Felder der West-Schusters verwüstet worden.
Jetzt endlich war Friede eingekehrt; ein zerbrechlicher Friede, das spürte Marianne nur zu genau. Sie liebte Vierbrücken und hatte es sich darum auf die Fahnen geschrieben, die neu gewonnene Harmonie zu bewahren. Ihr Dorf war ein sicherer Ort in einer Welt, die sie beängstigend fand. Ein sicherer Hafen inmitten eines kalten Krieges mit gegenseitigen Drohgebärden und dem erneut aufflackernden Hass der Nationen. Marianne hatte genug Krieg und Hass erlebt. In ihrer eigenen Familie.
Sie konnte sich kaum noch an ihre leibliche Mutter erinnern, wohl aber an die wunderschöne, mondäne Frau, die etwa elf Monate nach deren Tod den Platz an der Seite ihres Vaters eingenommen hatte. Im ersten Jahr hatte Mariannes Welt dem perfekten Kleinmädchentraum geglichen. Ihre Stiefmutter behandelte sie wie eine Prinzessin. Marianne trug stets hübsche Kleider, die Walli ihr von ihren ausgiebigen Einkaufstouren mitbrachte. Nicht die Nachbarin schnitt Mariannes Haar, nein, sie wurde nach Rottweil oder Freudenstadt zu einem Frisörmeister gebracht. Sie lernte, sich wie eine Dame von Welt zu bewegen. Wie man sich in feinen Restaurants angemessen verhielt, welche Gabel man für den Salat benutzte und wie man die richtigen Gläser für die jeweiligen Getränke auswählte.
Doch dann hatte ihr Vater dem Treiben ein abruptes Ende gesetzt. Noch heute hallten die gebrüllten Anklagen ihres Vaters, das Kreischen ihrer Stiefmutter und das wilde Bellen des Hundes in Mariannes Ohren wider. An jenem Tag war im größten Schwarzwaldhaus von Vierbrücken der Dritte Weltkrieg ausgebrochen, anschließend ebenfalls ein kalter Krieg.
Marianne, damals zehn Jahre alt, hatte schlicht nicht gewusst, was sie tun sollte, außer sich unter dem Bett zu verkriechen und sich die Ohren zuzuhalten. Da ihr Vater selten zu Hause war und ihrem süßen Leben ein Ende bereitet hatte, schlug sie sich nur zu bereitwillig auf Wallis Seite. Bis ihr Vater starb. Bis Walli fast das gesamte Erbe dafür ausgab, aus dem traditionellen und gemütlichen Haus ein modernes, kaltes Luxusobjekt zu machen.
Walli war, wie die fremde Frau Generationen zuvor, aus einer großen Stadt hergekommen. Beide hatten Unfrieden nach Vierbrücken gebracht, wenngleich die erste Unruhestifterin eines Tages einfach wieder abgereist war, ohne sich für einen der Schuster-Männer zu entscheiden, während Walli geblieben war. Sie wurde zwar des Öfteren belächelt, ansonsten aber in Ruhe gelassen, weil ihr verstorbener Ehemann in der Dorfgemeinschaft hoch angesehen gewesen war. Mariannes Vater hatte immerhin über Jahre hinweg die Aufgabe des Ortsvorstehers innegehabt.
Und jetzt gab es da diese Liv. Eine weltoffene Frau, die unübersehbar über Geld verfügte, bereits weit herumgekommen war, den jungen Männern im Ort den Kopf verdrehte und … Motoren reparierte? Wieder eine Fremde, ein Eindringling, ein Unruhestifter.
Marianne hob die akkurat gezupften Augenbrauen. Was sollte sie nur von diesem widersprüchlichen Wesen halten? Jedenfalls war Liv vom ersten Tag an darauf aus gewesen, hier für Chaos zu sorgen. Und das konnte Marianne einfach nicht zulassen. Liv Benedikts-wie-auch-immer musste wieder verschwinden. Und das möglichst bald, ehe sie noch mehr Schaden anrichten konnte.
„… irgendwie himmlisch bewundernswert, findest du nicht auch, Anni?“
Die Angesprochene hob den Kopf und schaute Ursula irritiert an, da sie die Freundin in den vergangenen Minuten völlig ausgeblendet hatte. Sie öffnete bewusst ihre zu Fäusten geballten Hände und strich das knapp über den Knien endende Kostüm glatt. Mit einem Blick auf Ursulas züchtige, altbackene Servieruniform ärgerte sie sich plötzlich darüber, noch immer Wert auf eine ansprechende Garderobe zu legen. Warum zog sie sich nicht an wie all die anderen Frauen hier, mal abgesehen von ihrer Mutter und Rita? Warum hielt sie an etwas fest, was der Welt dort draußen entstammte, die einfach nur oberflächlich, kalt und grausam war? Gleich morgen würde sie das ändern, beschloss sie. Robustes Schuhwerk, bequeme und pflegeleichte Röcke und Blusen waren in dieser Gegend doch viel praktischer. Und weitaus passender.
„Entschuldige bitte, Liebes. Ich war gerade in Gedanken. Was sagtest du?“, fragte sie nach, da Ursula offensichtlich eine Antwort von ihr einforderte.
„Sich so modern zu kleiden und gleichzeitig etwas von Motoren zu verstehen, ist doch etwas ganz Besonderes, oder? Himmlisch bewundernswert, nicht wahr?“
„Du meinst wohl, widersprüchlich und in Anbetracht des ruinierten Kleides ziemlich dämlich und verschwenderisch?“, brach es aus Marianne heraus.
Ursula zuckte zusammen, als hätte Marianne ihr eine Backpfeife verpasst.
„Wir sind nicht weniger besonders oder bewundernswert als diese … Liv. Nur weil du für deine Eltern arbeitest und diese unmögliche Kleidung tragen musst, bist du nicht weniger wert als sie. Nein, Ursula. Du bist sogar viel wertvoller. Sicher hat sich dieses alberne Ding noch nie die Hände schmutzig gemacht! Außer wenn sie ihrer seltsamen Leidenschaft für ölverschmierte Maschinen nachgeht. Und die rührt vermutlich daher, dass sie dem armen Nachbarjungen, der nie eine Chance bei ihr hatte, weil er nicht zu den oberen Zehntausend gehörte, gehörig den Kopf verdrehen wollte.“
„Marianne!“
„Nein, mach dich dieser Liv gegenüber nicht selbst klein. Das werde ich nicht zulassen. So wie ich auch verhindern werde, dass –“ Marianne brach ab, da Ursula ihr mit dem Fuß ziemlich unsanft vors Schienbein trat. Alarmiert wandte sie den Kopf und sah Liv, die nur wenige Meter von ihr entfernt stand und ihre Tirade ganz sicher mit angehört hatte.
Marianne verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das jede andere Gleichaltrige entweder beruhigt oder in ihre Schranken verwiesen hätte – je nachdem, wie gut sie Marianne kannte. Oder wie ausgeprägt ihr Intellekt war. Liv verleitete es jedoch lediglich zum Hochziehen der Augenbrauen, ehe sie sich dem Binokel-Tisch zuwandte.
„Mist“, flüsterte Marianne. Sie wusste sehr genau, dass sie sich gegenüber einer Touristin höchst anständig zu verhalten hatte. Andererseits fragte sie sich jeden Tag mehr, ob diese junge Frau tatsächlich nur eine Touristin war. Es sprach einfach zu viel dagegen. Vielleicht sollte sie mal die Fühler ausstrecken und versuchen, etwas über Livs Herkunft und ihre Pläne herauszufinden. Falls Liv sich hier niederlassen wollte, weil sie in Vierbrücken eine zukunftsträchtige Touristenhochburg sah, und vorhatte, hier eines dieser hässlichen, viel zu großen und ausschließlich für zahlungskräftige Schnösel bezahlbaren Hotels zu bauen … dann würde Marianne all jenen, die Liv jetzt plötzlich hofierten, die Augen öffnen.
Ursula schwieg nun ebenfalls, und obwohl sie beide den Blick auf das Modejournal gerichtet hielten, war Marianne sich sicher, dass auch ihre Freundin dem Gespräch am Nachbartisch lauschte.
„Was bedeutet scho räd?“, fragte Liv gerade und betonte die Worte schrecklich übertrieben und falsch.
Edmund rieb sich über die Bartstoppeln und meinte: „Das kommt ein bisschen auf den Zusammenhang an, in dem es gesagt wird, Fräulein Liv.“
„Ich würde sagen, es bedeutet, dass etwas gut ist, genau so, wie es ist“, kam Otto ihm zu Hilfe.
„Oder“, wandte Julius ein, „dass etwas gut gemacht wurde, es aber besser sein könnte.“
„Es kann aber auch bedeuten, dass jemand sich entschuldigt, eine Entschuldigung annimmt oder ein an ihn gerichtetes Lob aus Bescheidenheit abschwächen möchte.“ Otto schaute Beifall heischend in die Runde.
„Vielleicht auch –“ Edmund wurde von Livs glockenhellem Auflachen unterbrochen, und prompt zeigte sich auf seinem Gesicht ein vergnügtes Schmunzeln.
„Seien Sie mir bitte nicht böse, aber das ist mir zu kompliziert.“
„Niemand ist Ihnen böse.“ Julius beugte sich vor und tätschelte besänftigend Livs Arm, sein Bruder Theodor hüllte sich wie üblich in Schweigen, nickte jedoch beipflichtend.
„Vor allem nicht nach Ihrer gestrigen Heldentat.“
Liv seufzte laut, was Marianne die Augen zusammenkneifen ließ. Meinte die Frau tatsächlich, jemand nähme ihr ab, dass sie für die ihr fremden Kinder Mitgefühl empfand?
„Ich wünschte, das Ganze wäre glimpflicher ausgegangen. Vor allem für Eddi.“ Liv erzählte, was sie über den Zustand des Jungen erfahren hatte, und erntete betroffenes Schweigen. Von Ursula kam ein Geräusch, als ersticke sie an ihrem eigenen Atem.
Marianne schloss gequält die Augen. Es gab in Vierbrücken wohl niemanden, der den kleinen Gänsebetörer nicht gernhatte.
„Ich habe mich bereit erklärt, mich um Fräulein Ansgar zu kümmern, wünschte aber, ich könnte mehr für Eddi und seine Familie tun.“
Marianne hob ruckartig den Kopf. Entschlossen schob sie den Stuhl zurück, sprang auf und näherte sich dem Stammtisch. „Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken, Fräulein … Liv. Ursula und ich haben bereits ein Komitee ins Leben gerufen, dessen Vorsitzende ich bin. Das Komitee wird Eddis Familie jede notwendige Hilfe zuteilwerden lassen.“ Marianne wusste, dass sie hochnäsig klang und ihr Blick wohl töten würde, wäre Liv nur ein klein wenig empfindsamer. Aber sie würde dieser Fremden nicht das Recht zugestehen, eine Hilfsaktion für Eddi ins Leben zu rufen, damit sie auch noch den Rest der offenbar verblendeten Vierbrückener auf ihre Seite ziehen konnte. Dann wären der Frau Tür und Tor geöffnet, das Dorf einzunehmen, es nach ihrem Willen umzukrempeln und ihre Pläne zu verwirklichen, die ganz sicher nicht von Vorteil für die Gemeinde waren.
Marianne warf Ursula einen auffordernden Blick zu. Es dauerte einen Moment, bis diese sich erhob und zu ihr gesellte, wobei sich Marianne über den verwirrten Ausdruck in Ursulas Gesicht ärgerte. Konnte sie denn nicht wenigstens so tun, als wäre dieses Hilfsangebot kein spontaner Einfall gewesen, sondern bereits mit ihr abgesprochen? Wenigstens hielt sie den Mund.
„Das ist ein wunderbarer Gedanke“, kam es von Liv, begleitet von einem so offenen Lächeln, dass es Marianne nur noch misstrauischer stimmte.
„Ja, unsere Marianne ist wirklich eine Meisterin darin, Veranstaltungen zu organisieren“, lobte Otto. Marianne lächelte Ursulas Großvater strahlend an.
„Seit vier Jahren organisiert sie das Stadtfest und die Weihnachtsfeierlichkeiten. Sie ist auch stellvertretende Vorsitzende des Kulturvereins, nicht wahr?“
Marianne nickte weiterhin lächelnd, wenngleich sie das Wort „stellvertretende“ noch immer ärgerte. Bei der letzten Wahl hatte es Bärbels und Bernds Mutter geschafft, den Vorsitz zu ergattern.
„Wobei letzte Weihnachten etwas übertrieben wurde“, brummte Edmund, was Marianne dazu verleitete, ihm einen giftigen Blick zuzuwerfen, den er gekonnt übersah. Dahin gehend war er wie sein Sohn Ben: nervtötend gelassen.
„Das lag daran, dass Curt es versäumt hatte, mich noch vor den Planungen über den bedauernswerten Zustand der Stadtkasse zu informieren“, rechtfertigte sie sich.
„Jedenfalls war unsere Ortschaft selbst vom Mond aus zu sehen. Erleuchtet wie ein Christbaum, der Feuer gefangen hat“, setzte Julius unbarmherzig noch einen drauf.
Marianne zog einen Schmollmund. Diese alten Männer durften sich einfach zu viel erlauben. Aber sie war nun mal deutlich jünger und musste ihnen deshalb einen gewissen Respekt erweisen. Zu ihrem eigenen Erstaunen schüttelte Theodor diesmal den Kopf. Offenbar stimmte er seinem Bruder nicht zu, was das „Zuviel“ an Weihnachtsbeleuchtung betraf. Doch leider äußerte er sich nicht verbal dazu.
Marianne straffte die Schultern und erklärte: „Wie dem auch sei, ich werde weitere Frauen in das Komitee bitten, damit wir diverse Hilfsaktionen planen können. Eddi der Vierte bekommt in dieser schweren Zeit alle Unterstützung, die er braucht, ebenso seine Familie.“
„Ich würde mich gern betei–“
„Sie sind eine Touristin und reisen bald ab, Fräulein Liv“, ging Marianne mit ihrem perfekt einstudierten liebenswertesten Tonfall sofort dazwischen. „Die Aktionen werden über einen deutlich längeren Zeitraum laufen. Das ist zwar ein ehrenhaftes Ansinnen Ihrerseits, aber sicher nicht sinnvoll. Ich denke ohnehin, Sie haben bereits genug … getan.“
Liv sah sie so eindringlich an, dass es Marianne ein wenig mulmig zumute wurde. Die meisten anderen jungen Frauen ließen sich von ihrem Lächeln und dem freundlichen Tonfall täuschen und bemerkten ihre kleinen Seitenhiebe nicht. Liv gehörte definitiv nicht zu dieser Gruppe, was vielleicht daran lag, dass sie ein paar Jahre älter war. Keinesfalls durfte Marianne den weiblichen Eindringling unterschätzen.
„Na gut, mir bleibt ja noch Fräulein Ansgar.“
Mit einem Blick auf Livs weiße, an den Waden endende Hose und in Erinnerung an die Art von Garderobe, die sie bisher zur Schau getragen hatte, vertiefte sich Mariannes Lächeln. Ein Hauch vorfreudiger Schadenfreude wollte sich in ihr Herz stehlen. Sie vertrieb diese jedoch schnell wieder. Dafür war Eddis Lage wirklich zu ernst. „Diese Aufgabe wird sie sicher genug … fordern.“
„Sicher.“ Liv verabschiedete sich herzlich von den Binokel-Männern, warf Marianne einen weiteren prüfenden Blick zu, bedachte die schweigsame Ursula mit einem Lächeln, das seltsam mitfühlend daherkam, und stampfte mit ihren Krücken wenig grazil davon.
Der erste Sieg ist schon mal errungen. „Komm, Ursula, wir beginnen sofort mit den Planungen.“
„Ja, natürlich“, lautete die unsichere Antwort ihrer Freundin. Nachdem sie sich wieder gesetzt hatten, kramte Marianne in ihrer Handtasche nach einem kleinen Block und einem Stift.
„Mir ist das wirklich ernst, Ursi“, flüsterte Marianne der Freundin zu. „Wir werden Eddi und seiner Familie tatkräftig unter die Arme greifen.“ Sie hatte bereits einige Ideen, von denen die meisten sicher einfach umzusetzen wären. Nicht umsonst waren Veranstaltungen unter ihrer Federführung von einem herausragenden Erfolg gekrönt, sah man einmal von der Höhe der Rechnung für Elektroartikel letzte Weihnachten ab, die durchaus mit der der hiesigen Mittelgebirgsgipfel vergleichbar war. Und von der Stromrechnung für die Gemeindekasse.
Marianne hatte recht, fand Liv, ärgerte sich aber dennoch über die Abfuhr, die sie ihr vorhin erteilt hatte. Immerhin hatte Liv es ernst gemeint mit ihrem Angebot, Eddi zu helfen. Andererseits war dies schon wieder eine Spur zu viel gewesen. Zu spontan, zu herausfordernd für ein kleines Dorf, das seine Touristen liebte und ihnen gleichzeitig misstrauisch gegenüberstand. Sie hatte einmal mehr ihren Fuß aus einem der sprichwörtlichen Fettnäpfchen ziehen müssen. Ihre Füße litten hier einfach zu viel.
Liv hatte sich eine dunkle Hose und ein älteres Blusentop angezogen, dazu trug sie ein Chiffontuch über dem Haar, das sie unter dem Kinn gekreuzt und im Nacken zusammengebunden hatte. Ihren Gehhilfen zum Trotz schritt sie energisch voran, als hoffe sie, so ihren unangenehmen Gedanken entkommen zu können. Waren all diese Vorkommnisse nicht ein deutliches Zeichen dafür, dass sie nicht in diese Welt passte? Dort, wo sie herkam und die vergangenen Jahre verbracht hatte, war sie kein Fremdkörper. Sie war niemals negativ aufgefallen, hatte gewusst, was sie sagen musste und wann sie zu schweigen hatte. Warum nur fiel ihr das hier so schwer?
Neben einer der fünf Brücken zögerte sie kurz und betrat dann das hölzerne Gebilde, um sich weit über die massive Brüstung hinauszulehnen. Schäumend und spritzend gurgelte der Fluss unter ihr hindurch. Entsprach ihre Erinnerung der Wahrheit oder waren ihr ihre Fehltritte nur nie widergespiegelt worden? Hatte man sie – so wie sie es selbst gelernt hatte – nur heimlich belächelt und hinter vorgehaltener Hand über so manche ihrer Taktlosigkeiten getratscht? Woher nahm sie sich das Recht zu behaupten, dass ihre Worte nie verletzend gewesen waren, sie nie falsch gehandelt hatte? Schließlich schwieg man sich, einem Höflichkeitskodex folgend, in der Gesellschaftsschicht, in der sich ihre Großmutter bewegte, über derlei aus.
Liv lehnte die Gehhilfen an das Geländer, legte die Arme auf die Brüstung und betrachtete den silbern glitzernden Fluss in seinem Flussbett. Das Wasser war stets in Bewegung und folgte dem Weg, für den es bestimmt war. Doch welcher Weg war der richtige für sie? War es wirklich richtig zu versuchen, an diesem entlegenen Ort eine Entscheidung zu erzwingen? War es nicht dumm von ihr gewesen, vor ihrer Großmutter zu fliehen? Vor den Ansprüchen an sie, dem vorherbestimmten Lebensweg, der ihr wenig Spielraum für eigene Pläne ließ? Nun hatte sie endlich die Wahl, musste allerdings feststellen, dass sie meist die falsche traf. Hieß das, dass sie für dieses einfache Dasein schlicht nicht geschaffen war? Nicht mehr, seit sie Island und das beschauliche, aber nicht eben einfache Leben dort hatte hinter sich lassen müssen? War sie wirklich, wie ihre Großmutter, ihre Lehrer und ihre Freunde es ihr stets versichert hatten, für Größeres bestimmt? Doch was genau war dieses Größere? Was war der Sinn hinter alldem? Warum vereinte sie zwei Welten in sich, die kaum gegensätzlicher sein konnten? Die eine war ebenso wenig falsch wie die andere, so viel wusste sie inzwischen. Nur nicht, in welche sie gehörte.
Liv legte die Stirn auf das raue, von der Sonne angewärmte Holz und seufzte vernehmlich. Sie hatte noch immer keine Antwort auf die Frage, wie ihre Zukunft aussehen sollte. Sie fühlte sich wie ein Zweig, der vom Flusswasser mitgerissen wurde: hilflos der Strömung ausgesetzt und herumgeworfen. Von Zeit zu Zeit blieb er an einem Hindernis hängen, schmeichelnd umspült oder aber unter die Wasseroberfläche gedrückt. So lange, bis er sich befreien konnte und weitertrudelte.
Der Fluss war wie ein Sinnbild für Livs Leben. Sie kannte den Anfang, die Strecke, die sie bereits hinter sich gebracht hatte, und das Ende – und wusste um das Danach in Gottes Ewigkeit. Dort, wo auch ihre Eltern waren und all die anderen Menschen, die sie geliebt und verloren hatte. Aber über das Wegstück dazwischen wusste sie so gut wie nichts. Weder über die Länge noch darüber, wie es verlaufen würde. Nur eines war sicher: Sie wollte sich nicht länger einfach nur dahintreiben lassen. Ihr Leben sollte einen Sinn haben, sie wollte etwas bewirken. Die Frage war nur, ob sie das als Enkelin ihrer Großmutter tun sollte – mit all den damit verbundenen Möglichkeiten – oder ob sie wirklich bereit war, ihren eigenen Weg zu gehen. Einen Weg, der ziemlich sicher mit deutlich mehr Stromschnellen versehen sein würde als der erste.
„Was soll ich tun?“, fragte sie mit weit zurückgelegtem Kopf in Richtung Himmel. Lange verharrte sie und schaute den trägen Wolken auf ihrem Weg gen Westen zu. Sie lauschte dem Rascheln der Blätter an den Bäumen und der Pelargonien in den Blumenkästen am Brückengeländer, das die Melodie des Flusses sanft untermalte, bekam aber wieder einmal keine Antwort. Dies konnte nur eines bedeuten … Gott sagte: „Warte.“
Diese Antwort hatte sie schon in Hamburg bekommen, noch bevor sie mit Annemarie über deren Urlaub hier in Vierbrücken gesprochen hatte. Daraufhin war der Wunsch in Liv erwacht, sich hier zu verstecken und Antworten auf ihre Fragen zu suchen. War demnach auch diese Reise ein Fehler gewesen? Hätte sie die Antworten auf ihre drängenden Herzensfragen vielmehr in den Häusern und Straßen der Hansestadt finden können? War sie womöglich vor Gott davongelaufen wie einst Jona, den erst ein drohender Schiffbruch hatte umkehren lassen? Kamen all die kleinen Missgeschicke hier den ersten aufbegehrenden Wellen eines Sturmes gleich, der sie scheitern lassen und dazu zwingen würde, geschlagen nach Hamburg zurückzukehren?
„Was soll ich tun?“ Sie senkte den Kopf und betrachtete ein in einem seichteren, ruhigeren Flussabschnitt gründelndes Entenpaar. „Fräulein Ansgar nicht verhungern lassen!“
Entschlossen ergriff sie ihre Gehhilfen, humpelte auf die Straße zurück, überquerte diese und arbeitete sich keuchend die steile Seitenstraße hinauf. Schließlich bog sie nach links ab, um in die Parallelstraße zur Hauptstraße zu gelangen. Bald schon hatte sie die letzten Häuser Vierbrückens hinter sich gelassen und näherte sich dem Sägewerk, von wo aus ihr Motorengeräusche und das mal kreischende, mal dröhnende Lärmen der Sägen entgegenhallten.
Der angenehme Duft von Holz lag in der Luft, als sie den Hof überquerte, über den der Wind Holzstaub und kleine Sägespäne wehte. Schließlich stand sie vor der Tür des Wohnhauses und läutete. Hanna öffnete ihr. Sie trug noch den Morgenmantel, ihr Haar war zerzaust und die Augen rot vom Weinen. Einem Impuls folgend schloss Liv sie in die Arme. Hanna lehnte sich schwer an sie und schluchzte sofort los. Liv ließ die junge Frau weinen, bis sie sich ihr entzog und eine Entschuldigung murmelte.
„Sie brauchen jeden Trost, den Sie bekommen können, und ich bete weiter, dass es Ihrem Bruder bald wieder besser geht. Ist es in Ordnung, wenn ich bis dahin Fräulein Ansgar versorge?“
„Das … ist sehr nett von Ihnen. Ich mag die Gans nicht sonderlich und sie mich auch nicht.“
„Der Veterinär hat mir aufgeschrieben, was ich zu tun habe.“
„Das ist gut. Ich könnte jemanden gebrauchen, der mir aufschreibt, wie ich den Betrieb führen muss. Der Lohn sollte heute ausbezahlt werden und –“ Hanna schluchzte auf, wandte sich ab und knallte Liv die Tür vor der Nase zu.
Verständlich, fand Liv, immerhin war Hanna völlig überfordert und wollte das einer Fremden gegenüber nicht eingestehen. „Ich finde Fräulein Ansgar schon“, sagte sie laut zu der geschlossenen Tür und sah sich suchend um. Da sie das Gehege von hier aus nicht sah, vermutete sie es hinter dem Haus. Tatsächlich fand sie die Gans, die bei ihrem Anblick sofort zu zetern begann, etwas abseits eines Anbaus, der wohl als Gartenhaus diente. Ein Drahtzaun, an Rundholzbalken befestigt, zäunte das Stück nackte Erde ein. Das Gehege kam Liv sehr klein vor, was erklärte, weshalb Eddi regelmäßig Ausflüge mit dem Tier unternahm. Vermutlich brauchte das Federvieh – ähnlich wie ein Hund oder ein Pferd – seine Bewegung.
„Tut mir leid, Fräulein Ansgar, aber ich werde mit dir ganz sicher nicht spazieren gehen. Dafür kennen wir zwei uns einfach nicht gut genug.“ Liv lehnte verschmitzt lächelnd die Krücken an den Maschendraht. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie genau diese Worte zu einem ihrer Verehrer gesagt.
Sie zog das Blatt Papier hervor, das Ben ihr gegeben hatte, faltete es auseinander und hob, verwundert über die erstaunlich hohe Anzahl an Halbsätzen, die Augenbrauen. Sie überflog willkürlich ein paar davon.
Verschlag auf der Rückseite des Gartenhauses. Drahtschlinge lösen. Wenn die Gans mindestens fünf Meter entfernt ist. Schnell eintreten, las sie und verdrehte die Augen. Hatte Ben es wirklich für nötig befunden, ihr jeden einzelnen Handgriff zu beschreiben? Hielt er sie denn für eine … dumme Gans? Es fehlte nur noch, dass er ihr auftrug, das Atmen nicht zu vergessen, und ihr vorschrieb, wie groß ihre Schritte sein durften.
Kopfschüttelnd hob Liv die Drahtschlaufe an, die über zwei dicht beieinanderstehenden Holzpflöcken lag und das schmale Tor verschloss. Als sie das Gatter aufschob, kam Fräulein Ansgar flügelschlagend und wild kreischend auf sie zugestürmt. Instinktiv duckte Liv sich. Sekunden später fand sie sich auf dem Rücken liegend wieder. Die Gans hatte sie einfach überrannt.
„Nein!“, stieß sie hervor, sprang auf und wollte dem Federvieh hinterhereilen, vergaß dabei jedoch ihre malträtierten Fußsohlen und den noch immer leicht schmerzenden Knöchel. Der Schmerz brachte sie ein zweites Mal zu Fall. Jetzt bäuchlings im Schmutz liegend, musste sie mit ansehen, wie Fräulein Ansgar aus dem Garten stürmte und dabei äußerst zufrieden mit dem Kopf wackelte.
Livs Blick fiel auf das Blatt Papier, das ihr aus den Händen geglitten war und nun vor ihr lag. Der nächste Punkt auf Bens Liste hieß: Mit einer Hand kräftig wedeln. Hält die Gans davon ab, ins Freie zu stürmen.
Liv, die viel zu lange die Luft angehalten hatte, stieß diese nun lautstark hervor. Sie schloss die Augen und ließ ihr Gesicht zurück auf den staubigen Boden sinken. So viel zu der dummen Gans!
Ben verließ das Gebäude, in dem Curt sein Büro hatte, und blinzelte in die Frühlingssonne. Am Vortag hatte er mit Heinrich Vogel, dem Förster, und dessen ältestem Sohn Robert gesprochen, der inzwischen in die Fußstapfen seines Vaters getreten war. Den beiden bereitete dieser viel zu sonnige und damit trockene Frühling hinsichtlich des Waldes und der darin lebenden Tiere Sorge, den Landwirten ging es vermutlich nicht anders. Ben hatte daher bei ihrem Ortsvorsteher vorsprechen wollen, um die Möglichkeiten auszuloten, die es gab, um übermäßigem Baumsterben, dem Verlust der Tier- und Pflanzenvielfalt und dem drohenden Ernteausfall entgegenzuwirken.
Allerdings war Curt noch nicht da, obwohl seine Bürozeit längst begonnen hatte. Also musste Ben später wiederkommen, sobald seine Kundschaft es zuließ. Er überquerte die kleine Seitenstraße und sah auf, als sich ihm hastige Schritte näherten. Offenbar hatte Curt es nun doch eilig, in sein Büro zu gelangen. Selten einmal hatte Ben den Freund dermaßen schnell laufen sehen, es sei denn, sie spielten Fußball.
„Gut, dass ich dich treffe, Curt. Ich –“
„Später, Schuster. Später.“ Curt klopfte ihm im Vorbeieilen gegen den Oberarm, ließ sich aber nicht aufhalten. Irritiert schaute Ben ihm nach, wurde jedoch abgelenkt, weil auf der Hauptstraße ein Automobil hörbar scharf abbremste. Gleich darauf ertönte ein röhrendes, wütend klingendes Hupkonzert.
Ben schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung, in der Hoffnung, dass sich nicht schon wieder ein Tourist darüber echauffierte, dass die Frauen sich mitten auf der Straße unterhielten oder kleine Kinder darauf spielten. Hier fuhren so selten motorisierte Fahrzeuge, dass sich niemand etwas dabei dachte. Oder war womöglich Liv mal wieder …?
Ben verfiel in einen lockeren Laufschritt und eilte an seiner Praxis vorbei zur Straße. Noch immer drückte der Fahrer einer schwarzen Limousine, unverkennbar das Automobil eines Touristen, in wildem Stakkato auf die Hupe. Vor der Kühlerhaube hatte sich Fräulein Ansgar aufgebaut. Die Flügel weit ausgebreitet, was ihre beeindruckende Spannweite offenbarte, fauchte die Gänsedame den ungeduldigen Fahrer hinter der Frontscheibe an.
Ben stoppte abrupt ab. Jetzt verstand er auch, weshalb Curt es so eilig gehabt hatte, in sein Büro zu kommen und die Tür hinter sich zu schließen, womöglich sogar zu verrammeln. Nur, was machte Eddis Gans hier auf der Straße?
„Liv“, resümierte Ben und winkte dem Autofahrer besänftigend zu, in der Hoffnung, dass der die Geste verstand. Fräulein Ansgar war mit dem schnarrenden, dröhnenden Lärm der Hupe weder zu beruhigen noch würde sie so die Straße freigeben.
Der Beifahrer, ein älterer Herr mit Schnurrbart und Hut, kurbelte die Seitenscheibe halb herunter. Als Fräulein Ansgar jedoch auf die Kühlerhaube sprang und ihren langen Hals in seine Richtung streckte, beeilte er sich, das Fenster bis auf einen kleinen Spalt wieder zu schließen. „He, Bauernjunge.“
Ben drehte sich suchend um, sah aber niemanden außer zwei älteren Frauen, die auf die Fensterbank gestützt dem Aufstand zuschauten. Gleich darauf bemerkte er weitere neugierige Frauen- und Kindergesichter. Sie drückten sich an Ritas Salonfenstern die Nasen platt, und auch hinter dem Fenster von Hardis Wartezimmer war es außergewöhnlich voll. Offenbar hatte Fräulein Ansgar ihren ersten großen Auftritt für heute bereits hinter sich. Gleichgültig, wie erstaunlich handzahm sich die Gans in Eddis Gegenwart benahm: Ihre Zickigkeit, sobald der Junge nicht in der Nähe war, entsprach der einer alternden Diva, die von ihrem Publikum vergessen zu werden drohte.
„Ja, du“, kam es etwas gepresst aus dem Auto. Ben deutete mit dem Finger auf seine eigene Brust und erntete ein genervtes Nicken. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, den Touristen und seinen Chauffeur getrost Fräulein Ansgars übergroßer Geduld zu überlassen. Curt konnte ein Lied davon singen, wie lange die Gans es aushielt, jemanden zu belagern. Doch im Hinblick auf den Höflichkeitskodex, den die Dorfgemeinschaft den zahlungskräftigen Touristen gegenüber einhielt, untersagte er es sich. Außerdem war er der Tierarzt. Wer außer ihm sollte sich der wütenden Gans annehmen?
Dennoch zögerte Ben, tastete seine Hosentaschen aber schon mal nach einem Leckerbissen für ein Pferd oder einen Hund ab, fand jedoch nichts dergleichen. Ob er zuerst hinüber zu seiner Praxis gehen sollte, ehe er sich der zeternden und fauchenden Dame widmete?
„Räum das Vieh hier weg oder ich verklage deine Familie wegen Sachbeschädigung und –“ Die zweite Klage, die Binokel-Edmund drohte, ging im Fauchen der Gans unter, die jetzt ihren Schnabel durch den Fensterschlitz schob.
Ben nahm sich vor, sich einen Bart stehen zu lassen. Aber vielleicht duzte der Tourist grundsätzlich jeden jüngeren Mann? Oder solche, die sich keine Limousine und den dazugehörenden Chauffeur leisten konnten? Plötzlich verstand er, warum Ursulas Selbstbewusstsein dem eines Marienkäfers glich. Seines war deutlich größer, nicht jedoch in Gegenwart der gefiederten Dame. Vor ihr hatte auch er eine gehörige Portion Respekt. Dennoch trat er langsam vom Gehsteig hinunter auf die Straße. „He, Fräulein Ansgar, ist ja gut, beruhige dich. Hat Liv meinen Zettel ignoriert? Und wir beide müssen das jetzt ausbaden.“ Indem wir von dem Touristen beschimpft werden.
Die Gans rutschte von der Motorhaube und wandte nun Ben ihre Aufmerksamkeit zu. Wenigstens fauchte sie nicht mehr, außerdem nahm sie die Flügel ein klein wenig herunter. Diese Gelegenheit nutzte der Chauffeur und gab Gas. Fräulein Ansgar fuhr herum und folgte flügelschlagend dem Auto, Ben verfolgte sie. Er kam ihr so nahe, dass er sich nach vorn warf, um sie sich zu schnappen. Doch Fräulein Ansgar schien auch am Hinterkopf Augen zu haben. Sie sprang nach links, und Ben landete unsanft auf den Pflastersteinen.
„Ach, wie schade! Beinahe hätten Sie sie gehabt.“ Livs Stimme ließ ihn einen Brummlaut von sich geben, ehe er den Kopf zu ihr umwandte. Sie stand am Straßenrand und hielt eine ihrer Krücken wie ein Schwert vor sich. Ihr Gesicht war hochrot, wobei das aufgrund der Staubschicht, die es bedeckte, kaum auszumachen war.
„Was haben Sie getan?“, fragte er.
„Die richtige Frage wäre wohl, was ich nicht getan habe.“ Sie wedelte mit der freien Hand – viel zu spät, wie sie beide und Fräulein Ansgar wussten. Diese hatte inzwischen die Verfolgung des brummenden Monstrums aufgegeben und kam zurück.
Liv riss die Augen auf, als das Tier auf sie zukam. Sie fuchtelte wild mit einer Krücke in der Luft herum und bewegte sich rückwärts auf das Gartentor zu, durch das sie gekommen sein musste. Offenbar hatte sie Fräulein Ansgars Abkürzung durch die Gärten gefunden.
Ben stand langsam auf, da er die Gans nicht auf sich aufmerksam machen wollte, was Liv nicht entging und ganz offensichtlich nicht behagte.
„Tun Sie doch etwas, Dr. Schuster. Sie sind Tierarzt! Sie müssen doch wissen, was jetzt zu tun ist!“ Ihre Stimme war seltsam schrill. Noch immer fuchtelte sie wie ein Fechtanfänger mit ihrer Gehhilfe herum, mit der anderen Hand tastete sie nach der Klinke am Gartentor. Ob der Frau bewusst war, dass die Gans den niedrigen Zaun nur Minuten zuvor schon einmal überwunden hatte? Und das, ohne das Tor zu öffnen?
Ben war für einen Augenblick abgelenkt, fand er das hilflos wirkende, um seinen Beistand bettelnde Mädchen doch sehr … einnehmend. Sonst wirkte Liv immer, als habe sie alles im Griff und stehe über den Dingen. Mit einigen Ausnahmen natürlich.
Fräulein Ansgar verringerte die Geschwindigkeit und legte auch die Flügel an, das drohende Fauchen behielt sie jedoch bei, ebenso die eingeschlagene Richtung. Ben wartete noch einen Augenblick, und gerade als er den Eindruck hatte, Liv würde jeden Moment eine Rolle rückwärts über das Holztor wagen, sprang er nach vorn und bekam die Gans zu fassen. Diese fauchte erbost, unterließ es aber, nach ihm zu hacken. Dermaßen in den Schwitzkasten genommen, wurde Fräulein Ansgar auf einmal vollkommen … ruhig. Ben traute dem Braten nicht und war entsprechend erleichtert, als plötzlich Hardi neben ihm auftauchte und dem Vieh eine Mullbinde um den Schnabel wickelte.
„Offensichtlich schmelzen die garstigsten Damen in deinen Armen förmlich dahin, West-Schuster“, zog Hardi ihn auf.
„Und du hast diese Maßnahme beim weiblichen Geschlecht schon des Öfteren erfolgreich angewendet?“, schoss Ben zurück und deutete mit dem Kinn auf den zugebundenen Schnabel der Gänsedame.
„Der Gentleman genießt und schweigt.“
„Der Gentleman hätte dem Bauernjungen durchaus schon früher zu Hilfe kommen können.“
„Um diesen Spaß zu verpassen? Niemals!“
„Meinen Sie damit Fräulein Ansgars Angriff auf mich?“ Liv klang noch immer atemlos, hob aber schon wieder angriffslustig ihre Krücke.
Vielleicht sollte Hardi sich vorsehen. Ben behielt den Gedanken für sich und wartete gespannt darauf, was als Nächstes folgen würde.
„Den auf den Touristen“, berichtigte Hardi schnell.
„Wozu ich mich übrigens auch zähle.“
„Wenn Sie das sagen.“ Hardi grinste Ben breit an, der, da Liv sein Gesicht sehen konnte, zumindest versuchte, eine Pokermiene aufzusetzen. Plötzlich war auch die Straße wieder von Frauen, Kindern und einigen Männern bevölkert, ein paar von ihnen klatschten Beifall.
Liv kam vorsichtig näher und raunte Ben zu: „Jetzt sind Sie offenbar der Held des Jahres.“
„Glauben Sie mir, länger als einen Tag hält der Ruhm hier nie an.“
„Oh, das heißt, auch meiner verblasst heute Nacht wieder?“
„Wenn sich herumspricht, dass Sie des Lesens nicht mächtig sind, wird das noch viel schneller geschehen.“
„Ich könnte Fräulein Ansgars Ausbruch auf Ihre unleserliche Handschrift schieben.“
„Netter Versuch, Fräulein Liv. Allerdings wurde ich schon in der Grundschule für meine schöne Handschrift gelobt.“
„Auch der Ruhm eines Tages?“
„Den ich immer wieder auffrische.“
„Dann werde ich wohl zugeben müssen, wieder mal gehandelt zu haben, ohne zuvor …“
„… nachgedacht zu haben?“ Ben grinste Liv breit an, in dem Wissen, zielgerichtet ihr Problem aufgedeckt zu haben.
„Übertreiben wir es nicht. Einigen wir uns einfach auf …“
„… Ihren ausgeprägten Eigensinn, der dazu führt, dass Sie unbedingt Ihren Kopf durchsetzen wollen?“
Livs Blick wurde nachdenklich, was in Ben den Verdacht aufkeimen ließ, dass auch dies ein wesentliches Merkmal ihres Charakters sein musste. Und dass ihr das zuletzt einige Schwierigkeiten eingehandelt hatte. Vielleicht nicht nur hier in Vierbrücken.