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Bildnachweise
Fotos auf dem Front- und Back-Cover: © Egbert Scheunemann
Das Front-Cover zeigt einen Treppengang im minoischen Palast von Knossós, das Back-Cover die Statue des kretischen Freiheitskämpfers Manólis Skoulás (Μανώλης Σκουλάς). Sie steht am Dorfeingang von Anógia (Ανώγεια). Das Hintergrundblau, das sich auf dem Cover findet, ist einem Foto des Himmels über Kreta entnommen.
4., korrigierte und hier und da aktualisierte Auflage 2017
IMPRESSUM
© Egbert Scheunemann – www.egbert-scheunemann.de
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-8482-5505-4
Ich widme dieses Buch meiner Mutter
Stephanie (1918-1979)
und meinem Vater
Hermann (1904-1966),
weil sie außer Arbeit und
sieben Kindern nicht viel hatten
in ihrem viel zu kurzen Leben.
Und ich widme dieses Buch meiner
Tochter Hannah, die gleich
nach ihrer Geburt zurück in
den Himmel wollte.
Anlass dieser vierten Auflage sind vor allem einige notwendige formale und inhaltliche Korrekturen sowie hier und da ein paar Aktualisierungen. Ich danke Mínoas Andriótis (Μίνωας Ανδριώτης) ganz herzlich dafür, dass er mich auf einige Fehler aufmerksam gemacht hat, die sich speziell in griechischen Schreibweisen fanden. Inhaltliche Hinweise, Korrekturen oder Aktualisierungen habe ich größtenteils in Fußnoten ausgelagert, die mit dem Passus „Nachtrag 2017: …“ beginnen. Ansonsten ist die vierte Auflage fast vollständig textgleich mit der dritten Auflage aus dem Jahr 2014.
In aktualisierender Ergänzung zu Kapitel 32 „Als der Fluch des Neoliberalismus über Griechenland und Kreta kam“ sei hier auch auf eine Publikation von mir hingewiesen, die im Dezember 2016 erschienen ist:
Griechenlands Staatsbetriebe im Zwangsverkauf. Vom aussichtslosen Versuch, die griechischen Staatsschulden durch Privatisierungserlöse zu senken. Studie im Auftrag der Rosa Luxemburg Stiftung, Verbindungsbüro Griechenland, Athen, 62 Seiten.1
Zu diesem Kapitel 32 – und manch anderem mehr – lesen Sie aber bitte lieber das gleich folgende Vorwort zur dritten Auflage 2014. An dieser Stelle möchte ich Ihnen nur noch wünschen: Viel Spaß bei der weiteren Lektüre dieses Buches!
Hamburg, im September 2017 Egbert Scheunemann
1 Die Studie kann bei der Rosa Luxemburg Stiftung kostenlos bestellt werden. Ansonsten steht sie hier zum Download bereit:
www.egbert-scheunemann.de/Griechenland-Privatisierung-RLS-Scheunemann-korrigiert.pdf
Zusammengefasst auf nur einer Seite (deutsch/griechisch): www.egbert-scheunemann.de/Ausbeutung-Griechenlands-Scheunemann-D-GR-Version.pdf
Diese Zusammenfassung findet sich (nur in der deutschen Version) ansonsten auch hier in Anhang II (vgl. S. 274 f.).
Auf dem Rückdeckel dieses Buches ist schon seit seiner ersten Auflage 2007 – unter anderem – von den „düsteren Mächten ... des Neoliberalismus“ die Rede. Ich hätte mir nicht albträumen lassen, dass der primäre – also zum Glück nicht einzige – Anlass für die Publikation dieser dritten, wesentlich erweiterten Auflage meines Buches „Rebellen auf Kreta“ der neoliberale Fluch sein würde, der nach 2008 in Form einer volkswirtschaftlich geisteskranken Kaputtsparpolitik über Griechenland und Kreta gekommen ist – aufgeherrscht von Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Zentralbank (EZB), Europäischer Union (EU) und in dieser Troika eingepeitscht vor allem von Großdeutschland. Er hat zu ökonomischen und sozialen Verheerungen geführt, wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg und dem nachfolgenden griechischen Bürgerkrieg ihresgleichen suchen.
In den „Nachträgen 2014“ ab Seite 219 finden Sie, liebe Leserinnen und Leser, also zunächst das neue Kapitel 32 „Als der Fluch des Neoliberalismus über Griechenland und Kreta kam“, in dem ich allgemein verständlich und in klaren und vor allem deutlichen Worten darzustellen und zu analysieren versuche, wie, warum und mit welchen Folgen der Fluch des Neoliberalismus Griechenland und Kreta heimgesucht hat. Meine Worte werden, dies schon vorab, derart deutlich sein, dass kein Auge trocken bleiben wird und – es spricht der Humanist, Aufklärer und politische Ökonom – meine tiefe Verachtung gegenüber der ebenso menschenfeindlichen wie volkswirtschaftlich strohdummen neoliberalen Wirtschaftstheorie und -politik und ihren Exekutoren, also dem politischen Personal des Kapitals, unmissverständlich zum Ausdruck kommt. Versprochen!
Zum Glück finden sich in den „Nachträgen 2014“ jedoch nicht nur politikökonomische Abhandlungen. Im neuen Kapitel 33 „Und was es sonst zu berichten gibt seit 2008“ mache ich genau das, was der Titel verspricht. Denn es gibt auch wieder Schönes, Amüsantes und Verrücktes zu berichten von der Insel der Rebellen und Chaoten, von der ich schon so viel Schönes, Amüsantes und Verrücktes berichten durfte.
Ansonsten sind die Kapitel 1 bis 31 nahezu unberührt. Ich habe nur offenbare formale Fehler korrigiert, die sich in der zweiten Auflage noch fanden. Dazu gehörte auch die Angleichung der Schreibweisen an die Regeln der deutschen Rechtschreibreform von 2006, die ich bislang etwas großzügig interpretiert hatte, und die Orientierung an den Empfehlungen der Duden-Redaktion in Zweifelsfällen und bei möglichen Mehrfachschreibweisen.
Inhaltliche Ergänzungen und Aktualisierungen wurden ausnahmslos in Fußnoten ausgelagert, die jeweils mit dem Passus „Nachtrag 2014: ...“ beginnen. So können Leserinnen und Leser, die die erste oder zweite Auflage meines Buches schon kennen, einfach und schnell auffinden, was sich im Haupttext inhaltlich verändert hat.
Aber womöglich haben Sie nach all den Jahren auch mal wieder Lust, das gesamte Opus zu lesen! Ihnen und allen ‚Neulingen‘ wünsche ich dabei auf jeden Fall viel Spaß! Und hier und da womöglich sogar einen kleinen Erkenntnisgewinn.
Hamburg, im Mai 2014 Egbert Scheunemann
Fehler sind dazu da, korrigiert zu werden. Leider fanden sich in der ersten Auflage dieses Buches, die Ende 2007 erschienen ist, einige formale und auch wenige inhaltliche Fehler. Diese zu korrigieren, ist der eigentliche Anlass dieser nach nur einem halben Jahr folgenden zweiten Auflage. Natürlich packe ich auch die Gelegenheit beim Schopfe, Neuigkeiten zu Personen und Ereignissen, die schon in der ersten Auflage angesprochen worden sind, nachzutragen und hier und da das eine oder andere neue Thema anzusprechen. Auch stilistisch habe ich manches überarbeitet. Aber im Großen und Ganzen hat sich gegenüber der ersten Auflage nicht viel verändert.
Ich möchte auch die Gelegenheit nutzen, um mich bei zwei Leserinnen und einem Leser (und guten Freund) dafür zu bedanken, dass sie mir die Fehler, die sie in meinem Buch gefunden haben, freundlicherweise gleich zugeschickt haben: Renate Gölzenleuchter, Anna Boskamp und Michael Böttinger. Besonders Anna Boskamp (sie lebt seit fast zwanzig Jahren auf Kreta, spricht nahezu perfekt Griechisch und ist politisch stark interessiert und engagiert) hat mich auf einige sprachliche und inhaltliche Ungereimtheiten hingewiesen, die sich in die erste Auflage eingeschlichen hatten. Ich werde an den entsprechend korrigierten Stellen jeweils auf die Hinweise von Anna Boskamp aufmerksam machen.
Bedanken möchte ich mich auch bei den viele Leserinnen und Lesern, die mir spontan geschrieben haben, um mir ihre Leseeindrücke zu übermitteln (eine Auswahl von Zuschriften findet sich unter der Adresse www.egbert-scheunemann.de/Rebellen-auf-Kreta-Rezensionen.htm). Natürlich hat mich besonders gefreut, dass die Lektüre meines Buches viele Leserinnen und Leser, um aus einer Mail zu zitieren, „köstlich amüsiert“ hat. Freilich las ich in einem Internet-Forum über Kreta auch, dass mein gelegentlich etwas schräger Humor manchen fast in den Wahnsinn getrieben hat. Ich kann Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, nur versichern: Das war Absicht.
Hamburg, im August 2008 Egbert Scheunemann
Ich saß mit Freunden und während des Urlaubs Zugelaufenen an großer Tafel. Vor etwa zwanzig Jahren.2 Vielleicht waren wir zwölf. Man erzählte viel, aß viel, trank viel. Hoch über Plakiás, einem kleinen Ort an der Südküste Kretas. In einem noch kleineren Bergdorf namens Mýrtios. Bei Wolfgang, dem deutschen Koch einer griechischen Taverne, der die traditionelle kretische Küche pflegte, die über Souflaki und Greek Salad weit hinausgeht. Ja, ach, Imperfekt pflegte – er soll inzwischen entschwunden sein, wie ich neulich hörte.
Auf jeden Fall amüsierten wir uns prächtig. Der Blick von der Terrasse, steil oben am Hang, über die Bucht von Plakiás war und ist fantastisch. Vor allem abends, wenn die Sonne untergeht hinter den hohen Bergen im Nordwesten. Wenn Wolken glutrot, orange, gelb, türkis vom fast ewigen βοριάς (sprich: Woriáss), dem oft stürmischen Nordwind, auch μελτέμι (Meltémi) genannt, über die mächtigen, bis zu 2.500 Meter hohen Felsmassive gewälzt und in den Südhimmel zerfetzt werden. Wenn die Sonne als phänomenaler Feuerball hinter den λευκά όρη (Lefká Óri), den Weißen Bergen versinkt und gegenüber im Osten der Mond als Scheibe oder Sichel aufsteigt: η σελήνη (i Selíni), die Silberne.
Wir sattgefressen, angesäuselt, freudenerstaunt über die göttliche Szenerie. Zu angemessener Zeit kommt die freundliche Wirtin und stellt auf jeden Tisch eine Flasche mit den Worten „Κερνάω εγώ!“ (Kernáo egó): Ich lade ein, geht auf meine Kappe. Ouzo, Anisschnaps, wie sich herausstellt. Oder war es Rakí? Egal. Auf jeden Fall stellt sie auch eine Flasche auf den Tisch hinten in der Ecke, an dem schon seit geraumer Zeit drei ältere Griechen sitzen und tagen. Irgendwann fängt einer, grauer Lockenkopf, grauer Bart, sonnenbraun gegerbtes Gesicht, an zu singen, ganz leise. Als Nordeuropäer, zum ersten oder zweiten Mal auf Kreta (auf Schalke, nicht in Schalke), meint man zunächst, man sei im Orient. Musik in Moll. Nur in Moll. Harmonisches zudem, also mit kleiner Terz und großer Septime, eben orientalisch. Und pechschwarz, melancholisch bis depressiv.
Lebenstrauer. Daseinsschmerz. Auch Weltenglück zum Heulen schön. Tränen. Kummer. Euphorie. Alle anwesenden Touristen, alles Volk verstummt, trotz trunknen, sonst schwatzmauligen Schädels. Andacht.
Irgendwann winkt irgendwer, ein Kreter, zum Zahlen. Auch das können die Kreter. Hier und da sagt man ihnen Geschäftstüchtigkeit nach. Aber wes Volk ermangelte dieser? Und warum ist sie dann noch immer so arm, diese Insel? Materiell zumindest. Nur materiell.
2 Nachtrag 2014: Stand 2007.
Es war 1986, als ich das erste Mal Kreta besuchte. Und seitdem immer wieder. Natürlich zunächst wegen der Wärme und Sonnengarantie bis weit in den Herbst hinein, wegen des wunderbaren Meeres, der schönen, rauen, kargen Landschaften und, armer Student, der ich war, und freier, also armer Politologe und Philosoph, der ich bin, wegen der noch immer recht moderaten Preise für Speis und Trank und Unterkunft. Wegen der vielen Freunde, die ich über die Jahre gewann, natürlich auch. Und ganz besonders auch wegen der griechischen Sprache und der politischen Geschichte dieses ganz unglaublichen, kleinen, rebellischen Volkes. Ich kenne kein anderes Volk, das auf über 4.500 Jahre Geschichte zurückblicken kann – und gerade mal, von der minoischen Zeit gleich zu Beginn abgesehen, auf knappe hundert Jahre in Freiheit. Was müssen so viele Jahrtausende der Unterdrückung, der Eroberung durch immer neue Kolonialmächte, der Knechtschaft, der Sklaverei, des Kampfes, der fast permanenten Erhebung und Revolution in der Seele eines Volkes, falls es das geben sollte, zurückgelassen haben? In der Architektur, in der Musik, in der Literatur, in der Politik – und auf der Getränke- und Speisekarte? Kultur und Seelen in Moll eben.
Die Insel, geografisch, topografisch, botanisch und archäologisch, umspült von der Ägäis im Norden und dem Libyschen Meer im Süden, ist einfach grandios. Etwa 260 Kilometer lang, von Westen nach Osten hingestreckt, im Schnitt dreißig bis vierzig Kilometer breit. Drei hohe Bergmassive, westlich, zentral und östlich gelegen, auf denen oft noch im Mai Schnee liegt, während man an den Küsten schon in zwanzig Grad warmes Wasser, fast überall kristallklar, hechten kann. Der Psilorítis, der höchste Berg Kretas mit 2.456 Metern, thront majestätisch im zentralen Idagebirge. Darunter nach Süden in Westostausrichtung erstreckt sich weithin Kretas Oliven-, Obst- und Gemüsegarten, die Messará-Ebene. Es gibt Gebiete, die Mondlandschaften gleichen, besonders nach der langen sommerlichen Trockenperiode, vor allem im Nordosten, und Landschaften, beispielsweise in der und um die Samariáschlucht im Südwesten, die man im Schwarzwald erwarten würde und nicht am fast südlichsten Punkt Europas.
Es wachsen Bananen, Feigen und vor allem Weinstöcke und Olivenbäume zuhauf. Angepflockte Esel blöken markerschütternd durchs Tal. Heerscharen von halbwild lebenden Schafen und Ziegen ziehen durch die Landschaften. Verschiedene Raubvögel kreisen in der Luft. Meeresschildkröten legen an Stränden der Südküste ihre Eier ab. Eidechsen huschen über Trampelpfade. Geckos kleben hier und da an Wänden oder Decken. Gottesanbeterinnen sitzen regungslos auf Felsen oder Büschen – oder Bettkanten. Skorpione sogar soll es geben. Zum Glück habe ich noch keinen getroffen oder gar morgens im Schuh gehabt. Ich gucke aber noch immer nach. Man kann ja nie wissen. Kakerlaken gibt es dafür umso mehr. Prächtige, mächtige Exemplare. Und Katzen und Hunde in jedem Dorf an jeder Ecke. Hunde, die von den Kretern sogar artgerecht gehalten werden. Nämlich wie Hunde. Im Winter, bei Futtermangel, wenn Touristen und damit Essensreste und andere Abfälle ausbleiben, scheint man sie irgendwie zu entsorgen. Man hat zumindest den Eindruck, wenn man bestimmte Orte regelmäßig besucht. Jedes Jahr sieht man nämlich neue, in der Regel sehr junge Kläffer. Der Kreter ist oft sehr praktisch und wenig sentimental, wenn ihm die Natur störrisch wird.
Aber der Reihe nach. Wie ich über die Jahre Kreta, die Insel, seine Landschaften, Städte und Dörfer entdeckte und seine Menschen kennenlernte, wie ich zu seiner Sprache und Geschichte kam, wie ich dortselbst zwei meiner besten Freunde kennenlernte, Peter, einen Mathematiker, und Hanns, einen Arzt, zwei der hellsten Köpfe, die ich überhaupt kenne; wie aus langen, langen Diskussionen mit ihnen über Gott und die Welt und das Universum und den ganzen Rest ein Buch mit dem Titel Von der Natur des Denkens und der Sprache. Fragmente zur Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und physikalisch-biologischen Wirklichkeit entstand; wie ich dazu kam, ein 550 Seiten starkes Standardwerk über die Geschichte Kretas zu übersetzen, nur um kurz vor Schluss stirnschlagend und innerlich schmunzelnd zu erfahren, dass andere es inzwischen (in leider recht holpriges Deutsch) übersetzt und publiziert hatten – all dies und noch viel mehr möchte ich in den nächsten Kapiteln etwas detaillierter ausbreiten. Fragmentarisch hier und da, ausschweifender dort und sonst wo. Nicht immer alles ganz ernst gemeint und mit einem Augenzwinkern oft. Aber natürlich, räusper, mein Berufsethos ruft mich gerade zur Räson, streng wissenschaftlich, wenn es um die historische und auch sonstige Wahrheit geht. Und vor allem aus Liebe zu dieser wunderbaren Insel und ihren tapferen Menschen.
Ich kenne Peter einen Tag länger als er mich. Das geht. Wenn der eine, Peter, am Abend des Kennenlernens, der einen und vor allem anderen Flasche Rezina sei’s geschuldet, geistig etwas derangiert ist, und der andere, Egbert, gerade nicht. Peter war in köstlicher Gackerstimmung und in Begleitung dreier Medizinstudenten aus Münster: Max, Ullo und Markus. Auch die nur am Wiehern. Bei mir war noch Platz am Tisch. Und man verstand sich sofort. Wurde ein sehr netter Abend, eine lange Nacht – ach was: ein rauschendes Gelage. Soll vorkommen, auf Kreta.
Am nächsten Tage des späteren Morgens nun, man könnte auch sagen: gegen Mittag zum Frühstück sah ich Peter wieder sitzen vor der gleichen Taverne wie am Abend davor. Weil er des Nachts, wie ich mich eindeutig erinnere, vor mir nach Hause torkelte, war nicht anzunehmen, dass er da noch immer saß. Er sah dennoch etwas kümmerlich aus und ganz blass um die Nasenspitze. Ich klopfte ihm, von hinten kommend, auf die Schulter und begrüßte ihn mit Namen: „Hallo Peter!“. Er begrüßte mich, überaus freundlich, wie er immer ist, ebenso. Ohne Namen. Sein freundlicher, aber entgeisterter Blick verriet mir sofort, dass er mich gerade das erste Mal sah. Bewusst.
Das trug sich zu im Jahre 1986 in Damnóni an Kretas Südküste, damals ein wunderschöner Strand östlich von Plakiás mit zwei kleinen Tavernen direkt zum Meer hin. Der Strand ist noch immer wunderschön und die beiden Tavernen gibt es auch noch immer. Nur musste ich, es war wohl 1989, mit Tränen in den Augen selbst zur Kenntnis nehmen, was mir Freunde kurz davor in Hamburg schon berichtet hatten: Links, vom Meer aus betrachtet, in die Bucht hatte in Windeseile eine Art schweizerischer Club Mediterrane eine Ferienhausanlage für teures, bürgerliches Publikum gebaut. Und das sitzt seitdem in den beiden, inzwischen stark vergrößerten Tavernen. Also unsereins sitzt da nicht mehr oder nur noch ganz selten und ganz kurz. Um mal zum Schwimmen zu gehen in die noch schönere – von den Einheimischen wegen der Nacktbader sogenannten – Schweinebucht, dreihundert Meter und einen größeren Felsen weiter in Richtung Osten. Und um danach in Damnóni in der unteren Taverne bei Stávros (ο σταυρός: das Kreuz) auf ein Bier einzukehren und den Verlust der vergangenen alten Zeiten zu bejammern.
Na ja, bejammern. Als ich Stávros in meinem Selbstverständnis als ‚Alternativtourist’ mal fragte, wie er denn zu dem ganzen Massentourismus stehe, ob er keine Angst habe, dass ihm seine ganze Kultur und traditionelle Lebensart abhandenkomme, antwortete er lapidar, dass er ohne die Touristen, ob alternativ oder nicht, schlicht wieder zurückmüsse auf den Steinacker, von dem er komme. Die Diskussion war mit dieser Antwort merkwürdig schnell beendet.
Auf jeden Fall lernte ich in jenen alten Zeiten ohne teures Publikum Peter kennen. Man selbst und alle Strandschläfer, es gab kaum anderes Volk, war studentisch und also armes Publikum, eingeflogen via billigem Nachtflug aus Deutschland und mit Rucksack und Schlafsack unterwegs, manche sogar per Anhalter bis Athen und dann mit der Fähre bis Heráklion. Fast nur Peter war kein Strandschläfer. Er schlief schon immer im Häuschen von Kalliópi, einer netten alten Vermieterin, oben am Hang. Weil da seine Eltern, mit denen er seit seiner frühesten Kindheit nach Kreta fährt, schon immer wohnten zu günstigem Preis. Als Ausgangspunkt für Bergwanderungen etwa.
Kalliópi (Καλλιόπη) war übrigens jene der neun Musen der griechischen Mythologie, die für epische Dichtung, Rhetorik, Philosophie und Wissenschaft zuständig war. Es scheint manches davon abgefärbt zu haben auf Peter, könnte man fast meinen. Aber das nur am Rande.
Auf jeden Fall durchstreifte ich mit Peter in den nächsten Jahren die Insel. Er kannte schon viele Orte, Chaniá im Nordwesten, Soúja im Südwesten oder Paläochóra (auch Paleochóra oder Palaiochóra) noch westlicher – παλιά χώρα, altes Land, alte Gegend. Damals fuhren auf den Straßen und Schotterpisten Kretas noch rundliche alte Busse, wie man sie in Deutschland in den 1950er Jahren baute und sah. Das Gepäck der Reisenden wurde vom Busschaffner, in der Regel unter Mithilfe von mitreisenden Passagieren (nicht selten war ich der Depp), auf das Dach verfrachtet und verschnürt. Ein älterer Busfahrer bewohnte, muss man fast sagen, das Steuer. Vor, über, hinter und links von ihm, wo immer etwas angeheftet oder festgeklebt werden konnte, sah man ein Gewimmel und Gewirr von Fotos des Vaters und Großvaters, der Kinder und Enkel, der Tante aus Athen und des Onkels vorm Werkstor in Wolfsburg, kleiner Ikonen von Heiligen und vergilbter Bilder berühmter Freiheitskämpfer. Zudem Plastikblumensträußchen, kretische Stirnbänder und Kombolói, kleine Perlenkettchen zum Spielen und für den Zeitvertreib.
Jede Fahrt war ein Abenteuer. Schmale, kühn in den Fels geschlagene Schotterpisten hinauf und wieder hinunter, Zentimeter an gähnenden Abgründen vorbei. Feuchte Hände und Angstausbrüche, wenn sich Einheimische vor bestimmten Kurven bekreuzigten. Man wusste damals noch nicht, dass sie das deswegen taten, weil der Bus gleich an einer verborgenen kleinen Kapelle oder einem Heiligenschrein vorbeifuhr. Fragen wir lieber nicht, warum so viele Heiligenschreine an den Straßen und Wegen stehen.
Dann endlich, nach Stunden des Durchrüttelns und Durchschüttelns, am Ziel – Léntas etwa, auch im Süden, mehr in der Mitte. Und immer wieder das gleiche Ritual. Schon an der Bushaltestelle bestürmt von älteren Damen in Schwarz: „Rooms? Rooms?“ Peter wusste aber in der Regel schon, wo wir uns günstig einquartieren konnten. Wenn nicht und man zufällig auch nicht von Trauer tragenden Frauen abgegriffen wurde, ging man einfach zu irgendeinem nett aussehenden Häuschen, auf dem der Schriftzug rent rooms zu lesen war, seltener ενοικιάζονται δομάτια (enikiásondä dhomátia: Zimmer zu vermieten) und fast nie englisch korrekt rooms to let.
Oft saß davor eine obligatorisch schwarz gekleidete Frau älteren Datums. Man sprach sie, ich zumindest damals noch, auf Englisch an, ob denn noch ein schönes Zimmer für zwei Personen frei sei. Sie lächelt, steht auf – und geht ins Haus. Nur um kurz darauf mit der wohl zehn Jahre alten Enkelin zurückzukommen. Die kann nämlich schon etwas Englisch.
Nach kurzer Verhandlung hatten wir unser Zimmer und quartierten uns ein. Geschwindes Duschen in einem kleinen Raume auf dem Flur oder im Hinterhof, an dessen Decke irgendwo in der Ecke einfach eine Wasserleitung endete samt Kipphahn. Danach ins nächste καφενείο (Kafenío) am Marktplatz oder Hafen, bevorzugt in eines, vor dem Einheimische, und das heißt auf Kreta fast immer: alte Kreter hocken, ausschließlich Männer natürlich, um endlich nach den Strapazen der Anreise und des Tages ein göttlich kaltes Bier zu trinken.
Man muss wissen, dass man auf Kreta immer und überall, wo es Bier überhaupt zu kaufen gibt, göttlich gekühltes Bier bekommt. Der Kreter ist oft sehr praktisch und weiß, worum es geht und was wichtig ist. Was kalt sein muss, wird kalt serviert. Sehr kalt. Süßes, Baklavá etwa (Blätterteig mit gehackten Nüsschen – sehr lecker!), trieft in dickem Zuckersirup. Und wo Olivenöl dran ist, ist Olivenöl dran. Garantiert. Unabwendbar. Man gönnt sich ja sonst alles.
Und so oder so ähnlich begann die Geschichte, an deren vorläufigem Ende meine Übersetzung des schon genannten Standardwerks zur Geschichte Kretas stand. Peter, der, wie gesagt, schon lange Jahre vor mir Kreta bereiste und hier und da einen kleinen Griechischkurs in Deutschland besucht hatte, konnte sich mit den neugierig nach Herkunft, Familienstand und Befinden fragenden alten Griechen grundsätzlich unterhalten. Zwar mit Händen und Füßen und Hängen und Würgen, aber immerhin. Ich aber nicht. Das ärgerte mich. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen.
Inzwischen kann ich Griechisch so leidlich – lesend und übersetzend vor allem. Aktiv zu sprechen und vor allem zu hören und das Gehörte zu verstehen, ist aber noch immer ein veritables Drama. Selbst des Griechischen grundsätzlich Mächtige, die gar ein Universitätsstudium des Neugriechischen absolviert haben, verzweifeln bei dem Versuch, fast zahnlose alte Kreter zu verstehen, die schon den einen oder anderen Raki oder Ouzo im Kopf haben, zumal Kreta dialektal als das Bayern Griechenlands gilt. Hochgriechisch oder (bitte mit stimmlosem englischen Tiäitsch – th – aussprechen) καθαρά (sauber) wird etwa Rakí (ρακή), das Wort für Tresterschnaps (nicht zu verwechseln mit türkischem Raki, einem Anisschnaps und damit dem griechischen Ouzo gleich), mit rollendem R (im Griechischen Ρ bzw. ρ geschrieben und rollend Ro ausgesprochen) und vor allem klarem, knallenden Kappa (κ), also reinem K ausgesprochen. Alte Kreter rufen bis spucken dem Wirt hingegen in Form einer phonetischen Kampfhandlung ein kräftiges Raatschi! entgegen. Und der reicht mitnichten ein Taschentuch, sondern stellt die Flasche mehr oder minder Hochprozentigen auf den Tisch.
Man stelle sich einen Japaner vor, der Germanistik in Tokio studiert. Während des Studiums besucht er mehrfach deutsche Universitäten und unterhält sich mit gebildeten deutschen Studenten des Japanischen und noch gebildeteren professoralen Japanologen. Und es klappt schon ganz gut und immer besser mit der Kommunikation. Nach der Doktorarbeit erfüllt er sich und seiner Freundin einen Traum und macht Urlaub in Deutschland. In Oberbayern zum Beispiel nahe der Alpen, weil es da so schön ist laut Prospekten. Mächtig stolz ob seiner Sprachkenntnisse will er seiner Geliebten imponieren – und wird schlichtweg zu heulen anfangen, wenn er einen einheimischen Oberbayern nach dem Weg vom Bahnhof zum Hotel fragt.
Jetzt weiß man, wie’s mir auf Kreta oft ergeht. Auch ohne Geliebte und Bayern.
Mein erstes Motiv, Griechisch zu lernen, war also ein ganz praktisches – Kommunikation. Aber es gab noch mehrere andere Motive, besser: Es entwickelten sich über die Zeit mehr und mehr.
Zunächst muss man wissen, dass Peter, wie gesagt, Mathematiker ist, Fachmensch für formale Sprachen also. Und dann muss man wissen, dass die Philosophie des 20. Jahrhunderts nach dem linguistic turn, der berühmten linguistischen Wende der gesamten Philosophie (Russell, Wittgenstein, Wiener Kreis etc.) zu seinem Beginn, im wesentlichen Sprachphilosophie ist und nicht nur oder auch Philosophie der Sprache – oder des Geistes oder der Natur oder von was auch immer. Mein philosophisches Interesse entwickelte sich schon seit geraumer Zeit in Richtung der Untersuchung des Spannungsverhältnisses zwischen Sprachstrukturen (Gesetze der Grammatik, Regeln der Logik) und Wirklichkeitsstrukturen (Naturgesetze). Nichts ist für mich bis heute spannender und unbegreiflicher zugleich als der Umstand, dass wir mit Bleistift und Papier, durch Manipulationen mathematischer Symbole nach logischen Regeln – physikalische Wirklichkeit vorausberechnen, also voraussagen können. Alles, fast ohne jede Ausnahme, was Inhalt der zwei großen Säulen der modernen Physik ist, der Quantentheorie wie der Relativitätstheorie, wurde zunächst erdacht und berechnet – und erst danach mit entsprechend (entsprechend) konstruiertem Gerät (Teilchenbeschleuniger, Radioteleskope etc.) real nachgewiesen.
Was lag also näher, als meine sprach- und naturphilosophischen Studien mit dem Erlernen einer ganz neuen Sprache von der Pike auf zu begleiten? Und der griechischen Sprache zudem – Sprache der alten Philosophen, Symbolsystem der Mathematik und Theoretischen Physik, neben dem Lateinischen der semantische Steinbruch wissenschaftlicher Begriffsbildung, grammatisch schön vertrackt und also wunderbar geeignet, grammatische Grundstrukturen nicht nur neu zu erlernen, sondern theoretisch zu beleuchten und philosophisch zu interpretieren.
Und dann wandelte da plötzlich dieser helle, schlaue, geschliffene, geschulte Mathematikerschädel namens Peter neben mir – über lange Wochen pro Jahr am Stück. Bis zu sechzehn Stunden am Tag. Ein Privatlehrer in Sachen Mathematik umsonst. Witzig, geistreich, humorvoll, eloquent, sarkastisch, trinkfest, ein Schürzenjäger vor dem Herrn (inzwischen natürlich, liebe Tina, ganz brav und gesetzt) – und zu allem Überfluss auch noch mit erlesenem Musikgeschmack gesegnet. Wo nur, mit welchem Thema sollte man anfangen zu diskutieren, zu philosophieren, zu streiten, zu erörtern, zu deuten? Quantenphysik? Cantors unendliche Unendlichkeiten? Mahlers Neunte? Jan Garbareks Saxophonsound? Oder wie man an die hübsche Blonde am Tisch schräg gegenüber schnellstmöglich ran kommt? Ich hatte das große Los gezogen. Und es kam noch dicker.
Um die Präliminarien meines topografischen, historischen und mentalen Reisebuchs abzuschließen und um zur Darstellung der wirklich wichtigen geschichtlichen, politischen und geistigen Ereignisse voranschreiten zu können, die sich in den letzten 4.500 Jahren und besonders ab 1986 auf Kreta ereigneten, muss ich natürlich noch erzählen, wie ich Hanns kennenlernte.
Dabei möchte ich vorab eine Bitte äußern. Es könnte sein, ja es ist hoch wahrscheinlich, dass meine historischen und mentalen Reiseberichte nicht nur in alle großen Weltsprachen übersetzt werden, sondern auch noch in mehrere indische Dialekte, das Quechua und Sächsische gar. Es besteht also die Gefahr, dass die Orte, von denen ich berichten werde, von Ihnen, sehr verehrte Leserinnen und Leser, in Zukunft regelrecht überrannt werden. Deswegen liebäugelte ich zunächst mit dem Gedanken, das kleine Dörfchen an der Südküste Kretas, in dem sich Peter, Hanns und ich seit Jahren treffen, einfach geheim zu halten oder mit einem Pseudonym zu belegen. Nun heißt ψεύδομαι (sprich: pséwdhomä; das griechische Delta – Δ bzw. δ – wird wie das stimmhafte englische Tiäitsch ausgesprochen, etwa in that) aber lügen. Ein Pseudonym ist also, wörtlich übersetzt, ein gelogener Name. Nun verbietet mir, räusper, aber mein Berufsethos, das schon in Rede stand, zu lügen. Und zudem würden schlaue Leserinnen und Leser, und meine Bücher werden selbstverständlich nur von schlauen Menschen gelesen und geschätzt, aus vielen Informationen, die ich definitiv nicht vorenthalten konnte, wollte ich überhaupt von bestimmten wichtigen Dingen und Ereignissen berichten, schnell rekonstruieren können, um welches Dörfchen es sich handelt – Pitsídia nämlich.
Ein Dörfchen so klein, dass man mit einem kräftigen Steinwurf vom Marktplatz aus wohl alle Dorfgrenzen erreichen kann. Und unter anderem auf bzw. an diesem Marktplatz, oft im (‚im’ heißt auf Kreta immer: draußen ‚im’) Kafenío von Dimókritos (der Wirt heißt, wörtlich übersetzt, wirklich so: Volksherrschaft oder Volkskreter oder Volkskritiker oder Volksrichter3),4 sitzen wir, Peter, Hanns und ich, seit Jahren und ergründen, wie das Universum und der ganze Rest funktioniert und vor allem, in welche Taverne wir abends essen gehen.
Und, liebe Leserinnen und Leser, dortselbst wollen wir auch noch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in Ruhe sitzen! Ungestört von Paparazzi, TV-Teams und Touristenbussen. Also bitte, liebe Leserinnen und Leser: Es gibt so viele Bergdörfchen auf Kreta und noch viel mehr in ganz Griechenland, den gesamten mediterranen Ländern und sogar in Turkmenistan. Fahren Sie dort hin! Es muss nicht unbedingt Pitsídia sein. Und seien Sie vorgewarnt: Es hat seine Gründe, warum Pitsídia im Volkesmunde auch Psychídia heißt. Davon, den dunklen Seiten dieses Ortes, aber erst später mehr.
Nun ja, wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, ihrem brennenden Wunsch, Pitsídia zu besuchen, nach Lektüre dieses Reiseberichts nicht werden widerstehen können, und alles andere ließe mich an meinen schriftstellerischen Qualitäten zweifeln, können Sie uns natürlich bei Dimókritos gerne mal zu einem Bier einladen. Sie erkennen uns drei daran, dass wir oft sehr skeptisch dreinblicken. Warum das so ist, wird noch zu berichten sein. Zwei von uns sind fast immer schwarz gekleidet. Einer, wir haben alle unsere Schwächen, in der Regel etwas farbenfroher.
Bei diesem Stichwort zurück zum eigentlichen Thema. Dortselbst, in Pitsídia also, sozusagen die vorletzte Haltestelle der Überlandbusse von Heráklion im Norden zur Endhaltestelle Mátala im Süden, lernte ich gegen 1991 Hanns kennen.
Es trug sich wie folgt zu. Ich wohnte im Hause einer älteren Dame, Efkosmía (Ευκοσμία) mit Namen, in der Nähe des Marktplatzes. Ihr Nachname Φασσουλάκη (Fassuláki) übrigens heißt übersetzt ziemlich genau – Böhnlein. Dort wohne ich bis heute5, in einem Zimmerchen, man könnte auch Buchte sagen, etwa acht Quadratmeter groß. Aber mit wunderschöner, ehemals weinüberhangener und inzwischen schilfgedeckter Terrasse, von der zwei weitere Zimmer ins Parterre des Hauses abgehen. Efkosmía selbst wohnte – ja wohnte, sie ist im Mai 2008 zu meinem großen Leidwesen gestorben – nicht im Hause, sondern in der Buchte eines Häuschens zehn Meter weiter in derselben Gasse. Die heißt übrigens – ich bin jahrelang achtlos an dem Straßenschild vorbeigelaufen – Οδός Γεωργίου Καζάκη: Odós (Straße) Georgíou Kazáki (man spreche das g in Georgíou wie ein j aus und das ou wie ein u), ist also, wie könnte es anders sein, nach einem der vielen Freiheitskämpfer Kretas benannt.
Auf der Terrasse von Efkosmía nun lernte ich Hanns kennen. Stückchenweise sozusagen – zeitlich gemeint. Er wohnte im zweiten Stock. Dort gibt es zwei weitere Zimmer, sogar mit Blick zum etwa drei Kilometer entfernten Meer. Ich saß morgens nach dem Aufstehen, also gegen Mittag immer auf meiner geliebten Terrasse im Schatten zweier mächtiger Weinstöcke und las oder sinnierte vor mich hin oder tat auch nur so. Hanns kam irgendwann die Treppe runter – auf dem Weg zum Strand – und grüßte mich im Vorbeigehen mit einem berlinerischen „Moin“. Ein neckisches „Grüß Gott“ nistete sich bei diesem alten Atheisten erst später ein. Ich selbst, wie Hanns gebürtiger Berliner, grüßte ebenso knapp mit „Moin“ zurück. Zunächst war ich in der Tat etwas kurz angebunden.
Man muss nämlich wissen, wie Hanns damals aussah. Sein Outfit ließ mich reserviert sein: gelb-schwarz längs gestreifte Hose, cooles Träger-T-Shirt6, Gel (Hanns korrigierte mich später: Beton) im Haar, Designerbrille auf der Nase und in der Regel Kopfhörer in den Ohren. Kleiner Stadtrucksack (Markenfabrikat) mit Walkman drin (und womöglich Börsenberichten als Strandlektüre), lässig über die Schulter geworfen. Ich dachte mir: wahrscheinlich ein schnöseliger Berliner Werbefachmann oder Artdirector, der New Wave, Deutsche Welle, Punk oder ähnlich Entsetzliches hört.
Aber wie herrlich lag ich daneben. Nichts traf zu. Hanns ist Arzt, genauer: Internist (damals an einer Berlin Neuköllner Klinik – von der wird noch zu berichten sein), naturwissenschaftlich ungemein belesen, ein Feinschmecker vor dem Herrn, der beste Koch, den ich kenne, und ein Liebhaber und Kenner klassischer Musik, wie mir persönlich kein zweiter bekannt ist. Die Berliner Philharmonie ist, wie er mal zum Besten gab, quasi sein Zweitwohnsitz.
Ich schloss ihn also umgehend in mein Herz. Wegen dieser Qualitäten natürlich. Aber auch aufgrund der Tatsache, dass er in keiner Weise meinen Vorurteilen entsprach. Diese Vorurteile sind leider oft, ja fast immer – zutreffende Urteile. Die meisten Leute, das hört keiner gern, ich auch nicht, reden und verhalten sich genau so, wie sie aussehen. Nigel Kennedy, der violinvirtuose Klassikpunk, ist eine absolute Ausnahme. Hanns auch. Na ja, er war es damals. Über die Jahre ist er natürlich etwas gesetzter geworden. Den Koch sieht man ihm so ein ganz kleines bisschen an inzwischen. Ohne Abschmecken und Kosten und immer wieder Abschmecken und Kosten, bis die lukullische Kreation perfekt ist, geht’s natürlich nicht. Berufskrankheit sozusagen. Und wie anders sollte Hanns die Überfüllung seines Weinkellers bekämpfen als durch die tägliche Verköstigung edler Tropfen? Sollte er Flaschen exzellenten Rotweins durch Überlagerung kippen und sich in Weinessig verwandeln lassen? Das käme dem Verlust eines guten Freundes gleich. Das ist nicht zu dulden. Also der tägliche Kontrollgang in den Weinkeller. Auch zur Stärkung der Waden.
Hanns ist aber selbst im Kulinarischen – in der hohen Kochkunst ist die Geschmackspolizei bekanntlich sehr streng – gelegentlich ganz unkonventionell. Er liebt zum Beispiel gute Currywürste. Womöglich ist das wiederum eine Standortkrankheit. Die Berliner liegen, wie unter Insidern bekannt, mit den Hamburgern nämlich seit geraumer Zeit in Streit um die Frage, wo die Currywurst zuerst auf den Tisch kam, an der Spree oder an der Alster, und wo es, natürlich, die beste Currywurst gibt. Bei der Auseinandersetzung um die Frage, ob die richtige Currywurst jene ohne oder die mit Haut ist, sollen, wie man hört, inzwischen sogar langjährige Freundschaften auseinandergegangen sein. Nicht blutig, aber den Wutschädel rot wie Ketchup.
Es erklärt sich so, dass ich Hanns zu seinem 50. Geburtstag, den zu begehen wir neulich (um nicht zu sagen: 2005) aufs Köstlichste Gelegenheit hatten – es gab, alles von Hanns selbst gekocht und zubereitet, fünf Vorspeisen, vier Salate, vier Hauptgänge und fünf Desserts zu vorzüglichstem Gesöff –, unter anderem ein Schriftstück folgenden Inhalts schenkte:
„Lieber Hanns, zu Deinem 50. Geburtstag schenke ich Dir diesen Gutschein. Bis ans Ende Deiner oder meiner Tage kannst Du damit jedes Mal, wenn Du in Hamburg bist, in einem der beiden besten Currywurstläden Hamburgs (Du weißt schon wo) eine beliebige Zahl von Currywürsten umsonst verköstigen. Um dämliche Blicke des Currywurstverkaufspersonals bei der Vorlage dieses Gutscheins zu vermeiden, empfiehlt es sich, selbige zu unterlassen und lieber mich in meiner langjährigen Funktion als Kassenwart jenes Clubs skeptischer Rationalisten zur Verköstigung mitzunehmen, dessen titanenhafter Kampf gegen die dunklen Mächte der Esoterik, des Neoliberalismus wie anderen Irrsinns uns seit Jahren in eiserner Freundschaft zusammenschließt. Auch das restliche Clubmitglied Peter… wäre, wie es mir zutrug, nicht abgeneigt, diesen kulinarischen Ereignissen beizuwohnen. Seine seltenen mathematischen Fähigkeiten wären mir zudem eine wertvolle Hilfe bei dem Versuch, den Überblick über die Menge der von Dir verspeisten Currywürste zu behalten. Dein Egbert.“
Was es mit dem Club skeptischer Rationalisten und seinem heldenhaften Kampf gegen die dunklen Mächte der Esoterik und des Neoliberalismus auf sich hat, davon wird noch genauer zu berichten sein.6
3 Auf diese Bedeutungsvariante hat mich Anna Boskamp hingewiesen.
4 Nachtrag 2014: Nach Lektüre der vorangehenden Fußnote (aus der 2. Auflage 2008) verbesserte mich Anna dankenswerterweise erneut (wir duzen uns schon lange, sind inzwischen gut befreundet und streiten uns über alle möglichen politischen Themen wie die Kesselflicker): Die Bedeutung Volksrichter sei nicht nur eine Bedeutungsvariante, sondern wirklich die Bedeutung des Namens Dimókritos. Anna, wenn ich Dich nicht hätte!
5 Nachtrag 2014: Seit ein paar Jahren leider nicht mehr. Davon aber erst in Kapitel 33 mehr.
6 Nachtrag 2014: Herzallerliebste Freundin Caro (mit herzallerliebster Schwester Ela, herzallerliebster Freundin Ilka und meiner angeheuerten bis zugelaufenen Wenigkeit Stammtischkommunardin in unserem Leib-und-Magen-und-Herzen-Griechen „Olympisches Feuer“ zu Hamburg) wies mich mal darauf hin, dass der Ausdruck „Träger-T-Shirt“ eigentlich unsinnig ist: Ein Leibchen mit Trägern sehe ja gerade nicht wie ein T, wie ein T-Shirt aus! Stimmt völlig! Um meine Schmach dokumentiert zu lassen, habe ich das oben aber nicht korrigiert.
Man ist als Politikwissenschaftler, welch Wunder, an politischer Zeitgeschichte und politischer Historie grundsätzlich interessiert. Als Mensch, der schon so oft Kreta besuchte, interessiert mich die politische Geschichte Kretas natürlich um so mehr. Zudem sind die Kreter ein äußerst politisches Volk, streitsüchtig und rebellisch. Die sozialistische, na ja: faktisch eigentlich nur noch sozialdemokratische Panhellenische Sozialistische Bewegung PASOK (ΠΑΣΟΚ: Πανελλήνιο Σοσιαλιστικό Κίνημα; sprich: Panellínio Sosialistikó Kínima) ist auf Kreta weit stärker als auf dem griechischen Festland.8 Der Vorsprung der PASOK gegenüber der konservativen Néa Dimokratía (ΝΔ: Νέα Δημοκρατία) ist in den letzten Jahren zwar geschrumpft, auf Kreta und umso mehr in ganz Griechenland. Seit der Wahl 2004 stellt die ND sogar den griechischen Ministerpräsidenten (Kóstas Karamanlís). Aber bei den Parlamentswahlen 1996 betrug der Vorsprung der PASOK auf Kreta, etwa im Verwaltungsbezirk Heráklion, noch unglaubliche dreißig Prozentpunkte – im Gegensatz zu drei Prozentpunkten in ganz Griechenland. Bei der Wahl 2004 waren es auf Kreta (wiederum im Verwaltungsbezirk Heráklion) immerhin noch zwanzig Prozentpunkte Vorsprung der PASOK – während die ND in ganz Griechenland fünf Prozentpunkte mehr bekam als ihre sozialdemokratische Konkurrentin.
Die Kommunistische Partei Griechenlands ΚΚΕ (Κομμουνιςτικó Κόμμα Ελλάδας), die bei den Wahlen zum Europaparlament 2004 in ganz Griechenland noch fast zehn Prozent bekam, ist auf Kreta zwar eher schwächer als auf dem Festland. Das liegt aber gerade daran, dass die Kreter so rebellisch sind und ihnen jede Form von Zentralismus und Autoritarismus zutiefst fremd ist – auch jene der Jahrzehnte lang moskauhörigen und damit stalinistischen KKE. Die einzige Autorität, die die Kreter akzeptieren, ist die der orthodoxen Kirche. Sie können aber, liebe Leserinnen und Leser, sicher sein, dass das ganz anders aussehen würde, wenn die Kirche, wenn Tausende von Popen und Bischöfen nicht jahrhundertelang im Kampf um Kretas Freiheit, oft mit der Waffe in der Hand, an der Seite des Volkes gestanden wären – ganz im Gegensatz zur fast immer staatstragenden bis obrigkeitshörigen Kirche in den meisten anderen europäischen Staaten während der politischen Freiheitskämpfe der Neuzeit.
Der politische Linksdrall der Kreter zeigte sich insbesondere bei der Volksabstimmung über die Wiedereinführung der Monarchie in Griechenland am 8. Dezember 1974, also direkt nach dem Ende des diktatorischen Obristenregimes (1967-1974). In ganz Griechenland entschieden sich 30,8 Prozent der Wahlberechtigten für die Monarchie und 69,2 Prozent für die Republik – auf Kreta jedoch nur 9 Prozent für die Monarchie und 91 Prozent für die Republik.
Man beobachte auch kretische Männer in den Kafenía.9 Wenn sie nicht Zeitung lesen, diskutieren sie wild gestikulierend und lautstark den politischen Lauf der Dinge. Über die Jahrhunderte der Fremdherrschaft waren die Kafenía oft der einzige Ort, wo politischer Meinungsaustausch möglich war. Parlamentarismus der kleinen Leute sozusagen. Jeder (Mann…) konnte und kann dort mitstreiten, unabhängig von seiner Bildung oder seinem sozialen Status, unabhängig von einem politischen Mandat, von Beziehungen oder materiellem Reichtum.
Oder man erlebe Wahlkampf in einem kleinen kretischen Dorf. Ein Volksfest! Ein Gelage, Gestreite und Disputieren ohne Ende. Versammlung auf Versammlung, Redner über Redner, ohrenbetäubend verstärkt über Lautsprecheranlagen, deren in der Regel viel zu geringe Kapazitäten ohne Gnade und bis zum Anschlag ausgesteuert werden – wieder, nebenbei, keine Chance, Griechisch zu lernen. Man versteht kein Wort. Ich zumindest.
Nicht nur als allgemein politisch Interessierter erliegt man schnell dem Hang der Kreter zu heftigem Politisieren. Auch speziell als Deutscher ist man in die politische Geschichte Kretas in ganz eigener, bedrückender Art verwoben. Die deutsche faschistische Wehrmacht besetzte Kreta im Mai 1941 und wütete dort bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945. Kreta wurde seit dem 11. Jahrhundert vor Christus, nach Invasion der nordgriechischen Dorer, von nicht kretischen und mit dem Beginn der Herrschaft Roms 67 v. Chr. von nicht griechischen Mächten beherrscht, unterjocht, versklavt und ökonomisch ausgebeutet. Erst 1898 erlangte Kreta, direkt nach 229 Jahren Schreckensherrschaft der Türken (Osmanen), politische Autonomie. Und erst 1913 wurde es Teil Griechenlands.
Nach dreitausend Jahren der Unfreiheit und Unterdrückung und nach gerade mal vier Jahrzehnten der Freiheit fielen ab dem 20. Mai 1941 neue, noch schlimmere Unterdrücker – in des Wortes direkter Bedeutung – vom Himmel: Fallschirmjägerdivisionen der faschistischen deutschen Wehrmacht eroberten die Insel unter schweren eigenen Verlusten innerhalb von zehn Tagen. Kann man sich vorstellen, mit welcher Wut und Verzweiflung die Kreter ihre gerade errungene Freiheit verteidigten? Frauen sollen an der Seite ihrer Männer, Kinder an der Seite ihrer Väter und Mütter und Alte an der Seite ihrer Söhne und Töchter gekämpft haben in der Schlacht um Kreta, der Μάχη της Κρήτης. Auch nach der Eroberung des größten Teils der Insel durch die weit überlegene, in jener Zeit technisch modernste und brutalste Militärmaschine der Welt, endete der Widerstand der kretischen Bevölkerung nicht. Der Krieg ging als Partisanenkrieg weiter. Manche Widerstandsnester, etwa in der Samariáschlucht, konnten die deutschen Faschisten bis zum Ende des Krieges nicht erobern und zerstören. Dafür und für die vielen Partisanenangriffe der kretischen Freiheitskämpfer musste die Bevölkerung bitter büßen. Vergeltungsmaßnahmen waren an der Tagesordnung. Ergriffene Partisanen oder Geiseln aus der Zivilbevölkerung wurden hingerichtet, ganze Dörfer niedergebrannt.
Ein furchtbarer Höhepunkt der brutalen faschistischen Herrschaft der Deutschen ereignete sich am 14. September 1943. An diesem Tag wurden in der Gemeinde Viánnos in der Nähe von Heráklion als Abschreckungsmaßnahme 500 Bewohner erschossen – zumeist Frauen und Kinder. Schon am 2. Juni 1941 verübten deutsche Truppen in Kondomári, einem Dorf etwa zehn Kilometer westlich von Chaniá, ein Massaker unter der Zivilbevölkerung. Und einen Tag später, am 3. Juni 1941, wurde das Dorf Kándanos, etwa 50 Kilometer südwestlich von Chaniá gelegen, dem Erdboden gleichgemacht.10
Ich wundere mich seit über zwanzig Jahren, warum ich auf Kreta noch nie eine feindliche Reaktion gegenüber Deutschen erlebt habe – oder warum die Kreter den Friedhof deutscher Soldaten der faschistischen Wehrmacht in Maléme bei Chaniá im Nordwesten Kretas noch nicht mit Bulldozern eingeebnet haben oder mit Knüppeln jene braunen deutschen traditionalistischen Widerlinge ins Meer gejagt haben, die seit Jahrzehnten am 20. Mai jedes Jahres ihres oder ihrer Väter verbrecherischen Überfalls auf Kreta feierlich gedenken. Erst vor wenigen Jahren soll es vor Ort erstmals zu Gegendemonstrationen gekommen sein.