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Impressum

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2018

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2018

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Monika Rolle

Lektorat: Carola Kleinschmidt, Anna Cavelius

Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Lena-Maria Stahl

impressum ISBN 978-3-8338-6787-3

1. Auflage 2018

Bildnachweis

Coverabbildung: Stocksy

Fotos: Stocksy, iStockphoto, Roswitha Kaster, Gaby Gerster

Syndication: www.seasons.agency

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Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

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GRUNDLAGEN DES LEBENS: BINDUNG UND AUTONOMIE

Ob du es willst oder nicht, ob du es so gewählt hast oder nicht, ob du es dir zutraust oder nicht – mit dem Tag der Zeugung deines Kindes, spätestens mit dem Tag der Geburt, bist du eine Beziehung eingegangen. Sobald das Baby auf der Welt ist, hast du die Erziehungsverantwortung für ein kleines Menschenkind. Als Mutter oder Vater müssen wir keinen Erziehungsführerschein machen. Kein Mensch prüft, ob wir für die Aufgabe »Kindergroßziehen« geeignet sind. Man macht es eben, so gut wie man kann und vielfach auch wirklich gut.

Dennoch ist es genau dieses intuitive Tun, welches auch unseren unbewussten Programmen und Verhaltensmustern Tür und Tor öffnet. Man kann gar nicht überschätzen, wie sehr unsere Lebenserfahrungen unsere Sicht auf die Wirklichkeit – und somit auch auf unsere Kinder – beeinflussen. Beispielsweise wirken unsere frühen Beziehungserfahrungen mit unseren Eltern wie eine Blaupause für alle weiteren Beziehungen in unserem Leben. Mit allen guten und weniger guten Facetten. Meist geschieht dies völlig unbewusst. Wenn wir als Kinder zum Beispiel gelernt haben, immer vorsichtig zu sein, weil uns sonst etwas passieren könnte, werden wir höchstwahrscheinlich diese latente Lebensangst auch an unsere Kinder weitergeben. Je genauer wir erkennen, was uns geprägt hat, desto besser können wir als Erwachsene frei darüber entscheiden, was wir als richtig und falsch empfinden. Wir sind dann sozusagen nicht mehr die Sklaven unserer unbewusst erlernten Verhaltensmuster und Einstellungen, sondern können frei wählen.

Wir gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass wir intuitiv wissen sollten, wie man einen kleinen Menschen großzieht, und sprechen dann gern vom elterlichen Bauchgefühl.

Um selbstbestimmter, gezielter und entspannter erziehen zu können, wollen wir uns die tragenden Säulen der Beziehungsfähigkeit einmal genauer anschauen. Die zwei wichtigsten Grundbedürfnisse in unserem Leben sind:

Wie gut wir diese Bedürfnisse leben können, hängt zu Beginn unseres Lebens vor allem von unseren nächsten Bezugspersonen ab – meist sind dies unsere Eltern.

Die Art und Weise, wie unsere Eltern mit uns umgehen, hinterlässt tiefe Spuren in unserem Gehirn. Wir Menschen kommen nämlich mit einem unfertigen Gehirn auf die Welt. In den ersten sechs Jahren unseres Lebens entwickelt es sich ganz gewaltig. Diese Entwicklung verläuft in einem engen Wechselspiel mit unserer Umwelt. Alles, was wir in dieser Zeit lernen, hinterlässt tiefe Spuren in unserem Gehirn. Unsere Nervenzellen verknüpfen sich zu riesigen Datenautobahnen, grundlegende Verhaltens-, Fühl- und Denkmuster werden geprägt. Die ersten Beziehungserfahrungen mit unseren Eltern programmieren unser Gehirn in Sachen Beziehungen. Aus diesem Grund sind die ersten Lebensjahre so besonders prägend für unser gesamtes Dasein. So erwerben wir auch in den ersten zwei Lebensjahren das sogenannte Urvertrauen. Menschen mit Urvertrauen können in sich selbst vertrauen und zudem ein grundsätzliches Vertrauen in andere Menschen aufbringen. Sie haben in der Beziehung zu ihren ersten Bezugspersonen gelernt, dass Bindung und Autonomie gut nebeneinanderstehen können. Diese Gewissheit ist in ihrem Gehirn tief verankert und schenkt ihnen ein Gefühl von innerer Sicherheit und Selbstvertrauen.

Wir Menschen brauchen zum Überleben sowohl Bindung als auch Eigenständigkeit. Das gilt für Väter, Mütter und Kinder gleichermaßen.

In unseren ersten zwei Lebensjahren ist die Beziehung zu unseren Eltern sehr körpernah. Hier geht es ums Wickeln, Getragenwerden, Baden, Anziehen, Füttern und Schmusen. Wir erleben also mit und durch unseren ganzen Körper, ob wir angenommen und geliebt werden. Deswegen speichert sich das Urvertrauen nicht nur im Gehirn, sondern auch als eine tiefe körperliche Empfindung ab, als ein Gefühl, das man mit: »Ich bin okay! Ich bin willkommen!« beschreiben könnte.

Am Anfang unserer Entwicklung steht die Bindung absolut im Vordergrund. Im Mutterleib sind wir völlig gebunden und verfügen über null Autonomie. Dann kommen wir auf die Welt und werden entbunden. Finden wir in dieser neuen Welt keine Bindungsperson, die sich unserer erbarmt, dann sterben wir.

Aber wir kommen nicht nur mit einem angeborenen Bindungswunsch auf die Welt, sondern auch mit einem angeborenen Erkundungsdrang. Wir wollen uns zu selbstständigen Menschen entwickeln. Kleine Kinder sind unheimlich stolz, wenn sie etwas ohne die Hilfe von Mama und Papa hinkriegen. Der Ausruf »Selber machen!« gehört bei vielen kleinen Kindern zum frühen Wortschatz.

Das Bedürfnis nach Bindung ist ein existenzielles psychisches Grundbedürfnis, das genetisch tief in uns verankert ist.

Unsere ganze Entwicklung richtet sich also darauf aus, dass wir einerseits immer mehr Fähigkeiten erwerben, um uns binden zu können, und andererseits immer selbstständiger und autonomer werden. So ist der Säugling am Anfang völlig davon abhängig, dass er versorgt wird, und die einzige autonome Handlung, über die er verfügt, ist Schreien. Man kann sich vorstellen, welche tiefe Erfahrung von Ohnmacht und abgrundtiefer Verlassenheit ein Säugling macht, wenn auf sein Schreien selten oder mit Wut reagiert wird.

In seiner weiteren Entwicklung erwirbt das kleine Kind immer mehr Autonomie: Es lernt Krabbeln, Laufen, Sprechen und seine Fähigkeiten bauen sich immer mehr aus, sodass es, wenn alles gut läuft, als junger Erwachsener ohne seine Eltern klarkommt. Entsprechend erweitert sich auch seine Bindungsfähigkeit: Am Anfang haben Säuglinge eine symbiotische Beziehung zu den Eltern, insbesondere zur Mutter. Dann rücken die Geschwister und andere Verwandte ins Blickfeld. Mit dem Kindergarten und der Schule erweitert sich der Bezugsrahmen des Kindes immer mehr und es lernt nach und nach, verschiedene Arten von Beziehungen zu gestalten. In der Pubertät werden dann zumeist die ersten Liebesversuche gestartet.

Durch Vernachlässigung und Aggression können sich im Gehirn des Säuglings bereits in den ersten Wochen traumatische Erlebnisse von Verlassenheit, Angst und Ohnmacht eingraben.

Bindung und Autonomie sind eng ineinander verschränkt und stellen zwei Seiten einer Medaille dar. Wenn ein Kind beispielsweise vernachlässigt wird und deshalb keine sichere Bindung zu seinen Eltern entwickelt, dann wird es auch in seiner autonomen Entwicklung gestört. Es kann sein, dass es übermäßig anhänglich wird, weil es immer Angst um die Bindung hat. Manche Kinder, die keine sichere Bindung erfahren haben, können bei ihren autonomen Bestrebungen Gefahren nicht richtig einschätzen. Sie gefährden sich selbst und verunfallen sogar. Normalerweise schaut ein kleines Kind noch einmal kurz zu seinen Eltern, bevor es sich wegbewegt. Es fragt mit seinem Blick: »Ist alles okay?« Greift die Bezugsperson nicht ein, weiß es: »Dann kann es losgehen.« Vernachlässigten Kindern fehlt diese Rückendeckung, infolgedessen können sie auch im späteren Leben Risiken weniger gut einschätzen. Die Bindung ist das Fundament von allem – und wenn dieses wackelt, dann wackelt auch alles, was auf ihm aufbaut. So wird das vernachlässigte Kind also nicht nur ein Defizit an Bindung haben, sondern kann auch keine gesunde autonome Entwicklung vollziehen. Es kann sich also zu einem Menschen entwickeln, der zu autonom ist, der also möglichst keinem vertraut und großen Wert darauf legt, allein zurechtzukommen. Oder es entwickelt sich zu einem Menschen, der zu wenig autonom ist, also einem Menschen, der immer andere benötigt, die ihm Entscheidungen abnehmen und ihn bildlich gesprochen »an die Hand nehmen und durchs Leben führen«.

Wir möchten in unserem Buch das fragile Gleichgewicht von Bindung und Autonomie, das wir in diesem Kapitel angerissen haben, durchleuchten und zu einem tieferen Verständnis für dieses existenzielle Wechselspiel führen. Außerdem möchten wir dir zeigen, wie du eine gute Balance zwischen Bindung und Autonomie in all deinen Beziehungen leben und gestalten kannst, damit deine Kinder diese ebenfalls erwerben.

KINDER TUN ALLES, UM GELIEBT ZU WERDEN

Man kann sich leicht vorstellen, dass in der langen Zeit des Aufwachsens einiges in der Interaktion zwischen Eltern und Kind schiefgehen kann. Manche Eltern sind überfordert und können dem Kind nicht die Zuneigung und Fürsorge gewähren, die es benötigt. Sie können also den Bindungswunsch ihres Kindes nicht wirklich befriedigen. In diesem Fall wird sich das Kind bemühen, seinen Eltern zu gefallen, damit die Eltern es annehmen oder es wenigstens nicht bestrafen. Kinder sind abhängig von ihren Eltern und tun alles dafür, um von ihnen geliebt zu werden.

Sind Eltern – aus welchen Gründen auch immer – damit überfordert, ihrem Kind ein sicheres Bindungsgefühl zu vermitteln, dann übernimmt dieses die Verantwortung für eine gelingende Beziehung zu seinen Eltern.

Dieser Prozess kann schon sehr früh in der Entwicklung eines Kindes einsetzen. So konnte man im Rahmen einer bewegenden Studie schon bei eineinhalb Monate alten Säuglingen feststellen, dass sie bemüht waren, es ihren Müttern recht zu machen. Für diese Untersuchung filmte man das Zusammensein bindungsgestörter Mütter mit ihren Säuglingen. In der Videoauswertung konnte man beobachten, dass Säuglinge ihre Mütter anlächelten, wenn sie zu ihnen schauten. Blickten die Mütter hingegen in eine andere Richtung, dann bekamen die Säuglinge einen verlorenen, eingefroren wirkenden Gesichtsausdruck. Das heißt, sie wussten auf einer tiefen, intuitiven Ebene: »Ich muss die Mama bei Laune halten, sonst geht das hier schief.« Sie spürten offensichtlich, dass es für sie um Leben und Tod ging. Ein sechs Wochen alter Säugling hatte also bereits die Verantwortung dafür übernommen, dass seine Beziehung zur Mutter gelingt.

Manchen Eltern gelingt es dagegen sehr gut, die Bindungsbedürfnisse ihres Kindes zu erfüllen, aber es fällt ihnen schwer, das Kind loszulassen. Sie fühlen sich am wohlsten, wenn das Kind in ihrer Nähe ist. Einige tun dies auch aus der Sorge heraus, dass ihm etwas zustoßen könnte. Sie überbehüten es und binden es zu eng an sich.

Es kann auch vorkommen, dass die Eltern Probleme haben, sodass sie keine Bindung aufbauen können. Das ist beispielsweise der Fall, wenn Mutter oder Vater an einem großen Kummer leiden, vielleicht sogar an einer Depression. Das Kind spürt dies sehr genau und kein Kind möchte seine Mama traurig erleben. Deswegen übernehmen Kinder auch in solchen Fällen die Verantwortung für die Mutter oder den Vater und bleiben beispielsweise öfter daheim, um das Elternteil glücklich zu machen, anstatt mit anderen Kindern zu spielen. Das Kind opfert also einen Teil seiner Autonomie, um den Kummer der Mutter oder des Vaters zu lindern.

Nehmen wir einmal an, eine Mutter – wir nennen sie Sabine – hat einen gravierenden Mangel an Zuneigung in ihrer Kindheit erlitten. Sie hat sich also einen leichten »Bindungsschaden« zugezogen. Dann benötigt Sabine möglicherweise ihren kleinen Sohn Leon, um diesen Mangel zu kompensieren. Es ist ihr vermutlich nicht bewusst, aber ihre große Zuneigung und ihr Wunsch nach Nähe zu ihrem Kind hat letztlich damit zu tun, dass Leon für sie die Funktion hat, ihre Sehnsucht nach Liebe und Nähe zu stillen. Am liebsten würde Sabine ihren süßen Sohn ständig im Arm halten und knuddeln. Leon will aber nicht ständig beschmust werden. Da er nun aber sehr klein ist, kann er sich gar nicht gegen die Schmuseattacken seiner Mutter wehren, sondern muss sie über sich ergehen lassen. Für Leon bedeutet dies, dass er seine Autonomie, also seinen Wunsch nach etwas Luft und Freiraum, opfern muss, um die Nähebedürfnisse seiner Mutter auszuhalten. Vor allem, wenn Sabine ihr Verhalten beibehält und sie immer mehr Nähe haben will als ihr Sohn, dann wird Leon dies als tiefe Prägung mit in sein Erwachsenenalter übernehmen. Sein Gehirn wird Liebe und Bindung immer mit Näheüberflutung und Gefangensein assoziieren. Als Erwachsener wird er Schwierigkeiten haben, sich auf eine nahe Liebesbeziehung einlassen zu können, weil er bei seiner Mutter nicht gelernt hat, dass er sich in gesunder Weise abgrenzen kann. Hat Sabine also in der Beziehung zu ihrer Mutter einen »Bindungsschaden« durch ein Zuwenig an Zuwendung erlitten, so erleidet Leon einen durch ein Zuviel an Zuwendung.

Hier sieht man, wie Kinder und Eltern sich in ihren Bedürfnissen miteinander verweben – und wie die Bedürfnisse der Eltern sich mit denen der Kinder vermischen können.

Übrigens könnte Sabine den »Bindungsschaden« für ihren Sohn vermeiden, wenn sie einfühlsamer auf dessen Signale achten würde. So hat Leon bereits als Baby beispielsweise öfter sein Köpfchen weggedreht, wenn Sabine nach ihm greifen wollte. Hierdurch hat er im Rahmen seiner bescheidenen Fähigkeiten signalisiert, dass er seine Ruhe haben möchte. Leider hat Sabine jedoch seine Signale damals zu oft übersehen. Sie müsste in einem ersten Schritt erkennen, dass sie selbst es ist, die die Nähe braucht – und nicht Leon. Dann könnte sie üben, die Distanzsignale ihres Kindes zu bemerken und ihren eigenen Nähewunsch für diesen Moment zurückzustellen. Man sieht schon: Es braucht eine gewisse Selbstreflexion, um sich selbst auf die Schliche zu kommen. Doch die Mühe lohnt: Zahlreiche Studien haben ergeben, dass das elterliche Einfühlungsvermögen das Königskriterium für Erziehungskompetenz ist. Hierauf werden wir in späteren Abschnitten noch ausführlich eingehen.

ALLER ANFANG IST BINDUNG

Wann fängt die Bindung zwischen Eltern und Kind an? Mit dem Tag der Zeugung? Während der Schwangerschaft? Mit dem Tag der Geburt? Zumindest werden wir mit der Geburt unseres ersten Kindes definitiv als Eltern angesehen und von der Gesellschaft als Vater und Mutter definiert. Von außen betrachtet, beginnt hier die Eltern-Kind-Beziehung. Faktisch sind wir schon vom ersten Tag an ein Teil der Eltern-Kind-Beziehung – und damit Teil einer Verbindung, die im Regelfall ein Leben lang bestehen bleibt.

Doch Beziehung ist nicht gleich Bindung. Lieben wir unser Kind automatisch? Sind wir an unser Kind gebunden? Nein. Wir können zwar die biologische Beziehung zu unserem Kind nicht abbrechen, aber es kann durchaus passieren, dass Eltern keine emotionale Bindung zu ihrem Kind aufbauen. Bindung ist ein aktiver Prozess auf beiden Seiten: auf der Seite des Kindes wie auf der Seite der Eltern. Der Säugling ist ganz auf Bindung ausgerichtet. So wendet er zum Beispiel seinen Kopf spontan dahin, wo es nach Mama riecht.1 Die Mutter ist durch ihre Schwangerschaft, die Geburt und das Stillen, ebenso wie das Kind, biologisch auf Bindung vorbereitet. Sie erkennt zum Beispiel ebenfalls treffsicher den Strampler ihres Kindes am Geruch. Man könnte es auch so ausdrücken: Mütter haben gegenüber Vätern einen Bindungsvorsprung. Trotzdem müssen sich beide erst einmal an die Elternschaft gewöhnen. Damit sich eine echte Bindung zwischen Eltern und Kind aufbaut, braucht es eine Entscheidung. Die Entscheidung: »Ja, ich will Mutter sein« beziehungsweise »Ja, ich will Vater sein«. Dies bedeutet, dass die Eltern sich voll und ganz dazu bereit erklären, Verantwortung für den kleinen Menschen zu übernehmen und innerlich zu sagen: »Du gehörst zu mir. Ich nehme dich an, so wie du bist.«

Durch die stärkere körperliche Nähe zum Kind haben Mütter es meist etwas leichter, die Bindung anzunehmen.

Der Vater bleibt dann manchmal außen vor. Er muss sich unter Umständen mehr anstrengen, um das Kind innerlich anzunehmen. »Ich habe darauf gewartet, dass die große Vaterliebe über mich kommt«, berichtet uns ein Vater und resümiert etwas enttäuscht: »aber vergebens.« Manche schämen sich auch, weil sie sich eben (noch) nicht an das Kind gebunden haben und nicht die gleiche Vernarrtheit spüren, die die Mutter erfasst zu haben scheint. Und manchmal werden Väter sogar von Neid und Eifersucht geplagt. Sie neiden der Mutter (und dem Kind) den innigen Kontakt miteinander. Die Väter, die sich ihre Gefühle eingestehen, können sich oft besser dem Kind zuwenden, weil sie dann niemandem etwas vormachen müssen, weder sich selbst noch der Partnerin. Sie bleiben authentisch, wodurch auch eine echte Vater-Kind-Begegnung möglich wird. Denn auf der Basis von Heuchelei kann sich keine tiefe Liebe zum Kind entwickeln. Die Ehrlichkeit mit sich selbst gibt dem Vater die Möglichkeit, seine eigene Art von Bindung aufzubauen. Vielleicht ist sie am Ende wirklich etwas lockerer als die mütterliche. Doch das Kind wird spüren, dass es angenommen und geliebt ist.

Väter, die grundsätzlich die Entscheidung getroffen haben, ihr Kind anzunehmen, entwickeln hingegen schnell eine innige Bindung zu ihm. Zum einen ist es gerade beim Säugling die körperliche Nähe, die Bindung vermittelt. Zum anderen zeigen Studien: Wenn Väter ihr Kind ganz selbstverständlich versorgen – es herumtragen, mit ihm schmusen, es anziehen und windeln –, dann wird bei ihnen das gleiche Bindungshormon freigesetzt wie bei den Müttern.

Zugewandte, liebende Väter haben genauso gute Chancen, eine sehr enge Beziehung zu ihrem Kind zu entwickeln wie liebende Mütter (siehe auch Exkurs: Mütter und Väter – die Stärken der beiden Elternteile ab >).

Du siehst: Bindung ist die Basis für jede Beziehungsfähigkeit. Sie ist das Fundament unserer Psyche. Doch sie ergibt sich nicht von allein. Sie entsteht immer im Wechselspiel zwischen Säugling oder Kind mit seiner Mutter und seinem Vater.

VATER-MUTTER-KIND – DAS FAMILIENSYSTEM

Vielleicht hast du dich schon gefragt, warum überwiegend von dir und deinem Kind die Rede ist, also von der Mutter-Kind- oder der Vater-Kind-Beziehung. Warum sprechen wir die Eltern nicht als Team an? Die meisten Eltern erziehen ihre Kinder ja zu zweit. Dennoch baut das Kind zu jedem Elternteil eigenständig eine Beziehung auf. Und deshalb sprechen wir jeden als Einzelperson an. Heutzutage existieren zudem die unterschiedlichsten Familienkonstellationen: Vater-Mutter-Kind oder in sogenannten Regenbogenfamilien auch Vater-Vater-Kind oder Mutter-Mutter-Kind. Die Alleinerziehenden machen inzwischen gut ein Fünftel aller Familien aus2 – meistens haben die Kinder auch in dieser Familiensituation Kontakt zu dem Elternteil, der nicht (mehr) im gemeinsamen Haushalt lebt. In Patchworkfamilien erweitert sich die Familie und für die Kinder gesellen sich Bonuseltern und manchmal Geschwister hinzu. Es gibt auch Co-Parenting-Familien, in denen die Eltern keine Partnerschaft haben und oftmals sogar in getrennten Haushalten leben. Die Beziehung dient hier vor allem dem Zweck, ein gemeinsames Kind großzuziehen. Es ist klar, dass das Familiensystem große Auswirkungen darauf hat, wie sich die Beziehung zwischen einem selbst und seinem Kind entwickelt. Eltern- und Paarebene sind auf komplexe Weise miteinander verwoben.

Wie stark Eltern- und Paarsein zusammenhängen, wird oft erst spürbar, wenn es Probleme gibt. Eltern mit Streit auf der Paarebene, vielleicht weil ein Partner fremdgegangen ist, kooperieren in der Regel auch als Väter und Mütter schlechter. Sie können sich dann eventuell nicht einigen, wer das Kind vom Kindergarten abholt. Aber die Schwierigkeit liegt letztlich nicht darin, dass dies ein unlösbares Problem ist, sondern das Paar trägt rund um das Abholen einen Konflikt aus, der eigentlich auf der Paarebene entstanden ist. Genauso wirkt sich die Elternebene auf die Paarebene aus: Erleben Eltern ihr Elternsein als sehr problematisch oder stressig, entstehen oftmals auch Probleme auf der Paarebene. Manchmal droht die Paarbeziehung unter dem Druck sogar zu zerbrechen. Unsere Rollen als Eltern können uns sogar so stark vereinnahmen, dass die Paarebene gar nicht mehr gelebt wird. Wir sind dann nicht mehr Frau und Mann, sondern »nur« noch Mutti und Vati.

Wenn alles gut läuft, ist uns dieses Zusammenspiel allerdings kaum bewusst. Dann erziehen wir einfach gemeinsam.

Kinder wünschen sich, dass sich ihre Eltern im Großen und Ganzen einig sind. Wenn die Eltern hin und wieder unterschiedlicher Meinung sind oder über Alltagsthemen miteinander streiten, können sie das allerdings gut wegstecken. Doch insgesamt sollten sich – aus Kinderaugen betrachtet – die Eltern vertragen. Sie sollten – wie man in der Fachsprache sagt – eine gute Elternallianz bilden. Dies erfordert, dass sie miteinander kooperieren und sich abstimmen.

Damit dies gelingt, sind einige Grundvoraussetzungen günstig. Viele Paare machen sich jedoch über diese Grundpfeiler einer guten Beziehung keine Gedanken. Es ist vielleicht auch nicht nötig, wenn man frisch verliebt ist und sich einfach nur super findet. Aber spätestens mit einem gemeinsamen Kind trägt man auch eine gemeinsame Verantwortung – und dann wird jede Schieflage in der elterlichen Beziehung sichtbar. Wir möchten an dieser Stelle nur einige typische Stolperfallen nennen.

Auf das Wesentliche reduziert, kann man den Wunsch von Kindern an die Paarbeziehung ihrer Eltern so beschreiben: Kinder möchten, dass Mama und Papa sich lieb haben.

Falls du erkennst, dass deine Beziehung in einer typischen Konfliktsituation steckt, wäre es wichtig, dass du dieses Thema anpackst. Denn wenn die Eltern nicht fähig sind, gut zu kooperieren, hat dein Kind automatisch ein Problem. Und auch wenn du dann als Einzelperson eine tolle Beziehung zu deinem Kind aufbaust, wird dieses Problem bestehen bleiben. Denn Kinder lieben nun einmal beide Elternteile.

HÄUFIG VORKOMMENDE PROBLEME

Typische Konflikte mit dem Potenzial, das Elternsein sehr zu erschweren, sind folgende:

Wenn du und dein Partner/deine Partnerin euch noch einmal grundlegend Gedanken darüber machen wollt, welche Werte ihr in der Erziehung wichtig findet, empfehlen wir euch den Abschnitt Wofür stehen wir? – Werte in der Familie ab >.

In späteren Kapiteln wirst du dazu in diesem Buch Anregungen und Hilfestellungen finden (vor allem dort, wo es um deine negativen Glaubenssätze und dein Schattenkind geht, ab >).

Auch wenn die genannten Konflikte recht dramatisch klingen, möchten wir dir klar sagen: Sobald du dich deinen Themen stellst, kannst du sehr oft Lösungen finden. Häufig steht uns einfach im Weg, dass wir uns so sehr eine glückliche Familie wünschen, dass wir jede Irritation erst einmal abwehren.

Mach dir klar: Kinder großzuziehen ist eine echte Herkules-Aufgabe. Und es ist völlig normal, dass du auch in deiner Partnerschaft an deine Grenzen kommst und vieles neu sortieren musst, wenn ihr Eltern werdet. Das Bedürfnis der Kinder, dass die Eltern sich doch bitte gut verstehen und lieben sollen, stellt solche, die auf der Paarebene nicht mehr miteinander klarkommen und sich deswegen trennen, vor eine besonders schwierige Aufgabe. Denn man kann zwar als Paar auseinandergehen, aber die Elternrolle ist durch eine Trennung nicht beendet. Im Gegenteil: Man muss ein neues Miteinander finden, wenn man seine Rollen als Vater und Mutter für das Kind oder die Kinder gut ausfüllen möchte. Für Kinder ist es gut, wenn sich die Eltern trotz der Trennung auf der Elternebene weiterhin gut verstehen und wenn sie zumindest in den großen Erziehungsfragen Einigkeit herstellen. Das aber erfordert von den Eltern ein sehr reifes Umgehen mit Konflikten und die Fähigkeit, die Paar- und die Elternebene bei auftretenden Problemen und Konflikten voneinander zu trennen.

Wenn Papa und Mama sich nicht mehr lieb haben, wünscht sich das Kind, dass es beide Eltern lieben darf und dass es von beiden Eltern weiterhin geliebt wird.

Gerade bei Letzteren neigen wir allerdings dazu, auf »alte« Streitmuster aus unserer Kindheit zurückzugreifen. Das betrifft getrennte Paare ebenso wie zusammenlebende. Wir holen dann unschöne Kommunikationsformen aus der untersten Schublade hervor, machen Vorwürfe, kritisieren, nörgeln, werten den anderen ab oder verfallen in eisernes Schweigen.

Verbissene und verhärtete Konflikte zwischen den Eltern sind für Kinder kaum auszuhalten. Kleinere bekommen Angst, weil sie die Spannungen und Streitereien nicht einordnen können. Ältere Kinder können eher sagen, was sie wollen. »Bitte habt euch wieder lieb!« oder »Nicht streiten« bekommen die Eltern dann zu hören. Teenager und junge Erwachsene verdrehen die Augen, wenn die Eltern zanken, und stöhnen: »Jetzt geht das schon wieder los!«

Bitte verstehe unsere Anmerkungen zur Paarbeziehung jedoch nicht falsch: Wir sind weit davon entfernt, Eltern zu raten, »den Kindern zuliebe« in unglücklichen Partnerschaften zu bleiben. Wir wollen nur darauf hinweisen, dass Kinder unabhängig davon, ob die Eltern getrennt sind oder (noch) zusammenleben, beide Eltern lieben. Und es tut ihnen gut, wenn Eltern es schaffen, dass weiterhin beide für die Kinder da sind – und man zumindest in den großen Erziehungsfragen an einem Strang zieht. Kindern tut es dagegen gar nicht gut, wenn sie auf eine Seite gezogen werden. Oder wenn ein Elternteil ständig die Augen verdreht, wenn die Kinder von ihren Erlebnissen mit dem anderen erzählen. Oder wenn man vor ihnen den anderen schlechtmacht und dergleichen. Kinder wollen, dass ihr Nest, das ursprünglich aus der Bindung zwischen Mama und Papa entstanden ist, weiter besteht.

Auch wenn sich ältere Kinder besser abgrenzen können, sind sie ebenso im tiefsten Herzen von dem Wunsch beseelt, dass ihre Eltern sich verstehen.

Natürlich gibt es noch viele weitere Aspekte der Paarbeziehung, die in die Eltern-Kind-Beziehung hineinspielen. In diesem Buch zeigen wir vor allem auf, wie du dich als Mutter oder Vater gut aufstellen kannst – wie du Verantwortung für deinen Anteil in der Eltern-Kind-Beziehung so übernehmen kannst, dass dein Kind sich sicher gebunden und frei fühlt. Wir werden dir viele Fragen stellen und dich immer wieder dazu einladen, über dich nachzudenken. Wenn du dich auf dieses Abenteuer, diese Reise nach innen einlässt, wirst du dich vielleicht hie und da verändern. Und wer weiß, vielleicht profitiert auch dein Partner oder deine Partnerin von dieser Entwicklung.

ALLEINERZIEHEND – EINE MAMMUTAUFGABE

Im vorherigen Abschnitt sind wir zwar schon darauf eingegangen, was eine Trennung für ein Kind bedeutet, aber wir haben die Situation von Alleinerziehenden noch nicht genug gewürdigt. Sie ist nämlich alles andere als einfach. Nicht selten ist es so, dass der andere Elternteil nicht präsent ist oder extrem unzuverlässig. Oft gibt es auch erhebliche Probleme in der Kommunikation oder in der Kooperation mit dem Ex-Partner oder der Ex-Partnerin. Häufig haben die beiden auch unterschiedliche Erziehungsvorstellungen. Machtkämpfe, wer wie viel Zeit mit dem Kind verbringt und wer welche Aufgaben übernimmt, sind eher die Regel als die Ausnahme. Hinzu kommen häufig noch wirtschaftliche Sorgen und eine Unzufriedenheit mit der Familiensituation.

Für viele alleinerziehende Mütter (es gibt im Verhältnis dazu relativ wenige alleinerziehende Väter) ist die Familienkonstellation »allein mit Kind oder mehreren Kindern« nicht das, was sie sich ursprünglich gewünscht haben. Sie hätten lieber einen Partner an ihrer Seite.3

Selbstverständlich ist das nicht bei allen Alleinerziehenden der Fall. Manche alleinerziehenden Eltern sind bestimmt erleichtert, dass sie vom Partner oder von der Partnerin getrennt sind. Andere sind finanziell gut abgesichert und wiederum andere finden mit ihrem Ex-Partner oder ihrer Ex-Partnerin nach der Trennung eine gute freundschaftliche Ebene.

Doch fast alle alleinerziehenden Väter und Mütter haben eine sehr enge Beziehung zu ihren Kindern. Die kleine Familie rückt, bildlich gesprochen, im Nest noch enger zusammen. Für das Kind ist der Elternteil, mit dem es überwiegend zusammenlebt, die Hauptbindungsperson und damit der wichtigste Mensch – der hellste Stern am Himmel. Das Kind ist dadurch ganz besonders darauf angewiesen, dass die Mama oder der Papa einfühlsam und ausgeglichen ist. Eine mit uns befreundete alleinerziehende Mutter hat es einmal so formuliert: »Meine Stimmung schwappt immer auf die Kinder über. Wenn ich morgens fröhlich aufstehe, stehen sie auch fröhlich auf. – If mama ain’t happy nobody ain’t happy.« Damit liegt auf den Schultern des alleinerziehenden Elternteils eine besonders große Verantwortung für die Gestaltung der Beziehung.

Die Fragen »Kann ich meinem Kind die Nestwärme geben, die es braucht?« und »Kann ich mein Kind zum richtigen Zeitpunkt loslassen?« muss die oder der Alleinerziehende oft alleine beantworten.

Viele Alleinerziehende berichten, dass sie sich müde und erschöpft fühlen. Kein Wunder. Auf ihnen lastet durchgängig der Druck, immer funktionieren zu müssen, ob Tag oder Nacht, im Job oder am Wochenende. Zu schwächeln ist nicht vorgesehen. Sogar wenn sie krank sind, müssen sie ihr Kind versorgen. Alleinerziehende sind »Mädchen für alles«. Die Wohnung putzen, zum Elternabend gehen, an den Kinderarzttermin denken – alles muss der oder die Alleinerziehende in der Regel alleine managen. Es fehlt die Zeit, die Seele baumeln zu lassen und einfach einmal abzuschalten. In solchen Belastungssituationen sind wir anfällig dafür, dass wir gestresst reagieren und in »alte« Prägungen und Muster verfallen. Wir sagen womöglich Dinge zu unseren Kindern, die wir hinterher bereuen.

Ines, eine alleinerziehende Mutter und Teilnehmerin eines unserer Seminare, hat uns erzählt, wie sie in einem stressigen Moment zu ihrer Tochter Luisa sagte: »Deinetwegen habe ich jetzt Kopfweh.« Dabei wollte sie sich derlei Bemerkungen um jeden Preis verkneifen. Sie hat nämlich selbst als Kind sehr unter den Schuldgefühlen gelitten, die ihre kränkliche Mutter ihr mit ähnlichen Bemerkungen eingeimpft hatte. In Stresssituationen sind wir dünnhäutiger und anfällig dafür, dass wir wie auf Autopilot alte Muster wiederholen. Die Prägungsfalle schnappt dann schneller zu. Damit das nicht passiert, müssen Alleinerziehende besonders gut für sich sorgen.

Jetzt wirst du als alleinerziehende Mutter oder als alleinerziehender Vater bestimmt denken: »Das geht bei mir nicht. Die haben ja keine Ahnung, wie durchgetaktet mein Alltag ist.« Sich trotz dieser Belastung Zeit für sich zu nehmen ist sicherlich alles andere als einfach. Die alleinerziehende Mutter und Autorin Alexandra Widmer weist in ihrem Buch Stark und alleinerziehend4 darauf hin, dass es wichtig ist, nicht sofort das ganze Leben umkrempeln zu wollen, sondern mit kleinen Schritten anzufangen. Frage dich: »Was könnte ich noch in dieser Woche für mich tun? Was könnte das ganz konkret sein?« Formuliere dein Ziel so klein, dass du es auch umsetzen kannst. Vielleicht könntest du eine Freundin anrufen, die du schon länger nicht gesprochen hast? Dir dein Lieblingsessen kochen, obwohl die Kinder vielleicht meckern? Oder morgens etwas früher aufstehen und dich fünf Minuten in Ruhe mit der Zeitung hinsetzen? Das sind nur ein paar Ideen, in welche Richtung so ein kleines Selbstfürsorge-Projekt gehen könnte.

Weitere Tipps findest du im Abschnitt Selbstfürsorge ist Fürsorge ab >.

Alleinerziehend zu sein hat noch viele weitere Aspekte. Zum Beispiel leiden deine Kinder sehr wahrscheinlich unter der Trennung und du musst sie durch ihre Trauer um die alten Zeiten begleiten. Vielleicht gibt es Auseinandersetzungen mit dem oder der Ex wegen des Umgangs oder des Unterhalts. Es würde den Rahmen sprengen, wenn wir hier auf alles eingingen. Aber gerade weil ihr, du und dein Kind, sehr aufeinander bezogen seid, sind wir davon überzeugt, dass du von der Klärung deiner Mutter-Kind- beziehungsweise Vater-Kind-Beziehung profitieren kannst, die wir dir in diesem Buch nahebringen wollen.

Die direkte Beziehung zwischen dir und deinem Kind ist die Basis für eine gute Elternschaft. Deshalb stehen hier ab jetzt zwei Menschen im Mittelpunkt: du und dein Kind. Alle weiteren Kapitel sind so geschrieben, dass du dich mit dir selbst als Mutter oder Vater auseinandersetzen kannst – wenn du möchtest. Das bedeutet, dass jeder Elternteil sich zunächst um seine eigenen Anteile kümmert. Solltest du in der Folge für dich zu Aha-Erlebnissen kommen oder dein Verhalten ändern, fließt dies ins Familiensystem zurück.