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J. S. Fletcher

Der Verschollene

Kriminalroman

J. S. Fletcher

Der Verschollene

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Hans Barbeck
EV: Goldmann, Leipzig, 1933 (241 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-954189-99-1

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Inhaltsverzeichnis

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1

Das Ho­tel »Zum Kar­di­nals­hut« in Bry­che­s­ter ge­hört zu je­nen Gast­stät­ten, die man nur noch in den äl­tes­ten Städ­ten Eng­lands fin­det. Frü­her wa­ren die großen Ga­sträu­me ge­füllt, in den Stäl­len stampf­ten die Pfer­de, und vor den Tü­ren stan­den Post­wa­gen und Rei­se­fuhr­wer­ke. Aber seit der Ein­füh­rung der Ei­sen­bahn ver­lor das Ho­tel an Be­deu­tung und führ­te nur noch ein Schat­ten­da­sein.

An ei­nem schö­nen Herbst­nach­mit­tag stand der alte Ober­kell­ner, der wie ein ehr­wür­di­ger Kir­chen­die­ner aus­sah, nach­denk­lich in der Haus­tür und sah die Stra­ße hin­un­ter. Auf der an­de­ren Sei­te er­hob sich der ma­je­stä­ti­sche Turm der großen Ka­the­dra­le, in der frü­her ein­mal ein Bi­schof am Haupt­al­tar die Mes­se ge­le­sen hat­te. Dicht da­ne­ben stand das schö­ne alte Markt­kreuz, das zur Zeit der Tu­dors er­rich­tet wor­den war. Es war nur we­nig Ver­kehr auf der Stra­ße. Ein paar Bau­ern­wa­gen roll­ten über das hol­pe­ri­ge Pflas­ter, und hier und dort stan­den Nach­barn zu­sam­men und be­spra­chen die letz­ten Neu­ig­kei­ten.

Der Ober­kell­ner hielt Aus­schau nach dem Ho­te­lom­ni­bus, der je­den Au­gen­blick zu­rück­kom­men muss­te, und er war ge­spannt, ob neue Gäs­te ein­tref­fen wür­den. Trotz sei­ner Jah­re war er noch rüs­tig und lieb­te es durch­aus nicht, un­tä­tig her­um­zu­sit­zen.

Als der Bus schließ­lich vor­fuhr, stieg ein vor­neh­mer jun­ger Herr aus. Er war schlank und hat­te ein son­nen­ge­bräun­tes Ge­sicht. Der Ober­kell­ner hielt ihn für einen Of­fi­zier in Zi­vil, der aus den Ko­lo­ni­en zu­rück­ge­kom­men war, und be­eil­te sich, ihn zu be­grü­ßen.

»Wün­schen Sie ein Zim­mer, mein Herr? Wir ha­ben große, ele­gan­te Räu­me. Vi­el­leicht ein pri­va­tes Wohn­zim­mer und auch ein Feu­er im Ka­min?«

Der Frem­de reich­te dem Ho­tel­die­ner sei­ne Ge­päck­stücke und be­trach­te­te dann das alte, ehr­wür­di­ge Ge­bäu­de.

»Ja, ich neh­me ein Zim­mer, we­nigs­tens für die nächs­te Nacht. Aber vor al­lem möch­te ich –«

»Wil­liam, der Herr möch­te ein Reit­pferd ha­ben.« Der Fah­rer war zu den bei­den ge­tre­ten und un­ter­brach den Frem­den in sei­ner Rede. »Er will nach Mal­ve­ry Hold hin­aus­rei­ten. Am bes­ten ge­ben wir ihm das Pferd des Chefs. Lei­der, Sir«, wand­te er sich an den Frem­den, »hat man heut­zu­ta­ge kei­ne große Aus­wahl mehr in Pfer­den. Alle Welt fährt doch Auto oder Mo­tor­rad. Aber un­ser Chef hat noch ein ed­les, ras­si­ges Tier. Und da er erst mor­gen zu­rück­kommt, wird er nichts da­ge­gen ha­ben, wenn Sie es heu­te be­nüt­zen. Sie sind doch hof­fent­lich ein gu­ter Rei­ter?«

Mr. Bla­ke lä­chel­te be­lus­tigt.

»Dar­über kön­nen Sie be­ru­higt sein«, er­wi­der­te er freund­lich. Sei­ne Stim­me hat­te einen leich­ten ame­ri­ka­ni­schen Ak­zent. »Ich habe schon Pfer­de zu­ge­rit­ten, die Sie in Ihrem Land gar nicht ken­nen. Sie kön­nen mir das Tier ru­hig an­ver­trau­en. Sat­teln Sie es, und füh­ren Sie es her­aus. In­zwi­schen tra­ge ich mich ins Frem­den­buch ein und trin­ke ein Glas Whis­ky-Soda. Ich will dann gleich auf­bre­chen. Drei­zehn Ki­lo­me­ter sag­ten Sie doch?«

»Ja­wohl. In fünf Mi­nu­ten ist al­les be­reit.«

Der Mann ging mit schnel­len Schrit­ten über den ver­las­se­nen Hof zu den Stäl­len, und Mr. Bla­ke folg­te dem Ober­kell­ner ins Haus.

»Möch­ten Sie ein Wohn­zim­mer und ein Schlaf­zim­mer ha­ben?« frag­te Wil­liam. »Und na­tür­lich ein klei­nes Feu­er im Ka­min. Die Näch­te sind schon kalt.«

»Ja, las­sen Sie al­les her­rich­ten, bis ich zu­rück­kom­me. Wahr­schein­lich bin ich bald wie­der hier. Wenn ich mei­nen Be­kann­ten tref­fe, brin­ge ich ihn zum Abendes­sen mit.«

»Das Din­ner wird um sie­ben Uhr ser­viert«, er­wi­der­te Wil­liam. – »Wel­chen Na­men darf ich ein­tra­gen?«

»Da­vid Bla­ke, Lone Pine, Al­ber­ta in Ka­na­da, zur Zeit Ho­tel ›Ce­ci­le‹ in Lon­don.«

Der Ober­kell­ner führ­te ihn dann in ein klei­nes Ne­ben­zim­mer, wo ein jun­ges Mäd­chen hin­ter dem Schank­tisch saß und einen Ro­man las.

»Ach, las­sen Sie mir doch mei­nen Re­gen­man­tel hier«, sag­te Bla­ke, als der Ober­kell­ner ge­hen woll­te. »Es ist mög­lich, dass noch ein Schau­er kommt.«

»Heu­te wird es nicht mehr reg­nen«, ent­geg­ne­te Wil­liam, reich­te ihm aber den Man­tel. »Wir be­kom­men nur Re­gen, wenn wir West­wind ha­ben.«

Da­vid Bla­ke lä­chel­te und sah das jun­ge Mäd­chen fra­gend an.

»Kann man sich auf die­sen Wet­ter­pro­phe­ten ver­las­sen?«

»Das kann ich Ih­nen lei­der nicht sa­gen«, er­wi­der­te sie. »Ich bin erst kur­ze Zeit hier. Aber es ist so lang­wei­lig«, füg­te sie mit ei­nem Seuf­zer hin­zu, »dass selbst der Re­gen eine an­ge­neh­me Ab­wechs­lung be­deu­tet.«

»Dann ist also hier nicht viel los?« frag­te Bla­ke. »Ge­ben Sie mir einen Whis­ky-Soda. Wenn Sie noch nicht lan­ge hier sind, ken­nen Sie wohl auch Mr. Richard Mal­ve­ry nicht, der drau­ßen auf Mal­ve­ry Hold wohnt?« Sie ver­nein­te, wand­te sich aber gleich dar­auf an den al­ten Ober­kell­ner, der in die Gast­stu­be zu­rück­kam.

»Ken­nen Sie einen Mr. Richard Mal­ve­ry, Wil­liam?« Wil­liam sah Bla­ke scharf an.

»Den kann­te ich gut. Es ist al­ler­dings schon ei­ni­ge Zeit her. Seit fünf Jah­ren habe ich ihn nicht mehr ge­se­hen.«

Im Hof hör­te man das Ge­trap­pel von Hu­fen, und Bla­ke trank schnell sein Glas aus und eil­te hin­aus. Wohl­ge­fäl­lig be­trach­te­te er den schö­nen Brau­nen und lä­chel­te, als er sei­nen Re­gen­man­tel an­zog und sich in den Sat­tel schwang. Wil­liam war ihm ins Freie ge­folgt. Der Frem­de beug­te sich noch ein­mal zu dem Ober­kell­ner her­ab.

»Dann wis­sen Sie also auch nicht, ob sich Mr. Mal­ve­ry heu­te in Mal­ve­ry Hold auf­hält?« frag­te er lei­se. Wil­liam er­schrak, trat einen Schritt zu­rück und sah Bla­ke fra­gend an.

»Mr. Richard soll­te im Hau­se sei­nes Va­ters sein? Nein, da­von habe ich nichts ge­hört. Wol­len Sie ihn denn dort drau­ßen tref­fen?«

»Ja, ich hof­fe es. Und dann brin­ge ich ihn zum Es­sen ins Ho­tel mit. Der Fah­rer hat mir den Weg schon ge­nau be­schrie­ben.«

Bla­ke be­rühr­te das Pferd leicht mit der Ger­te und ritt da­von. Wil­liam blick­te ihm nach, bis er ihn nicht mehr se­hen konn­te, dann ging er ins Haus zu­rück.

»Ich will Hans hei­ßen«, sag­te er zu sich selbst, »wenn die­ser frem­de Herr heu­te abend Dick Mal­ve­ry mit­bringt.«

*

Da­vid Bla­ke sah sich mehr­mals um, als er auf der gu­ten Stra­ße von Bry­che­s­ter ins Land hin­aus­ritt. Der Kirch­turm wur­de im­mer klei­ner. Die Ge­gend war flach, und erst fünf Ki­lo­me­ter hin­ter der Stadt er­reich­te er eine klei­ne Er­he­bung. Dort hielt er an und ori­en­tier­te sich über die Um­ge­bung, denn sei­ne Au­gen wa­ren ge­wohnt, in die Fer­ne zu se­hen. Hin­ter ihm, im Nor­den, wur­de die Sicht durch eine lan­ge Hü­gel­ket­te ver­sperrt, die sich auch nach Os­ten und Wes­ten er­streck­te, so­weit der Blick reich­te. An ih­rem Fuß lag die Stadt Bry­che­s­ter, de­ren Dä­cher und Tür­me sich scharf von den dun­kel­brau­nen, be­wal­de­ten Hü­geln ab­ho­ben. In der Fer­ne er­blick­te er eine Land­zun­ge, die sich keil­för­mig in die See vor­schob. Die­se Halb­in­sel war flach und nur we­nig be­völ­kert. Nur hier und dort lag, von Ul­men und Bu­chen be­schat­tet, ein ein­zel­nes Ge­höft. Schon Bry­che­s­ter war Bla­ke ziem­lich al­ter­tüm­lich vor­ge­kom­men, aber die Häu­ser auf die­ser welt­ab­ge­schie­de­nen Land­spit­ze er­schie­nen ihm noch al­ters­grau­er als die ehr­wür­di­ge Bi­schofs­stadt. Kopf­schüt­telnd und in Ge­dan­ken ver­sun­ken ritt er wei­ter.

»Genau, wie Dick es mir be­schrie­ben hat«, dach­te er. »Ein ei­gen­tüm­li­ches Stück Erde – ab­seits von je­dem mensch­li­chen Ver­kehr. Und ein gu­tes Ver­steck, wenn man sich ver­ber­gen muss!«

Fünf Ki­lo­me­ter ritt er eine viel­fach ge­wun­de­ne Stra­ße ent­lang und be­geg­ne­te nur we­ni­gen Leu­ten. Die Fel­der zo­gen sich ein­tö­nig und flach hin, und nur ab und zu tauch­te das stroh­ge­deck­te Dach ei­ner Holz­hüt­te auf. Als er aber in die Nähe der Küs­te kam und die Bran­dung schon von wei­tem hör­te, mach­te die Stra­ße plötz­lich eine Bie­gung, und vor sich sah er eine große Bucht lie­gen, die sich weit ins Land er­streck­te. Es war ge­ra­de Ebbe, und Bla­ke er­blick­te eine wei­te mo­ras­ti­ge Flä­che, die mit See­gras über­zo­gen war. Da­zwi­schen la­gen Trüm­mer al­ter, ver­rot­te­ter Boo­te. Auf der einen Sei­te der Bucht stan­den ein paar schie­fe Häu­ser, die von ei­ner Müh­le über­ragt wur­den. Bla­ke er­kann­te auch die­se Stel­le nach den frü­he­ren Be­schrei­bun­gen sei­nes Freun­des so­fort.

»Das ist die alte Müh­le, von der Dick im­mer sprach. Dann muss also das große, schlos­s­ähn­li­che Haus auf der an­de­ren Sei­te der Bucht Mal­ve­ry Hold sein. Es sieht reich­lich al­ter­tüm­lich aus.«

Durch eine Ul­me­n­al­lee ritt er nun auf das fes­te Stein­haus zu, das aus dem sech­zehn­ten Jahr­hun­dert stamm­te. An man­chen Stel­len war es schon et­was ver­fal­len und ver­wahr­lost, mach­te aber im­mer noch einen ma­le­ri­schen Ein­druck. Als Bla­ke auf das Tor zu­ritt, kam ihm plötz­lich der Ge­dan­ke, dass das Haus leer­ste­hen könn­te, so tot und kalt wirk­te das Gan­ze. Aber aus ei­nem Ka­min stieg eine schwa­che Rauch­säu­le em­por, und nach­dem er an das Ei­chen­tor ge­klopft hat­te, er­schi­en wirk­lich ein al­ter Die­ner, der den Be­su­cher ver­wun­dert an­sah. Aber auch die­ser Mann war Bla­ke nicht fremd; er kann­te ihn schon aus vie­len lus­ti­gen Er­zäh­lun­gen sei­nes Freun­des und Ka­me­ra­den.

»Ist Mr. Richard Mal­ve­ry zu Hau­se?« frag­te er.

Der alte Mann trat einen Schritt zu­rück und hob die Hand, als ob er die Au­gen be­schat­ten woll­te, wäh­rend er zu dem Rei­ter auf­schau­te.

»Mr. Richard?« er­wi­der­te er dann kopf­schüt­telnd. »Frag­ten Sie nach Mr. Richard? Der ist in den letz­ten fünf Jah­ren nicht über die­se Schwel­le ge­kom­men.«

2

Bla­ke sah einen Au­gen­blick schwei­gend auf den son­der­ba­ren Al­ten her­un­ter, der ihm of­fen­bar miss­trau­te. Der Mann mit dem ver­run­zel­ten Ge­sicht trug einen alt­mo­di­schen Rock, der frü­her ein­mal sei­nem Herrn ge­hört ha­ben moch­te. Er hat­te we­der die Tracht ei­nes Haus­meis­ters noch die ei­nes Kut­schers; sie war eine Kom­bi­na­ti­on aus al­lem mög­li­chen.

»Ich weiß, wer Sie sind«, sag­te Bla­ke plötz­lich. »Sie hei­ßen Ja­kob El­phick. Mr. Richard hat öf­ters von Ih­nen ge­spro­chen.«

Der alte Mann war be­stürzt und warf schnell einen Blick in die ver­las­se­ne, ein­sa­me Hal­le zu­rück, in der nur ein paar alte, wurm­sti­chi­ge Mö­bel stan­den. Es war nie­mand zu se­hen, aber er zog die Tür wei­ter zu.

»Wer sind Sie denn?« frag­te er scharf. »Sie ha­ben Mr. Richards Na­men ge­nannt, aber ich sage Ih­nen, dass man hier in un­se­rer Ge­gend in den letz­ten fünf Jah­ren nichts von ihm ge­se­hen hat.«

»Stimmt das wirk­lich?«

»Er ist in die wei­te Welt ge­gan­gen, und wir wis­sen nicht, wo­hin – er hat nie­mals ge­schrie­ben. Wie kommt es denn, dass Sie nach ihm fra­gen? Wer sind Sie ei­gent­lich?«

Bla­ke stieg lang­sam ab und be­fes­tig­te den Zü­gel sei­nes Pfer­des an dem al­ten Ei­sen­ring an der Tür.

»Ich ken­ne ihn und hoff­te ihn hier zu fin­den. Wenn er nicht da ist, dann möch­te ich gern sei­nen Va­ter, Sir Bri­an, spre­chen. Er lebt doch noch?«

El­phick blieb zwi­schen Bla­ke und der Tür ste­hen und schüt­tel­te den Kopf.

»Ob er lebt? Na­tür­lich lebt der alte Sir Bri­an. Aber er ist ge­lähmt und kann sich nicht be­we­gen. Er wird auch kaum ver­ste­hen, was ein Frem­der zu ihm sagt.«

»Kann ich dann Mr. Richards Schwes­ter spre­chen? Sie hö­ren doch, dass ich alle Fa­mi­li­en­mit­glie­der ken­ne. Sa­gen Sie Miss Mal­ve­ry, dass ein Freund ih­res Bru­ders, der mit ihm zu­sam­men in Al­ber­ta war, sie spre­chen möch­te. Mein Name ist Da­vid Bla­ke.«

Der Alte schüt­tel­te wie­der den Kopf.

»Al­ber­ta?« frag­te er skep­tisch. »Wo liegt denn das?«

»In Ka­na­da«, ent­geg­ne­te Mr. Bla­ke un­ge­dul­dig.

»Aber nun ge­hen Sie schon.«

»Ich kann ja Miss Ra­chel mel­den, dass Sie hier sind, aber da­mit ist noch lan­ge nicht ge­sagt, dass sie Sie emp­fan­gen wird. Heut­zu­ta­ge macht man hier kei­ne Be­su­che mehr. War­ten Sie hier, bis ich wie­der­kom­me. Da­vid Bla­ke ha­ben Sie ge­sagt? Ein Freund von Mr. Richard? Und – Sie glaub­ten, dass er hier wäre? Wie kom­men Sie denn nur dar­auf? Das ist doch der letz­te Platz, wo man ihn su­chen könn­te. Als er das Haus ver­ließ, ging er für im­mer weg.«

»Mel­den Sie mich jetzt end­lich sei­ner Schwes­ter«, sag­te Bla­ke ener­gisch.

El­phick schloss kopf­schüt­telnd die Tür, und Bla­ke hör­te, dass er von in­nen die Rie­gel vor­schob. Er war nun wie­der al­lein und be­trach­te­te das Haus, das in der Nähe viel ver­fal­le­ner und trau­ri­ger wirk­te. Er fühl­te, dass er hier vor ei­nem Ge­heim­nis stand.

Es ver­gin­gen ei­ni­ge Mi­nu­ten, be­vor Ja­kob El­phick wie­der in der Tür er­schi­en.

»Sie kön­nen her­ein­kom­men«, brumm­te er un­freund­lich. »Miss Ra­chel will Sie emp­fan­gen. Aber ge­hen Sie lei­se, Sir Bri­an darf nicht ge­stört wer­den.«

Bla­ke sah sich um, ob das Pferd auch si­cher an­ge­bun­den war, dann folg­te er sei­nem Füh­rer in die ge­räu­mi­ge Stein­hal­le. Es war in dem Raum so kalt wie in ei­nem Kel­ler. Of­fen­bar hat­te seit vie­len Jah­ren in dem großen Ka­min kein Feu­er mehr ge­brannt. Auch das Zim­mer, in das ihn der alte Mann führ­te, war nicht ge­heizt. Die Mö­bel wa­ren aus dunklem Ei­chen­holz, die Stüh­le ge­pols­tert und mit schwe­rem Le­der über­zo­gen. Es schi­en lan­ge nicht ge­lüf­tet wor­den zu sein, denn es herrsch­te eine dump­fe At­mo­sphä­re. Ein paar alte Ge­mäl­de hin­gen an den Wän­den, die Da­men und Her­ren aus der Zeit der Kö­ni­gin Eli­sa­beth zeig­ten. Alte Sil­ber­leuch­ter stan­den auf ei­nem schwe­ren Bü­fett, aber sie wa­ren blind und schwarz. Auf Vor­hän­gen und Gar­di­nen, Ti­schen und Stüh­len lag di­cker Staub. Der Raum glich fast ei­nem Ge­wöl­be. Durch die blei­ver­glas­ten But­zen­schei­ben der Fens­ter konn­te man auf das graue Meer hin­aus­se­hen, wo über bran­den­den Wo­gen die Mö­wen kreis­ten.

Bla­ke wand­te sich um, als er leich­te Schrit­te hör­te. Eine jun­ge Dame stand in der Tür­öff­nung. Bla­ke sah sie mit großem In­ter­es­se an und dach­te an das Bild, das Dick Mal­ve­ry von ihr ent­wor­fen hat­te, als sie ein­mal an ei­nem ein­sa­men La­ger­feu­er sa­ßen. Aber er er­in­ner­te sich auch so­fort dar­an, dass fünf Jah­re ver­flos­sen wa­ren, seit ihr Bru­der sie zu­letzt ge­se­hen hat­te. Ra­chel muss­te jetzt drei- oder vier­und­zwan­zig Jah­re alt sein. Sie war schlank und schön, hat­te aus­drucks­vol­le Züge, dunkles Haar und dunkle Au­gen. Sie sah Richard sehr ähn­lich, aber in ih­rem Blick la­gen Kum­mer und Sor­gen. »Sie fra­gen nach mei­nem Bru­der Richard?« be­gann sie so­fort, nach­dem sie den Frem­den durch ein flüch­ti­ges Kopf­ni­cken be­grüßt hat­te. »Ken­nen Sie ihn denn?«

Bla­ke sah über ihre Schul­ter auf den al­ten Ja­kob, der zö­gernd ste­hen­ge­blie­ben war. Ra­chel Mal­ve­ry dreh­te sich un­ge­dul­dig um.

»Ja­kob, ge­hen Sie hin­aus, und ma­chen Sie die Tür zu«, be­fahl sie.

Als El­phick ver­schwun­den war, wand­te sie sich Bla­ke zu. »Er ist alt und au­ßer­dem arg­wöh­nisch, weil Sie den Na­men mei­nes Bru­ders er­wähnt ha­ben.«

»Wis­sen Sie denn wirk­lich nichts von ihm?«

»Nein, wir ha­ben nichts von ihm ge­hört, seit­dem er vor fast sechs Jah­ren von hier fort­ging. Glaub­ten Sie, dass er hier wäre?«

Bla­ke nahm sei­ne Brief­ta­sche her­aus und blät­ter­te in den Pa­pie­ren.

»Das nahm ich be­stimmt an. Ich will Ih­nen auch er­klä­ren, warum. Dick war zwei Jah­re mit mir zu­sam­men, bis zum letz­ten Ja­nu­ar. Mit der Zeit wur­den wir sehr gute Freun­de, und er er­zähl­te mir viel von sei­ner Hei­mat. Ich über­re­de­te ihn schließ­lich, nach Hau­se zu­rück­zu­keh­ren, und er ver­ließ mich An­fang Fe­bru­ar in Ka­na­da, um die Rei­se nach Bry­che­s­ter an­zu­tre­ten. Ich weiß be­stimmt, dass er sich am 27. Fe­bru­ar die­ses Jah­res in die­ser Stadt auf­ge­hal­ten hat, und ich er­war­te­te na­tür­lich, dass er auch hier­her­kom­men wür­de.«

Ra­chel Mal­ve­ry zeig­te auf einen Stuhl und nahm selbst Platz. Sie be­ob­ach­te­te Bla­ke scharf, aber sie sah noch be­sorg­ter aus als vor­her.

»Wo­her wis­sen Sie denn, dass Richard am 27. Fe­bru­ar in Bry­che­s­ter war?«

»Bit­te, se­hen Sie her. Die­ses Te­le­gramm hat er mir ge­schickt. Es ist am 27. Fe­bru­ar um sechs Uhr abends in Bry­che­s­ter auf­ge­ge­ben. Le­sen Sie selbst: ›Bla­ke, Lone Pine, Al­ber­ta, Ka­na­da. Bin gut in der Hei­mat an­ge­kom­men. Dick.‹ Also muss er doch tat­säch­lich in Bry­che­s­ter ge­we­sen sein.«

Ra­chels Ge­sicht war bleich ge­wor­den, und ihre Hand, die das Te­le­gramm hielt, zit­ter­te.

»Sie ha­ben recht, es kann nicht an­ders sein«, sag­te sie schnell, »aber –«

»Hier sind noch mehr Be­wei­se«, fiel ihr Bla­ke ins Wort. »Bit­te, be­trach­ten Sie die­se bei­den An­sichts­kar­ten. Auf der einen ist die Ka­the­dra­le von Bry­che­s­ter und auf der an­de­ren das Markt­kreuz ab­ge­bil­det. Bei­de sind in Bry­che­s­ter ab­ge­stem­pelt, und zwar eben­falls am 27. Fe­bru­ar. Er hat sie ei­gen­hän­dig ge­schrie­ben, dar­an ist nicht zu zwei­feln. Auf der einen steht: ›Hier ist al­les noch un­ver­än­der­t‹, und auf der an­de­ren: ›Ich bin eben im Be­griff, nach Mal­ve­ry Hold zu ge­hen‹.«

Ra­chels Hand zit­ter­te noch mehr, als sie die bei­den Kar­ten nahm und auf die Hand­schrift starr­te. Plötz­lich sah sie Bla­ke angst­voll an.

»Wa­rum ist er dann nicht nach Hau­se ge­kom­men?« frag­te sie auf­ge­regt. »Er war doch in Bry­che­s­ter!«

Bla­ke war selbst rat­los. Das Ge­heim­nis, das Mal­ve­ry Hold um­gab, ver­dich­te­te sich im­mer mehr.

»Es ist son­der­bar, dass ihn nie­mand er­kannt hat. Er trug al­ler­dings einen Bart, aber er hat doch si­cher ei­ni­ge sei­ner Freun­de in Bry­che­s­ter auf­ge­sucht.«

Ra­chel Mal­ve­ry lach­te bit­ter auf, und Bla­ke sah sie be­trof­fen an.

»Freun­de! Ich glau­be nicht, dass Richard einen ein­zi­gen Freund in Bry­che­s­ter hat­te.« Plötz­lich hielt sie inne und warf ihm einen prü­fen­den Blick zu. »Wie viel hat er Ih­nen von sei­ner Ver­gan­gen­heit er­zählt?«

»Ich weiß, dass es ihm hier zu­letzt nicht gut ging«, gab Bla­ke zu. »Er hat mir viel da­von er­zählt. Der Bo­den wur­de ihm hier schließ­lich zu heiß, und er muss­te fort­ge­hen, weil er zu­viel Schul­den ge­macht hat­te. Aber er hat ja nun Geld mit­ge­bracht, um all die­se Schul­den zu be­zah­len. Und er hat es auf ehr­li­che Wei­se ver­dient. Ich möch­te nur wis­sen –«

»Was möch­ten Sie wis­sen?«

»Hof­fent­lich ist nicht ir­gen­det­was pas­siert. Es war al­ler­dings nicht sei­ne Ge­wohn­heit, Geld mit sich her­um­zu­tra­gen, aber er war im Be­sitz von zwei­tau­send Pfund, als er sich von mir ver­ab­schie­de­te.«

Ra­chels stei­gen­de Angst drück­te sich in ih­rem blas­sen Ge­sicht aus. Aber ihre Stim­me klang fes­ter, als sie sprach.

»Ich freue mich, dass er sei­ne al­ten Schul­den be­zah­len woll­te. Die Leu­te ha­ben so viel über ihn ge­re­det und so viel Schlech­tes von ihm ge­sagt, und mein Va­ter konn­te nichts da­ge­gen ma­chen. Sie se­hen ja, wie die Din­ge hier bei uns ste­hen. Wir sind arm, wirk­lich arm. Des­halb ist das eine Freu­den­bot­schaft für mich. Ist er auf Ihre Ver­an­las­sung hin nach Hau­se zu­rück­ge­kehrt?«

»Ja. Wir wa­ren zwei Jah­re lang Part­ner, und ich wuss­te, dass er Geld ge­spart hat­te. Ich riet ihm also, nach Hau­se zu ge­hen und all die­se un­an­ge­neh­men Din­ge aus der Welt zu schaf­fen. Ich sag­te ihm, dass der Erbe ei­nes eng­li­schen Barons­ti­tels nicht dau­ernd in der Wild­nis le­ben könn­te. Was mag aus ihm ge­wor­den sein, Miss Mal­ve­ry? In Bry­che­s­ter war er Ende Fe­bru­ar, aber wo­hin ist er dann ge­gan­gen? Eins steht je­den­falls fest. Ich wer­de ihn fin­den – le­ben­dig oder tot.«

»Sie glau­ben doch nicht, dass er tot ist?« rief sie.

»Wir wol­len es nicht hof­fen. Ich wer­de uns bald Ge­wiss­heit ver­schaf­fen. Auch ich bin erst vor ein paar Ta­gen nach Eng­land zu­rück­ge­kom­men – vor kur­z­er Zeit habe ich ein großes Ver­mö­gen ge­erbt. In Lon­don hat­te ich viel mit mei­nen Rechts­an­wäl­ten zu be­spre­chen, aber dann kam ich hier­her, so schnell ich konn­te, um Richard zu be­su­chen. In Bry­che­s­ter wird man doch be­stimmt sei­ne Spur auf­fin­den kön­nen.«

»Was wol­len Sie be­gin­nen? Wir müs­sen na­tür­lich auch et­was un­ter­neh­men; das heißt, ich muss es tun. Mein Va­ter ist ja voll­stän­dig ge­lähmt.«

»Über­las­sen Sie im Au­gen­blick al­les mir. Mei­ne An­we­sen­heit in Lon­don ist zu­nächst nicht mehr not­wen­dig. Ich blei­be gleich in Bry­che­s­ter und stel­le Nach­for­schun­gen an. Auf je­den Fall wis­sen wir, dass Richard zur Post ging, und au­ßer­dem muss er doch die­se An­sichts­kar­ten in ei­nem La­den ge­kauft ha­ben. Si­cher hat er auch sein Geld ir­gend­wo de­po­niert. Ich wer­de mich so­fort dar­an­ma­chen, durch Nach­fra­gen die­sen Punkt zu klä­ren. Kön­nen Sie mir einen gu­ten Rechts­an­walt in der Stadt emp­feh­len, bei dem ich mir Rat ho­len kann?«

»Ich kann Ih­nen nur mei­nen Vet­ter, Mr. Boy­ce Mal­ve­ry, nen­nen. Er ist Rechts­an­walt und No­tar in Bry­che­s­ter. Sein Haus liegt dicht ne­ben der Ka­the­dra­le.«

»Ich habe sei­nen Na­men schon ge­hört. Nun gut. Aber ich wer­de auch ver­su­chen, die Sa­che mit Hil­fe der Po­li­zei zu klä­ren. Darf ich wie­der­kom­men und Ih­nen be­rich­ten, wie es vor­wärts­geht?«

»Selbst­ver­ständ­lich! Sie kön­nen zu je­der Zeit kom­men, die Ih­nen be­liebt. Se­hen Sie selbst –« Sie wink­te ihm plötz­lich, ihr zu fol­gen, führ­te ihn aus dem Zim­mer und ließ ihn durch eine of­fe­ne Tür in einen an­de­ren Raum schau­en. »Das ist mein Va­ter«, sag­te sie lei­se. »Sie se­hen, in welch ei­nem trau­ri­gen Zu­stand er sich be­fin­det.«

Bla­ke späh­te vor­sich­tig in das an­gren­zen­de Zim­mer, wo ein al­ter Mann vor ei­nem hell­bren­nen­den Holz­feu­er saß. Er war in De­cken gehüllt, und sein Kopf zit­ter­te. Bla­ke wand­te sich takt­voll ab und sah Ra­chel mit­füh­lend an.

»Ja, ich ver­ste­he. Ich ver­spre­che Ih­nen, al­les zu tun, was in mei­nen Kräf­ten steht. Mor­gen kom­me ich wie­der.«

Ra­chel Mal­ve­ry be­glei­te­te ihn bis zum Hau­stor und sah ihm nach, als er da­von­ritt. Am Ende des Fahr­wegs, der zum Schloss führ­te, wand­te sich Bla­ke noch ein­mal um und schau­te zu­rück. Er hat­te in sei­nem Le­ben schon man­chen ein­sa­men, halb­ver­fal­le­nen Platz ge­se­hen, aber Mal­ve­ry Hold glich mehr ei­ner Rui­ne als ei­ner mensch­li­chen Wohn­stät­te.

3

Be­vor Bla­ke das Ende der Zu­fahrts­s­tra­ße er­reicht hat­te, schlüpf­te Ja­kob El­phick plötz­lich hin­ter ei­nem Ho­lun­der­busch her­vor und streck­te die Hand aus, um ihn an­zu­hal­ten. In Ge­sicht und Stim­me des Al­ten drück­te sich größ­te Er­re­gung aus.

»Ich habe ei­ni­ges von dem ge­hört, was Sie zu un­se­rer jun­gen Lady sag­ten«, be­gann er und gab da­mit ohne wei­te­res zu, dass er hin­ter der Tür ge­lauscht hat­te. »Se­hen Sie, ich muss auf al­les ach­ten, denn au­ßer mir ist nie­mand hier, der noch sorgt. Sie ist doch nur ein jun­ges Mäd­chen, und es sind kei­ne Män­ner mehr in der Fa­mi­lie. Sie sag­ten, dass Richard im ver­gan­ge­nen Fe­bru­ar in Bry­che­s­ter war. Stimmt das wirk­lich?«

Bla­ke blick­te den al­ten Die­ner prü­fend an, be­vor er ant­wor­te­te, und er er­kann­te, dass El­phick nicht aus blo­ßer Neu­gier­de frag­te.

»Sie kön­nen es mir glau­ben, er war dort.«

»Dann hat man ihn um­ge­bracht – er­mor­det! Ja, das ist der rich­ti­ge Aus­druck. Man hat ihn er­mor­det! Schon seit den Ta­gen sei­ner Kind­heit liegt ein Fluch auf ihm. Er­mor­det! Und man könn­te sa­gen, vor der Tür sei­nes Va­ter­hau­ses.«

Bei­na­he pack­te Bla­ke ein un­er­klär­li­ches Furcht­ge­fühl, als er sich von dem er­reg­ten Ge­sicht des al­ten Man­nes ab­wand­te und über die ein­sa­me Bucht schau­te, die sich vor ihm aus­dehn­te. Ein dunkles Schick­sal schi­en über die­ser Ge­gend zu las­ten. Wäh­rend sei­ner kur­z­en Un­ter­re­dung mit Ra­chel hat­te sich die­ser Ein­druck sei­ner be­mäch­tigt, und Ja­kob El­phicks düs­te­re Wor­te ver­tief­ten ihn noch mehr.

»Wer hät­te ihn denn er­mor­den sol­len?« frag­te er nach ei­nem kur­z­en Schwei­gen. »Ich weiß wohl, dass ihm hier der Bo­den un­ter den Fü­ßen brann­te, be­vor er fort­ging, aber ich hat­te nie den Ein­druck, dass je­mand ihn so hass­te, dass er ei­ner sol­chen Tat fä­hig ge­we­sen wäre.«

»Sie ha­ben ihn um­ge­bracht«, sag­te El­phick halb­laut zu sich selbst.

»Ich wer­de die Sa­che der Po­li­zei an­zei­gen, und au­ßer­dem su­che ich Boy­ce Mal­ve­ry auf.«

Ein son­der­ba­rer Aus­druck trat in das Ge­sicht des Al­ten, und ehe Bla­ke sich ver­sah, war El­phick wie­der im Ge­büsch ver­schwun­den und ant­wor­te­te auf sei­nen Ruf nicht mehr.

»Son­der­bar!« dach­te Bla­ke. »Ha­ben ihn mei­ne Wor­te so er­schreckt? Hier ist al­les so selt­sam und un­wirk­lich, und je eher ich die Po­li­zei be­nach­rich­ti­ge, de­sto bes­ser wird es sein. Hier müs­sen ener­gi­sche Maß­nah­men ge­trof­fen wer­den.«

*

Als er nach Bry­che­s­ter zu­rück­kam, hat­te er noch eine Stun­de Zeit bis zum Abendes­sen. Er frag­te des­halb so­fort nach der Po­li­zei­haupt­wa­che. Sie war nicht weit ent­fernt, und bald dar­auf saß er dem Po­li­zei­kom­missar Ather­ton in des­sen Büro ge­gen­über. Er leg­te ihm den gan­zen Sach­ver­halt dar und er­zähl­te auch von sei­nem Be­such in Mal­ve­ry Hold.

»Das ist ein son­der­ba­rer Fall«, er­wi­der­te Ather­ton, als er al­les ge­hört hat­te. »Und Sie sa­gen, dass er Geld be­saß?«

»Er hat­te un­ge­fähr zwei­tau­send Pfund, als er aus Ka­na­da ab­reis­te. Aber na­tür­lich hat er die nicht in der Ta­sche mit sich her­um­ge­tra­gen; sie la­gen auf der Ca­na­di­an Bank of Com­mer­ce.«

»Die hat in Lon­don eine Zw­eignie­der­las­sung. Da kann man leicht fest­stel­len, ob er eine grö­ße­re Sum­me bei sich hat­te, als er nach Bry­che­s­ter kam, wenn er wirk­lich hier ge­we­sen ist.«

»Wie hät­te er sonst das Te­le­gramm und die Post­kar­ten schi­cken kön­nen?«

»Könn­te das nicht ein an­de­rer ge­tan ha­ben, der be­stimm­te Grün­de da­für hat­te?«

»Aber auf den Kar­ten se­hen Sie doch sei­ne ei­ge­ne Hand­schrift! Er war un­be­dingt hier!«

»Es sieht al­ler­dings so aus. Aber nun kom­me ich auf et­was an­de­res. Mr. Richard Mal­ve­ry war doch so gut be­kannt in Bry­che­s­ter, dass er nicht hier­her­ge­kom­men sein kann, ohne ge­se­hen zu wer­den. Er muss­te doch zum Bei­spiel zur Post ge­hen, um das Te­le­gramm ab­zu­schi­cken. Die Post­kar­ten muss­te er in ei­nem La­den kau­fen, und bei sei­ner An­kunft muss­te er sich auf dem Bahn­hof zei­gen. Alle Post- und Ei­sen­bahn­be­am­ten und alle Ge­schäfts­leu­te hät­ten Richard Mal­ve­ry selbst nach ei­ner lang­jäh­ri­gen Ab­we­sen­heit so­fort wie­der­er­kannt. Und wenn ihn ei­ner ge­se­hen hät­te, wäre die Nach­richt von sei­ner Rück­kehr in ei­ner Vier­tel­stun­de im gan­zen Ort ver­brei­tet ge­we­sen!«

»Er hat­te sich aber einen Voll­bart ste­hen las­sen und sah nicht mehr jung, son­dern ge­reift und männ­lich aus. Wenn man fünf Jah­re in den wil­den Ge­gen­den Ka­na­das zu­bringt, ver­än­dert man sich schon ein we­nig. Und er führ­te ein rau­es Le­ben, be­vor er Teil­ha­ber auf mei­ner Farm wur­de.«

»Nun, das mag zu­tref­fen. Mor­gen früh te­le­gra­fie­re ich so­fort an die Nie­der­las­sung der Ca­na­di­an Bank of Com­mer­ce in Lon­don, und hier for­sche ich nach, ob ei­ner der Be­am­ten oder sonst je­mand Dick Mal­ve­ry ge­se­hen hat. Aber –«

Er zuck­te die Schul­tern und mach­te eine vage Hand­be­we­gung.

»Aber wenn das al­les ge­sche­hen ist«, nahm Bla­ke den un­aus­ge­spro­che­nen Ge­dan­ken auf, »dann sind wir wahr­schein­lich nicht viel klü­ger. Wir wis­sen dann im­mer noch nicht, wo er ist. Aus die­ser einen Post­kar­te ist je­den­falls deut­lich zu er­se­hen, dass er die Ab­sicht hat­te, nach Hau­se zu ge­hen. Aber dort ist er nicht an­ge­kom­men. Vi­el­leicht ist es das bes­te, wenn ich eine Be­loh­nung aus­set­ze. Dann be­kom­men wir si­cher ir­gend­wel­che Nach­rich­ten über ihn. Selbst wenn man nicht wuss­te, wer er war, muss man doch den ver­meint­li­chen Frem­den ge­se­hen ha­ben. Was mei­nen Sie dazu? Wäre es nicht gut, mor­gen früh eine Be­kannt­ma­chung in der Stadt an­schla­gen zu las­sen und dar­in die Be­loh­nung zu ver­spre­chen?«

»Das kos­tet aber Geld«, mein­te Ather­ton zö­gernd.

»Und wenn tat­säch­lich ein Ver­bre­chen vor­lie­gen soll­te, er­reicht man nur et­was, wenn man eine grö­ße­re Sum­me aus­setzt. Sonst kommt nichts her­aus.«

»Ich wer­de nichts un­ver­sucht las­sen, um Dick Mal­ve­ry zu fin­den«, er­wi­der­te Bla­ke fest ent­schlos­sen. »Ich bin reich; ich habe vor kur­z­er Zeit ein großes Ver­mö­gen ge­erbt. Es kommt mir auf Geld nicht an.« Er nahm sei­ne Brief­ta­sche her­aus. »Hier sind hun­dert Pfund, das wird fürs ers­te ge­nug sein. Las­sen Sie den An­schlag dru­cken.«

»Das ist ein prak­ti­scher Vor­schlag.« Ather­ton ver­schloss die Bank­no­ten in ei­ner Schub­la­de. »Zu­nächst schrei­be ich Ih­nen eine Quit­tung aus, und mor­gen früh kön­nen Sie den An­schlag schon über­all le­sen. Aber sei­en Sie nicht ent­täuscht, wenn wir da­mit kei­nen Er­folg ha­ben. Wenn Ja­kob El­phick mit sei­ner Ver­mu­tung recht ha­ben soll­te, dann ist das Ver­bre­chen si­cher in größ­ter Heim­lich­keit aus­ge­führt wor­den.«

»Wer könn­te denn als Tä­ter in Fra­ge kom­men? Hat­te er über­haupt sol­che Tod­fein­de?«

Der Po­li­zei­kom­missar lehn­te sich in sei­nen Stuhl zu­rück.

»Ich kann ge­ra­de nicht sa­gen, dass er Fein­de hat­te«, ent­geg­ne­te er nach­denk­lich. »Aber er hat hier ein ziem­lich wil­des Le­ben ge­führt und vie­le böse Strei­che be­gan­gen. Er war auch in Lie­bes­hän­del ver­wi­ckelt, und als er da­mals ver­schwand, ging all­ge­mein das Gerücht, dass es ihm schlecht ge­gan­gen wäre, wenn ein ge­wis­ser Ju­dah Clent ihn ge­fasst hät­te. Die­ser Ju­dah Clent ist ein See­mann, und sei­ne Schwes­ter Gil­li­an ist von Richard Mal­ve­ry schlecht be­han­delt wor­den. Ju­dah war un­ter­wegs, als Richard fort­ging, sonst hät­te es da­mals schon einen Zu­sam­men­stoß ge­ge­ben. Vi­el­leicht –«

Ather­ton be­en­de­te den Satz nicht und sah sei­nen Be­su­cher viel­sa­gend an.

»Sie den­ken dar­an, dass die bei­den in der Nacht nach Richards Rück­kehr an­ein­an­der­ge­ra­ten sein könn­ten?«. »Ganz recht. Ich muss fest­stel­len, wo Ju­dah Clent da­mals war. Die­se Cl­ents sind ganz merk­wür­di­ge Leu­te. Nie­mand weiß, was man von der Mut­ter, dem Sohn oder der Toch­ter hal­ten soll.«

»Woh­nen sie in Bry­che­s­ter?«

»Nein, sie hau­sen an der großen Bucht, an der man kurz vor Mal­ve­ry Hold vor­bei­kommt. Ich wer­de mich un­ter der Hand er­kun­di­gen. Aber es könn­te ja auch eine an­de­re Lö­sung ge­ben. Vi­el­leicht war Richard Mal­ve­ry so un­vor­sich­tig, eine große Sum­me mit­zu­neh­men und sie acht­los zu zei­gen. Es könn­te ihm je­mand nach­ge­schli­chen sein, um sich das Geld an­zu­eig­nen. Die Ge­gend zwi­schen Bry­che­s­ter und Mal­ve­ry Hold ist ein­sam, und die Fe­bruar­näch­te sind dun­kel. Auf je­den Fall müs­sen wir auch die­se Mög­lich­keit im Auge be­hal­ten.« »Ge­wiss. Wir wer­den noch an vie­les den­ken müs­sen. Wenn Sie sich mit mir in Ver­bin­dung set­zen wol­len oder mich brau­chen – ich bin im ›Kar­di­nals­hut‹ ab­ge­stie­gen, und ich will so lan­ge dort blei­ben, bis wir die Sa­che auf­ge­klärt ha­ben.«

Bla­ke ver­ab­schie­de­te sich. Ather­ton blieb noch eine Wei­le nach­denk­lich sit­zen, dann er­hob er sich und ver­ließ sein Büro, um Mr. Boy­ce Mal­ve­ry auf­zu­su­chen.

4

Po­li­zei­kom­missar Ather­ton ging auf ei­nes der al­ten Häu­ser zu, die in der Nähe der Ka­the­dra­le la­gen. Es war von ei­ner ho­hen Mau­er um­frie­det und von ei­nem Gar­ten um­ge­ben. Der gan­ze Platz hat­te et­was fei­er­lich Erns­tes, und der Lärm des All­tags schi­en nicht bis hier­her zu drin­gen. Un­ter dem Schutz die­ser al­ters­grau­en Mau­ern fühl­te man sich si­cher und ge­bor­gen. Un­be­wusst nah­men auch die Be­woh­ner die­ser Häu­ser et­was von dem Cha­rak­ter ih­rer Um­ge­bung an und zeich­ne­ten sich durch Ernst und Wür­de in Spra­che und Hal­tung aus. Bei den an­de­ren Bür­gern der Stadt gal­ten die Leu­te, die hier wohn­ten, als eine Art Ari­sto­kra­ten. Ru­hig und still war es auch in dem alt­mo­di­schen Wohn­zim­mer, in dem Mr. Boy­ce Mal­ve­ry mit sei­ner Mut­ter und de­ren Ge­sell­schaf­te­rin, Miss Hes­ter Pryn­ne, saß. Mrs. Mal­ve­ry strick­te, Miss Pryn­ne hat­te eine Hand­ar­beit im Schoß, und Mr. Boy­ce Mal­ve­ry las die Ti­mes. Ge­le­gent­lich sah er zu den bei­den Da­men hin­über und las ih­nen Ab­schnit­te aus der Zei­tung vor, die sie in­ter­es­sier­ten.

Ather­ton ver­kehr­te häu­fig in die­ser Fa­mi­lie. Als er ein­trat, hat­te er, wie schon so oft, den Ein­druck, dass die Leu­te in die­sem Raum aus­ge­zeich­net zu der al­ten Ein­rich­tung pass­ten. Mrs. Mal­ve­ry war eine große, auf­rech­te Frau, die sich trotz ih­rer Jah­re sehr gut ge­hal­ten hat­te. Sie hat­te einen ener­gi­schen Blick, und ihr schwar­zes Haar zeig­te nur we­ni­ge graue Fä­den. Miss Pryn­ne war ein hüb­sches jun­ges Mäd­chen, sah aber et­was scheu und furcht­sam aus. Sie hat­te ein stil­les und zu­rück­hal­ten­des We­sen. Und Boy­ce Mal­ve­ry trug einen schwar­zen Geh­rock, der eher der Mode der neun­zi­ger Jah­re als der heu­ti­gen ent­sprach. Er war etwa vier­zig Jah­re alt, hat­te schon seit lan­gem einen kah­len Kopf und hielt sich nicht ganz ge­ra­de. Eine un­ge­sun­de, graue Ge­sichts­far­be ließ sei­ne ver­trock­ne­ten Züge noch äl­ter er­schei­nen. Er war ein ru­hi­ger, re­ser­vier­ter und klu­ger Mann. Nie­mand wuss­te das bes­ser als Ather­ton.

Der Be­am­te fühl­te sich hier zu Hau­se und be­grüß­te die An­we­sen­den in fa­mi­li­ärer Wei­se. Dann nahm er auf dem Stuhl Platz, den ihm Mrs. Mal­ve­ry an­bot. »Sie kom­men ge­ra­de recht zu ei­ner Par­tie Whist,1 Cap­tain Ather­ton«, sag­te sie. »Ich war schon in Sor­ge, ob Sie über­haupt er­schei­nen wür­den.«

Der Kom­missar lä­chel­te und sah Boy­ce Mal­ve­ry an. »Ich weiß nicht, ob das heu­te abend ge­hen wird, denn ich kom­me ei­gent­lich in amt­li­cher Ei­gen­schaft. Die Sa­che ist nicht be­son­ders ei­lig und auch nicht ge­heim, denn mor­gen früh wer­den es alle Leu­te in der Stadt wis­sen. Aber da es auch Sie an­geht, woll­te ich es Ih­nen doch er­zäh­len. Ich habe Nach­rich­ten über Ihren Vet­ter er­hal­ten, Boy­ce.«

Mrs. Mal­ve­ry ließ ihr Strick­zeug in den Schoß sin­ken. Miss Pryn­ne, die den Kar­ten­tisch zu­recht­set­zen woll­te, blieb ste­hen und warf über die Schul­tern der al­ten Dame einen Blick auf Mr. Ather­ton. Hät­ten die an­de­ren drei sie in die­sem Au­gen­blick an­ge­se­hen, so wäre es ih­nen nicht ent­gan­gen, dass sie plötz­lich blass wur­de. Aber Mrs. Mal­ve­ry be­merk­te ge­ra­de zu ih­rem Ent­set­zen, dass sie eine Ma­sche hat­te fal­len las­sen. Ather­ton sah den No­tar an, aber der las noch schnell sei­nen Ar­ti­kel in der Ti­mes zu Ende. Dann schau­te er mit gleich­gül­ti­gem Ge­sicht auf.

»Sie ha­ben et­was von ihm ge­hört?« frag­te er in sei­ner lang­sa­men und et­was nä­seln­den Art. »Das ist ja in­ter­essant. Von wel­chem mei­ner Vet­tern spre­chen Sie denn ei­gent­lich?«

»Das wis­sen Sie doch ge­nau! Na­tür­lich von Richard!« Boy­ce nahm sei­ne Bril­le ab und leg­te sie auf die Zei­tung.

»Neu­ig­kei­ten von Richard? Nun, ich bin sehr be­gie­rig.«

»Es ist eine son­der­ba­re Ge­schich­te, aber wir müs­sen uns da­mit be­schäf­ti­gen, denn sie kann sehr ernst wer­den. Heu­te abend kam ein ge­wis­ser Mr. Bla­­­­­­­­