„Der freie Verkehr ist ein so großes Gut, daß wir es nicht entbehren könnten, selbst um den Preis nicht, daß wir von Cholera und noch vielen anderen Krankheiten verschont blieben. Eine Sperre des Verkehrs bis zu dem Grade, daß die Cholera durch denselben nicht mehr verbreitet werden könnte, wäre ein viel größeres Unglück als die Cholera selbst

Max von Pettenkofer, 1873

Einleitung Die „größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“?

Wir durchleben derzeit die „Corona-Krise“ – bei Google hatte dieser Terminus am 20. April 2020 mehr als 88 Millionen Einträge. Auch die „Corona-Katastrophe“ war mit etwa 14,5 Millionen Einträgen bei Google hoch im Kurs (20. April 2020). Weniger dramatisch, aber immer noch im Superlativ sprach Sebastian Kurz (geb. 1986), der Bundeskanzler Österreichs, am 15. März 2020 von der „größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“. In ihrer öffentlichen Fernsehansprache am 18. März 2020 verwandte Angela Merkel (geb. 1954), die Bundeskanzlerin Deutschlands, ganz ähnliche Worte. Armin Laschet (geb. 1961), Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, spricht von der „größten Bewährungsprobe der Landesgeschichte“. Bereits am 16. März 2020 hatte Markus Söder (geb. 1967), der Ministerpräsident von Bayern, den Katastrophenfall für ganz Bayern ausgerufen, nachdem der Bürgermeister des kleinsten Bundeslandes drei Tage vorher stolz verkündet hatte, dass Bremen „als eines der ersten Bundesländer die Empfehlung des Bundesgesundheitsministers umgesetzt und Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern abgesagt habe“. Am 1. April versuchte Armin Laschet in einem parlamentarischen Hauruckverfahren wegen der „dramatischen Lage“ ein Pandemiegesetz durch den Landtag zu bringen, das von der Opposition in Teilen als verfassungswidrig eingeschätzt wurde. Am Ende wurde das umstrittene „Epidemiegesetz“ am 14. April 2020 mit Zustimmung aller Fraktionen des Landtags – außer erwartungsgemäß der AfD – verabschiedet.

Beispiele für die Katastrophenrhetorik und die Dynamik von Maßnahmen, die tief in die gesellschaftliche Ordnung eingreifen, lassen sich national wie auch international beliebig viele finden. Die Präsidenten Frankreichs und der USA fechten gar Endzeitschlachten aus und bringen die klassische Kriegsmetaphorik aus der Immunitätslehre und Bakteriologie, die schon um 1900 Konjunktur hatte, zu neuer Blüte. Ist das, was wir derzeit erleben, tatsächlich die größte Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg? Wie lange reicht unser Gedächtnis zurück?

In der aktuellen Pandemie wird diese Frage vielfach an die Geschichte gestellt. Die Medienwelt ist reich an historischen Vergleichen. Kritisch zu hinterfragen ist dabei in jedem Fall, wie weit historische Vergleiche taugen – ist die Geschichte doch kein Secondhandshop oder eine Mottenkiste, aus der man je nach Tageskurs und Tagesform eine Analogie hervorziehen kann. Dennoch taugt der Blick zurück, um das aktuelle Katastrophenszenario einordnen und reflektieren zu können. Den einfachsten, wenn auch zynisch anmutenden Parameter, die aktuelle Pandemie mit vergangenen Seuchenkatastrophen seit dem Zweiten Weltkrieg zu vergleichen, bietet die Mortalitätsstatistik. Abgesehen von den zahlreichen politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Unglücken, Katastrophen und Krisen der Nachkriegszeit, hier in Stichworten einige wenige Beispiele aus der Krankheits- und Sterblichkeitsstatistik der Bundesrepublik Deutschland bzw. Deutschlands seit 1945:

Und Covid-19? Zwar sind die Infektionsraten hoch, auch ist die Letalität, die Tödlichkeit in Deutschland – erwartungsgemäß – angestiegen. Jeder einzelne Tote ist ein schmerzlicher Verlust. Aber epidemiologisch müssen wir auch festhalten, dass die anderen üblichen Übel, die alltäglichen Krankheiten, das alltägliche Sterben an Hirn- und Herzinfarkten, an Krebs, an Lungen- oder Stoffwechselkrankheiten eben auch weiter existieren – all das allerdings regt niemanden auf, der nicht betroffen ist. Es wird gegebenenfalls nicht einmal zur Kenntnis genommen. Die Seuche dominiert die Tagesgespräche und die Medien.

Warum reagieren wir, warum reagiert die weltweite Öffentlichkeit bei der Corona-Pandemie dieses Mal anders und radikaler als früher? Regional begrenzte Kontaktsperren gab es auch bei früheren Pandemien. Das Infektionsschutzgesetz und das frühere Bundesseuchengesetz sahen schon vorher Eingriffe in die Grundrechte vor. Die Optionen, die dieses Ausnahmegesetz bietet, wurden aber nie so schnell, umfassend und einschneidend gezogen wie in der jetzigen Pandemie. Die generelle Frage muss also lauten: Warum trifft uns diese Pandemie in einer Weise, die zumindest in unserer aktuellen Wahrnehmung unser Land, Europa, ja die ganze Weltgemeinschaft in den Grundfesten zu erschüttern droht?

Dazu sei hier eine Grundthese aufgestellt, die die Argumentation in und zwischen den nachfolgenden Zeilen bestimmen soll: Handel, Wandel, Kontakte, Kommunikation sind das Lebenselixier von Gemeinschaft und Gesellschaft und – wie wir jetzt feststellen – auch von globalen Gesellschaften. Eben dieser in den letzten Jahrzehnten ausgeweitete, eingeübte, gelernte und für die Zukunft der weltweit vernetzten Informationsgesellschaft als in jeder Hinsicht selbstverständlich unterstellte soziale Austausch und damit die Gesundheit des öffentlichen Lebens sind durch eine ansteckende Krankheit gefährdet, ja kurz davor zum Erliegen zu kommen. Wie problematisch fehlender Austausch und auch fehlende Kommunikation sind, wird deutlich, wenn viele Waren und Dienstleistungen, die in unserem Alltag völlig selbstverständlich waren – wie etwa Atemschutzmasken – auf einmal nicht mehr aus China oder anderen Teilen der Welt zu uns gelangen.

Daraus resultiert sogleich die nächste, in die Zukunft gerichtete Frage: Wie wird es künftig, nachdem die Corona-Pandemie abgeklungen ist, möglich sein, größtmögliche Freizügigkeit, Handel und kulturellen Austausch bei einem zukünftigen, vergleichbaren Ereignis aufrechtzuerhalten?

Eine maßgebliche Rolle im aktuellen Geschehen, seiner Beurteilung und in den künftigen Maßnahmen spielt der Austausch von Nachrichten – und was sich in persönlicher Kommunikation, Funk, Fernsehen und sozialen Medien als Nachrichten ausgibt. Wir sind zeitgleich auch mit den entlegensten Gegenden der Welt verbunden und können das örtliche Geschehen im besten Fall im direkten Kontakt mit den Menschen in diesen Gegenden von Angesicht zu Angesicht erörtern. Zwischen den veröffentlichten und den privaten Nachrichten konnte sich die Welt seit den ersten Januarwochen des Jahres 2020 ein Bild davon machen, was in China geschieht. Die Welt hätte sich entsprechend wappnen können. Waren die vergangenen Seuchen vergessen? Waren die Erfahrungen, ja die ausgearbeiteten Evaluationen voriger und die Planspiele künftiger Epidemien vergessen? Woher diese scheinbar überschießenden Reaktionen?

Wir stehen derzeit immer noch mitten im Seuchengeschehen. In diesem Wirbel von Informationen und Meinungen ist es schwierig, einen Punkt zu gewinnen, von dem aus sich das aktuelle Ereignis beurteilen lässt. Forschung und Wissenschaft sind solche Orte. Denn zumindest sind wissenschaftliche Aussagen belegt und können daher überprüft werden. Aber: Die Antworten der Forscher sind notwendig hochspezialisiert – seien es die von Virologen, Epidemiologen, Klinikern oder anderen Experten. Außerdem sind Aussagen der Forschung notwendigerweise immer vorläufig – das ist das Charakteristikum der Wissenschaften. Nur wenig bleibt im Laufe der Zeit als gesichertes Wissen übrig. Vielleicht kann in einer solchen Situation und an dieser Stelle trotz aller Vorsicht vor vorschnellen Vergleichen und Analogieschlüssen ein Blick in die Geschichte dazu dienen, die Situation in langfristiger Perspektive zu ergründen und auf diese Weise etwas Klarheit zu gewinnen.

Diejenigen, die jetzt Entscheidungen treffen müssen, handeln in eine offene Zukunft hinein. Das gilt – darauf wird zurückzukommen sein – grundsätzlich für alle Ärztinnen und Ärzte, und es gilt auch für Akteurinnen und Akteure der öffentlichen Gesundheitssicherung. Das Handeln ins Unsichere, das „Handeln als ob“ bietet im aktuellen Geschehen verschiedene Aussichten und Optionen. Die Geschichte gewährt uns Handlungsoptionen, die in Ereignissen oder Strukturen geronnen und deren Folgen historische Tatsachen geworden sind.

Hier wollen wir mit Blick auf die Corona-Pandemie von 2020 ansetzen. Seuchen aus der Vergangenheit in ihren jeweiligen biologischen, anthropologischen und sozialen Zusammenhängen sowie ihre Aus- und Nachwirkungen auf das Leben der Menschen bilden also den Gegenstand der folgenden Gedanken. Gerichtet wird der Blick auf die historischen Ereignisse durch folgende Fragen: Welche Entwicklungslinien lassen sich – gegebenenfalls sogar in ihrem Fortwirken – erkennen, welche – möglicherweise auch im Verborgenen wirkenden – Entwicklungsmomente sind auszumachen, welche Schlussfolgerungen können wir ziehen?

In diesem Sinne verhandelt dieses Buch eine zwar historisch-empirische, aber handlungsbezogene und damit „pragmatische Medizingeschichte“. Es geht zwar primär um „Geschichte an und für sich“. Erkenntnisse aus vielen historischen Arbeiten fassen wir hier in kleinen Skizzen zusammen. Es geht aber im zweiten Schritt auch um die Konsequenzen, die sich aus einer professionellen Geschichtsschreibung ergeben können. Das Ergebnis sollen Vorüberlegungen zum künftigen Umgang mit „new emerging diseases“ sein, wie wir der internationalen Terminologie folgend die in den letzten Jahren und in Zukunft immer wieder auf unsere Gesellschaften neu zukommenden Infektionserkrankungen zusammenfassend nennen werden. Denn eines können wir bereits aus den wenigen oben ausgeführten Daten entnehmen: Wir müssen uns darauf einstellen, dass derartige Epi- und Pandemien in kurzen Abständen ständig wiederkehren werden. Und wir können uns darauf vorbereiten.

Die Argumentation in diesem Buch ist folgendermaßen geordnet: Zunächst werden das neue Virus und die neue Pandemie vorgestellt (= 1.) und in die Reihe der „skandalisierten Krankheiten“ und der „echten Killer“ eingeordnet (= 2.). Anschließend werden in kurzen historischen Überblicken Seuchen vorgestellt, die ihre Spuren in der allgemeinen Geschichte (= 3.) und in der heute gegebenen Organisation öffentlicher Gesundheitsleistungen vornehmlich in Deutschland hinterlassen haben (= 4.). Diesen historischen Beispielen werden grundlegende Modelle aus der Biologie und der Organisation menschlichen Zusammenlebens (= 5.) sowie eine systematisierte Analyse der Handlungsmöglichkeiten öffentlicher Gesundheitssicherung gegenübergestellt (= 6.). Auf dieser ebenso historischen wie systematischen Basis ist es möglich, die alten und neuen Seuchen in ihren biologischen und gesellschaftlichen Grundlagen besser zu verstehen (= 7.). Den Abschluss bilden Antworten auf die oben formulierten grundlegenden Probleme und Fragen (= 8). Wie können wir trotz aller gesundheitlichen Gefahren den Austausch, den weltweiten Verkehr von Waren, Gütern, Dienstleistungen und Menschen in einer globalen Welt aufrechterhalten? Zwar bauen die Kapitel aufeinander auf, sie sind aber in sich abgeschlossen les- und verstehbar. Dadurch können sich in einzelnen Aspekten kleine Dopplungen ergeben.

Dieses Buch hat German Neundorfer im Namen des Verlages Herder im März 2020 angeregt. Das E-Book soll bereits Ende April 2020 erscheinen. Uns als Autoren ist klar, dass hier – besonders mit Blick auf das aktuelle Seuchengeschehen – viel Vorläufiges ausgesagt wird. Und vieles kann in der gebotenen Kürze nur angedeutet werden, vieles wird sogar fehlen. Auch Irrtümer werden zu finden sein: Wir sind keine Virologen. Aber schauen wir zurück, was die Wortführer in Forschung, Wissenschaft und Politik seit Januar dieses Jahres gesagt haben.Die „Corona-Lernkurve“ war und ist steil – und sie wird es mit Blick auf die Biologie des Virus, auf Prävention, auf Impfstoffe, auf Therapeutika und auf Maßnahmen der öffentlichen Gesundheitssicherung noch lange bleiben. Eine Printversion des Buchs soll bereits im Juni 2020 folgen. Wir danken German Neundorfer, dass er uns zu diesem Kraftakt bewegt und unsere Arbeit nach Kräften unterstützt hat. Wir danken Maria Griemmert und Ulrich Koppitz: beide haben die Endversionen des Manuskripts gegengelesen. Torsten Wurm und Jörg Timm sei für ihre korrigierenden Hinweise gedankt. Sämtliche verbleibenden Fehler gehen selbstverständlich zu unseren Lasten.