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WILFRIED KRUSEKOPF

EINFACH SEGELN

RÜCKKEHR ZUM WESENTLICHEN

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Inhalt

Vorwort

1. Unsere »moderne« Segelwelt

2. Warum segeln wir eigentlich?

3. Was braucht der Segler wirklich?

Das primäre Ziel lautet: Unabhängigkeit!

4. Gute Navigation, die Spaß macht ohne Displayherrschaft

5. Wie viel Öko ist realistisch machbar?

6. Der große Törn mit kleinem Geld

Anhang

Stichwortregister

Vorwort

Die Entwicklung des Segelsports geht in weiten Bereichen immer mehr in Richtung High-Tech-Lifestyle-Cruising. Damit verbunden ist leider auch eine wachsende Abhängigkeit von komplizierter Bordtechnik und fachlich gut geschultem Wartungspersonal im Hafen. Das Segel-Naturerlebnis rückt immer weiter in den Hintergrund. Brauchen wir wirklich Laminatsegel, Plotter am Doppel-Steuerstand, Bussysteme in der Bordelektronik, Kap-Hoorn-taugliches 3-Lagen-Ölzeug und andere Lifestyle-Attribute an Bord, um sicher, entspannt, verantwortungsvoll und vor Allem mit viel Vergnügen zu segeln? Warum gehen wir eigentlich segeln? Ist es nicht in erster Linie der Wunsch nach etwas mehr Unabhängigkeit, mehr Naturnähe? Abstand zum computergeprägten Arbeitsalltag? Aktiv gelebte Auseinandersetzung mit Wind, Wellen und Wetter? Lässt sich wahre Freude am Segeln nur mit einem High-Tech-Boot erreichen? Der Regattasegler wird diese Fragen anders beantworten als der Fahrtensegler, doch wendet sich dieses Buch an Letztere, die Segeln als möglichst weitgehende Befreiung vom Land-Alltag erleben wollen.

Rückkehr zum Wesentlichen

Nach einer kritischen Analyse der Entwicklung des Segelsports wird in diesem Buch sehr konkret und pragmatisch dargestellt, wie der Segler mit weniger moderner Technik, weniger Materialeinsatz und auch weniger finanzieller Belastung, dafür aber mit mehr Unabhängigkeit, mehr Naturnähe und mehr Nachhaltigkeit seinen Segelgenuss steigern kann. Aber keine Sorge: Hier soll nicht das Leben des postmodernen Segelhippies verherrlicht werden, der an Deck Kräuter züchtet, Konsumverzicht predigt, Pi mal Daumen ohne GPS navigiert und sich auf seinem 8 m langen, alten Seelenverkäufer nur mit Mühe über Wasser halten kann.

Vielmehr wollen wir – nicht zuletzt auch dem jüngeren, vielleicht weniger erfahrenen, aber umso intensiver von Segelreisen träumenden Segler – konkret zeigen, dass es möglich ist, bei geschickter Planung, sinnvoller Wahl des Bootes und der Ausrüstung und einer auf Naturnähe und Nachhaltigkeit zielenden Grundhaltung mehr Unabhängigkeit, mehr Freude am Segeln zu erzielen, ohne dabei an Bord einen kultivierten Lebensstil aufgeben zu müssen.

Einen Schwerpunkt bildet die Frage, wie sich der Traum der großen Seereise unter selbst gesetzten Segeln auch heute noch ohne größere finanzielle Lasten mit einem sicheren und zuverlässigen Boot in naturnaher Haltung verwirklichen lässt. Darum beinhaltet das letzte Kapitel konkrete Hilfestellungen bei der Suche nach einer älteren, aber soliden und zuverlässigen gebrauchten Yacht.

1. Unsere »moderne« Segelwelt

Wir beginnen mit einer kritischen Bestandsaufnahme der neueren Entwicklungen in Yachtbau und Ausrüstung und der sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Fahrtensegler. Keine Sorge: »Früher war alles besser« ist keineswegs Grundtenor dieses Buches. Für Captain Cook wären reißfeste Segel und ein nicht leckender Schiffsrumpf erstrebenswerte High-Tech-Produkte gewesen. In diesem Sinne gibt es auch für uns Segler des 21. Jahrhunderts sicherlich etliche wertvolle Neuentwicklungen. Allerdings soll hier im ersten Kapitel auf diejenigen Entwicklungen im Segelsport aufmerksam gemacht werden, die den Segelgenuss in der Regel nicht vergrößern, sondern eher einschränken.

Große Yachten und Hafenstress

Beginnen wir mit einer Situation, die wohl fast jeder Segler kennt:

Eine modern gestylte 16-m-Yacht läuft mit sieben Leuten an Deck in den Hafen ein. Skipper und Mannschaft versuchen so gut sie können, das Anlegemanöver vorzubereiten, aber man sieht es den Leuten an, dass sie etwas verunsichert sind. Der Hafenassistent kommt in seinem Außenborder-Schlauchboot angerauscht und weist einen Liegeplatz zu, leider etwas spät, denn die zugewiesene Box ist dummerweise bereits passiert und liegt achteraus. Ein mittelkräftiger Wind steht quer, sodass das Schiff nach dem Aufstoppen trotz Bugstrahlruders unkontrolliert schräg wegtreibt. Maschine achteraus, doch der Radeffekt zieht das Heck genau zur falschen Seite und statt rückwärts geradlinig Fahrt aufzunehmen, dreht und treibt die Yacht quer in der schmalen Gasse zwischen den bedrohlich nahekommenden anderen Schiffen. Der Anker im Bugbeschlag verhakt sich im Heckkorb einer anderen Yacht und reißt diesen halb heraus. Fender werden vergebens hektisch hin- und herplatziert. Es kracht ein zweites Mal, diesmal am Heck. Der Rudergänger versucht verzweifelt mit Maschine Vorwärts-Rückwärts und Bugstrahlruder die Situation in den Griff zu bekommen – vergeblich. Endlich schafft es das Hafenschlauchboot mit heulendem Außenborder, das große Schiff mit seiner gestressten Mannschaft aus der Notlage zu befreien.

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Normalzustand in vielen Häfen im Hochsommer: Kein einziger Liegeplatz ist frei.

Erstes Problem: Die Yacht ist gemessen an den Manövriermöglichkeiten im Hafen viel zu groß. Unter dem Windeinfluss von der Seite wird der Rudergänger in die Enge getrieben und ist überfordert.

Weiteres Problem: Die Kommunikation zwischen Skipper und Crew über Bug und Heck funktioniert nicht; kein Wunder bei 16 m Länge über Deck und sieben Leuten Besatzung.

Verfolgt man die Produktpaletten der großen Yachtwerften im Laufe der letzten drei Jahrzehnte, wird sofort deutlich, dass die Entwicklung zu immer größeren und komfortableren Yachten kein Ende nimmt. Inzwischen haben praktisch alle großen Werften ein mindestens 60 Fuß langes Schiff im Programm. Und diese großen Boote werden zahlreich verkauft! Einige als Eigneryachten, viele für den Charterbetrieb. Im Jahre 1980 war das größte Schiff in der Großserienwerft Jeanneau die Mélodie mit 34 Fuß. Heute ist das größte Schiff dort mit 64 Fuß fast doppelt so lang. Gleiches gilt für die anderen Großserienwerften. Vor 35 Jahren war es nichts Ungewöhnliches, mit einer Monsun 31 (Länge 9,40 m) mit vier Personen von Hamburg in die Karibik zu segeln. Heutzutage werde ich mit meinem 40-Fuß-Schiff in Madeira gefragt, ob es denn nicht viel zu gefährlich sei, mit einem so kleinen Schiff so weit zu segeln.

Die Schiffslänge scheint eine Schraube ohne Ende zu sein. Nur sind die Häfen im Laufe der Zeit nicht mitgewachsen. Zwar wurden in den letzten 30 Jahren zahlreiche neue Marinas angelegt, aber die alten, historisch gewachsenen Häfen – und das sind die wegen ihrer Atmosphäre beliebtesten – platzen dennoch aus allen Nähten. Zudem sind die Liegeplätze in den vor 20 Jahren neu gebauten Marinas heute auch schon wieder zu klein, weil die Yachten inzwischen noch einmal 50 % länger geworden sind. Im Mittelmeer, wo es vielerorts üblich ist, römisch-katholisch anzulegen, also mit dem Heck an die Pier und den Bug gesichert durch den eigenen Anker oder durch eine Mooringleine, ist der Andrang in der Hochsaison in den alten und neuen Häfen inzwischen so groß, dass zum Beispiel in Griechenland mancherorts in zwei Reihen hintereinander römisch-katholisch festgemacht wird. Der daraus resultierende »Ankersalat« ist oft unvermeidlich.

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Stress durch Überfüllung: Yachten in zwei Reihen hintereinander römisch-katholisch festgemacht. Programmierter Ankersalat.

In Häfen mit Schwimmstegen wie beispielsweise in Süd-England, am französischen Atlantik oder an der Algarve wurde beim Bau der Breitenabstand zwischen den Fingerstegen in der Regel so gewählt, dass er für zwei »normale« 11-13-m-Yachten voll ausreichte. Macht dort heute aber beispielsweise eine »Flunder« wie die Pogo 12.50 mit 4,5m Breite fest, passt als Nachbarschiff nur noch eine Jolle daneben. In einigen Häfen wird darum die Liegegebühr nicht mehr nach Bootslänge, sondern nach belegter Quadratmeterzahl festgelegt, was sinnvoll erscheint.

In vielen Häfen wurden die Gassen zwischen den Stegen einst in den 80er- und 90er-Jahren so angelegt, dass bei 9-11 m Bootslänge genügend Raum zum Manövrieren blieb. Heute liegen aber 12-14-m-Schiffe an denselben Fingerstegen, sodass in der Gasse zwischen den voll belegten Pontons der Raum zum Manövrieren gefährlich knapp wird. Kollisionen beim An- oder Ablegen sind daher praktisch vorprogrammiert. Nicht zuletzt dann, wenn ein steifer Wind weht und es sich um eine Charteryacht handelt. Denn die Chartercrew ist häufig nicht mit dem Manövrierverhalten der Yacht vertraut. Wie denn auch bei nur ein oder zwei Segelwochen im Jahr?

Die Hafenbetreiber sind sich dieser Probleme bewusst, und es wird inzwischen in vielen Häfen erwartet, dass sich eine einlaufende Yacht über UKW anmeldet, sodass sich die Einparkhilfen-Hafenbarkasse früh genug zum Einsatz klarmachen kann.

Viele der Liegeplätze in alten, historisch gewachsenen und deshalb besonders attraktiven Häfen werden umgebaut und aus kommerziellen Gründen bevorzugt an große Luxusyachten vermietet. Die Restplätze gehen an Einheimische. Für die übrigen Wassersportler wurden außerhalb der Stadt neue künstliche Marinas mit viel Beton und hohen Steinschüttungen angelegt. Aber auch diese Häfen sind meist – nicht nur in der Hochsaison – rappelvoll. Im Mittelmeer in Spanien, Italien und Kroatien konnten es sich deshalb die Hafenbetreiber in den letzten Jahren aufgrund der großen Nachfrage erlauben, die Liegegebühren skrupellos explodieren zu lassen.

In den beliebtesten Häfen der Côte d’Azur und auch auf Korsika sowie vielerorts in Italien ist es inzwischen notwendig und üblich, bereits viele Monate im Voraus die Hafenplätze für den geplanten Sommertörn zu reservieren. Nicht Windrichtung und Wetter oder die spontane Idee, einfach aus Lust einen bestimmten Hafen anzulaufen, entscheiden über den Törnverlauf, sondern die zu Weihnachten wetterunabhängig festgelegten Reservierungen. Kommentar überflüssig …

Fragwürdige Entwicklungen im Yachtbau

Schauen wir uns die in den letzten Jahren für den Großserienbau neu entwickelten Yachten einmal etwas detaillierter an:

Egal ob es sich um die preislich für den Chartermarkt optimierte Yacht aus der Großserienwerft handelt oder um eine auf das Eigner-Segment zugeschnittene skandinavische Hochpreisyacht, die Schiffe zeigen überwiegend folgende Baumerkmale:

Die Rümpfe werden nicht nur immer größer, sondern im Verhältnis zur Länge auch überproportional breiter. »Breit bedeutet sportlich.« So sehen es jedenfalls viele. Denn auffällig breite Schiffe werden in den publikumswirksam vermarkteten Ozeanregatten wie Vendée-Globe, Volvo-Ocean-Race und anderen eingesetzt. Der Grund für die Breite: Die Schiffe sind für Regatten gezeichnet, auf denen Raumschotskurse vorherrschen. Dank ihrer großen Breite kommen die Rümpfe schneller ins Gleiten, insbesondere unter Gennaker. Für den Fahrtensegler wäre dies nur von Vorteil, wenn er ebenfalls überwiegend raumschots segeln würde. Doch ist dies – wie jeder erfahrene Segler weiß – ja leider nicht die Regel.

Warum bauen die Werften dann so breite Rümpfe auch für den Markt der Normalsegler? Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Der erste ist eher irrational, aber verkaufsfördernd: Das Schiff soll Sportlichkeit ausstrahlen und regattaorientiert jung und dynamisch erscheinen. Der zweite Grund ist rationaler: Bei betont breiten Schiffen erstreckt sich die maximale Breite etwa von der Mitte bis zum Heck. Dies ermöglicht es, achtern nicht nur eine, sondern zwei breite Doppelkabinen einzubauen. Und da es auf einer Charteryacht den meisten Crews darum geht, den Pro-Kopf-Preis möglichst gering zu halten, ist es finanziell von Vorteil, wenn auf eine 12-m-Yacht nicht nur zwei, sondern drei Doppelkabinen gebaut werden. Dass aber die sechs Leute an Bord auch sechs Mal Stauraum benötigen, wird von den Verkäufern gern in den Hintergrund geschoben.

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Moderne, sportliche Yacht mit extrem breitem Heck.

Viele Werften kombinieren ein breites Achterschiff mit offenen Hecks. Der Heckspiegel wird auf Höhe des Cockpitbodens in der vollen Cockpitbreite einfach weggelassen. Regattatechnisch gesehen ist das sinnvoll, weil es im Heck überflüssiges Gewicht einspart. Außerdem erleichtert diese Bauweise insbesondere den Badesegeln-orientierten Crewmitgliedern den Sprung ins Meer und das Zurückkommen ins Boot, was natürlich in warmen Segelrevieren wie dem Mittelmeer besonders geschätzt wird.

Doch wie sieht diese Bauweise aus der Perspektive des Fahrtenseglers aus? Bei ruhiger See wird der Rudergänger vielleicht die Nähe zum Wasser als sportlichprickelnd empfinden, doch spätestens ab 6 Bft. raumschots verwandelt sich das Vergnügen in Verunsicherung. Und im Passat auf dem Weg in die Karibik ist es so gut wie sicher, dass hin und wieder eine besonders hohe Welle von achtern einsteigen wird und bis in den Niedergang hinunterrollt. Mit anderen Worten: Die Schotten am Niedergang müssen dann trotz der brütenden Hitze fast ständig eingesteckt bleiben.

Der Fahrtensegler braucht zuerst einmal ein bei jedem Wetter sicheres Schiff mit ausgeglichen guten Segeleigenschaften, und zwar auf allen Kursen. Betont breite Rümpfe erkaufen sich die Raumschotsvorteile durch schlechtere Segeleigenschaften hoch am Wind. Sie laufen weniger Höhe, laufen in der Böe schneller aus dem Ruder und setzten am Wind in grober See sehr hart bis brutal mit dem Bug in die Welle ein. Ab 5–6 Bft. hoch am Wind kommt es mit jeder größeren Welle zu nervtötenden Schlägen in den Rumpf, verbunden mit bedrohlichen Vibrationen im Rigg. Warum laufen die in der Ostsee so bekannten Schärenkreuzer so eine unglaubliche Höhe und setzen so weich in die Welle ein? Weil sie schmal sind und der Rumpf im Bug nicht flach, sondern aufgekimmt ist. Allerdings sind sie unter Spi zugegebenermaßen längst nicht so schnell wie eine »breite Flunder«. Der Fahrtensegler sucht allerdings den optimalen Kompromiss (mehr dazu in Kapitel 3). Seit einigen Jahren haben neue Yachten auffallend steile Steven, viele sind vollkommen senkrecht. Der Grund hierfür ist die Tatsache, dass ein Boot umso schneller segelt, je länger die Wasserlinie ist – unveränderte Rumpfkonzeption vorausgesetzt und frei nach der alten Regel »Länge läuft«. Auch dieses Phänomen kommt aus der Regattawelt: Bei den 6,50 m langen Mini-Transat-Rennern genauso wie bei den Open 40 und den Open 60 ist die maximale Rumpflänge exakt begrenzt. Somit ist es sinnvoll, die Länge der Wasserlinie maximal auszureizen. Also Länge Wasserlinie gleich Länge über Deck.

Doch ist diese Konstruktionsidee auch für den Normalsegler von Vorteil? Dem zwar vorhandenen, aber geringen Geschwindigkeitsvorteil (bei einer 12-m-Yacht sind es ein bis zwei Zehntel Knoten) steht ein gravierender Nachteil entgegen: In bewegter See taucht der Bug in den Stampfbewegungen tiefer ein als bei einem Rumpf mit deutlich positiv angewinkelten Steven und sich nach oben hin verbreiterndem Bugvolumen. Dies lässt sich leicht dadurch veranschaulichen, dass man die Auftriebskraft (Archimedisches Prinzip) eines Kegels mit Spitze unten und eines Quaders mit gleicher Höhe, eingetaucht in eine Flüssigkeit, vergleicht. Während die Auftriebskraft beim Quader proportional zur Eintauchtiefe wächst, vergrößert sich diese beim Kegel überproportional.

Am Wind kommt deshalb bei modernen Booten – trotz in letzter Zeit auch bei Cruiser-Racern immer höherem Freibord - bei schneller Fahrt in grober See erheblich mehr Wasser über Deck und die Bootsbewegungen sind heftiger. Die Besatzung im Cockpit ist dadurch hoch am Wind in bewegter See stärker der fliegenden Gischt ausgesetzt. Hinzu kommt ein weiterer Nachteil: Beim Ankern, insbesondere beim Ankerhieven, schlägt der Anker unweigerlich an den Rumpf und beschädigt die Außenhaut. Aus diesem Grunde baut man in letzter Zeit häufig eine Art Bugspriet vorn an, um den Anker vom Rumpf frei zu halten. Aber dies bedeutet wiederum mehr Länge über alles, also auch höhere Hafengebühren.

Immer mehr moderne Yachten haben einen Doppel-Steuerstand. Der Ursprung dieser Entwicklung kommt ebenfalls aus der Regattaszene: Die Siegeryacht im America’s Cup 2000, Team New Zealand, hatte erstmalig einen doppelten Steuerstand. Der Konstrukteur hatte die Yacht mit zwei Steuerrädern entworfen, um sicherzustellen, dass der Rudergänger auf allen Kursen immer einen optimalen Blick in das Profil des Vorsegels haben kann. Dabei muss aber bedacht werden, dass die Yacht sehr breit war und 16 Mann Besatzung hatte, was den Blick in die Segel nicht gerade erleichterte.

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Asymmetrische Motorbedienung auf nur einer Seite.

Dass diese im Regattasegeln auf großen Yachten vorteilhafte Konstruktion im Serienyachtbau für den Wochenendskipper in ein perverses Extrem verdreht werden kann, zeigt sich beispielsweise bei Bénéteau, wo inzwischen ein 30-Fuß-Boot mit zwei Steuerrädern angeboten wird.

Paradox wird der doppelte Steuerstand dann, wenn – wie auf den meisten Yachten mit doppeltem Steuerstand – nur eine einzige Motorschalteinheit installiert ist. Der Rudergänger muss bei Hafenmanövern dann zwangsläufig das Rad auf der Seite wählen, auf der die Motorbedienung angebaut ist. Mit einer Chance von 1:2 ist das dann aber nicht die Seite, an der angelegt werden soll.

Der doppelte Steuerstand wird heute sehr häufig mit einem ebenfalls gedoppelten Ruder kombiniert. Das Doppelruder ist eine fast zwingend notwendige Konsequenz aus der extremen Rumpfbreite am Heck. Denn hoch am Wind wird durch die Keilform des Rumpfes das Heck stark aus dem Wasser gehebelt. Ein einzelnes Zentralruder müsste extrem tief ins Wasser eintauchend konstruiert sein, um unkontrolliertes Anluven (»Sonnenschuss«) zu verhindern. Bei der Doppelruderanlage kann das Boot mit dem leeseitigen Ruder hingegen auch auf Amwindkursen mit viel Krängung besser auf Kurs gehalten werden.

Ein großer und für den Fahrtensegler schwerwiegender Nachteil hingegen liegt dabei in der Tatsache, dass ein Schiff mit Doppelruder in der Regel erheblich schlechtere Manövriereigenschaften im Hafen hat. Nur ein zentral eingebautes Ruder kann vom Propeller aus dem Stand heraus angeströmt werden. Darüber hinaus gilt grundsätzlich: Je mehr bewegte Teile in ein Boot eingebaut werden, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit eines Defektes. Keep it simple!

Bei aller hier formulierter Kritik an modernen Bootsrümpfen soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass aufgrund des erheblich vergrößerten Gesamtvolumens über der Wasserlinie der unter Deck nutzbare Raum ebenfalls erheblich vergrößert werden konnte. Auch im Hinblick auf die Segeleigenschaften muss zugegeben werden, dass moderne Rümpfe mit Doppelruder und breitem Heck weniger gieren und geigen als traditionellere Entwürfe. Segelyachten hatten bis in die späten 90er-Jahre fast immer eine Bilge, um eingedrungenes Wasser am tiefsten Punkt im Boot zu sammeln und dort auspumpen zu können. So wurde insbesondere verhindert, dass Wasser (oder schlimmer: ausgelaufener Diesel) unter den Bodenbrettern und in den Stauräumen unter den Kojen hin- und herschwappen konnte. Auf modernen, flachen Rümpfen fehlt diese Bilge in der Regel, sodass sich die Crew nicht selten über durchnässtes Staugut unter den Kojen ärgert.

Großserienwerften sind gezwungen, ihre Produktionsprozesse unter dem Gesichtspunkt der Kostenreduzierung zu optimieren. Das ist verständlich und führt schließlich auch zu einem günstigeren Preis für den Käufer. Fragwürdig wird dies allerdings, wenn es unter dem Deckmantel der Sportlichkeit verkauft wird. Für viele, vielleicht sogar für die meisten Bootskäufer ist es wichtig, dass ihr Schiff schnell segelt. Denn Schnelligkeit ist Sportlichkeit. Und wer will schon unsportlich erscheinen? Folglich muss das Schiff leichter werden, denn leichter heißt weniger benetzte Fläche, folglich weniger Reibung, folglich mehr Geschwindigkeit. Auf einer Regattayacht, bei deren Bau primär auf technische Effizienz und nicht in erster Linie auf Kostenreduzierung geachtet wird, lässt sich Gewichtsreduzierung durch Einsatz von teuren High-Tech-Materialien wie Spectra, Carbon und Kevlar erreichen. Im Großserienbau hingegen wird Gewichtsreduzierung nur allzu oft einfach durch Verringerung der Materialstärken bis an die Grenze des eben noch Vertretbaren erreicht. Manche etwas dünn gebaute Polyesterrümpfe verziehen sich auf Amwindkursen derart, dass sich auf diesen Booten Türen nicht mehr öffnen lassen. Die Einbauten knarren im Seegang, Tischbefestigungen wackeln, Scharniere reißen schon nach kurzer Nutzungszeit aus … Aber auf der Bootsmesse wird das Boot als besonders sportlich ausgewiesen, denn es ist ja 400 kg leichter, folglich schneller als das der Konkurrenz.

Die Argumentation setzt sich im Rigg fort: Jedes Kilogramm, das im Rigg und bei den Segeln gespart werden kann, zählt mindestens drei- bis vierfach, denn entsprechend der Gewichtsreduzierung im Rigg kann im Kiel ein Vielfaches dessen an Gewicht eingespart werden. Das aufrichtende Moment bleibt unverändert. Doch welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Gewichtsreduzierung im Rigg ist nur möglich mit einem leichteren Mast und dünneren und / oder weniger Wanten. Der leichtere Mast könnte ein Carbon-Mast sein, doch ist dieser für Fahrtensegler meist einfach zu teuer. Bleibt der Alu-Mast mit dafür schmalerem Profil und geringerer Wandstärke übrig, was wiederum die Sicherheitsreserve reduziert.

Die Salinge werden oft so weit angepfeilt, dass auf doppelte Unterwanten verzichtet werden kann. Bei weiterer Steigerung der Anpfeilung der Salinge kann sogar das Achterstag weggelassen werden, ohne dass – unter Normalbedingungen – die Belastbarkeit des Riggs bedrohlich eingeschränkt ist. Doch dies gilt nur für Normalbedingungen! Doch niemand garantiert uns, dass wir immer unter solchen segeln. Der Fahrtensegler muss sich auch dann noch auf sein Rigg verlassen können, wenn es mal unvorhergesehen stürmisch kommt. Außerdem ist es auf tiefen Raumschotskursen oder gar vor dem Wind bei stark angepfeilten Salingen nicht mehr möglich, das Groß weit genug aufzufieren, ohne mittelfristig durch das ständige Scheuern – früher sagte man Schamfilen – an der Salingsnock die Segel zu beschädigen. Stark angepfeilte Salinge kommen ursprünglich aus der Highspeed-Regattaszene und sind dort durchaus sinnvoll, denn bei sehr hohen Bootsgeschwindigkeiten wird ein wahrer Wind von raumschots zu einem scheinbaren Halbwind, ja selbst ein Am-Wind-Kurs wird möglich bei ausreichend schneller Fahrt.

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Rigg mit extrem nach achtern gepfeilten Salingen.

Der kostengünstige und dennoch sicher verstagte Mast auf einer Fahrtenyacht, ist darum nach wie vor der ausreichend dimensionierte Alu-Mast mit nur leicht angepfeilten Salingen, mit doppelten Unterwanten und einem Vorstag, das etwa in 9 / 10 der Mastlänge unter dem Topp angeschlagen ist. So wird in Verbindung mit den leicht angepfeilten Salingen auch ein Masttrimm in für Fahrtensegler sinnvollen Grenzen möglich.

Zu den Segeln: Die Standard-Garderobe einer neu ausgelieferten Yacht aus einer Großserie ist in der Regel aus zu leichtem Tuch gefertigt. Nicht leicht, weil aus teuren Kevlarfasern bestehend, sondern leicht, weil bewusst kostenorientiert aus viel zu dünn gewähltem Standardtuch. Die Segel werden schon nach kurzer Zeit ihr Profil verlieren, es sei denn, man segelt nur bei Leichtwind. Aber der Verkäufer auf der Bootsmesse wird den Vorteil des leichten Tuches insbesondere bei Leichtwind betonen, denn leichtere Segel stehen in der Tat schon bei wenig Wind besser als schwere Tücher. Und vielleicht wird er sogar etwas provozierend fragen, wie oft denn der Kaufinteressent gedenkt, im Sturm zu segeln …

Auch unter Deck in der Konzeption des Innenausbaus setzt sich die Vernachlässigung der Interessen eines ambitionierten Fahrtenseglers auf vielen neuzeitlichen Yachten fort: Während einer Seereise kommt es vor, dass nachts durchgesegelt werden muss. Raumschots schläft die Freiwache dann recht gut in den Kojen im Vorschiff. Auf Amwindkurs bei etwas mehr Wind verwandelt sich die Vorschiffskabine hingegen in eine Folterkammer, denn in der heftigen Auf- und Abwärtsbewegung des Bugs ist an Schlafen nicht mehr zu denken. Die besten Schlafplätze sind – wenn denn vorhanden – im Salon, da sie nah am horizontalen und vertikalen Drehpunkt des Schiffes liegen. Auch die Achterkajüten sind in bewegter See meist kein guter Schlafplatz. Die Frage ist nur, ob denn bei der Raumaufteilung unter Deck überhaupt vorgesehen wurde, im Salon schlafen zu können? Die Mehrzahl der heute neu gebauten 40-42-Fuß-Yachten hat nahe am Drehzentrum, also im Salon, keine Liegemöglichkeiten für eine Person von mehr als 1,6 m Größe. Es gibt zwar Drehsessel, Sitzbänke, halbrunde Sofas, nur keine schlafgeeigneten Seekojen. Und von Leesegeln gar nicht zu sprechen. Dahinter steht die nicht ganz unrichtige Überlegung, dass ohnehin die allermeisten Crews nachts im Hafen oder vor Anker schlafen. Nur gilt das eben nicht für den reiseorientierten Fahrtensegler.

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Sessel im Salon statt Sitzbank, die auch als Seekoje nutzbar wäre.

Dass auf vielen neuen Yachten der Kartentisch – falls überhaupt noch vorhanden – zu einem minimalisierten Vielzweckbrettchen verkommen ist, wird inzwischen schon von vielen Seglern als fast normal hingenommen. Schließlich gibt es ja den Kartenplotter oben in der Plicht am Steuerstand. Und das Radarbild, die AIS-Positionen eventueller Kollisionsgegner und sogar die Grib-Files für das Wetter kommen ja auch alle aus dem Bildschirm des Plotters. Ist das sinnvoll? Die Hafenhandbücher kann man ja auch schließlich am Salontisch lesen. Auf vielen Yachten ist das Minimalbrettchen zwar noch ausreichend groß, um einen Laptop abzustellen, doch um ihn sitzend auch benutzen zu können, muss der Skipper auf vielen Schiffen seinen Oberkörper wegen der ergonomisch wenig durchdachten Anbauposition so verdrehen, dass er vorsichtshalber die Telefonnummer eines guten Orthopäden aus dem nächsten Hafen gespeichert haben sollte.

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Große Fenster im Rumpf, nahe der Wasserlinie.

Auch über die immer größer werdenden Fensterflächen, die je nach Mode mal schmal, mal breit, mal rund, mal eckig, bei fast allen modernen Yachten oft bedrohlich nahe der Wasserlinie in die Bordwand eingesetzt werden, lässt sich diskutieren. Die Fenster sind heutzutage allesamt von außen eingeklebt. Unter mitteleuropäisch nicht extremer UV-Belastung hält der Kleber auch sehr lange. Wird eine solche Yacht aber viele Jahre lang in tropischen Gewässern gesegelt, ist die Haltekraft des Klebers bald dahin, und es kann in bewegter See (Atlantikwelle) zu einem schweren Wassereinbruch kommen. Hinzu kommt, dass sich bei zahlreichen großen Fenstern der Innenbereich der Yacht in sonnenreichen Segelrevieren extrem aufheizt, was oft nicht einmal mit geöffneten Luken ausgeglichen werden kann. Ebenfalls abzulehnen sind Decksluken, die mit Rücksicht auf den sonnenbadenden Teil der Crew so perfekt bündig ins Deck eingesetzt wurden, dass sie nach einem Regenschauer nicht mehr geöffnet werden sollten, weil sich sonst das um den Rand angestaute Wasser auf den Salontisch ergießt. Decksluken sollten aus diesem Grund etwas nach oben hochstehend ins Deck eingebaut werden.

Daneben sind Skipper und Crew in bewegter See für jeden festen Griff und jeden Handlauf dankbar, der verhindern kann, dass man rutscht oder stürzt. Das gilt sowohl an Deck als auch unter Deck. Ebenso auf der Toilette. Wenn man sich unter diesem Gesichtspunkt die neueren Yachtkonstruktionen ansieht, stellt man leider oft fest, dass viele Werften tatsächlich ihre Schiffe nur für ruhiges Wetter gebaut haben. Das gilt auch für die Einbauten unter Deck wie Pantry, Salontisch, speziell an den Ecken der Einbauten unter Deck: Wenn nicht nur bei ruhiger See gesegelt wird, so ist es – selbst bei vorhandenen Handläufen – fast unvermeidlich, hin und wieder irgendwo mit dem Körper anzuecken. Wenn man sich aber die betont eckig-modische Bauweise des Innenausbaus der meisten neuen Yachten anschaut, dürfen wohl Zweifel angemeldet werden hinsichtlich der Seetauglichkeit in bewegter See.

Fragwürdige Entwicklungen in der Ausrüstung

Eine direkte Konsequenz immer längerer Rümpfe ist natürlich die notwendige Vergrößerung der Segelflächen. Eine 50-mimage-Genua einer 44-Fuß-Yacht lässt sich gerade noch mit einer manuell betriebenen Mehrgangwinsch dichtholen, wenngleich auch nicht von jedem Crewmitglied. Ab einer 50-Fuß-Yacht wird dafür ein sehr gut trainierter Mann benötigt. Folgerichtig reagiert die Ausrüstungsindustrie mit Elektrowinschen, die das Dichtholen und neuerdings sogar das Fieren auf Knopfdruck erledigen. Problematisch ist bei Elektrowinschen, dass im Gegensatz zu einer manuellen Winsch bei der Bedienung kein Gefühl mehr für die Dosierung der Kraft vorhanden ist. Manche Winschen sind so stark, dass sie Beschläge ausreißen oder gar ein Segel zerreißen können. Wie paradox diese Entwicklung sein kann, konnte ich vor einiger Zeit auf einer voll elektrifizierten 56-Fuß-Yacht sehen, auf die ich von ihrem betont sportlichen Eigner zur Besichtigung eingeladen wurde: In die großvolumige Achterkajüte hatte er ein komplettes Fitnessstudio einbauen lassen. Aber nicht etwa, um die Schoten mit besserer Muskelkraft dichtholen zu können, denn alle Winschen waren elektrisch angetrieben.

Thema Navigation: Mit der Einführung des GPS als Navigationshilfe auf See wurde in den 90er-Jahren eine wahre Revolution am Kartentisch ausgelöst. Auf Knopfdruck die Schiffsposition ermitteln zu können, bei jedem Wetter und an jedem Ort, das war die Erfüllung eines langgehegten Traums eines jedes Navigators. Ohne Frage wurde durch dieses geniale Navigationswerkzeug die Schiffssicherheit erheblich gesteigert, und in der Tat gingen nach flächendeckender Einführung des GPS die Zahl der Havarien, Seenotfälle und Totalverluste jahrelang deutlich zurück. In der Kombination mit AIS wurde diese positive Entwicklung weiter gesteigert.

Wie ist es dann aber zu verstehen, dass beispielsweise die Zahl der Havarien durch Grundberührung (Auflaufen auf Felsen und Sandbänke) nach einer Statistik der schwedischen Behörde für Schiffssicherheit aus dem Jahr 2017 in den letzten Jahren wieder deutlich gestiegen ist? Eine Untersuchung der Havarie-Ursachen hat ergeben, dass es sich überwiegend um »programmierte« Unfälle gehandelt hat. Programmiert, weil die Skipper allzu unbedacht ihren Kartenplotter mit dem Autopiloten gekoppelt hatten und dann per Wegpunktnavigation unkritisch und ohne Konzentration auf navigatorisch wichtige Details ihr Schiff »automatisch« auf einen Zielpunkt zufahren ließen, ohne in der Planung zu bemerken, dass auf dem Weg zum Zielpunkt eine Untiefe lauerte. Das Problem entsteht dadurch, dass auf dem Display eines Kartenplotters der mit Vektorkarten programmiert ist nicht in jedem Zoombereich alle Details der Karte mit eingeblendet werden können. Bei kleinem Maßstab werden Detailinformationen ausgeblendet, die erst dann auf dem Bildschirm sichtbar werden, wenn auf einen entsprechend größeren Maßstab gezoomt wird. »Das weiß doch heute jeder Skipper«, wird der Leser einwerfen. Nun, wenn die richtige Bedienung des Kartenplotters tatsächlich so selbstverständlich wäre, dann wäre die Vestas im Volvo-Ocean-Race 2014–15 mit professioneller Besatzung nicht mitten im Indischen Ozean auf ein Korallenriff gekracht. In der Tat hatte der Profi-Navigator den Fehler gemacht, über viele Tage und Nächte hinweg einfach nur dem Kurs nach Plotter zu folgen, ohne zwischendurch immer mal wieder in einen größeren Maßstab hinein zu zoomen, um zu prüfen, ob denn nicht vielleicht ein Korallenriff auf der Kurslinie liegt. Mit einer Papierkarte wäre das nicht passiert.

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Kleine, aber gefährliche Untiefe in offener See, auf dem Plotter leider nur gezoomt sichtbar.

Aufschlussreich sind auch die Statistiken der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger aus den letzten Jahren: Von 2012 bis 2018 ist die Zahl der Skipper, die aus einer Situation der Orientierungslosigkeit (Schiffsposition unbekannt) auf See gerettet werden mussten, um 50 % gestiegen (s. Yacht 25 / 26, 2018).

Zugegeben, diese Probleme entstehen nicht durch den Kartenplotter als solchem, sondern durch falsche Bedienung. Nur wird der naive, blauäugige Umgang mit dem Plotter durch die ignorierte Papierkarte begünstigt. Er verführt dazu, die eigenen Sinne immer weniger zu benutzen und auf eine gründliche Navigationsausbildung zu verzichten. Die menschlichen naturbezogenen Wahrnehmungsfähigkeiten verkommen zunehmend (Alternativen s. Kapitel 4).

All diesen Feststellungen zum Trotz werden von der NOAA (National Oceanic Atmospheric Administration) in den USA seit 2020 keine Seekarten in Papierformat mehr gedruckt oder vertrieben. Erfahrungsgemäß schwappen mit einigen Jahren Verzögerung solche Entwicklungen aus den USA in der Regel über den Atlantik nach Europa. Auch das BSH (Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie) in Deutschland druckt Papierseekarten nur noch auf Anforderung in Papierform. Ein privater deutscher Seekartenverlag hat diese Marktlücke allerdings inzwischen erkannt und bietet regional ausgewählte Seekartensätze in Papierform als Folio zu einem erstaunlich günstigen Preis an.

Auf Yachten mit zwei Steuerständen im Cockpit sieht man immer häufiger auch zwei Kartenplotter. Das erscheint nur konsequent, wenn denn der Rudergänger auf jedem Bug immer einen Bildschirm vor sich haben soll. Aber ist das sinnvoll? Oder gar notwendig? Heutzutage hat fast jedes Auto ein »Navi« eingebaut. Sinnvollerweise befindet sich dessen Bildschirm nahe an der Windschutzscheibe, also in Fahrtrichtung, grob im Blick nach vorn. Da die meisten Segler gezwungenermaßen erheblich mehr Stunden in ihrem Auto verbringen als an Bord, haben sie sich daran so gewöhnt, dass es ihnen selbstverständlich erscheint, an Bord diese Gewohnheit fortzusetzen. Dafür gibt es aber keine Notwendigkeit, denn eine Segelyacht bewegt sich in der Regel mit weniger als einem Fünftel der Geschwindigkeit eines Autos. Der Segler hat somit sehr viel Zeit, seinen visuellen Eindruck der Realität mit der virtuellen Darstellung auf dem Kartenplotter zu vergleichen. Wenn man ferner bedenkt, dass ein Kartenplotter am Steuerstand ständig in der Gefahr steht, mechanisch beschädigt zu werden und seine Kabelkontakte auch nicht unbegrenzt im Salzwassermilieu überleben werden, ist es nur sinnvoll, das Gerät unter Deck am Kartentisch einzubauen. Das einzige mir einsichtige Argument für einen Kartenplotter am Steuerstand ist der für Seekrankheit anfällige Rudergänger, der in bewegter See nicht hinunter zum Kartentisch gehen möchte. Doch welcher Skipper wird sein Schiff in bewegter See und navigatorisch schwieriger Umgebung einem solchen Crewmitglied längere Zeit das Ruder überlassen? So sind dann die beiden Kartenplotter im Cockpit möglicherweise in erster Linie ein Statussymbol … Ohne Zweifel ist der Kartenplotter in engen Fahrwassern, insbesondere wenn nahe an Untiefen navigiert werden muss, sicherheitstechnisch von Vorteil gegenüber einer Papierseekarte. Ein vieljährig erfahrener und regelmäßig segelnder Skipper wird zwar den Plotter nicht benötigen, solange ihm eine aktuelle Papierseekarte mit passendem Maßstab zur Verfügung steht, aber dem wenig segelnden Novizen gibt der Plotter zusätzliche Sicherheit (mehr dazu in Kapitel 3).

Äußerst fragwürdig ist hingegen die Tendenz, mehrere Funktionen auf nur einem Bildschirm darzustellen. Seekartendarstellung, Navigationsprogramm, Tidenkalender, AIS-Infos, Radar, Echolot, Logge, selbst die Tankanzeige, alles wird auf ein und demselben Display abrufbar. Manche Skipper bevorzugen dies wegen Platzmangels (nicht vorhandener Kartentisch, s.o.), aber mit dieser Funktions-Konzentrierung geht man ein nicht akzeptables Risiko ein: Fällt der Bildschirm aus, sind sämtliche Navigationsinformationen gemeinsam verschwunden. Keine Karte, keine Position, keine AIS-Infos, kein Echolot, kein Radar, keine Logge. Aus diesem Grunde ist es unbedingt wünschenswert, die wichtigen Navigationsgeräte (GPS, Kartenplotter, AIS, Radar, Logge und Echolot) möglichst auf getrennten Bildschirmen separat darzustellen oder redundant auszulegen.

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Übersichtlicher, großer Kartentisch mit bewusst voneinander getrennten Geräten und Platz für Papierseekarten.

Eine diskutable Frage ist es, ob ein Tablet-Computer wie beispielsweise ein iPad mit einer Navigationsapp als Plotter nicht ausreicht? Sofern parallel dazu gute Papierseekarten zur Verfügung stehen, ist nichts dagegen einzuwenden. Insbesondere wenn das iPad nur am Kartentisch eingesetzt wird. Zwar gibt es gute wasserdichte Schutzhüllen für Tablet-Computer, doch bleibt das Risiko, dass in bewegter See vielleicht dummerweise die abgerutschte Winschkurbel darauf fällt. Hinzu kommt die begrenzte Betriebsdauer im Batteriebetrieb (mehr dazu in den Kapiteln 3, 4 und 6).

Computer an Bord: Der Laptop an Bord gibt uns Seglern an Bord unter verschiedenen Gesichtspunkten ohne Frage eine Freiheit, von der wir vor 30 Jahren nur träumen konnten. Manch eine Segelreise wird überhaupt erst möglich dank des Laptops an Bord (mobiles Arbeiten, Kommunikation mit der Familie etc.). Für Wetterdaten ist der Laptop eine umfassendere Informationsquelle als das Seefunkgerät. Aber: Brauchen wir wirklich beispielsweise eine Törnplanungsapp? Und vor allem: Vermittelt etwa die Törnplanung mit einer vorgefertigten App-Struktur mehr Freude bei der Planung? Ist nicht das Schmökern in einem Hafenhandbuch für den erträumten Törn abends im Bett für jeden Segler ein höherer Genuss als das Ausfüllen von Leerstellen in einer App?