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She She Pop, Sich fremd werden

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She She Pop sind ein Performance-Kollektiv, das in den 1990er-Jahren am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft entstanden ist. Die Mitglieder sind Sebastian Bark, Johanna Freiburg, Fanni Halmburger, Lisa Lucassen, Mieke Matzke, Ilia Papatheodorou und Berit Stumpf. Geschäftsführerin ist Elke Weber.

Die Mitglieder der Gruppe sind in der Mehrzahl Frauen und arbeiten im Kollektiv. Die Performer*innen verstehen sich als Autor*innen, Dramaturg*innen und Ausführende ihrer Bühnenhandlung. Das Einbeziehen der eigenen Autobiografie ist dabei vor allem Methode, nicht Zweck der Arbeit. Daraus entsteht eine Theaterform, die dem Experiment verpflichtet ist. Die Bühne ist immer ein Ort der akuten Öffentlichkeit. Hier werden Entscheidungen getroffen, Gesprächsweisen und Gesellschaftssysteme ausprobiert, Sprech-Gesten und soziale Rituale einstudiert oder verworfen. She She Pop sehen ihre Aufgabe in der Suche nach den gesellschaftlichen Grenzen der Kommunikation – und in deren gezielter und kunstvoller Überschreitung im Schutzraum des Theaters. Das Theater wird zu einem Raum für utopische Kommunikation. Auch das Publikum erhält häufig eine konkrete Zuschreibung und eine besondere Funktion: Sämtliche Arbeiten von She She Pop sind auf ihre Weise Experimente oder Beweisführungen, die ohne Zeugenschaft ungültig würden.

She She Pop sind in Berlin ansässig. Das Theater Hebbel am Ufer ist dort seit 2003 ihr kontinuierlicher Koproduzent und Kooperationspartner. Mit einigen weiteren deutschen und internationalen Koproduktionspartnern verbindet die Gruppe eine regelmäßige Zusammenarbeit. Die Arbeit von She She Pop wurde im In- und Ausland bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem George Tabori Preis, dem Hörspielpreis der Kriegsblinden, dem Dora Award (Kanada) und einer Auszeichnung der National Theatre Association of Korea.

Johannes Birgfeld, geb. 1971, ist nach Lehrtätigkeiten in Bamberg, Sewanee (TN/USA) und Oxford Studiendirektor i. H. an der Universität des Saarlandes für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Initiator der Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Forschungen zur deutschsprachigen Literatur vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

She She Pop

Sich fremd werden

Beiträge zu einer
Poetik der Performance

Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik

Mit einem Beitrag von Aenne Quiñones,
herausgegeben von Johannes Birgfeld

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Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Fachrichtung Germanistik an der Universität des Saarlandes.

Originalausgabe

Satz und Layout: Johannes Birgfeld/Antje Wewerka

Erste Vorlesung

Wir sind einige von euch. She She Pop und ihr Publikum

von Lisa Lucassen

Erklärbären (1998–2004)

von She She Pop

Zweite Vorlesung

Wir sind niemand. Ersetzbarsein im Kollektiv

von Ilia Papatheodorou

Erklärbären (2005–2018)

von She She Pop

Dritte Vorlesung

Wir sind der Protagonist. Zum Material der Performance

von Sebastian Bark

25 Jahre She She Pop
»Das Kollektiv selbst ist eigentlich unser Kunstprojekt«

von Aenne Quiñones

»Nicht Freiheit ist die Voraussetzung dieser Kunst, sondern Unfreiheit«

Nachwort von Johannes Birgfeld

Werkverzeichnis

Bildnachweise

Danksagung

Lisa Lucassen

I. WIR SIND EINIGE VON EUCH. SHE SHE POP UND IHR PUBLIKUM

PUBLIKUM. Wer seid ihr?

DER GELERNTE CHOR. Wir sind einige von euch.

PUBLIKUM. Wer seid ihr?

DER GELERNTE CHOR. Wir stehen vor euch und
wir sind der Protagonist.

Also: Ich bin der Protagonist.

Wenn wir sagen »Wir sind einige von euch«, dann meinen wir das tatsächlich. Und zwar in dem Sinn, dass wir uns nicht für etwas Besonderes halten. Wir vertreten nicht die Meinung, dass Kunst nur durch ein Genie entstehen kann, das seine persönliche Vision verwirklicht. Unsere Kunst besteht darin, eine Frage zu stellen, die man nicht allein beantworten kann. Wir sind uneins und sehen das als Bereicherung.

Wenn wir sagen »Wir sind einige von euch«,1 dann geht es um eine Gemeinschaft. Und zwar einerseits die Gemeinschaft She She Pop, die unhierarchisch im Kollektiv arbeitet, die sich uneins ist und in der die individuellen Stimmen idealerweise in einem polyphonen Gefüge zu hören sind. Und andererseits geht es um die Gemeinschaft, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt z. B. in einem Theatersaal versammelt hat und aus dem Publikum und She She Pop besteht. Um diese Beziehung von She She Pop zu ihrem Publikum soll es hier gehen.

Eine asymmetrische Beziehung

Eine der wichtigsten Erfahrungen von She She Pop bei ihren ersten Auftritten bestand darin, dass sich die Begegnung zwischen uns selbsternannten Künstlerinnen ohne Leitung einerseits und dem Publikum andererseits sehr voraussetzungsreich, problematisch und missverständlich erwies und also der Erklärung oder sogar der Rechtfertigung bedurfte. Als Autodidaktinnen, die sich an viele Konventionen nicht hielten, waren wir sehr angreifbar. Es schien uns zudem kaum möglich, über die Implikationen dieser Begegnung, die einhergehenden Erwartungen, Enttäuschungen, Demütigungen und Ermächtigungen einfach hinwegzusehen, um über einen beliebigen ›Gegenstand‹, über irgendein Thema abseits der Tatsache dieser Begegnung zu sprechen. Oder anders gesagt: Es erschien She She Pop absolut notwendig, die so konfliktreiche Begegnung, ja die Konfrontation mit dem Publikum (denn als solche wurde sie schnell verstanden) im Vorfeld wohlüberlegt zu definieren, kunstvoll zu gestalten und anschließend in aller Deutlichkeit zu erklären, bevor auf der Bühne irgendetwas etwas anderes würde geschehen können.

Aber was war dieses andere, das nach dieser Klärung folgen sollte? She She Pop haben bald für sich aus den frühen Erfahrungen und Analysen einen zweiten Schluss gezogen: Dass nämlich dieses ambivalente Verhältnis zwischen Performerinnen und Zuschauer*innen selbst schon modellhaft war – also so prägnant und komplex und aufregend, dass es als Modell für andere erklärungsbedürftige, asymmetrische Beziehungen und Machtverhältnisse in der Gesellschaft dienen kann.

So ergab sich für She She Pop sehr früh eine doppelte Strategie, die zum ästhetischen und konzeptuellen Markenzeichen des Kollektivs wurde: sich selbst, die eigene akute Erfahrung als Beispiel einzusetzen – und die Begegnung mit dem Publikum als experimentellen Testfall einer öffentlichen Konfrontation zu gestalten.

Versuchsaufbauten

Eine Konvention, an die wir uns lange nicht gehalten haben, war, dass das Publikum im Theater in Ruhe gelassen wird. Vielmehr erzeugten wir durch unsere direkte Interaktion mit dem Publikum bewusst theatrale Momente, die nicht völlig in unserer Hand lagen, in denen akute Entscheidungen anfielen und in denen dadurch eine gesteigerte Betonung auf dem Hier und Jetzt der jeweiligen Situation lag. Wir haben mit den Zuschauer*innen verhandelt, was wir für sie und sie für uns sein könnten – und dann das Ergebnis dieser Verhandlungen sofort umgesetzt. Das darin liegende Risiko ist offensichtlich und für alle spürbar: Erstens: Die Verantwortung für den Abend wird geteilt. Zweitens: Der Ausgang der Sache ist immer ungewiss – fühlt sich das Publikum überwältigt und unfrei oder ermächtigt und frei?

Rückblickend lässt sich dieser Strang in der Arbeit von She She Pop als eine Serie von Versuchen zu einem Theater ohne Publikum beschreiben. Diesen Begriff hat Brecht in seiner – später verworfenen – Lehrstücktheorie zwischen 1929 und 1934 geprägt, und er bezeichnet den Versuch, das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum nicht nur zu demokratisieren, sondern die Trennung zwischen beiden vollständig aufzuheben. Bei Brechts Idee vom Theater ohne Zuschauer geht es darum, alle Anwesenden zu involvieren, es geht um »experimentelle (Kunst-)Übungen zur Selbstverständigung und Selbsterziehung lernender Kollektive«2. Bei Brecht gibt es also ein pädagogisches Vorhaben:

»Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird. Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig […]. Es liegt dem Lehrstück die Erwartung zugrund, daß der Spielende durch die Durchführung bestimmter Handlungsweisen, Einnahme bestimmter Haltungen, Wiedergabe bestimmter Reden usw. gesellschaftlich beeinflußt werden kann.«3

Bei She She Pop steht weniger die ›gesellschaftliche Beeinflussung‹ im Vordergrund als das Experiment: Es geht darum, im Schutz des Theaters etwas zu öffnen, was Hans-Thies Lehmann einen Möglichkeitsraum nennt.4 Es wird ein Versuchsaufbau eingerichtet, in dem alle Anwesenden Entscheidungen treffen, die ernst und spielerisch zugleich sind, in dem Haltungen eingenommen und gewissermaßen anprobiert werden können.

Zu unseren frühen Erfahrungen als Kollektiv aus ›Dilettantinnen‹ auf einer Theaterbühne gehörte schließlich auch, dass wir nicht nur als Künstler*innen mit einem künstlerischen Vorhaben und einem Thema gesehen und beurteilt, sondern auch als Frauen miteinander verglichen wurden. (Welche hat die längsten Beine? Welche kann schön singen? Welche hat ein bisschen zugenommen?) Das brachte uns dazu, die konventionelle Sitzordnung im Theater nicht zu benutzen, sondern Räume zu entwerfen, in denen es nicht die Gegenpole von Bühne und Zuschauerraum gibt, keine so klare Zuordnung von Orten zum Zeigen und zum Schauen. Und wir haben das Licht über dem Publikum angeschaltet und zurückgeschaut mit einem Gestus von: »Ich weiß, dass du mich anschaust. Und ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß, dass du mich anschaust.« Dabei geht es um Macht. Darum, dass niemand gemütlich im Dunkeln sitzen und sich seinen Teil denken kann, sondern dass die Person, die scheinbar ausgeliefert als Objekt auf der Bühne steht, zurückblickt und damit wieder zum handelnden Subjekt wird.

In einem solchen Raum sind Begegnungen zwischen Publikum und Performer*innen möglich, die in anderen sozialen oder theatralen Situationen nicht stattfinden könnten. Das Angebot von She She Pop besteht darin, sie im Rahmen eines Theaterabends zu gestalten und auszuhalten. Die schiere Gegenwart beider Parteien, die mit ihren Ansprüchen aufeinandertreffen und dazu verdammt sind, einen Abend lang miteinander klarzukommen, scheint uns brisant.

So wird also die Verantwortung für den Theaterabend geteilt, aber nicht symmetrisch, denn die Beziehung zwischen den Performer*innen und dem Publikum ist nicht gleichberechtigt. Der Handlungsspielraum der Zuschauer*innen ist begrenzt. Aber indem er überhaupt vorkommt, wird er für alle erfahrbar und eben nicht geleugnet.

Im Stuhlkreis

In unserem Stück Bad (2002)5 ist das sehr deutlich zu sehen: Wir haben unser Publikum in einen Stuhlkreis gesetzt, 60 Leute in einem hellen Raum: Keine Regung einer einzelnen Person blieb dem restlichen Publikum verborgen. (Abb. S. 12) In Bad wird das Publikum höflich, aber bestimmt an seine Schamgrenzen geführt. Es geht um eine theatrale Version des sadomasochistischen Pakts, bei dem darüber verhandelt wird, was zwischen den beteiligten Personen geschehen soll, und bei dem das Ergebnis dieser Verhandlung anschließend ausagiert wird. Alle Zuschauer*innen saßen also in der ersten Reihe, während wir uns vor aller Augen in 1:1-Interaktionen mit einzelnen von ihnen begaben. Es waren fünf Performerinnen und ein Musiker beteiligt, jede Performerin hatte ein eigenes Projekt.

Das Vorhaben meiner Kollegin Ilia ist z. B. folgendes (Abb. S. 13): Sie kündigt zu Beginn an, dass ihre größte Angst darin bestehe, betrunken und mit heruntergelassener Hose in der Öffentlichkeit zu stehen – und dass sie beabsichtige, mit der Hilfe des Publikums ein Selbstportrait mit dem Titel »Ich mit runtergelassener Hose« anzufertigen. Dazu hat sie sieben Unterhosen übereinander an und eine Flasche Tequila in der Hand. Sie geht immer wieder auf einzelne Zuschauer*innen zu und bittet sie, ihr eine der Hosen auszuziehen. Wenn die angesprochene Person ablehnt, bietet Ilia ihr ein Glas Tequila an. Wenn die Person es trinkt, trinkt Ilia mit. Wenn die Person aber weder die Hose herunterziehen noch trinken möchte, trinkt Ilia zwei Schnäpse. So schreitet ihr Projekt über den Abend hinweg auf zwei Ebenen gleichzeitig fort: Sie verliert immer mehr Hosen und wird immer betrunkener, während sie versucht, so eloquent und intellektuell wie es ihr möglich ist, mit Zuschauer*innen darüber zu diskutieren, wie es sich verhält mit dem Subjekt und dem Objekt auf der Bühne. Hier ist eine Kostprobe etwa aus der Mitte des Abends aus einer beliebigen Aufführung:

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Bad

ILIA. Hallo. Ich würde gerne mit dir weitermachen mit meinem Selbstportrait »Ich mit runtergelassener Hose«. Du hast ja gesehen, ein paar Leute haben schon ’ne Aktie in dem Projekt erworben und erfahrungsgemäß steigert das den Wert. Ich weiß nicht, wie du dazu stehst, aber ich hab’ gesagt, dass ich sehr interessiert bin, an meine Grenze zu gehen und ich wiederhol noch mal, ich werde dich sicher zu nichts zwingen. Andererseits kriegt man von allerlei Bühnen immer irgendwelche nackten Ärsche entgegengestreckt – hier ist es aber anders. Hier kann man sagen »ja« oder »nein« und wird zumindest gehört. Und deswegen … Wir würden also die Verantwortung gemeinsam tragen. Das ist doch zumindest theoretisch ein Zugewinn, oder? (Pause) Du willst mir die Hose nicht ausziehen. Ist das was Grundsätzliches oder bist du nur schüchtern? Möchtest du auch einen trinken? (Zuschauer nickt, Ilia gibt ihm ein Gläschen Tequila und trinkt selbst eins. Ilia geht zu einem anderen Zuschauer.) Hallo. Ich würde gern bei dir weitermachen mit meinem Selbstportrait »Ich mit runtergelassener Hose«. Du siehst, es gibt dazu die unterschiedlichsten Meinungen. Ich werde natürlich auch deine Meinung respektieren, aber du musst schon sehen, dass ich mich unter einen ziemlichen Zugzwang gesetzt habe. Mein Projekt läuft auf zwei verschiedenen Ebenen, eine ist schon ziemlich gut vorangegangen. Ich habe schon mehr Tequilas getrunken, als ich angegeben habe, ich möchte jetzt aber gerne auf dieser anderen Ebene weiterarbeiten und dich fragen, ob du mir die Hose ausziehen möchtest.

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Bad

ZUSCHAUER. Ist das die letzte?

ILIA (geht näher an ihn heran). Machst du’s?

ZUSCHAUER (zieht ihr eine Hose aus, die nicht die letzte ist).

ILIA. Danke. (Geht weiter.) Hallo. Ich würde gerne bei dir weitermachen. Du hast mich ja schon kennengelernt und ich würde dich gerne bitten, mir schnell die nächste Hose runterzuziehen. Ist das möglich?

ZUSCHAUERIN. Nein. Ich würde lieber was trinken.

ILIA. Würdest du gerne was trinken und dann die Hose runterziehen? Weil, das würde ich verstehen.

ZUSCHAUERIN (schüttelt den Kopf).

ILIA. Nee? Für dich ist es was Grundsätzliches? Du würdest immer gern trinken, aber mir niemals die Hose runterziehen?

ZUSCHAUERIN. Nein, lieber nicht.

ILIA. Es ist ja meine Grenze. Also wenn das deine Grenze wäre, würde ich das natürlich respektieren, aber – also wenn es ums Anfassen geht, es ist wirklich nicht – darum geht’s wirklich nicht. Ich würde dir auch Handschuhe zur Verfügung stellen und einen Schal –

ZUSCHAUERIN. Darum geht’s nicht. Ich hab’ gesehen, dass da nur noch eine unter ist. Sonst hätte ich es gemacht, aber jetzt trau’ ich mich nicht.

ILIA. Vielleicht schaust du’s dir noch mal aus der Nähe an? (Geht nah zur Zuschauerin.)

ZUSCHAUERIN (sieht, dass es wieder nicht um die letzte Hose geht). Na gut! (Zieht die Hose aus.)

ILIA. Danke!

Am Ende des Abends bittet Ilia den Zuschauer/die Zuschauerin, der/die am meisten Widerstand geleistet hat, das Kunstwerk, das gemeinsam hergestellt wurde – also ihren entblößten Hintern – zu signieren. Mit Lippenstift, Edding oder einer Rasierklinge.

So, wie wir als wir selbst vorkommen in unseren Stücken, so kommen auch einzelne Zuschauer*innen als sie selbst vor. Sie bringen ihre persönlichen Vorlieben, Abneigungen, Grenzen und Hemmungen mit in den Abend und werden dort für alle Anwesenden sichtbar abgebildet. Die Antworten der einzelnen Zuschauer*innen auf unsere Fragen und Vorschläge werden auf diese Weise, ebenso wie die der Performer*innen, zum integralen Bestandteil der Aufführung. Denn: Wir sind einige von euch.

Theater ohne Publikum

In einer Serie von interaktiven Stücken haben wir wiedererkennbare soziale Szenarien räumlich angedeutet, in denen dem Publikum immer eine klare Rolle zugewiesen war: Im Szenario einer Table-Dance-Show, im Studio-Arrangement einer Game-Show oder bei einem Blind Date bei Kerzenschein gab es viel Gelegenheit, Erwartungen aufzubauen und offenzulegen, den anderen als Ware zu prüfen, zu kaufen, abzustoßen, Machtverhältnisse zu erkennen und umzudrehen. Die Zuschauer*innen haben uns dabei unter den Rock geschaut. Sie haben die Hand gegen uns erhoben, haben Schicksal gespielt und über unsere Qualitäten offen abgestimmt. Sie haben sich ›intime Momente‹ erkauft und sich dafür einzeln mit uns in ein winziges Kabinett gezwängt. Sie haben unsere Kostüme getragen. Sie haben mit uns getanzt, sie haben uns angefasst, ausgezogen und geküsst. Sie haben mit uns neue Gesellschaftsordnungen skizziert. Sie sind mit stumpfen Gegenständen auf uns losgegangen. Sie haben argumentiert und diskutiert. Sie haben eine ausgewählt und andere verworfen. Sie haben mit uns gestritten. Sie haben für uns bezahlt. Sie haben uns das Thema diktiert. Sie haben immer eine Rolle erfüllt.

Aus den räumlichen Situationen unserer Inszenierungen ergibt sich jeweils auch, dass die Zuschauer*innen füreinander sichtbar sind. Es sind also nicht alle Blicke nur auf die Performer*innen gerichtet, die Entscheidungen treffen und denen man dabei zusehen kann, sondern dasselbe gilt auch für Zuschauer*innen. Die konventionelle Hierarchie zwischen denen, die auf der Bühne stehen, und denen, die zusehen, ist in all diesen Fällen suspendiert.

Für die Begegnungen mit unseren Zuschauer*innen haben wir zahlreiche Versuche mit theatralen Formen unternommen. Wir haben einige Abende gestaltet, die nicht auf Texten, sondern auf Spielstrukturen basierten, also eher ›games‹ als ›plays‹ waren. Auf diese Weise wurde das Element des Zufälligen in das Geschehen eingelassen, die entstehenden Situationen konnten zwar vorbereitet, aber nicht vollständig durchgeplant sein. Wir mussten auf der Bühne akut mit Gegebenheiten umgehen, das Publikum konnte uns beim Denken zusehen.

Im Ballsaal

In einigen Fällen sind Zuschauer*innen auch frei, sich durch die Szenerie zu bewegen und selbst zu wählen, wie stark sie gesehen werden möchten, so wie in Warum tanzt ihr nicht? (2004).6 Das Szenario hier ist ein Ballsaal, in der Mitte des Raums befindet sich eine große, freie Tanzfläche. An einer Stirnseite steht ein DJ-Pult, an dem die Performer*innen Widmungen aussprechen und Songs auflegen. Gegenüber (auf der Publikumstribüne) ist eine Showtreppe mit rotem Teppich und einigen großen Tischen mit Stühlen, an denen Zuschauer*innen Platz nehmen können, ebenso wie auf den Stühlen, die an den beiden langen Seiten der Tanzfläche aufgereiht stehen. Im Raum ist eine Bar, die durchgehend Getränke verkauft. Der Raum enthält also alles, was für einen Ball oder eine Tanzveranstaltung nötig ist, es bedarf keiner Anleitung, um als Zuschauer*in die Möglichkeiten zu sehen, die er bietet: Man kann tanzen, trinken und/oder anderen beim Tanzen und Trinken zusehen. Die Inszenierung zitiert ein allseits bekanntes Szenario sozialer Interaktion.

Zusätzlich gibt es im Szenario von Warum tanzt ihr nicht? noch zwei Räume außerhalb des Ballsaals: eine kleine Kammer mit einer Videokamera, in die sich die Performer*innen gelegentlich zurückziehen, um das Geschehen zu kommentieren, und eine ›Video-Lounge‹ außerhalb des Ballsaals, in der das Publikum diese Kommentare live verfolgen kann. So ergibt sich für die Zuschauer*innen die Möglichkeit, einer Performerin durch den Abend zu folgen, sie bei einer Interaktion mit einer anderen Zuschauer*in zu beobachten und sich den Kommentar dazu in der Video-Lounge anzusehen. Wenn beispielsweise eine Performerin sich den Schuh einer Zuschauerin borgt, um daraus Sekt zu trinken, und anschließend in die Kabine geht, werden vielleicht diejenigen Zuschauer*innen, die das gesehen haben, schnell zur Lounge laufen, um sich anzuhören, was die Performerin dazu zu sagen hat. Erst recht wird das Interesse des Publikums an den Vorgängen in der kleinen Kabine gesteigert, wenn eine andere Performerin einen Zuschauer ausdrücklich aufgefordert hat, ihr in die Kabine zu folgen.

Für das Publikum entsteht auf diese Weise eine beachtliche Freiheit: In jedem Moment sind alle frei zu entscheiden, ob sie aktiv am Geschehen im Ballsaal teilnehmen möchten, ob sie sich auf eine Interaktion mit den Performer*innen einlassen möchten, bei der sie zugleich zu Protagonist*innen für das restliche Publikum werden, ob sie sich einen ruhigen Platz im Saal suchen oder hauptsächlich die Kommentar- und Bekenntnis-Ebene in der Lounge ansehen und währenddessen vom Ballsaal abgeschnitten sind. Das räumliche Arrangement von Warum tanzt ihr nicht? führt dazu, dass alle, die dem Abend beiwohnen, potenziell sehr unterschiedliche Erlebnisse haben – und dazu, dass alle Zuschauer*innen etwa 50 % des Abends verpassen. Jede Entscheidung, die ein*e Zuschauer*in trifft, hat Konsequenzen, die er/sie deutlich wahrnimmt. Einen Raum zu verlassen, um einen anderen aufzusuchen, geschieht nicht einfach so, sondern das mögliche Erlebnis im jeweils anderen Raum wird geopfert. Dies schien uns konzeptuell reizvoll, denn auf diese Weise ließ sich der ›Einsatz‹ der einzelnen Zuschauer*innen in diesem Spiel erhöhen. Und so wie wir Performer*innen uns am Ende eines Abends erzählen mussten, was wir erlebt hatten, konnte das Publikum sich ebenfalls über verpasste Situationen austauschen – wiederum ein Schritt in Richtung ›wir sind einige von euch‹.

Ferngesteuerte Verwandte

In unserem Stück Familienalbum7 von 2008 sind die Zuschauer*innen füreinander ebenfalls sehr sichtbar, aber sie haben einen deutlich kleineren Handlungsspielraum. Es geht um die Rollen, die alle in ihren Familien spielen. Da wir für uns selbst festgestellt hatten, wie sehr wir uns in unseren Familien festgelegt fühlen, wie viel von unseren Handlungsmöglichkeiten in diesem Bereich geprägt ist von den Projektionen der restlichen Familie auf uns, findet der Abend im Setting eines größeren Familienfests mit der üblichen U-förmigen Anordnung von Tischen statt. Ein Teil des Abends entsteht, indem die Performer*innen durch einzelne Gäste ›hindurchflüstern‹ (Abb. S. 19): Vor die einzelnen Gäste werden Namensschilder mit Bezeichnungen wie »Großmutter«, »die Kleine« oder »Cousin« aufgestellt. Die Performer*innen bitten immer wieder Einzelne aufzustehen, flüstern ihnen Texte in die Ohren und fordern die Gäste auf, sie laut zu wiederholen. Die Gäste werden so zu einer Art ferngesteuerten Puppen, die ihre Funktion im Gefüge erfüllen, ohne ›authentisch‹ zu sein und ohne eine Wahl zu haben – eben wie in der Familie.

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Familienalbum