Aus dem Englischen von Claudia Max
Früher waren Zorie und Lennon beste Freunde – und kurze Zeit sogar mehr als das. Doch seit dem Homecoming-Ball letztes Jahr herrscht zwischen ihnen Funkstille, und auch ihre Familien haben sich nichts mehr zu sagen. Dann wird ein Campingtrip mit Freunden zum Desaster und Zorie strandet in der Wildnis. Zusammen mit dem Jungen, der ihr das Herz gebrochen hat: Lennon. Auf sich allein gestellt und ohne die Möglichkeit, einander aus dem Weg zu gehen, kommen endlich all ihre Gefühle zum Vorschein. Aber haben Zorie und Lennon den Mut, einen Neuanfang zu wagen?
Witzig, romantisch und mitreißend – eine wunderbare Liebesgeschichte mit Suchtgefahr!
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Viten
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Für meinen Bruder und meine Schwägerin; sie haben geheiratet, nachdem sie sich bei einem Campingausflug in der Wildnis verlaufen hatten. Manchmal ist ein bisschen Todesangst der Funken für eine große Liebe.
Spontanität wird überbewertet. Filme und Fernsehserien möchten uns weismachen, Leute, die bei Partys in voller Montur ins Wasser springen, hätten ein besseres Leben. Dabei ist das hinter den Kulissen doch alles bis ins kleinste Detail inszeniert. Das Wasser hat die richtige Temperatur. Beleuchtung und Kamerawinkel sind genau berechnet. Die Dialoge sind auswendig gelernt. Nur deshalb wirkt es so ansprechend – weil jemand alles sorgfältig durchgeplant hat. Hat man das erst mal kapiert, wird das Leben entschieden einfacher. So war es bei mir jedenfalls.
Ich plane alles bis ins letzte Detail, und es ist mir egal, ob es jemand weiß.
Ich glaube an Zeitpläne, Abläufe, mit Washi Tape markierte Kalender, an Millimeterpapierhefte mit Listen, ausgeklügelte Pläne. Die Art Pläne, bei denen nichts schiefgehen kann, weil sie unter sorgfältiger Abwägung aller Eventualitäten und Folgen erstellt wurden. Keine Improvisation, keine spontanen Entscheidungen. Das endet nämlich im Desaster.
Nicht mit mir. Ich erstelle Pläne für mein Leben und halte mich daran. Nehmt zum Beispiel die Sommerferien. Bis in drei Wochen die Schule wieder anfängt, ich achtzehn werde und mein letztes Schuljahr beginnt, sieht der Plan für den Rest des Sommers wie folgt aus:
Plan eins: Zwei Vormittage die Woche in der Everhart Wellness-Oase meiner Eltern arbeiten, wo ich für die reguläre Rezeptionistin einspringe, die einen Sommerkurs an der Uni in Berkeley belegt. Meine Mutter ist Akupunkteurin und mein Vater Masseur, die Praxis gehört ihnen zusammen. Das bedeutet, statt Burger zu wenden und von irgendwelchen Fremden durch das Drive-through-Fenster angebrüllt zu werden, darf ich an einer tiefenentspannten Rezeption arbeiten, wo ich alles mustergültig organisiert habe und ganz genau weiß, welche Patienten durch die Tür kommen sollen. Keine Überraschungen, keine Szenen. Alles vorhersehbar, genau wie ich es mag.
Plan zwei: Mit meinem Astronomie-Club Fotos vom bevorstehenden Perseiden-Meteorstrom machen. Astronomie ist mein Hobby. Sterne, Planeten, Monde, alles, was mit Weltraum zu tun hat. Gestatten: Zorie Everhart, zukünftige NASA-Astrophysikerin.
Plan drei: Jeglichen Kontakt mit unseren Nachbarn, den Mackenzies, meiden.
Bis vor fünf Minuten sah es aus, als seien alle drei Punkte problemlos zu realisieren. Doch nun stehen meine Sommerpläne auf wackeligen Füßen, weil meine Mutter mich überreden will, zelten zu gehen.
Zelten. Ich.
Die freie Natur ist die große Unbekannte für mich. Ich bin nicht mal sicher, ob ich gern draußen bin. Eigentlich hat sich die Gesellschaft doch so weit fortentwickelt, dass Dinge wie frische Luft und Sonnenlicht vermeidbar sein sollten. Wenn ich wilde Tiere sehen will, schaue ich mir eine Doku im Fernsehen an.
Mom weiß das, aber das hindert sie nicht daran, gerade sämtliche Register zu ziehen, um mir so einen abgehobenen Natur-ist-gut-Idealismus à la Henry David Thoreau zu verkaufen. Das war dieser Typ, der im vorletzten Jahrhundert in einem Anfall von Weltflucht eine Zeit lang im Wald gehaust hat. Sie predigt auch sonst ständig die Vorzüge von Naturheilverfahren und Vegetarismus, aber jetzt kriegt sie sich gar nicht mehr ein über die majestätische Schönheit Kaliforniens und welche »einzigartige Möglichkeit« es für mich wäre, vor Schulbeginn die Wildnis zu erleben.
»Mal ganz ehrlich. Kannst du dir mich ernsthaft beim Camping vorstellen?«, frage ich sie und schiebe dunkle Korkenzieherlocken hinters Ohr.
»Ich rede nicht von Camping, Zorie«, sagt sie. »Mrs Reid lädt dich zum Glamping ein.« Sie beugt sich in ihrem grauen, mit dem Logo der Klinik bestickten Kittel über den Empfangstresen und redet leise und mit aufgeregter Stimme über die reiche Patientin, die sich hinten gerade auf einer der Akupunkturliegen entspannt und den angestaubten, aber heilsamen Klängen von Enya lauscht, der Schutzheiligen alternativer Naturheilpraxen rund um die Welt.
»Glamping«, wiederhole ich skeptisch.
»Mrs Reid sagt, sie haben Reservierungen für diese luxuriösen Zelte in der Sierra Nevada, irgendwo zwischen dem Yosemite- und dem King’s-Forest-Nationalpark«, erklärt meine Mutter. »Glamouröses Camping. Verstehst du? Glamping.«
»Das hast du schon mehrmals erwähnt, aber ich habe trotzdem keine Ahnung, was das sein soll«, erkläre ich ihr. »Wie soll ein Zelt luxuriös sein? Schläft man da nicht auf Stein?«
Mom beugt sich näher zu mir. »Mrs Reid und ihr Mann sind kurzfristig von einem Kollegen in sein Chalet in der Schweiz eingeladen worden und müssen den Campingtrip deshalb absagen. Sie haben eine Reservierung für ein schickes Zelt. Dieser Glampingplatz –«
»Da tanzen aber nicht irgendwelche Ökos ihren Namen oder so?«
Theatralisches Aufstöhnen meiner Mutter. »Hör zu. Ein Koch bereitet Gourmet-Essen zu, es gibt eine Feuerstelle im Freien, heiße Duschen – alles Mögliche.«
»Heiße Duschen«, wiederhole ich mit unverhohlenem Sarkasmus. »Was für ein Luxus.«
Sie überhört meinen Kommentar geflissentlich. »Der Punkt ist, obwohl es nicht wirklich Camping ist, fühlt es sich so an. Der Platz ist derart beliebt, dass die Zelte ein Jahr im Voraus verlost werden. Verpflegung und Übernachtung sind bereits bezahlt. Weil Mrs Reid es schade fand, die Buchung einfach so verfallen zu lassen, erlauben sie Reagan, ein paar Schulfreundinnen einzuladen – um vor Schulbeginn noch mal eine Woche lang die Freiheit auszukosten.«
Mrs Reid ist die Mutter von Reagan Reid, Sportskanone, Alphamädchen meiner Klasse und für mich so was wie eine Freundin. Beziehungsweise waren Reagan und ich einmal gute Freundinnen, als wir noch jünger waren. Als ihre Eltern zu Geld kamen, fing sie an, mit anderen Leuten abzuhängen. Außerdem hat sie ununterbrochen für die Olympischen Spiele trainiert. Bevor es mir richtig bewusst war, hatten wir uns … auseinandergelebt.
Bis zum letzten Sommer, als wir wieder anfingen, in der Mittagspause miteinander zu reden.
»Ein bisschen Natur würde dir guttun«, sagt meine Mutter und zupft an ihren dunklen Haaren herum, während sie mich weiter davon zu überzeugen versucht, bei diesem bescheuerten Campingtrip mitzufahren.
»Nächste Woche findet der Perseiden-Meteorstrom statt«, erinnere ich sie.
Sie weiß, dass ich eine eiserne Planerin bin. Unerwartete Änderungen und Überraschungen bringen mich völlig aus dem Konzept, und alles an diesem Camping… pardon, Glampingausflug macht mich sehr, sehr nervös.
Meine Mutter seufzt nachdenklich. »Du könntest dein Teleskop mitnehmen. Nachts Sterne und tagsüber Wandern.«
Wandern klingt genau nach Reagans Geschmack. Sie hat steinharte Oberschenkel und einen Waschbrettbauch. Ich hingegen bin quasi schon außer Puste, wenn ich die zwei Blocks zum Coffeeshop laufe – daran würde ich meine Mutter gern erinnern, aber sie schaltet in den nächsten Gang und spielt die Karte mit dem schlechten Gewissen aus.
»Mrs Reid hat erzählt, dass Reagan diesen Sommer ganz schön zu knabbern hat«, sagt sie. »Sie macht sich Sorgen ihretwegen. Ich glaube, sie hofft, dass dieser Trip Reagan nach dem Debakel bei den Ausscheidungskämpfen im Juni ein bisschen aufmuntern wird.«
Reagan ist gestürzt (damit meine ich, pflatsch, richtig langgelegt) und wurde nicht für die Olympischen Spiele zugelassen. Es war ihre große Chance, vorwärtszukommen. Nun wird sie vier weitere Jahre warten müssen. Ihre Familie ist deswegen todunglücklich. Trotzdem bin ich überrascht, dass sich Reagans Mutter ihretwegen Sorgen macht.
Mir geht noch etwas anderes durch den Kopf. »Hat Mrs Reid mich von sich aus zu diesem Trip eingeladen, oder hast du ein bisschen nachgeholfen?«
Ein zerknirschtes Grinsen lässt die Mundwinkel meiner Mutter nach oben wandern. »Ein bisschen von beidem.«
Ich lasse schweigend den Kopf auf den Tresen sinken.
»Komm schon«, sagt sie und rüttelt mich leicht an der Schulter, bis ich den Kopf wieder hebe. »Sie war überrascht, dass Reagan dich noch nicht gefragt hatte, also haben sie eindeutig darüber geredet, ob du mitkommst. Und vielleicht tut es Reagan und dir gut. Es fällt ihr schwer, wieder mit dem Alltag klarzukommen. Außerdem erzählst du ständig, dass du dich in ihrer Truppe als Außenseiterin fühlst, das hier ist deine Chance, mal außerhalb der Schule Zeit mit ihnen zu verbringen. Eigentlich solltest du einen Kniefall vor mir machen«, zieht mich meine Mutter auf. »Wie wäre es mit einem kleinen Danke, du übercoolste Mom aller Zeiten, dass du mich in das Highlight des Sommers reingequatscht hast. Du bist meine Heldin, Joy Everhart?« Sie presst sich theatralisch die Hände aufs Herz.
»Du hast sie nicht mehr alle«, murmle ich und tue desinteressiert.
Sie grinst. »Bist du nicht froh darüber?«
Und wie. Für sie ist es wirklich wichtig, dass ich glücklich bin, und sie würde fast alles dafür tun. Eigentlich ist Joy meine Stiefmutter. Als ich acht war, ist meine leibliche Mutter unerwartet an einem Aneurysma gestorben, damals haben wir noch auf der anderen Seite der Bay in San Francisco gewohnt. Doch dann beschloss mein Vater von einem Tag auf den anderen, Massagetherapeut zu werden, und steckte das gesamte Geld von der Lebensversicherung in seine Zulassung. Er ist ziemlich impulsiv. Na ja, und dann lernte er Joy bei einer Tagung über alternative Medizin kennen. Ein paar Monate später haben sie geheiratet, und wir sind alle hierher nach Melita Hills gezogen, wo sie Praxisräume und eine Wohnung angemietet haben.
Stimmt schon, trotz ihres reifen Alters von achtunddreißig ist Joy immer noch einige Jahre jünger als mein Vater, und weil sie zudem koreanische Wurzeln hat, darf ich mich mit megaschlauen Kommentaren von irgendwelchen engstirnigen Pfeifen herumschlagen, die mir unbedingt unter die Nase reiben wollen, was sowieso unverkennbar ist: dass sie nicht meine leibliche Mutter ist. Als wäre ich nicht in der Lage, das selbst zu sehen. Ganz ehrlich, für mich ist Joy jetzt meine Mutter. An das Leben vor ihr kann ich mich kaum erinnern. Über die Jahre ist die Bindung zu ihr wesentlich enger geworden als die zu meinem Vater. Sie unterstützt mich und macht mir Mut. Wenn sie nur nicht ganz so ökomäßig und begeisterungsfähig wäre …
Ich gebe es zwar nur ungern zu, aber vielleicht ist ihr Enthusiasmus wegen des Glampingtrips dieses Mal wirklich gerechtfertigt. Außerhalb der Schule Zeit mit Reagans engstem Kreis zu verbringen, würde definitiv meinen sozialen Status festigen. Der eher am seidenen Faden hängt, weil ich mit Leuten zusammen bin, die mehr Geld haben und beliebter sind. Ich wäre in ihrer Gesellschaft gern entspannter. Das gilt auch für Reagan. Mir wäre es nur lieber gewesen, sie hätte mich selbst gefragt, ob ich mitkomme, nicht ihre Mutter.
Die Praxistür schwingt auf und mein Vater rauscht – frisch rasiert und die dunklen Haare glatt nach hinten gekämmt – ins Wartezimmer. »Zorie, hat Mr Wiley angerufen?«
»Er hat seinen Massagetermin heute abgesagt«, informiere ich ihn. »Aber dafür eine halbe Behandlung für Donnerstag vereinbart.«
Eine halbe Behandlung dauert eine halbe Stunde, und eine halbe Stunde bedeutet wiederum nur das halbe Geld, aber mein Vater überspielt seine Enttäuschung schnell. Selbst wenn man ihm sagen würde, dass gerade sein bester Freund gestorben sei, würde er schnurstracks und ohne mit der Wimper zu zucken, in den Squash-Club gehen. Viele Leute nennen ihn Diamond Dan, weil er so ein Strahlemann ist.
»Hat Mr Wiley einen Grund für seine Absage genannt?«, erkundigt er sich.
»Etwas Dringendes in einem seiner Restaurants«, richte ich aus. »Irgendein Fernsehkoch kommt vorbei und dreht einen Beitrag.«
Mr Wiley ist einer der besten Patienten meines Vaters. Wie die meisten, die herkommen, schwimmt er im Geld und kann sich überdurchschnittlich teure Massagen und Akupunkturbehandlungen leisten. Unsere Wellness-Praxis ist die beste in Melita Hills, meine Mutter wurde sogar in der Zeitung San Francisco Chronicle als eine der Top-Akupunkteurinnen der Bay Area erwähnt: »Die Fahrt über die Bay Bridge lohnt sich.« Dementsprechend hoch sind auch die Preise meiner Eltern.
Allerdings hat die Zahl solcher Patienten im letzten Jahr langsam, aber sicher abgenommen. Der Hauptgrund für den Schwund, und das Ziel der Wut meines Vaters, ist das neu eröffnete Geschäft nebenan. Es ist uns allen superpeinlich, dass die Praxis nun neben einem Laden liegt, der Spielzeug für Erwachsene verkauft.
Jaaa, genau solches Spielzeug.
Das vaginaförmige Schild davor ist kaum zu übersehen. Und unseren gut betuchten Kunden ist es ganz sicher aufgefallen. Leute mit Niveau wollen bei einem Massagetermin normalerweise nicht vor einem Sexshop parken. Das haben meine Eltern, als langjährige Kunden ihre wöchentlichen Behandlungen abzusagen anfingen, ziemlich schnell rausgefunden. Die anderen, die uns wegen unserer guten Lage in der Nähe der ganzen Edelboutiquen auf der Mission Street die Treue halten, dürfen wir auf keinen Fall verlieren, das reibt mir mein Vater bei jeder Gelegenheit unter die Nase.
Ich weiß deshalb, wie sehr ihn die Absage von Mr Wiley trifft, es war sein einziger Termin heute. Als er vom Empfang zu seinem Büro geht, um dort in Ruhe vor sich hin zu brüten, bleibt meine Mutter ruhig.
»Und?«, fragt sie. »Soll ich Mrs Reid Bescheid sagen, dass du mit Reagan zum Glamping fährst?«
Als ob ich ihr sofort und ohne alle Faktoren abzuwägen, eine endgültige Antwort geben würde! Andererseits hasse ich es, ihrer strahlenden Begeisterung einen Dämpfer zu verpassen.
»Sei nicht ängstlich, sondern bedacht«, erinnert sie mich. Ängstliche Menschen fürchten das Unbekannte und gehen ihm aus dem Weg. Bedachte Menschen planen so, dass Unbekanntes sie souveräner werden lässt. Das bekomme ich jedes Mal zu hören, wenn ich mich weigere, meine Pläne zu ändern. »Wir werden uns zusammen schlaumachen.«
»Ich werde es in Erwägung ziehen«, erkläre ich diplomatisch. »Du kannst Mrs Reid ja sagen, dass ich Reagan wegen der Details schreibe und mich dann entscheide. Aber hast du gut gemacht, Dr. Pokenstein.«
Sie lächelt siegessicher. »Da wir schon von ihr reden, ich gehe jetzt mal lieber wieder zu ihr und ziehe die Nadeln raus, bevor sie auf der Liege einnickt. Oh, fast hätte ich es vergessen. War FedEx schon da?«
»Nein. Nur die normale Post.«
Sie runzelt die Stirn. »Ich habe eine Mail bekommen, dass ein Päckchen abgegeben wurde.«
Verdammter Mist. Ich weiß genau, was das bedeutet. Wir haben das Problem, dass unsere Post immer falsch zugestellt wird. Der Postbote liefert sie ständig im Sexshop nebenan ab. Und dieser wiederum steht in direkter Verbindung mit Plan drei für einen perfekten Sommer: jeglichen Kontakt mit den Mackenzies zu meiden.
Meine Mutter schiebt die Unterlippe vor und sieht mich mit Kulleraugen an. »Bitte, bitte«, bettelt sie zuckersüß. »Kannst du mal eben nach nebenan rennen und fragen, ob meine Sendung bei ihnen ist?«
Ich stöhne.
»Ich würde es ja selbst tun, aber Mrs Reid steckt voller Nadeln«, rechtfertigt sie sich und deutet mit dem Daumen auf die hinteren Räume. »Ich will schließlich ihre Lebenskraft ins Lot bringen, nicht die arme Frau foltern. Deshalb kann ich sie nicht ewig dort liegen lassen.«
»Kannst du das Paket nicht in deiner Mittagspause abholen?« Ich habe diese Woche schon eine Expedition nach Dildoland hinter mir, das reicht.
»Ich treffe mich in einer Stunde mit deiner Großmutter zum Mittagessen, weißt du nicht mehr?«
Stimmt. Grandma Esther verabscheut Unpünktlichkeit, eine Haltung, die ich aus vollem Herzen unterstütze. Es ändert trotzdem nichts an der Tatsache, dass ich mir lieber einen Zahn ziehen lassen würde, als nach nebenan zu gehen. »Was ist denn Wichtiges in diesem Päckchen?«
»Das ist es ja«, erwidert Mom und dreht ihre langen glatten Haare zu einem straffen Dutt. »Die Benachrichtigung wurde von jemandem weitergeleitet. Einer ›Catherine Beatty‹. Ich kenne niemanden, der so heißt, und ich habe auch nichts bestellt. Aber die Benachrichtigung ging an meine Arbeitsmail, und unsere Adresse ist eingetragen.«
»Ein geheimnisvolles Päckchen.«
Ihre Augen funkeln. »Überraschungen sind toll.«
»Bis dir jemand ein Päckchen mit Spinnen schickt, oder eine abhackte Hand. Vielleicht hast du irgendjemanden ein bisschen zu fest gepikt.«
»Vielleicht habe ich auch jemanden genau richtig gepikt, und er oder sie schickt mir Schokolade.« Sie mopst einen Stift vom Tresen, um den Dutt festzustecken. »Bitte, Zorie. Solange dein Vater beschäftigt ist.«
Den letzten Satz sagt sie leise. Mein Vater würde einen Anfall kriegen, wenn er mich nebenan sehen würde.
»Na gut. Ausnahmsweise«, sage ich, alles andere als glücklich.
Sommerpläne, ihr wart ein schöner Traum.
Nachdem ich ein selbst gebasteltes BIN GLEICH WIEDER DA!-Schild auf den Tresen geklebt habe, gehe ich langsam durch die Eingangstür in die helle Morgensonne und bereite mich auf das Schlimmste vor.
Toys in the Attic oder T&A, Titten und Ärsche, wie meine Mutter immer scherzhaft sagt – bis mein Vater sie mit seinem Das ist nicht lustig, Joy-Blick ansieht –, liegt an der Ecke zur Mission Street und ist ein Nobel-Sexshop für Frauen. Er ist gut beleuchtet und sauber. Nicht schmierig und voll gruseliger Typen wie dieser Schuppen Love Rocket auf der anderen Seite der Stadt, wo die Fenster übermalt sind und der rund um die Uhr geöffnet ist. Man könnte ja morgens um drei plötzlich Plüschhandschellen brauchen.
Das Schaufenster von T&A wird von den Besitzerinnen jeden Monat nach einem anderen Motto dekoriert. Diesen Monat lautet es »Wald«, und aus dem Kunstgras ragt wie Pilze eine handverlesene Sammlung leuchtender Gummi-Dildos. An einen schmiegt sich sogar ein Eichhörnchen. Eigentlich könnte das lustig sein, aber viele Leute aus meiner Schule sehen dieses Fenster regelmäßig, und dann kann ich mir dümmliche gekicherte Kommentare darüber anhören.
Unsere sich bekämpfenden Gewerbe – und nahe gelegenen Wohnungen – befinden sich am Ende einer baumgesäumten Einkaufsstraße mit kleinen Boutiquen, Bio-Restaurants und Kunstateliers. In der Wendeschleife stehen vorwiegend alte viktorianische Häuser wie unseres, die irgendwann in Wohnungen unterteilt wurden. Nicht unbedingt der Ort, wo man käuflichen Sex erwarten würde.
Mein Vater ist der Meinung, dass ein Laden, der »Hilfsmittel für Ehepartner« verkauft, »kein Ort für ein junges Mädchen« sei. Die beiden Inhaberinnen des Sexshops sorgen mit schöner Regelmäßigkeit dafür, dass sich sein strahlendes Lächeln verdüstert. Der Streit mit unseren Nachbarinnen erinnert an diese Familienfehde zwischen den Hatfields und McCoys, die sich im neunzehnten Jahrhundert in den Appalachen bekriegten und bei der mehr als ein Dutzend Menschen zu Tode kamen. Oder an Alexander Hamilton und Aaron Burr, zwei bekannte Politiker, die sich 1804 ein Duell lieferten, das Ersteren das Leben kostete. Sie sind der Erzfeind. Wir verkehren nicht mit den Mackenzies. Oh nein, wo kämen wir da hin.
Meine Mutter war früher mit ihnen befreundet und teilt die Meinung meines Vaters nur bedingt. Und ich? Ich stehe zwischen allen Fronten. Die ganze Situation ist so was von ätzend. Und kompliziert. Sehr, sehr kompliziert.
Ich husche mit eingezogenem Kopf in den Sexshop und stehe im rosa gestrichenen Laden, der den synthetischen Geruch von Silikon verströmt. Es ist kurz vor Mittag, und nur wenige Kundinnen schauen sich um – schon mal ein Trost. Als ich schnurstracks auf den Tresen mitten im Raum zugehe, wo sich zwei Frauen Anfang vierzig unterhalten, vermeide ich den Blick auf ein Arrangement aus Reitpeitschen. Ich bin nun hinter der feindlichen Linie. Bleibt nur zu hoffen, dass ich nicht erschossen werde.
»Es war nicht Alice Cooper«, sagt eine Frau mit dunklen schulterlangen Haaren, die gerade einen kleinen Pappkarton auf den Tresen stellt. »Es war der Typ, der mit der rothaarigen Talkmasterin verheiratet ist. Wie heißt sie doch gleich. Osbourne.«
Die Frau mit den grünen Augen und der hellen Haut neben ihr lehnt sich gegen den Tresen und kratzt sich die sommersprossige Nase.
»Ozzy?«, fragt sie, ihr Akzent ist eine weiche Mischung aus amerikanischem und schottischem Englisch. »Glaube ich nicht.«
»Da wette ich aber einen Cupcake drauf.« Braune Augen wandern über den Tresen zu meinen. Ihr längliches Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln. »Zorie! Lange nicht gesehen.«
»Hallo, Sunny«, erwidere ich, dann begrüße ich ihre sommersprossige Frau. »Mac.«
»Neckische Sonnenbrille«, kommentiert Sunny mein blaues Retromodell mit Katzenaugengläsern und hält den Daumen hoch.
Ich habe noch ein Dutzend andere in unterschiedlichen Formen und Farben. Ich kaufe sie passend zu meinen Outfits superbillig in einem Onlineshop. Neben extraknalligem Lippenstift und einer Vorliebe für Karos sind coole Brillen total mein Ding. Ich mag ein Nerd sein, aber ich habe Stil.
»Danke.« Das meine ich ehrlich. Nicht zum ersten Mal bedauere ich, dass mein Vater mit den zwei Frauen im Clinch liegt. Vor nicht allzu langer Zeit haben sie sich wie meine zweite Familie angefühlt.
Sunny und Jane »Mac« Mackenzie auf der anderen Seite der Wendeschleife sind unsere Nachbarinnen, seit wir hergezogen sind, und sie haben immer darauf bestanden, dass ich sie Sunny und Mac nenne. Punkt. Nicht Miss oder Mrs oder sonst irgendwas. Sie stehen nicht auf Formalitäten, weder bei Namen noch bei Klamotten. Sie sind der Inbegriff von Kalifornierinnen. Also einfach durchschnittliche lesbische Ex-Riot-Grrrl-Sexshop-Inhaberinnen.
»Hilf uns mal auf die Sprünge. Wir spielen gerade ein Rockstar-Quiz«, sagt Mac und streicht sich das mit Silberfäden durchzogene knallrote Haar aus dem Gesicht. »Welcher Heavy-Metal-Star hat einer Fledermaus den Kopf abgebissen? Auf der Bühne, damals in den Sechzigern.«
»In den Siebzigern«, verbessert Sunny.
Mac verdreht amüsiert die Augen. »Egal. Hör zu, Zorie. Wir tippen auf Ozzy Osbourne oder Alice Cooper. Welcher von beiden?«
»Ähm, da habe ich echt keine Ahnung«, antworte ich. Hoffentlich geben sie auf und ich bekomme endlich das, weshalb ich gekommen bin, und kann dann verschwinden. Sie benehmen sich, als hätte sich nichts geändert und ich würde nach wie vor sonntags zum Abendessen kommen. Als hätte mein Vater nicht gedroht, ihnen den Laden mit einem Baseballschläger kurz und klein zu schlagen, weil sie ihm die Kunden vergraulen, und als hätten sie ihm nicht vor großem Publikum, das auf der anderen Straße alles mit Handys aufnahm, geantwortet, er könne sie mal. Die Videos waren nach einer Stunde auf YouTube.
Jep. Richtig lustig. Mein Vater konnte die Mackenzies schon nicht leiden, als sie bloß die »schrägen Weiber von gegenüber« waren. Doch seit sie letzten Herbst den Sexshop eröffneten und unsere Praxis anfing, den Bach runterzugehen, hat sich die Antipathie in etwas Stärkeres verwandelt.
Aber gut, wenn Sunny und Mac so tun wollen, als sei alles in schönster Ordnung, von mir aus. Solange ich damit schneller hier rauskomme, spiele ich das Spiel mit. »Alice Cooper vielleicht?«, antworte ich.
»Auf keinen Fall. Das war Ozzy Osbourne«, sagt Sunny im Brustton der Überzeugung und schlitzt das Paket auf dem Tresen mit einem Teppichmesser auf. »Schau nach, Mac.«
»Mein Telefon ist nicht aufgeladen.«
Sunny schnalzt mit der Zunge. »Wer’s glaubt, wird selig. Du willst bloß die Wette nicht verlieren.«
»Lennon weiß es bestimmt.«
Mein Magen zieht sich zusammen. Es gibt viele Gründe, warum ich nicht hierherkommen will. Der Dildowald. Die Angst, dass mich Leute sehen, die ich kenne. Die Dauerfehde meines Vaters mit den zwei Frauen, die sich hinter dem Tresen gegenseitig necken. Wer allerdings wirklich den Wunsch nach Unsichtbarkeit in mir hervorruft, ist der siebzehnjährige Junge, der gerade lässig aus dem Lager geschlendert kommt.
Lennon Mackenzie.
Monster-Shirt. Schwarze Jeans. Schwarze kniehohe Schnürstiefel. Schwarze fransig geschnittene Haare, demonstrativ zerzaust und gleichzeitig perfekt stachelig gestylt.
Würde eine bösartige Anime-Figur zum Leben erwachen, die aus finsteren Ecken den Weltuntergang plant, hätte sie viel Ähnlichkeit mit Lennon. Er ist das Paradebeispiel für alles, was schräg und makaber ist. Und der Hauptgrund, warum ich in der Schulcafeteria nicht mit dem gemeinen Volk zu Mittag essen will.
Er hält eine Graphic Novel mit Zombie-Cover in der Hand, unter dem anderen Arm klemmt irgendwas Kleines und Unidentifizierbares. Er mustert meinen blau karierten Rock, dann wandert sein Blick zu meinem Gesicht. Sofort wird seine lässige Haltung angespannt und kantig. Und als seine dunklen Augen meinen begegnen, bestätigen sie unmissverständlich, was ich schon weiß: Wir sind keine Freunde.
Die Sache ist, früher waren wir es. Gute Freunde. Okay, beste Freunde. Wir hatten viele gemeinsame Kurse, und weil wir gegenüber voneinander wohnen, waren wir auch nach der Schule zusammen. Als wir jünger waren, sind wir mit dem Rad in den Stadtpark gefahren. Auf der Highschool wurde aus dieser täglichen Radtour ein täglicher Gang die Mission Street hinunter zu unserem Coffeeshop – dem Jitterbug. Andromeda, meine weiße Husky-Hündin, kam auch immer mit. Und dieser Gang wiederum wurde zu nächtlichen Spaziergängen um die Bay. Lennon nannte mich Medusa (wegen meiner dunklen widerspenstigen Locken) und ich ihn Sensenmann (wegen seiner Aufmachung). Wir waren ständig zusammen. Unzertrennliche Freunde.
Bis sich letztes Jahr alles änderte.
Ich nehme all meinen Mut zusammen, rücke meine Brille zurecht, setze ein höfliches Lächeln auf und sage: »Hi.«
Als Antwort reckt er das Kinn. Mehr nicht. Früher hat er mir seine Geheimnisse anvertraut, und nun geruht er nicht mal zur Begrüßung den Mund aufzumachen. Ich dachte, irgendwann würde der Schmerz nachlassen, aber es tut immer noch genauso weh.
Neuer Plan: Kein weiteres Wort zu ihm. Einfach links liegen lassen.
»Sohn«, sagt Sunny zu Lennon, während sie etwas auspackt, das nach Gleitgel aussieht. »Welcher Rockstar hat einer Fledermaus den Kopf abgebissen? Deine andere, weniger hippe Mutter tippt auf Alice Cooper.«
Mac tut beleidigt und deutet auf mich. »Hey, Zorie denkt das auch!«
»Dann täuscht sie sich«, sagt Lennon abweisend. Seine Stimme ist rau und tief und klingt, als würde er aus einem dunklen, unergründlichen Brunnen sprechen. Das ist noch etwas, das mich an Lennon kirre macht. Er hat nicht nur eine angenehme Stimme, er hat eine attraktive Stimme. Sie ist kräftig, selbstsicher und voll, und entschieden zu sexy. Er klingt wie der Bösewicht, der aus dem Hintergrund seine Kommentare ablässt, oder wie irgendein teuflischer Radiomoderator. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich sie höre, und ich nehme es ihm übel, dass er immer noch diese Wirkung auf mich hat.
»Es war Ozzy Osbourne«, klärt er uns auf.
»Ha! Hab ich’s dir doch gesagt«, brüstet sich Sunny.
»Ich habe einfach auf irgendeinen getippt«, erkläre ich Lennon, ein wenig wütender als beabsichtigt.
»Tja, war der Falsche«, sagt er gelangweilt.
Ich bin eingeschnappt. »Seit wann habe ich mich mit Fledermausmissbrauch in der Rockmusik auszukennen?«
Das ist eher sein Stil.
»Ist ja kein Geheimwissen«, kontert er und streicht sich die kunstvoll zerzausten Haare aus dem Auge. »Bloß Popkultur.«
»Richtig. Lebensnotwendige Informationen, um an der Uni meiner Wahl zugelassen zu werden. Die Frage habe ich, glaube ich, bei den SAT-Eignungsprüfungen gesehen.«
»Das Leben besteht aus mehr als Tests.«
»Zumindest habe ich Freunde«, kontere ich.
»Falls du Reagan und den Rest ihrer Clique für echte Freunde hältst, unterliegst du einem traurigen Irrtum.«
»Hey, ihr zwei«, murmelt Sunny. »Sucht euch ein Zimmer.«
Mein Gesicht fängt zu glühen an.
Oh nein. Das ist kein Insgeheim mag ich dich-Streit. Das ist Insgeheim hasse ich dich. Klar, er hat diese Lippen und die Haare und die Baritonstimme, und ich bin ja nicht blind: Er ist attraktiv. Doch beim einzigen Mal, als unsere ehemalige Freundschaft gewagt hat, den kleinen Zeh über die Linie zu setzen – eine Phase, die wir das Große Experiment tauften –, habe ich mir bei der Homecoming-Party die Augen ausgeheult und mich gefragt, was schiefgelaufen ist.
Ich habe es nie herausgefunden. Aber ich habe eine Vermutung.
Er wirft seiner Mutter einen leidgeprüften Blick zu, so nach dem Motto Bist du jetzt fertig?, und wendet sich an Mac. »Ozzys Fledermaus-Story wurde hysterisch aufgebauscht. Irgendjemand aus dem Publikum hat eine tote Fledermaus auf die Bühne geworfen, und Ozzy dachte, sie sei aus Plastik. Als er ihr den Kopf abbiss, hat er sich total erschrocken. Nach der Show musste er ins Krankenhaus, um sich gegen Tollwut impfen zu lassen.«
Sunny schubst Mac mit der Hüfte an. »Auch egal. Ich habe trotzdem recht, und du schuldest mir einen Cupcake. Kokos. Da wir nicht gefrühstückt haben, würde ich ihn jetzt nehmen. Brunch.«
»Das klingt ziemlich verlockend«, sagt Mac. »Zorie, möchtest du auch einen?«
Ich schüttle den Kopf.
Mac wendet sich zu Lennon. »Liebster Sohn«, säuselt sie fröhlich. »Könntest du mal eben schnell zur Bäckerei laufen? Bitte, bitte?«
»Liebste Mutter. Ich muss in einer halben Stunde bei der Arbeit sein«, entgegnet er, und ich hasse ihn dafür, dass er den einen Moment so abweisend zu mir sein kann und im nächsten so nett zu seinen Eltern. Als er das Buch auf den Tresen legt, erkenne ich, was er unter dem Arm hält: eine rote Bartagame, ungefähr so lang wie mein Unterarm. Um ihre winzigen Schultern ist ein schwarzes Ledergeschirr mit Leine befestigt. »Muss nur noch vorher Ryuk in sein Terrarium zurückbringen.«
Lennon steht total auf Reptilien, was auch sonst. In seinem Zimmer nehmen sie ziemlich viel Platz ein – Schlangen, Echsen sowie sein einziges Nichtreptilien-Haustier, eine Vogelspinne. Er arbeitet Teilzeit in dem Reptilienladen auf der Mission Street, wo er mit anderen Schlangenliebhabern über Kriech- und Krabbelviecher fachsimpeln kann.
Mac streckt die Hand über den Tresen, um der Echse den geschuppten Kopf zu kraulen, und flötet mit Kinderstimme: »Gut. Da hast du wohl gewonnen, Ryuk. Hilfe, du befreist dich ja aus deinem Gurt.«
Lennon setzt die Bartagame auf seine Graphic Novel. Ryuk will ausbüxen und fällt fast vom Tresen. »Ineffiziente Methode«, klärt Lennon die Echse streng auf. »Wenn du dich unbedingt umbringen willst, dann lieber mit einer Überdosis Reptilienvitamine als durch einen Sprung.«
»Lennon«, ermahnt ihn Sunny milde.
Im Mundwinkel seiner vollen Lippen deutet sich ein finsteres Lächeln an. »Pardon, Mama«, entschuldigt er sich.
Als wir jünger waren, haben ihn die anderen in der Schule erbarmungslos gehänselt. Wie kannst du deine Mütter eigentlich auseinanderhalten? Für ihn ist Sunny Mama. Mac ist Mum. Und obwohl Mac ihn auf die Welt gebracht hat, betrachtet er beide als gleichwertige Mütter.
Sunny verzeiht ihm mit einem Lächeln. Seine Eltern sehen ihm alles nach. Er hat sie nicht verdient.
»So, Zorie. Was führt dich her, Liebes?«, fragt mich Mac, während Lennon das winzige Geschirr der Echse zurechtrückt.
Wenn ich kein Gespräch mit seinem Rücken führen will, werde ich mich wohl neben Lennon stellen müssen. Wann ist er so abartig groß geworden? »Meine Mutter ist auf der Suche nach einem FedEx-Päckchen.«
Macs Augen spähen zu Sunnys. Zwischen den beiden Frauen findet eine kaum wahrnehmbare, aber trotzdem deutliche Kommunikation statt.
»Stimmt irgendwas nicht?«, erkundige ich mich.
Sunny räuspert sich. »Nein, alles gut, Süße.« Sie zögert und wirkt einen Moment lang unentschlossen. »Ja, wir haben tatsächlich etwas«, sagt sie und zieht einen braunen Papierumschlag unter dem Tresen hervor, den sie mir unter Entschuldigungen reicht. »Ich habe ihn aus Versehen geöffnet, aber ich habe die Post deiner Mutter nicht gelesen. Ich habe die Adresse erst gesehen, als ich ihn aufgerissen habe.«
»Kein Problem«, sage ich. Es ist schon ein paarmal vorgekommen und jagt den Blutdruck meines Vaters regelmäßig kräftig in die Höhe, aber meiner Mutter wird es egal sein. Allerdings sieht Mac gerade extrem betreten aus. Selbst Lennon wirkt reservierter als sonst; seine Ausstrahlung wandelt sich von leicht unterkühlt zu arktisch. In meinem Kopf schrillen die Alarmglocken.
»Na denn, ich muss mal wieder zurück«, erkläre ich und tue, als bekäme ich nicht mit, dass irgendetwas faul ist.
»Richte Joy viele Grüße aus«, sagt Mac. »Falls deine Mutter irgendwann mal Lust auf einen Kaffee hat …« Sie redet nicht weiter, sondern lächelt mich verkrampft an. »Na ja, sie weiß ja, wo wir zu finden sind.«
Sunny nickt. »Und du auch. Lass dich mal blicken.«
Jetzt bin ich verlegen. Also, noch mehr als sonst, wenn ich die Erniedrigung ertragen muss, die dieser Laden darstellt.
»Klar. Und danke für das hier.« Ich halte den Umschlag hoch, doch als ich mich zum Gehen wende, renne ich fast den Werbeaufsteller in Form eines riesigen blauen Vibrators neben der Kasse um. Ich strecke automatisch die Hand aus, um das schwankende Stück Plastik aufzufangen, doch dann wird mir klar, was ich da anfasse. Heiliger Himmel.
Lennon senkt den Kopf und sieht unter einem Fächer schwarzer Wimpern zu Boden.
Ich muss hier raus. Auf der Stelle.
Nachdem ich fast über meine eigenen Füße gestolpert wäre, verlasse ich mit großen Schritten den Laden, und als ich wieder im Sonnenschein stehe, atme ich erst mal tief aus. Ich kann gar nicht schnell genug in die Praxis zurück.
Doch als ich hinter dem Empfangstresen sitze, wo mich niemand sehen kann, starre ich den Umschlag an, den mir die Mackenzies gegeben haben. Als Absender ist ein Postfach in San Francisco angegeben, und er ist in der Tat an Joy Everhart adressiert. Keine Ahnung, wie Mac und Sunny das übersehen konnten, aber egal.
Nachdem ich mich vergewissert habe, dass auch der Gang hinter mir leer ist, werfe ich einen Blick in den Umschlag.
Er enthält eine handschriftliche Notiz und ein kleines Buch mit Fotos. Die Marke kenne ich aus der Internetwerbung: Fotos hochladen, und ein paar Tage später bekommt man ein Fotobuch zugeschickt. Auf diesem steht in Schnörkelschrift Unsere Woche auf den Bahamas.
Als ich das Buch aufschlage, finde ich Tausende von sonnigen Urlaubsfotos. Den Ozean. Den Strand. Meinen Vater beim Schnorcheln. Meinen Vater mit irgendeiner Frau im Bikini im Arm.
Moment.
Was?
Ich blättere schneller weiter und starre auf Hochglanzseiten mit noch mehr Fotos im gleichen Stil. Abendessen und exotische Cocktails. Mein Vater mit seinem Strahlelächeln. Allerdings lächelt er nicht meine Mutter an, sondern irgendeine Unbekannte. Eine Unbekannte mit goldenem Fußkettchen und langen künstlichen Wimpern. Er hat sie im Arm – und auf einem Foto küsst er sogar ihren Hals.
Was ist das? Irgendein Flirt nach dem Tod meiner Mutter? Jemand vor Joy? Ich ziehe den Brief heraus.
Joy.
Du kennst mich nicht, aber ich dachte, vielleicht interessiert dich das hier, von Frau zu Frau. Fotos von unserem Urlaub letzten Sommer.
Viel Glück.
Eine von vielen
Meine Finger werden taub. Letzten Sommer? Da hat er hier in der Klinik gearbeitet. Nein, Moment. Eine Woche lang war er in Los Angeles zu einer Tagung über Massagetherapie. Und kam erstaunlich braun gebrannt zurück … angeblich, weil er jeden Nachmittag am Hotelpool gelegen hat.
»Oh Scheiße«, flüstere ich.
Mein Vater geht fremd.