Marie Rutkoski
Spiel der Liebe
Gemeinsam mit wankelmütigen Verbündeten kämpft Arin gegen das mächtige Imperium. Er redet sich ein, dass er Kestrel nicht mehr liebt, und doch kann er sie nicht vergessen. Obwohl sie das Imperium über das Leben unschuldiger Menschen gestellt hat – zumindest denkt er das. In Wahrheit ist Kestrel Gefangene in einem Arbeitslager. Verzweifelt versucht sie zu fliehen, bevor es zu spät ist. Denn ein erbarmungsloser Krieg ist ausgebrochen, mit Kestrel und Arin im Zentrum. Kann es überhaupt einen Sieger geben, wenn so viel auf dem Spiel steht?
Das fesselnde Finale einer meisterhaft erzählten Trilogie – Band 3 der Fantasy-Serie »Die Schatten von Valoria«.
Die Schatten von Valoria
Spiel der Macht (Band 1)
Spiel der Ehre (Band 2)
Spiel der Liebe (Band 3)
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Leseprobe
FÜR SARAH MESLE
Er erzählte sich selbst eine Geschichte.
Nicht gleich am Anfang.
Am Anfang hatte er keine Zeit für Gedanken in Gestalt von Wörtern. Es war ein Segen, dass in seinem Kopf kein Platz für Geschichten war. Der Krieg rollte heran. Er überrollte ihn. Arin war im Jahr des Gottes des Todes geboren worden, und endlich konnte er sich darüber freuen. Er ergab sich ganz diesem Gott, der lächelte und näher kam. Geschichten werden dich umbringen, flüsterte er Arin ins Ohr. Jetzt hör einfach zu. Hör mir zu.
Und das tat Arin.
Sein Schiff war von der Hauptstadt her geradezu übers Meer geflogen. Nun nahm es Kurs auf die Flotte aus Ostländerschiffen, die in der Bucht seiner Stadt ankerten – flinke Kriegsschaluppen, über denen das Blau und Grün ihrer Königin flatterte. Die Schaluppen standen unter Arins Kommando, jedenfalls fürs Erste. Sie waren das Geschenk der dacrischen Königin an ihre neuen Verbündeten. Die Schiffe waren nicht so zahlreich, wie Arin es gern gehabt hätte. Nicht so zahlreich mit Geschützen bestückt, wie er es gern gehabt hätte.
Aber:
Hör zu.
Arin befahl dem Kapitän seines Schiffs, längsseits der größten dacrischen Schaluppe zu segeln. Nachdem er seinem Kapitän aufgetragen hatte, in den Hafen zurückzukehren und Arins Cousine in der Stadt aufzusuchen, ging Arin an Bord der Schaluppe. Er begab sich zum Befehlshaber über die Ostländerflotte. Xash war ein schlanker Mann mit auffallend hoher Nasenwurzel und brauner Haut, die in der Spätfrühlingssonne glänzte.
Arin sah ihm in die Augen – sie waren schwarz, immer leicht zusammengekniffen und umrandet mit der gelben Farbe, die auf seinen Status als Flottenkommandant hinwies. Es war, als wüsste Xash bereits, was Arin gleich sagen würde. Der Ostländer lächelte schwach.
»Sie kommen«, verkündete Arin.
Er erklärte, wie der valorianische Imperator das Wasser, das in Herrans Stadt geleitet wurde, langsam hatte vergiften lassen. Der Imperator hatte wohl vor Monaten jemanden in die Berge geschickt, in die Nähe der Quelle, die das Aquädukt speiste. Selbst von Xashs Schiffsdeck aus hatte Arin den Verlauf des Bauwerks mit seinen gewölbten Bögen verfolgen können. Gerade noch in der Ferne erkennbar, schlängelte es sich aus den Bergen herab und hatte etwas mit sich gebracht, das die Herrani geschwächt hatte, sodass sie nur noch schlafen wollten und zitterten.
»Ich wurde in der Hauptstadt gesehen«, sagte Arin zu Xash. »Ein valorianisches Schiff hat meines fast bis zu den Leeren Eilanden verfolgt. Vermutlich weiß der Imperator, dass ich es weiß.«
»Was ist aus dem Schiff geworden?«
»Es hat abgedreht. Wahrscheinlich, um auf Verstärkung zu warten – und auf die Befehle des Imperators.« Arin sprach die Sprache dieses Mannes abgehackt, mit schwerem Akzent und schnellen, harten Silben. Sie war ihm noch fremd. »Er wird jetzt zuschlagen.«
»Was macht Euch so sicher, dass Gift durch das Aquädukt geleitet wird? Woher habt Ihr diese Information?«
Arin zögerte, weil er nach den dacrischen Worten für das suchte, was er sagen wollte. »Die Motte«, antwortete er in seiner eigenen Sprache.
Xash kniff die Augen noch mehr zusammen.
»Eine Spionin«, erklärte Arin wieder auf Dacrisch, als er endlich das richtige Wort gefunden hatte. Er spielte mit dem goldenen Ring an seinem kleinen Finger und dachte dabei an Tensen, seinen Herrn der Spione, und daran, dass die Verfolgung durch das valorianische Schiff vielleicht bedeutete, dass Tensen verhaftet worden war, gleich nachdem Arin den Palast verlassen hatte. Der alte Mann hatte darauf bestanden zu bleiben. Man hatte ihn womöglich gefasst. Gefoltert. Zum Reden gezwungen. Arin versuchte sich vorzustellen, was die Valorianer ihm angetan haben mochten …
Nein. Der Gott des Todes legte seine kalte Hand über Arins Gedanken und schloss die Faust um sie. Du hörst mir nicht zu, Arin.
Hör zu.
»Ich brauche Papier«, sagte Arin. »Ich brauche Tinte.«
Arin zeichnete für Xash eine Karte von seinem Land. Mit flinkem Federstrich skizzierte er die herranische Halbinsel. In das Meer zwischen Herran und Valoria tupfte er die Inseln, die südlich der Spitze der Halbinsel verstreut lagen. Er tippte auf Ithrya, eine große Felseninsel, die eine Meerenge zwischen diesen Inseln und der Spitze der Halbinsel schuf. »Die Strömung in der Meerenge ist im Frühling stark. Schwer, dagegen anzusegeln. Aber wenn eine valorianische Flotte kommt, ist das die Route, die sie nehmen werden.«
»Sie wollen eine Meerenge befahren, die schwer zu navigieren ist?« Xash klang skeptisch. »Sie könnten diese drei Inseln hier umsegeln und danach nordwärts entlang der Halbinsel auf Eure Stadt zuhalten.«
»Zu langwierig. Kaufleute lieben die Meerenge. Um diese Zeit des Jahres ist die Strömung am stärksten und würde Schiffe aus Valoria bis an Herrans Türschwelle befördern. Sie würden geradezu durch die Meerenge schießen. Der Imperator kalkuliert damit, eine geschwächte Stadt anzugreifen. Er erwartet keinen Widerstand. Er wird keinen Grund sehen, länger als unbedingt nötig auf das zu warten, was er haben will.« Arin berührte das östliche Ende Ithryas und den äußersten Zipfel der Halbinsel. »Hier können wir uns verstecken – die Hälfte unserer Flotte östlich von Herran, die andere Hälfte östlich der Insel. Wenn die valorianische Flotte naht, wird sie es schnell tun. Wir werden sie in die Zange nehmen und von beiden Seiten angreifen. Sie werden nicht ausweichen können, gleichgültig wie der Wind steht. Wenn sie versuchen, in die Meerenge zurückzusegeln, wird die Strömung sie wieder ausspucken.«
»Ihr habt keine Zahlen genannt. Wir haben keine große Flotte. Die Valorianer in die Zange zu nehmen bedeutet, unsere Flotte zu halbieren. Habt Ihr je in einer Seeschlacht gekämpft?«
»Ja.«
»Ich hoffe, Ihr meint nicht die Seeschlacht hier in dieser Bucht während des Erstwinteraufstands.«
Arin schwieg.
»Das war in einer Bucht«, spottete Xash. »Ein hübsches kleines Planschbecken, wo laue Lüftchen wehen, die einen Säugling in den Schlaf wiegen könnten. Es ist leicht, hier zu manövrieren. Wir reden von einer Schlacht auf dem offenen Meer. Und Ihr redet davon, unsere Flotte zu schwächen, indem wir sie zweiteilen.«
»Ich denke nicht, dass die valorianische Flotte groß sein wird.«
»Ihr denkt es nicht.«
»Sie muss es nicht sein, nicht um eine Stadt anzugreifen, deren Einwohner unter Drogeneinfluss stehen und apathisch sind. Eine Stadt«, betonte Arin noch einmal, »von der der Imperator glaubt, dass sie keine Verbündete hat.«
»Mir gefallen Überraschungsangriffe. Mir gefällt der Gedanke, die Valorianer auflaufen zu lassen. Aber Euer Plan wird nur funktionieren, wenn der Imperator keine Flotte entsandt hat, die uns zahlenmäßig haushoch überlegen ist und unsere beiden Flanken mit Leichtigkeit versenken kann. Er wird nur funktionieren, wenn der Imperator wirklich nicht weiß, dass Dacra« – Xashs Stimme verriet seine Missbilligung – »sich mit Euch verbündet hat. In diesem Fall würde der valorianische Imperator ein solches Bündnis liebend gern mit einer überwältigenden Demonstration seiner Macht zur See in Grund und Boden stampfen. Falls er weiß, dass wir hier sind, wäre es gut möglich, dass er die gesamte valorianische Flotte schickt.«
»Dann ist eine Schlacht in der Meerenge besser. Es sei denn, Ihr zieht es vor, dass sie uns hier in der Bucht angreifen.«
»Ich befehlige diese Flotte. Ich habe die Erfahrung. Ihr seid kaum mehr als ein Junge. Ein Junge aus dem Ausland.«
Als Arin erneut sprach, waren es nicht seine eigenen Worte. Sein Gott gab ihm ein, was er sagen sollte. »Wem hat Eure Königin das Oberkommando übertragen, als sie Euch befahl, Eure Flotte nach Herran zu verlegen? Euch oder mir?«
Xashs Gesicht wurde hart vor Zorn. Arins Gott lächelte breit, tief in seinem Innern.
»Wir setzen Segel«, sagte Arin.
Die Gewässer östlich der Insel Ithrya waren von einem strahlenden Grün. Aber von dort, wo Arins Schiff auf die valorianische Flotte wartete, konnte er sehen, wie die Strömung, die aus der Meerenge drängte, eine breite, fast violette Spur durch das Wasser zog.
So fühlte er sich selbst: als ob sich eine dunkle, wogende Kraft durch ihn hindurcharbeitete. Sie brandete hinab bis in seine Fingerspitzen und wärmte ihn. Sein Brustkorb wurde bei jedem Atemzug weit.
Als das erste valorianische Schiff aus der Meerenge schoss, flammte in Arin eine boshafte Freude auf.
Und es war leicht. Die Valorianer hatten nicht mit ihnen gerechnet, hatten ganz offensichtlich keine Ahnung von ihrem Bündnis. Die feindliche Flotte war der ihren zahlenmäßig ebenbürtig. Der Meerenge war es geschuldet, dass die valorianischen Schiffe nur paarweise in die herranische See hinaussegeln konnten. Leicht zu kapern. Die Ostländerflotte fiel von beiden Seiten über sie her.
Kanonenkugeln durchschlugen die Schiffsrümpfe. Von den Geschützdecks wölkte schwarzer Rauch auf. Es stank nach Abertausenden verbrannten Schwefelhölzern.
Arin enterte sein erstes valorianisches Schiff. Er schien alles von einem Punkt außerhalb seiner selbst zu beobachten: wie sich sein Schwert in einen valorianischen Seemann bohrte und dann noch einen und so weiter, bis sein Schwert wie mit Blut lackiert war. Blut spritzte über seinen Mund. Arin schmeckte es nicht. Spürte nicht, wie seine Dolchhand in jemandes Eingeweide fuhr. Zuckte nicht zusammen, als ein feindliches Schwert seiner Aufmerksamkeit entging und seinen Oberarmmuskel aufschlitzte.
Arins Gott schlug ihm quer übers Gesicht.
Pass auf, herrschte ihn der Tod an.
Das tat Arin, und nun konnte ihm niemand mehr etwas anhaben.
Als es vorbei war und valorianische Wracks voll Wasser liefen und der Rest der feindlichen Schiffe gekapert war, konnte Arin wieder klar sehen. Er blinzelte in die sinkende Sonne. Ihr Licht war wie orangefarbener Sirup, der die gefallenen Leiber glasierte und dem Blut eine befremdliche Farbe gab.
Arin stand an Deck eines gekaperten valorianischen Schiffs. Sein Atem ging schwerfällig. Schweiß lief ihm ihn die Augen.
Der feindliche Kapitän wurde vor Xash gezerrt.
»Nein«, sagte Arin. »Bringt ihn zu mir.«
Xashs Augen leuchteten hell vor Zorn. Aber die Dacrer taten, was Arin ihnen befohlen hatte, und Xash ließ sie gewähren.
»Schreibt Eurem Imperator eine Nachricht«, befahl Arin dem Kapitän. »Lasst ihn wissen, was er verloren hat. Lasst ihn wissen, dass er bezahlen wird, wenn er es noch einmal versucht. Benutzt Euer persönliches Siegel. Schickt ihm die Nachricht, und ich lasse Euch leben.«
»Wie edel«, warf Xash verächtlich ein.
Der Valorianer sagte nichts. Seine Lippen waren weiß. Einmal mehr staunte Arin darüber, wie weit der Ruf der Valorianer, tapfer und ehrenhaft zu sein, oft von der Wahrheit entfernt war.
Der Mann schrieb die Nachricht.
Bist du wirklich ein Junge, wie Xash behauptet?, fragte der Gott Arin. Du gehörst seit zwanzig Jahren mir. Ich habe dich großgezogen.
Der Valorianer unterschrieb das Papier.
Habe mich um dich gekümmert.
Die Nachricht wurde eingerollt, versiegelt und in ein winziges Lederfutteral geschoben.
Habe dich behütet, immer wenn du dachtest, dass du allein seist.
Der Kapitän band das Lederfutteral an das Bein eines Falken. Der Vogel war zu groß, um ein Jagdfalke zu sein, und er hatte auch nicht die Zeichnung eines Jagdfalken. Er legte den Kopf schief und heftete seine Glasperlenaugen auf Arin.
Nein, kein Junge. Ein Mann, nach meinem Ebenbild erschaffen … der weiß, dass er es sich nicht leisten kann, schwach zu wirken.
Der Falke schwang sich in den Himmel empor.
Du gehörst mir, Arin. Du weißt, was zu tun ist.
Arin schnitt dem Valorianer die Kehle durch.
Erst als Arin heimwärts segelte in die Bucht seiner Stadt, das Haar und die Kleider steif von getrocknetem Blut, dämmerte ihm das ganze Ausmaß der Geschichte. Sie lag ihm auf der Zunge und schmolz wie eine bittere Süßigkeit.
Dies ist die Geschichte, die Arin erzählte.
Es war einmal ein Junge, der wusste, wie man sich versteckte. Eines Nachts fanden ihn die Götter eingesperrt in seinen Gemächern, zitternd, kurz davor, sich vor Furcht zu übergeben. Er hörte mit an, was in einem anderen Teil des Hauses vor sich ging. Schreie. Das Klirren von Gegenständen, die zerbrachen. Schroffe Befehle, deren einzelne Worte, obgleich sie gedämpft herandrangen, doch sehr wohl von dem Jungen verstanden wurden, der in seiner Ecke würgte.
Seine Mutter war irgendwo jenseits dieser versperrten Tür. Sein Vater. Seine Schwester. Er sollte zu ihnen laufen. Das sagte er zu seinen spitzen Knien, die er auf dem Boden kauernd unter dem Nachthemd an den Körper gezogen hatte. Er flüsterte die Worte mit einer Stimme, die ihm kaum noch gehorchte. Geh zu ihnen. Sie brauchen dich. Aber er konnte sich nicht bewegen. Er blieb, wo er war.
Etwas donnerte gegen die Tür. Sie erbebte in ihren Angeln.
Splitternd und krachend gab sie endlich nach. Ein fremder Soldat stürmte herein. Haut und Haar des Mannes waren hell, seine Augen dunkel. Er packte den Jungen an seinem knochigen Handgelenk.
Der Junge stemmte sich wie wahnsinnig dagegen, aber seine Gegenwehr war lächerlich. Er wusste, wie jämmerlich seine Bemühungen wirken mussten. Er kreischte und schlug wild um sich. Der Soldat lachte. Er schüttelte den Jungen. Nicht sehr fest, mehr als würde er versuchen, das Kind aufzuwecken. Komm schön brav mit, sagte der Soldat in einer Sprache, die der Junge gelernt hatte, wenngleich er nie damit gerechnet hatte, sie auch jemals sprechen zu müssen. Dann wird dir kein Haar gekrümmt.
Kein Haar gekrümmt zu bekommen war sehr wichtig. Schon diese bloße Zusage ließ den Jungen in hässlicher Erleichterung erschlaffen. Er folgte dem Soldaten.
Er wurde ins Atrium geführt. Alle waren dort, auch die Diener. Seine Eltern sahen ihn nicht kommen. Er war so still. Später konnte er nicht sagen, was geschehen wäre, wenn seine Schwester, die am anderen Ende stand, ihn nicht als Erste bemerkt hätte. Er war sich nicht sicher, ob er etwas an dem, was dann passierte, hätte ändern können. Alles, was er wusste, war, dass er im wichtigsten Augenblick untätig geblieben war.
Er hatte gehört, dass es in der valorianischen Armee Frauen gab, aber die Soldaten in seinem Haus waren in dieser Nacht allesamt Männer. Soldaten standen links und rechts von seiner Schwester. Sie war groß, gebieterisch. Das aufgelöste Haar fiel ihr wie ein schwarzer Umhang über die Schultern. Als Anireh ihn entdeckte und ihre grauen Augen aufblitzten, wurde dem Jungen klar, dass er bisher niemals geglaubt hatte, sie könnte ihn lieben. Nun wusste er, dass sie es tat.
Leise richtete sie das Wort an die Valorianer. Der Junge hörte den Unterton heraus, den Spott, der wie Musik klang.
Was hast du gesagt?, wollte ein Soldat wissen.
Sie wiederholte es. Der Soldat packte sie, und der Junge begriff voll krankem Entsetzen, dass es seine Schuld war. Irgendwie war alles seine Schuld.
Sie brachten seine Schwester weg. Die Soldaten zerrten sie zu einer Kleiderkammer, die im Winter benutzt wurde, wenn seine Familie abends Gäste hatte. Er hatte sich selbst schon darin versteckt. Es war eng und dunkel und stickig.
An diesem Punkt in der Geschichte wünschte sich Arin, durch die Zeit reisen und dem Jungen die kleinen Ohren zuhalten zu können. Er hätte am liebsten jedes Geräusch zugedeckt. Mach die Augen zu, hätte er dem Kind so gern befohlen. Die Erinnerung an eine alte Panik flatterte in Arins Brust. Es war von ungeheurer Bedeutung, dass er sich vorstellte, wie er den Jungen davon abhielt mitzuerleben, was als Nächstes kommen würde.
Warum tat Arin sich das an? Es war eine Pein zu versuchen, seine Erinnerung an jene Nacht zu verändern. Es war wie ein Zwang. Manchmal dachte er, dass die Erinnerung ihn mehr schmerzte als die eigentlichen Tatsachen. Noch jetzt, über zehn Jahre nach der valorianischen Invasion, konnte Arin nicht anders, er musste mit verzweifelter Inbrunst grübeln, was er hätte anders machen sollen.
Was, wenn er laut gerufen hätte?
Oder darum gebettelt hätte, dass die Soldaten seine Schwester gehen ließen?
Was, wenn er zu seinen Eltern gelaufen wäre und seinen Vater davon abgebracht hätte, einen valorianischen Dolch aus seiner Scheide zu reißen?
Oder seine Mutter. Bestimmt hätte er seine Mutter retten können. Es lag nicht in ihrer Natur zu kämpfen. Sie hätte es nicht getan, wenn sie gewusst hätte, dass er da war. Er hatte gesehen, wie sie sich auf den Soldaten gestürzt hatte, der seine Schwester festhielt. Soldaten stachen seinen Vater nieder. Die Tür zur Kleiderkammer schloss sich hinter Anireh. Ein Dolch schlitzte die Kehle seiner Mutter auf. Ein heller Strom Blut schoss heraus.
Arins Ohren dröhnten. Seine Augen waren trockene Steine.
Nachdem die Soldaten den schreienden Jungen von seiner toten Mutter weggerissen hatten, wurde er mit den Dienern in die Stadt geführt. Der Königspalast brannte auf dem Hügel. Er sah die Leichen der Königsfamilie auf dem Markt hängen, darunter auch den Prinzen, den Anireh hatte heiraten sollen. Es war doch möglich, dass seine Schwester noch lebte, oder? Aber zwei Tage später sollte Arin ihre Leiche auf der Straße finden.
Auch wenn es so aussah, als könnte es nicht noch schlimmer kommen, schluckte Arin sein Schluchzen herunter, blieb stumm in seinem Entsetzen. Er tat, was man ihm sagte. Komm schön brav mit, hatte der Soldat gesagt.
Er sah einen Mann in Rüstung unter den Soldaten umherschreiten. Später würde Arin erfahren, dass der General damals, zur Zeit der Invasion, jung gewesen war. Aber in jener Nacht war ihm der Mann alt erschienen, gewaltig: wie ein Ungeheuer aus Fleisch und Metall.
Arin stellte sich vor, wie er, wenn er könnte, vor dem Jungen, der er gewesen war, auf die Knie ging. Dass er ihn an seiner Brust wiegte und der Kleine sein Gesicht an seiner Schulter barg. Schsch, würde Arin machen. Du wirst einsam sein, aber es wird dich stark machen. Und eines Tages wirst du Rache nehmen.
Was mit Kestrel geschehen war, war nicht das Schlimmste. Es ließ sich nicht vergleichen.
Arin dachte daran, als sein Schiff zusammen mit dem Rest der siegreichen Flotte im vom Mondlicht erhellten Hafen von Herran vor Anker ging. Er fuhr sich mit dem Daumen über die Narbe, die von seiner linken Augenbraue bis zur Mitte der Wange verlief. Rieb über die Linie erhabenen Fleisches. Eine neue Angewohnheit.
Nein, es tat nicht mehr weh, an Kestrel zu denken. Er war ein Narr gewesen, aber er hatte sich selbst schon Schlimmeres verzeihen müssen. Schwester, Vater, Mutter. Was Kestrel betraf … so hatte Arin Klarheit darüber gewonnen, wer er war: die Art von Mensch, die zu blind vertraute, die ihr Herz an jemanden verschenkte, der es nicht verdiente.
Vielleicht war sie inzwischen sogar schon mit dem valorianischen Prinzen verheiratet. Spielte ihre Spielchen bei Hofe. Und gewann zweifellos. Vielleicht würde ihr Vater ihr von der Front schreiben und sie um weitere militärische Ratschläge bitten, die ebenso hervorragend waren wie der, mit dem sie Hunderte von Menschen in den Ebenen im Osten zum Hungertod verurteilt hatte.
Immer wenn Arin sich erinnerte, wie fasziniert er einmal von der Tochter des valorianischen Generals gewesen war, musste er sich in angeekeltem Staunen über sich selbst an den Kopf fassen. Ihre Zurückweisung hatte ihm einmal einen Stich versetzt. Aber jetzt verschaffte ihm der Gedanke an Kestrel kalte Erleichterung. Wie Eis auf einem Bluterguss.
Dankbarkeit. Weil sie ihm nichts mehr bedeutete. War es nicht ein Geschenk der Götter, sich an sie zu erinnern und nichts zu fühlen? Oder wenn er etwas fühlte, dann war es gewissermaßen nicht mehr, als wenn er seine Narbe betastete und den langen Wulst bestaunte, die tote Haut ohne Nerven. Arin wusste, dass manche Dinge bis in alle Ewigkeit wehtaten. Aber Kestrel gehörte nicht dazu. Sie war eine Wunde, die endlich sauber verheilt war.