Erziehung früher und heute
Wie eine gute Erziehung aussieht, war zu allen Zeiten eine grundlegende Frage. Doch die Antwort darauf, wie man am besten mit Kindern umgeht, hat sich im Lauf der Jahrzehnte immer wieder verändert. Noch vor 50 Jahren standen Disziplin, Zucht und Gehorsam an oberster Stelle. Kinder mussten folgsam sein und hatten ihr Verhalten den Erwachsenen anzupassen. Erklärungen gab es nicht. Die Eltern gaben die Richtung vor, die Kinder mussten gehorchen. Widerworte wurden nicht geduldet. Schläge standen auf der Tagesordnung und waren ein gängiges Erziehungsmittel. Jeder aufkeimende Wille wurde sofort im Keim erstickt, so dass Selbstbewusstsein und ein Gefühl für den eigenen Wert gar nicht erst entstehen konnten. Kinder wurden nebenher groß und blieben häufig sich selbst überlassen. Kaum jemand hatte Zeit, um auf ihre Bedürfnisse einzugehen, und niemand interessierte sich für ihre Gefühle. Begabungen wurden nicht gesehen, Talente nicht gefördert. Stattdessen mussten viele von ihnen schwer arbeiten und ihre Eltern – die oftmals mit existenziellen Nöten zu kämpfen hatten – dabei unterstützen, den Lebensunterhalt für die Familie zu sichern.
Heute haben Kinder glücklicherweise eine wesentlich höhere Bedeutung. Sie sind nicht mehr nur Anhängsel der Eltern, billige Arbeitskräfte oder eine Altersvorsorge. Für viele Eltern bedeuten sie Sinn, Erfüllung und Freude, und deshalb kümmern sich die meisten auch liebevoll um ihre Kinder. Sie wollen, dass es ihnen gut geht, und versuchen, sie nach bestem Wissen und Gewissen zu erziehen. Doch in einer Leistungsgesellschaft, in der Wettbewerbsdenken und Gewinnmaximierung im Vordergrund stehen, wird den Gefühlen und dem Seelenleben der Kinder nach wie vor zu wenig Beachtung geschenkt. Die Herzensbildung bleibt auf der Strecke, während die kognitiven Fähigkeiten und das Anhäufen von Wissen einen weitaus höheren Stellenwert einnehmen. Die Kinder sollen immer früher und immer schneller lernen und werden von klein auf auf Leistung getrimmt. Aus Angst vor Benachteiligung und aus lauter Sorge, sie könnten in dieser leistungsorientierten Gesellschaft nicht bestehen, haben viele von ihnen bereits im Vorschulalter einen vollen Terminkalender. Mit den unterschiedlichsten Fördermaßnahmen glauben wir, den Kindern einen Leistungsvorsprung sowie später die besten beruflichen Chancen sichern zu können. Wir versuchen, sie damit auf eine Zukunft vorzubereiten, die nicht mehr unsere sein wird, während uns das Wichtigste entgeht: die Gegenwart – das Hier und Jetzt – wo unsere Kinder lachen, spielen, einfach Kind sein dürfen.
“Kindheit ist das, was uns zu Menschen macht.”
(Alison Gopnik)
Kosmische Erziehung – eine Begleitung für die Seele
Was ist kosmische Erziehung?
Die kosmische Erziehung ist eine ganzheitliche Erziehung, die neben der Berücksichtigung von Körper und Geist vor allem das Seelenleben und die Gefühle von Kindern in den Vordergrund stellt. Es ist eine Erziehung für die Seele, in der es nicht darum geht, die neue Generation an die aktuell vorherrschenden Sozialisationsbedingungen anzupassen, sondern darum, einen jungen Menschen seinem Wesen entsprechend auf seinem eigenen Entwicklungsweg zu begleiten und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass er ein sinnerfülltes und glückliches Leben führen kann. Die Seele ist das, was den Menschen ausmacht. Sie ist das Lichtwesen des Kosmos, der göttliche Funke, den jeder von uns in sich trägt, das Höhere Selbst – immer in Verbindung mit der großen universellen Macht –, das unser Leben aus einer übergeordneten Perspektive betrachtet und immer weiß, was gut für uns ist. Die Seele führt uns auf sicherem Weg durchs Leben und sorgt dafür, dass wir stets das Richtige tun und zur gegebenen Zeit am rechten Ort sind.
Der Himmel hat einen Plan
Das Leben ist kein Zufall. Jede Seele kommt mit einem tief im Inneren verankerten Beweggrund für das Leben auf die Welt, und ihr Ziel ist es, sich selbst zu erkennen und zu verwirklichen. Jedes Lebewesen auf dieser Erde hat seine Bestimmung und verfügt genau über die Eigenschaften und Fähigkeiten, die es zur Erfüllung seiner Lebensaufgabe braucht. Was ein Kind von klein auf gut beherrscht und was es gerne tut, kann bereits in jungen Jahren einen Hinweis auf seine spätere Berufung geben. Und Kinder – wenn man sie nur lässt – wissen, wohin ihr Herz sie zieht und wohin ihre Reise geht.
“Wenn ein Kind geboren wird, bringt es ein unsichtbares
Brieflein mit auf die Erde. In diesem Brief steht seine
Lebensaufgabe. Die Erziehungskunst besteht darin,
diesen unsichtbaren Brief zu entziffern.”
(Rudolf Steiner)
Wir als Eltern dürfen die Begleiter unserer Kinder auf ihrer Reise durchs Leben sein, und es ist unsere Aufgabe, die individuellen Besonderheiten zu erkennen, die ihre Seele in dieses Leben mitgebracht hat, und sie dabei zu unterstützen, sich gemäß ihrer inneren Natur zu entfalten.
“Das Anerkennen des anderen Menschen erfordert ein sensibles
Bewusstsein dafür, das einzelne Kind so zu sehen, wie es ist, und
nicht, es auf ein Bild festzulegen, das wir von ihm haben.”
(Armin Krenz)
Unsere Kinder gehören uns nicht
Viele Eltern haben ganz bestimmte Vorstellungen von ihren Kindern – wie sie sein sollten, was sie können sollten und was einmal aus ihnen werden sollte – und versuchen daraufhin, sie ihren Wünschen entsprechend zu formen und ihnen die Richtung vorzugeben. Sie wollen ihre eigene Geschichte auf das vermeintlich unbeschriebene Blatt schreiben, in der Annahme, dass sie am besten wissen, was gut für ihre Kinder ist. Aber nicht immer ist das, was Eltern für das Beste halten, auch das Richtige.
Mulla Nasrudin und der Adler im Taubenschlag
Mulla Nasrudin war schon älter, und seine Augen waren nicht mehr die besten. Seine ganze Freude waren seine Tauben, deren Pflege er sich tagtäglich ausführlich und liebevoll widmete. Eines Tages nun geschah es, dass ein Adlerjunges in den Taubenschlag geriet. Als Mulla Nasrudin sich wie gewohnt dem Taubenschlag näherte, konnte er seinen kurzsichtigen Augen kaum glauben, in welchem Zustand eines seiner geliebten Kinder war. “Wie siehst du denn aus!”, rief er völlig fassungslos. “Du bist ja völlig heruntergekommen! Es wird Zeit, dass du mal wieder eine anständige Pflege erhältst.” So nahm er die vermeintliche Taube, schnitt ihr Schnabel und Krallen zurecht und erzog sie trotz ihrer zugegebenermaßen etwas wilden Natur zu einer anständigen Taube. Diese fügte sich schließlich ein in das Leben ihrer Mittauben. Nur manchmal, wenn sie am Himmel einen Adler kreisen sah, erfüllte sie eine tiefe Sehnsucht, die sie sich nicht erklären konnte.
(Aus: “Mit Kindern neue Wege gehen” von Lienhard Valentin)
Kinder lassen sich lenken – die einen mehr, die anderen weniger. Sie haben ein feines Gespür für die subtilen Erwartungen und Wünsche ihrer Eltern. Und um deren Liebe nicht zu verlieren, fügen sie sich und machen, was von ihnen verlangt wird. Sie verdrehen und verbiegen sich, nur um zu gefallen. Aber unsere Kinder gehören uns nicht. Sie sind nicht auf diese Welt gekommen, um unsere Sehnsüchte zu erfüllen oder unsere Träume zu leben und das zu werden, was wir einst werden wollten und nicht erreicht haben. Sollte das doch der Fall sein, wird sich bei ihnen mit Sicherheit früher oder später – möglicherweise erst, wenn sie erwachsen sind – diese leise innere Stimme zu Wort melden, die sagt: “Das ist nicht der richtige Weg für dich, nicht der richtige Platz und nicht die richtige Aufgabe.” Doch anstatt darauf zu hören und sich in die richtige Richtung zu bewegen, bleiben sie – wie die meisten Erwachsenen – aus Angst und Bequemlichkeit, wo sie sind, und tun weiterhin, was sie immer getan haben. Sie haben sich abgefunden mit dem, was aus ihnen geworden ist sowie mit dem Leben, das sie führen. Sie verbringen den größten Teil ihrer Zeit damit, jemand zu sein, der sie nicht sind, um ihren Eltern oder anderen Menschen zu imponieren, und sie verdrängen, was immer und immer wieder versucht, aus den Tiefen der Seele an die Oberfläche zu kommen: ihre Wünsche, ihre Träume, ihre wahre Natur – das, was ihre Seele einst in dieses Leben mitgebracht hat.
Genau das ist der Grund für die innere Leere, die so viele Menschen in sich tragen, deren Talente verschüttet sind, weil sie ihr kreatives Potenzial nicht leben. Und es ist die Antwort auf die Frage, warum Menschen – auch trotz großen materiellen Wohlstandes – unzufrieden sind und immer von dem Gefühl begleitet werden, dass etwas in ihrem Leben fehlt. Je größer die innere Leere, umso mehr wird versucht, mit äußeren Mitteln die tiefe Sehnsucht zu unterdrücken – die Sehnsucht, der zu sein, der man ist, und das Leben zu führen, das man führen möchte.
“Zufriedenheit und Erfüllung müssen wir in uns selbst suchen.”
(Dalai Lama)
Und wir können sie auch nur in uns selbst finden. Materielle Dinge können uns langfristig keine wirkliche Zufriedenheit schenken. Alle Reichtümer dieser Welt können uns nicht glücklich machen, wenn die Seele leer ist und wir keinen Sinn in unserem Erdenleben erkennen. Und das gilt ebenso für unsere Kinder. Während viele Erwachsene sich bereits aufgegeben und mit den Umständen ihres beinahe bereits gelebten Lebens abgefunden haben, haben die Kinder noch alles vor sich und somit auch die Möglichkeit (mit unserer Unterstützung), den wahren Sinn für sich zu finden. Wenn uns also das Glück unserer Kinder am Herzen liegt und wenn wir wollen, dass sie ein sinnerfülltes Leben führen, müssen wir sie sehen, wie sie sind, und sie zu dem werden lassen, was sie sein können. Wir müssen ihnen zugestehen, ihren eigenen Weg zu finden, ihre eigenen Erfahrungen zu machen und auf der Suche nach sich selbst ihre eigenen Antworten zu finden.
“Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
bist alsobald und fort und fort gediehen
nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
so sagten schon Sybillen, so Propheten;
und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
geprägte Form, die lebend sich entwickelt.”
(Johann Wolfgang von Goethe)
Werde, was du schon immer warst – das Ziel kosmischer Erziehung
Das Ziel kosmischer Erziehung ist es, ein Kind dabei zu unterstützen, seinen individuellen kosmischen Plan zu erfüllen und die eigene Bestimmung zu leben, um damit seinen ganz eigenen Beitrag zu leisten und so diese Welt ein Stückchen besser und ein bisschen schöner zu machen.
Jedes Kind kommt mit einer individuellen inneren Natur zur Welt und ist mit ganz bestimmten Eigenschaften und Talenten ausgestattet, die es für sein Leben braucht. Es ist unsere Aufgabe, das Beste aus unseren Kindern herauszuholen und ihre zarte, zerbrechliche Seele stark zu machen, damit sie zu dem werden, was sie sein können. Eine Rose kann das stärkste und großartigste Potenzial in sich tragen – wenn wir sie in die Wüste pflanzen, wird sie nicht blühen. Sie wird eingehen, und wir werden niemals erfahren, wie schön sie hätte sein können. So wie jede Pflanze eine geeignete Umgebung und die richtigen Bedingungen braucht – gute Erde, ausreichend Wasser und genügend Licht –, damit sie blühen kann, braucht jedes Kind ein liebevolles und anregendes Umfeld, um seine Möglichkeiten entwickeln zu können – vor allem Menschen, die es lieben und seine seelischen Bedürfnisse erfüllen.
“Ohne Resonanz, ohne eine echte Beziehung, kann sich die wahre
Natur eines Menschen in den seltensten Fällen verwirklichen.”
(Lienhard Valentin)
Was also von seinen Fähigkeiten zum Vorschein kommt, ist weniger eine Sache der Gene, sondern liegt vielmehr in der Verantwortung der Umwelt, in der das Kind aufwächst. Indem wir seine Begabungen fördern und das Kind tun lassen, was ihm Freude bereitet und worin es am besten ist, helfen wir ihm, ein sinnerfülltes Leben zu führen. Was gibt es Schöneres, als das Strahlen in den Augen eines Kindes zu sehen und zu wissen, dass man einen Teil dazu beigetragen hat … Und selbst wenn ihr Geist vergisst, ihre Herzen werden sich immer erinnern.
Schon vor 2300 Jahren kam Aristoteles zu der Schlussfolgerung, dass der Mensch vor allem das Glück sucht und dass er dann am glücklichsten ist, wenn er seine Zeit mit genau den Aktivitäten verbringt, bei denen er die größte Freude empfindet.
“Wir sind von Natur aus am glücklichsten, wenn wir unserer
angeborenen Neigung folgen. Herausragend zu sein in dem, was
die Natur uns mitgegeben hat, ist die höchste Form von Glück.”
Wenn wir absolut in der Gegenwart präsent sind, ganz in eine Tätigkeit vertieft – jenseits von Raum und Zeit – und völlig eins werden mit dem, was wir tun, entsteht “flow”, das Gefühl innerer Erfülltheit, das sich nur dann einstellt, wenn wir etwas mit so viel Leidenschaft und Begeisterung machen, dass wir alles um uns herum vergessen. Deshalb sind Menschen auch fast immer in den Bereichen richtig gut, die sie interessieren und faszinieren.
“Es gibt nur einen Erfolg: Wenn du dein Leben so leben kannst,
wie du es dir erträumt hattest.”
(Francis Bacon)
Die wahre Berufung im Leben zu finden und das eigene Potenzial entfalten zu können, ist das Sinnvollste, wofür es sich zu leben lohnt. Je mehr Menschen ihre Träume leben und ihre Bestimmung erfüllen, umso höher der Wert für die ganze Menschheit.
“Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe,
die wir hinterlassen, wenn wir gehen.”
(Albert Schweitzer)
Grundvoraussetzungen für eine gelingende Erziehung
“Die Aufgabe der Elternschaft, die in der Tat
als göttliches Privileg betrachtet werden sollte,
ist es in erster Linie, einer Seele die Möglichkeit zu geben,
im Interesse ihrer Weiterentwicklung in diese Welt einzutreten.”
(Edward Bach)
Die Kindererziehung ist eine besonders bedeutende und verantwortungsvolle Aufgabe. Sie gehört zu den größten Herausforderungen unserer Zeit, und es ist keine Gabe der Natur, über die Erwachsene automatisch verfügen. Wie aber müssen Eltern sein? Welche Eigenschaften müssen sie haben und welche Fähigkeiten müssen sie entwickeln, damit sie ihre Kinder bestmöglich begleiten und unterstützen können?
Es gibt keine gute Erziehung ohne Selbsterziehung. Deshalb geht es bei der kosmischen Erziehung nicht nur um die Kindererziehung an sich, sondern vor allem um die Selbsterziehung der Erwachsenen, die sich vorgenommen haben, eine Seele unterstützend auf ihrem Lebensweg zu begleiten. So ist die innere Arbeit an sich selbst und die Entwicklung der eigenen Seele eine entscheidende Voraussetzung, um der so wichtigen und wertvollen Aufgabe der Kindererziehung gerecht zu werden.
Selbstreflexion
“Erziehe dich selbst, bevor du Kinder zu erziehen trachtest.”
(Janusz Korczak)