Dreizehn Jahre zuvor
»Aaron Serapis, erheben Sie sich!«
Unbeholfen rückte ich den knarrenden Stuhl nach hinten und starrte dem Mann in die Augen, der bis vor fünf Jahren mein bester Freund gewesen war. Mayson hatte sich verändert. Nicht nur sein Verhalten mir gegenüber war anders oder der Blick, den er mir zuwarf und so viel Abscheu ausspie. Nein, er war ein anderer.
Wir beide hatten uns für den Rat entschieden. Wir beide waren förmlich von unseren Eltern in diesen Beruf gedrängt worden. Mit dem Unterschied, dass Mayson das hier gewollt hatte. Ich nicht. Und das lag nicht nur an Nefera, wie Mayson mir immer wieder vorwarf. Es lag vor allem an mir und meiner inneren Stimme.
Der interne Rat der Asarys erhob sich ebenfalls. Die vier Mitglieder – meine Kollegen – starrten mich an. Sie warteten darauf, dass ich mich äußerte. Dass ich mich von den Nephtys und der Liebe meines Lebens abwandte.
»Aaron Serapis.« Maysons Blick lag eindringlich auf mir. »Sie haben den Rat vor fünf Jahren darüber in Kenntnis gesetzt, dass Sie eine Schattensucherin heiraten werden und sie schwanger ist. Obwohl das all unseren Regeln widerspricht, haben wir es aufgrund Ihrer besonderen und nützlichen Fähigkeiten zugelassen und Sie nicht Ihres Amtes enthoben. Gleichzeitig haben wir Ihnen aber mitgeteilt, dass wir Ihrerseits eine Entscheidung erwarten. Wir haben Ihnen ein Ultimatum gesetzt. Da die Zwillinge nun fünf Jahre alt sind, wird diese Entscheidung fällig. Erklären Sie sich also bereit Ihre Kinder im Namen der Asarys zu erziehen und ihren Nephtys-Anteil im Keim zu ersticken?«
Seine Worte klangen beinahe wie eine Drohung.
»Nein!«, hallte meine Stimme durch den Raum. Gefolgt von einem lauter werdenden Raunen im Saal, das Mayson mit einer Handbewegung zum Verstummen brachte.
»Wie bitte?!«, hakte er so voller Zorn nach, dass er bei jedem seiner Worte spuckte.
»Nein, Mayson. Ich weiß, dass du das nicht verstehst. Aber es wäre falsch!«
»Sprechen Sie den Ratsvorsitzenden bitte ordnungsgemäß und nicht beim Vornamen an!«, ermahnte mich Emra. Ein weiterer Feind im Rat, der einst mein Freund gewesen war. Dabei hatte Emra wohl am meisten von meiner Liebe zu Nefera profitiert.
Ich hatte zwar vor fünf Jahren meinen Platz im internen Rat der Asarys behalten, meine Stimme im großen Rat, im Tribunal, bestehend aus drei Asarys, drei Nephtys und drei unabhängigen Unbekannten, wurde damals jedoch an ihn weitergereicht.
Mayson räusperte sich und presste die Lippen aufeinander, bevor er sich wieder fing und weiterredete. »Damit entheben wir Sie aus Ihrem Amt. Von nun an sind Sie kein Mitglied des Rates der Asarys mehr«, sagte er, als hätte er einen Text auswendig gelernt. »Werden Sie weiterhin für die Asarys tätig sein oder ist es notwendig, Ihnen Ihre Kräfte zu entziehen?« Mayson leckte sich über die Lippen, als hätte ihm jemand sein Festmahl bereitet.
»Ich werde weiter für die Asarys arbeiten und meiner Bestimmung als Schattenhüter nachgehen«, antwortete ich fest.
Ich konnte mir meine Fähigkeiten nicht nehmen lassen. Was Nefera und ich getan hatten, war gefährlich und das würde es immer sein. Unsere Kinder waren Mischblute und würden somit auf ewig Feinde haben. All diejenigen, die sie nicht auf dieser Welt haben wollten. Ich musste sie beschützen und dafür brauchte ich meine Fähigkeiten.
»Ebenfalls entzogen wird Ihnen das Haus, das Ihnen zwar als Erbe des großen Serapis zusteht, jedoch unter der Bedingung, dass auch Ihre Nachkommen Dienste für die Asarys leisten. Es fällt in den Besitz des Rates zurück und bleibt so lange leer stehen, bis sich Ihre Mädchen entschieden haben. Ihnen wird eine Frist von einem Jahr gewährt, um eine neue Bleibe zu finden.«
Ich nickte und sog tief die stickige Luft in dem finsteren Raum ein. Ich brauchte kein riesiges altes Haus, um glücklich zu sein. Um sie glücklich zu machen. Unsere kleine Familie hatte alles, was nötig war, um zu überleben. Und jetzt, da meine Kinder den guten Weg gehen würden, den der Nephtys, war alles andere sowieso egal. Für kein Geld der Welt hätte ich zugelassen, dass sie sich den Asarys anschließen und damit in einem Wirbelsturm aus bösartigen Intrigen und Lügen landen, der sie ihre Seele kosten würde.
Kija
Das grausame Lachen des Mannes schürte meine Wut. Ich umgriff das Messer fester. Mein Herz pumpte giftigen Hass durch meine Venen. Meine Lider senkten sich, bevor ich ausholte und …
»Kija!«
»Tiger … Ich … Es tut mir leid!«, nuschelte ich benommen.
Wir trainierten extra ein wenig abseits der Trainingsplätze, weil es in den letzten Wochen zu oft vorgekommen war, dass ich wieder in Tigers Erinnerungen an diesen Moment herumgekramt hatte.
»Sollten wir vielleicht langsam darüber sprechen, dass du das eigentlich nicht können dürftest?«, fragte er mit erhobenen Brauen.
»Sollten wir etwa auch darüber sprechen, dass du einen Mann ermordet hast? Und nach den Gefühlen zu urteilen, die ich bei dieser Erinnerung spüre … deinen Vater?«, gab ich kühl zurück.
Tigers Blick huschte zur Seite. Er schien kurz nachzudenken, atmete dann schwer und setzte sich neben mich auf den Rasen. Wie immer war ich zu Boden gesunken, während mich Tigers Moment überrollt hatte.
»Wenn du schon nicht darüber sprechen willst, Kleines, müssen wir wenigstens einen Weg finden, das zu verhindern. Die anderen stellen bereits Fragen. Gestern hat mich einer der Aufseher angesprochen, warum dich ein so kleiner Seth-Moment derart schwach macht.«
»Mir ist egal, was die anderen denken!«, zischte ich bissig.
»Kija. Bitte führ dich nicht wieder wie ein kleines Kind auf. Ich bin nicht dein Feind. Im Gegenteil. Ich bin dein Freund und bewahre dein Geheimnis jetzt schon zwei Monate lang! Du musst das alles lernen. Wie willst du so deinen Abschluss schaffen? Hast du mal darüber nachgedacht?«
»Natürlich. Aber ich kann recht wenig dafür, meinst du nicht?«, brummte ich genervt.
»Tut mir leid, aber das kannst du. Stell dich hin und such verdammt noch mal nicht mehr nach Momenten, die dich rein gar nichts angehen!«
Seine Stimme war plötzlich so zornig, dass ich nicht in der Lage war zu widersprechen. Er hatte recht. Ich musste lernen mich selbst zu beherrschen. Ich musste lernen diesen dummen Moment zu finden, den ich finden sollte. Den Pseudo-Moment, in dem Tiger gerade eben das Seth aufgenommen und es zugelassen hatte. Was ich aber immer wieder spürte, war der Moment, in dem sich der böse Teil, sein Asarys-Teil, in ihm gefestigt hatte. Und ich war mir mittlerweile sicher, dass er damals seinen Vater getötet hatte.
Vor ein paar Wochen hatte ich die ganze Bibliothek nach so einem Fall durchsucht. Denn niemand hatte jemals erwähnt, dass es nicht nur bei den Besessenen, sondern auch bei den Asarys einen Moment gab, in dem sie das Seth in sich zugelassen und damit ihre böse Seite akzeptiert hatten. In einem der Bücher hatte ich gelesen, dass es diesen Moment tatsächlich gab, aber kein Sucher und auch kein Hüter je in der Lage gewesen war, ihn zu erspüren.
Das hatte sich dann wohl mit mir geändert. Gleichzeitig fragte ich mich unentwegt, was mein Moment gewesen war. Als ich Laya hintergangen hatte? Hatte ich damit den Asarys-Teil in mir gefestigt? Aber wie konnte so ein Moment mit Tigers Mord an seinem Vater gleichgesetzt werden?
»Kija! Konzentrier dich! Wir werden beobachtet!«, mahnte Tiger und ich musste mich nicht einmal umsehen. Ich spürte Lawrens gehässigen Blick auch so auf mir. Er wartete nur darauf, dass ich es wieder versaute.
»Dieses Mal … such nach dem Moment gerade eben. Den Moment, als ich das Seth aus dem Horusauge gerufen und in mich aufgenommen habe. Er ist viel einfacher zu finden als dieser andere Moment aus meiner Kindheit.«
Ich nickte und schloss meine Augen.
Du schaffst das, Kija! Denk nur an diesen einen Moment! Finde ihn!
Meine Lider flatterten. Ein weißes Licht ließ mich zusammenzucken. Und dann, ganz plötzlich, erkannte ich Tiger vor mir. Neben ihm stand Erjon und musterte ihn mit Argwohn, während Tiger den Horusanhänger hob und Seth heraufbeschwor, um es in sich aufzunehmen.
»Nein!«, schrie ich.
Vor mir tat sich eine Art Weggabelung auf. Ich spürte Tigers Unsicherheit. Unsicherheit darüber, welchen Weg er gehen sollte. Den guten oder den schlechten. Etwas in ihm schrie danach, den schlechten Weg zu gehen. Ein schlechter Mensch zu werden. Das Seth Besitz von ihm ergreifen zu lassen.
»Nein!«, rief ich wieder. Mein Arm brannte wie Feuer. Ich wollte es aus ihm herausziehen. Wollte verhindern, dass das Seth Tiger beeinflusste.
»Perfekt!« Er klatschte in die Hände und holte mich damit zurück in die Gegenwart. Alles, was ich in ihm sehen konnte, erlebte er genauso wie ich.
Meine Füße standen noch auf dem festen Boden unter mir, auch wenn meine Knie erneut zu versagen drohten.
»Das … Ich bin stolz auf dich, Kija!« Er sah mich an wie ein Vater, der seinem Kind gerade das Radfahren beigebracht hatte, während ich mich am liebsten übergeben hätte.
»Schluss mit lustig, ihr Turteltauben!«, rief Lawren, während er sich uns mit bunten Hemden in der Hand näherte. »Das mentale Training ist für heute abgeschlossen. Jetzt wird es …«, er warf einen lasziven Blick auf mich, »… körperlich.«
Ich hob meine Brauen, um zu verstecken, dass mich die Art, wie er es sagte, verunsicherte. Er machte mich unsicher. Seine Schatten taten es. Wie immer.
Lawren warf uns Leibchen zu und wies uns an ihm zu folgen. »Wir haben Teams gebildet und ihr spielt in meinem. Die Regeln sind einfach: Ich bin der Besessene. Ihr müsst mich kriegen.«
»Was?!«, hakte ich irritiert nach und musterte Erjon und Jara oder Kara – oder wie sie hieß –, die ebenfalls etwas verwirrt aussahen. Das kleine Asarys-Mädchen, mit dem Lawren sonst trainierte, hatte hingegen keine Zeit, seinen Gesichtsausdruck in Irritation zu wandeln. Sie opferte jede Sekunde ihres Lebens nur dafür, ihn anzuschmachten.
»Ist ja schön und gut, wenn du auch irgendwann lernst, den Moment zu finden, in dem das Seth einen Menschen böse gemacht hat. Nur leider musst du so einen Besessenen vorher erst einmal schnappen und ruhigstellen, kleines Mischblut. Nicht jeder ist so hilfsbereit wie Tiger.«
»Weil es Training ist, Wren«, brummte der Angesprochene neben mir und warf sich grinsend das Leibchen um. »Aber dich mal richtig außer Gefecht zu setzen – das könnte sogar noch mehr Spaß machen!«
Ich ignorierte die beiden und warf einen Blick zu Laya, die sich ebenfalls ein Leibchen anzog und nicht gerade begeistert aussah. Selbst von Weitem erkannte ich die dünne Narbe an ihrer Wange. Das Überbleibsel des Angriffs vor zwei Monaten. Laya hatte mir strikt untersagt noch einmal ein Wort darüber zu verlieren und ich hatte versucht es zu verdrängen. Aber das war einfacher gesagt als getan. Diese Gestalt, dieser Besessene, war zwar nicht zurückgekehrt, aber es musste doch einen Sinn hinter alldem geben. Einen Grund, warum er das getan hatte und warum er bis jetzt ganz offensichtlich niemandem von Layas Mal am Arm berichtet hatte.
»Los geht’s!«, holte Lawren mich mit seinem Pseudo-Kampfschrei aus meinen Gedanken und rannte davon. Nicht aber ohne mich bei seiner vermeintlichen Flucht derart umzustoßen, dass ich wie ein Sack Kartoffeln im Schlamm landete.
»Fick dich, Lawren!«, schrie ich ihm hinterher, während sein Lachen über den kompletten Platz schallte. Der würde schon noch sehen, was er davon hatte. Ich war kein kleines Kind, das nichts konnte. Im Gegenteil. Bei unseren Trainings in unserer Kindheit war ich immer eine der Stärksten gewesen.
Ich rappelte mich auf und sah mich um. Die anderen rannten Lawren hinterher, der sie lachend immer wieder auf die falsche Fährte führte. Ich verengte meinen Blick und wog ab, wann sie ihn umstellt hätten, wie sie ihn umstellen würden – und vor allem, wohin er dann flüchten müsste.
Turnhalle!
Ich rannte los, vergewisserte mich, dass Lawren mich nicht sah, stieß die riesigen Türen auf und postierte mich in der Mitte der Halle. Mein Herz pochte laut, aber regelmäßig. Dennoch beschlich mich die Angst, die Situation falsch eingeschätzt zu haben. Was am Ende nur Fragen aufwerfen würde – und vor allem Häme von Lawren, weil ich mich in der Turnhalle versteckt hatte. Aber bei so etwas hatte ich mich noch nie geirrt. Ich konnte Menschen gut einschätzen. Viel zu oft wusste ich, was ihr nächster Schritt sein würde. Nur bei Lawren war mir das bisher ein paar Mal entgangen.
Als ich gerade darüber nachdachte, wieder hinauszugehen und den anderen zu helfen, wurde die Tür mit einem lauten Knall aufgetreten. Lawren rammte sie hinter sich zu, nahm ohne große Probleme eine Langhantel aus einem der Geräteräume, entfernte die Gewichte und verschloss die Türen mit der Eisenstange.
Breit grinsend drehte er sich um – doch das Lachen verging ihm, als er mich entdeckte.
»Sieh an, sieh an! Schlaues kleines Mischblut«, raunte er, während er einen Mundwinkel in die Höhe zog und sich mir näherte, als würde er seine Beute angreifen. Langsam und bedacht.
»Und nicht ganz so schlauer Lawren. Mit mir hast du nicht gerechnet, hm?«, erwiderte ich selbstsicher.
»Mit dir kann man auch nicht rechnen, Kleine. Du passierst einfach. Das tust du schon von Anfang an.«
Seine Stimme und seine Art wurden immer bedrohlicher. Ich spürte seine Schatten – seine böse Seite – hart auf mich einprasseln. Lawren wusste genau, dass ich immer noch die Fähigkeiten einer Nephtys besaß, und quälte mich mit seinen bösen Gedanken. Er wollte mich schwächen.
Ich bemühte mich ruhig zu atmen und die Angst beiseitezuschieben, die ich empfand, wenn ich Seth spürte. Und Lawren hatte mehr Seth als für einen Asarys üblich.
»Du machst mir keine Angst!«, knurrte ich eine Lüge, denn tatsächlich hatte ich fürchterliche Angst vor ihm. Es hatte bereits ein paar Situationen gegeben, in denen Lawren mir nicht geheuer gewesen war – aber das hier war wie ein echter Kampf. Als wären wir echte Feinde – und er jederzeit bereit mich zu zerfleischen.
Sein Schleichen wich einem Rennen und bevor ich es begriff, stürzte er sich auf mich und schlug mit der Faust zu. Ich drehte meinen Kopf in letzter Sekunde zur Seite. Seine Knöchel prallten mit unmenschlicher Kraft auf den Turnhallenboden. Ich riss meine Augen auf, während sich ein dämonisches Grinsen auf Lawrens Mund abzeichnete. Meinte er das etwa ernst? Hatte er mich treffen wollen?
Ich ermahnte mich wieder klar zu denken, trat ihn von mir und sprang auf meine Füße.
»Spinnst du jetzt völlig?!«, schrie ich ihn voller Zorn an.
»Fürchtest du dich etwa doch, kleine Nephtys?«
Ich schluckte. Angst nahm jede Zelle meines Körpers in Besitz. Aber ich musste mich konzentrieren.
»Ein Besessener wird es dir nicht einfach machen, Kija! Also denk gefälligst nach! Benutz deine Fähigkeiten! Du bist stark!«
Wieder stürmte er auf mich zu und rang mich zu Boden. Seine Finger umklammerten meine Handgelenke und seine Knie rammten schmerzhaft meine Hüftknochen. Fieberhaft überlegte ich, was ich tun konnte. Ja, ich war stark. Aber gegen Lawren hatte ich keine Chance.
»Denk nach!«, flüsterte er. Aber für mich klang es wie ein Schreien. Ein Schreien, das meinen Kopf zum Zerbersten brachte. Ich wusste zum Seth noch mal nicht, was ich tun sollte. Ich war nicht stark genug.
Einem Instinkt folgend befreite ich unter Schmerzen meine Arme und umklammerte sein Gesicht, um ihm eine Kopfnuss zu verpassen. Aber plötzlich ergriff etwas ganz anderes Besitz von mir. Wie in Trance schloss ich meine Augen und spürte das Böse. Ich wühlte in Lawrens Erinnerungen, bis plötzlich ein weißes Licht aufblitzte und eine Frau vor mir auftauchte.
»Lawren, warum tust du das immer wieder?«, fragte sie mit trauriger Miene.
Ich grinste. Eigentlich war es Lawren, der das tat, aber es war, als wäre ich mit ihm verschmolzen.
»Er hat es verdient.« Die Worte verließen so grausam meinen Mund, wie Lawren sie meinte. »Er hat den Tod verdient.«
»Niemand hat den Tod verdient, Lawri. Auch nicht eine Maus.«
Die Frau wollte nach etwas greifen, das sich in meiner Hand befand, und erst als ich es von ihr wegzog, erkannte ich den kleinen Nager, den ich am Schwanz hielt und in der Luft baumeln ließ.
»Nein!«, schrie ich und zog Lawrens Gesicht näher an mich.
Er durfte diese Maus nicht töten. Er wollte es nicht einmal. Ich konnte es genau spüren. Es war das Seth in ihm, das ihn dazu zwingen wollte.
»Nein, Lawren!«, rief ich und zog ihn noch näher. Ich wollte es aus ihm heraussaugen. Wollte das Seth, die Schatten, in mich aufnehmen und es durch meinen Arm hinter das Feuertor sperren.
Ich öffnete meine Lider einen Spaltbreit. Lawrens dunkelgrüne Augen starrten mich entsetzt an, während ich sein Gesicht noch weiter zu mir zog. So nah, dass sich unsere Lippen beinahe berührten. So nah, dass ich das Seth in ihm schmecken konnte. Mein Körper gierte danach. Nach Lawrens Lippen und nach dem süßen Seth, das von ihnen zu meinen wanderte. Ich wollte es haben. Es in mich aufnehmen und wegsperren oder behalten. Was auch immer es war, ich wollte es.
Mit all meiner Kraft zog ich Lawrens Kopf noch ein Stück zu mir. Als sich unsere Lippen kaum merkbar berührten, ich seinen rauchigen Geruch einatmete und das süßliche Seth fast in mich einsog, verschwand Lawrens Gesicht vor mir.
Irritiert sah ich mich um, bis ich ihn keuchend neben mir entdeckte.
Was war das gewesen?
Ich schrie fürchterlich auf, als ich begriff, was ich gerade hatte tun wollen. Was ich imstande gewesen war zu tun.
»Ich wollte dir dein Seth nehmen«, sprach ich es aus. Ich musste hören, ob ich mich irrte. Ich musste es aus seinem Mund hören.
»Du wolltest einen Teil davon nehmen, ja«, sagte Lawren ruhig. Ich hatte erwartet, dass er zornig sein würde, aber er sprach mit mir, als wäre er schuld an alldem.
»Ich … Es tut mir leid.«
»Entschuldige dich nicht, Kija. Genau das war deine Aufgabe bei diesem Spiel. Und es war nicht mehr als das. Nur ein dummes Spiel.«
»Aber ich …«, stotterte ich und suchte seinen Blick. Als ich ihn fand, wirkte er so unsicher wie nie zuvor.
»Kija, bitte. Es war ein Spiel. Ein Spiel, von dem du niemandem erzählen darfst!«
»Lawren, ich wollte es dir nicht nur nehmen, um es wegzusperren. Ein Teil von mir wollte es für sich haben. Ich wollte es in mir behalten! Ich bin krank!«, schrie ich und spürte bittere Galle meinen Hals hinaufwandern. Meine Kehle presste sich zusammen, als hätte ich Säure getrunken.
»Hör auf dir Vorwürfe zu machen. Das ist vollkommen normal. Seth kann süchtig machen. Was meinst du, warum es so viele Besessene gibt? Bestimmt nicht, weil Seth widerlich ist. Es hat deine Sinne benebelt, weil du noch nicht so weit bist. Du kannst es noch nicht kontrollieren – ihm noch nicht widerstehen. Hörst du?!«
Ich nickte, ohne ihm zu glauben. Ich fühlte mich wie Abschaum. Als hätte etwas in mir unbedingt böse sein wollen. Seth spüren wollen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Schatten als etwas empfunden, das mich befriedigen würde. Dabei war es doch etwas Schlechtes.
»Kija!«, raunte Lawren, beugte sich zu mir und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich werde jetzt ein einziges Mal nett zu dir sein. Nur dieses eine Mal. Es wird weder noch einmal vorkommen noch wirst du jemandem davon erzählen, hast du das verstanden?«
Ich nickte wie betäubt und schluckte meine Angst hinunter. Angst vor mir selbst und meiner Gier nach Seth.
»Du bist viel stärker als jeder Asarys, der mir je begegnet ist. Du spürst Momente, die du nicht spüren solltest. Du hast immer noch deine Schattensucher-Fähigkeiten, obwohl du sie nicht mehr haben dürftest. Du bist stärker, als du sein solltest. Und genau das wird dir Feinde machen. Also lerne dich zu kontrollieren. Lerne mit deinen Fähigkeiten umzugehen. Und lerne dich von mir fernzuhalten. Auch dann, wenn ich es dir nicht einfach mache. Ich bin das Schlimmste, was dir je passieren wird!«
Mit diesen Worten erhob er sich, schritt zur Tür, nahm die Eisenstange heraus und verließ die Turnhalle.
Mein Herz versetzte mir einen Stich nach dem anderen, während ich schwer atmend dalag und dabei zusah, wie Tiger und Tashia zu mir stürmten und Worte sagten, die ich nicht verstand. Besorgte Worte, die aber niemals ausdrücken könnten, wie besorgt man um mich und meine finstere Seele sein musste. Ich spürte es in meinem Inneren. Nicht Lawren war das Monster – sondern ich.
Laya
Ächzend ließ ich mich auf den dreckigen Boden plumpsen und auf den Rücken fallen. Obwohl ich ganz gut in Form war, hatten es die Asarys mit diesem bescheuerten Spiel echt übertrieben.
»Ich glaube, ich muss mich übergeben«, jammerte Hanna, die neben mir landete und sich einen Arm über die Augen legte.
Sie lag auf meiner linken Seite. Das war das Erste, was mir auffiel – und es erweckte den Wunsch in mir, mich auf den Bauch zu rollen, damit sie nur noch meine rechte Gesichtshälfte sehen konnte. Die, auf der nicht die große Narbe war. Die, die unversehrt war und für die ich mich nicht schämte.
»Du weißt doch, wie die sind«, seufzte ich, befürchtete aber auch, dass mir mein Mittagessen wieder hochkam. Meinetwegen hätten wir die letzten zwei Runden Fang den Besessenen ausfallen lassen können.
Hanna verzog das Gesicht. »Sklaventreiber?«
»Unter anderem«, stimmte ich ihr zu. »Aber ich dachte eher an so was wie unbarmherzig, irre und versessen darauf zu beweisen, dass sie stärker sind.«
»Sie sind Angeber.«