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Bisher von Victoria Aveyard im Carlsen Verlag:
Die rote Königin – Band 1
Gläsernes Schwert – Band 2
Goldener Käfig – Band 3
Wütender Sturm – Band 4
Der Gesang der Königin
Rotes Netz

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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2016
Originalcopyright © 2016 by Victoria Aveyard
Published by arrangement with Victoria Aveyard
Originalverlag: HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers, New York
Originaltitel: Glass Sword
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Umschlaggestaltung: formlabor
Umschlagbilder: Trevillion Images © Susan Fox; shutterstock © Eugene Sergeev
Karte © 2015 by Victoria Aveyard. Illustriert von Amanda Persky.
Used with permission. All rights reserved.
Aus dem Englischen von Birgit Schmitz
Lektorat: Brigitte Kälble
Herstellung: Gunta Lauck
Lithografie: Margit Dittes, Hamburg

Satz und E-Book-Erstellung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN: 978-3-646-92725-2

FÜR MEINE GROSSELTERN, HIER UND DORT.
WO IHR SEID, IST MEIN ZUHAUSE.

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NORTA & DIE UMLIEGENDEN LÄNDER

1

Der Lappen, den Farley mir gibt, ist zwar sauber, aber er riecht trotzdem nach Blut. Doch ich zucke nicht zurück. Meine Kleider sind ohnehin von oben bis unten voller Blut. Das rote ist natürlich meins, das silberne stammt von vielen anderen. Von Evangelina, Ptolemus, dem Nymphen-Lord – von all denen, die mich in der Arena töten wollten. Auch Cals Blut dürfte dabei sein. Es ist in Strömen aus den unzähligen Schnittwunden und Verletzungen geflossen, die unsere Möchtegern-Henker ihm beigebracht haben. Jetzt sitzt Cal mir gegenüber und starrt auf seine Füße, während seine Blessuren den langen und langsamen Prozess der natürlichen Heilung beginnen. Ich betrachte einen der vielen Schnitte an meinem Arm, die wahrscheinlich von Evangelina stammen. Er ist noch frisch und tief genug, um eine Narbe zu hinterlassen. In gewisser Weise freut mich das, denn diese Verletzung wird nicht wie durch Zauberkraft von den kalten Händen eines Heilers zum Verschwinden gebracht werden. Cal und ich befinden uns jetzt nicht mehr in der Welt der Silbernen, in der man wohlverdiente Narben einfach ausradiert. Wir sind entkommen. Ich zumindest. Cals Ketten zeigen deutlich, dass er unser Gefangener ist.

Farley stupst mich überraschend sanft an. »Verbirg dein Gesicht, Blitzwerferin. Denn genau danach suchen sie.«

Ausnahmsweise tue ich, was man mir sagt. Auch die anderen ziehen rote Tücher über ihre Nasen und Münder. Nur Cals Gesicht ist noch unverhüllt, aber nicht lange. Er leistet keinen Widerstand, als Farley ihm ein Tuch umbindet, mit dem er aussieht wie einer von uns.

Wenn es nur so wäre.

Ein elektrisches Surren versetzt mein Blut in Wallung und erinnert mich daran, dass wir in der rasenden, quietschenden Tunnelbahn sitzen. Sie trägt uns unaufhaltsam vorwärts, in eine Stadt, die einmal ein Zufluchtsort war. Die Bahn fliegt über uralte Schienen, genauso schnell, wie sich ein Huscher über freies Gelände bewegt. Ich lausche auf das schabende Metall, spüre es tief in meinen Knochen, ein dumpfes Pochen. Meine Wut, die Stärke, die ich in der Arena bewiesen habe, sind wie eine ferne Erinnerung, zurück bleiben nichts als Schmerz und Angst. Was in Cal vorgehen muss, kann ich nur erahnen. Er hat alles verloren, alles, was ihm jemals etwas bedeutet hat. Einen Vater, einen Bruder und ein Königreich. Wie er es schafft, Haltung zu bewahren und – vom Schaukeln des Zuges abgesehen – still dazusitzen, ist mir schleierhaft.

Warum wir es so eilig haben, braucht mir niemand zu erklären. Dass Farley und die anderen Mitglieder der Scharlachroten Garde bis aufs Äußerste angespannt sind, ist mir Erklärung genug. Wir sind weiterhin auf der Flucht.

Maven hat diese Strecke auch schon einmal zurückgelegt. Und er wird es wieder tun. Diesmal mit der gesammelten Wucht seiner Soldaten, seiner Mutter und seiner neuen Krone. Gestern war er ein Prinz, heute ist er König. Ich habe geglaubt, er wäre mein Freund, mein Verlobter, jetzt weiß ich es besser. Jetzt hasse und fürchte ich ihn. Um die Macht an sich zu reißen, hat er bei der Ermordung seines Vaters mitgeholfen und das Verbrechen dann seinem Bruder in die Schuhe geschoben. Maven weiß, dass die Strahlenbelastung, die angeblich rings um die Ruinenstadt herrscht, bloß eine Lüge ist – ein Trick – , und er weiß auch, dass unsere Bahn genau dorthin unterwegs ist. Der Zufluchtsort, den Farley geschaffen hat, ist nicht mehr sicher, nicht für uns. Nicht für dich. Vielleicht rasen wir bereits in eine Falle.

Jemand legt einen Arm um mich. Shade. Er spürt mein Unbehagen. Ich kann immer noch nicht glauben, dass mein Bruder hier ist, dass er lebt und – was das Verrückteste von allem ist – dass er so ist wie ich. Rot und silbern – und stärker als beide.

»Ich werde nicht zulassen, dass sie dich noch mal in ihre Gewalt bringen«, murmelt er so leise, dass ich es kaum verstehen kann. Die Scharlachrote Garde gestattet ihren Mitgliedern wohl keine Loyalitäten jenseits der eigenen Sache, nicht einmal der Familie gegenüber. »Das verspreche ich dir.«

Seine Gegenwart ist tröstlich, denn sie trägt mich in die Vergangenheit zurück. In die Zeit vor seiner Einberufung, zu einem regnerischen Frühling, in dem wir noch so tun konnten, als wären wir Kinder. In dem es nichts gab außer dem Matsch, dem Dorf und unserer dummen Angewohnheit, keinen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Doch jetzt denke ich an nichts anderes mehr und frage mich, auf welch düsteren Pfad meine Taten uns geführt haben.

»Was machen wir denn jetzt?« Die Frage ist an Farley gerichtet, aber mein Blick fällt auf Kilorn. Er steht neben ihr, ein pflichtbewusster Gardist mit zusammengebissenen Zähnen und blutigen Verbänden. Kaum zu glauben, dass er vor nicht allzu langer Zeit ein Fischerlehrling war. Er wirkt hier in meinen Augen genauso fehl am Platz wie Shade, wie ein Geist aus der Vergangenheit.

»Es gibt immer einen Ort, an den man fliehen kann«, erwidert Farley. Ihre Aufmerksamkeit gilt jedoch Cal.

Sie erwartet, dass er kämpft, sich widersetzt, aber er tut nichts dergleichen.

»Pass gut auf sie auf«, sagt Farley zu Shade, als sie sich ihm nach einem langen Moment wieder zuwendet. Mein Bruder nickt, und plötzlich fühlt seine Hand sich schwer an auf meiner Schulter. »Wir können es uns nicht leisten, sie zu verlieren.«

Ich bin kein General oder Stratege, aber es ist klar, was sie meint. Ich bin die kleine Blitzwerferin. Die Leute kennen meinen Namen, mein Gesicht und sie wissen, wozu ich im Stande bin. Ich bin wertvoll, ich bin stark, und Maven wird alles tun, um mich von einem Gegenschlag abzuhalten. Ich habe keine Ahnung, wie Shade mich vor dem abartigen neuen König beschützen will, auch wenn mein Bruder so ist wie ich, auch wenn er schneller ist als alles, was ich je gesehen habe. Aber obwohl es ein Wunder wäre, wenn es ihm gelänge, muss ich daran glauben. Schließlich habe ich schon einiges erlebt, was eigentlich unmöglich war. Da ist eine weitere geglückte Flucht keine große Sache.

Das metallische Schaben und Klacken von Gewehren hallt durch die Bahn; die Gardisten machen sich bereit zum Aufbruch. Kilorn bewegt sich, so dass er genau über mir steht. Er schwankt leicht und hält das umgehängte Gewehr fest umklammert. Sanft schaut er auf mich herab, versucht dabei zu grinsen, um mich aufzumuntern. Aber seine grünen Augen sind ernst und voller Furcht.

Cal sitzt im Gegensatz dazu ruhig, fast friedlich da. Obwohl er am meisten zu befürchten hat – er liegt in Ketten, ist von Feinden umgeben, wird vom eigenen Bruder gejagt –, sieht er gelassen aus. Doch das überrascht mich nicht. Er ist Soldat. Krieg ist etwas, worauf er sich versteht, und wir befinden uns jetzt definitiv im Krieg.

»Ihr wollt hoffentlich nicht kämpfen«, sagt er. Es ist das erste Mal seit einer Weile, dass er den Mund aufmacht. Auch wenn sein Blick auf mir ruht, zielen seine Worte auf Farley. »Ich kann nur hoffen, dass ihr vorhabt, die Beine in die Hand zu nehmen.«

»Spar dir deinen Atem, Silberner.« Farley strafft die Schultern. »Ich weiß schon, was zu tun ist.«

»Er aber auch«, platze ich unwillkürlich heraus und ernte einen wütenden Blick von ihr. Doch ich bin schon mit Schlimmerem fertiggeworden und verziehe keine Miene. »Cal kennt ihre Taktik und weiß, was sie tun werden, um uns zu stoppen. Wir sollten ihn und sein Wissen für unsere Zwecke einsetzen.«

Wie fühlt es sich an, manipuliert zu werden? Das hat Cal mich in der Zelle unter der Knochenarena gefragt, und damals wäre ich am liebsten gestorben. Jetzt versetzt mir die Erinnerung daran nur noch einen leichten Stich.

Farley sagt gar nichts, und das genügt Cal schon.

»Sie werden mit Snapdragons anrücken«, erklärt er finster.

Kilorn lacht laut auf. »Was soll das sein?«

»Kampfjets«, antwortet Cal mit einem verächtlichen Funkeln in den Augen. »Silberner Rumpf, orangefarbene Tragflächen. Sie werden von nur einem Piloten gesteuert und sind leicht zu manövrieren, perfekt für den Angriff auf eine Stadt. Jeder Snapdragon ist mit vier Raketen bestückt. Multipliziert mit einem Geschwader macht das achtundvierzig Raketen, vor denen ihr euch in Sicherheit bringen müsst. Die leichten Waffen nicht mitgerechnet. Seid ihr darauf vorbereitet?«

Schweigen macht sich breit. Nein, sind wir nicht.

»Aber die Dragons sind noch unsere kleinste Sorge. Die werden nur über uns kreisen und sicherstellen, dass wir einen bestimmten Radius nicht verlassen, bis die Bodentruppen eintreffen.«

Er senkt den Blick und denkt nach. Bestimmt fragt er sich, was er tun würde, wenn er auf der anderen Seite stünde. Wenn er an Mavens Stelle auf dem Thron säße. »Sie werden uns umzingeln und ihre Bedingungen nennen. Mare und ich im Austausch dafür, dass sie euch ziehen lassen.«

Schon wieder ein Opfer. Ich sauge langsam die Luft ein. Heute Morgen noch oder gestern, bevor dieser ganze Wahnsinn begann, hätte ich mich aus freien Stücken hingegeben, nur um Kilorn und meinen Bruder zu retten. Aber jetzt … jetzt weiß ich, dass ich besondere Gaben besitze. Und dass es noch andere gibt, die ich beschützen muss. Jetzt bin ich unverzichtbar.

»Darauf können wir uns nicht einlassen«, sage ich. Eine bittere Wahrheit. Kilorns Blick ruht schwer auf mir, doch ich schaue nicht hoch. Ich ertrage es nicht, dass er mich verurteilt.

Cal ist nicht so harsch. Er nickt, um zu signalisieren, dass er mir zustimmt. »Der König erwartet auch gar nicht, dass wir darauf eingehen«, erwidert er. »Zuerst sorgen sie mit ihren Raketen dafür, dass die Ruinen über uns einstürzen, dann bringen ihre Truppen diejenigen zur Strecke, die überlebt haben. Das wird ein einziges Massaker.«

Farley hält an ihrem Stolz fest, selbst jetzt, wo sie in die Enge getrieben ist. »Und was schlägst du vor?«, fragt sie und beugt sich über ihn. Ihre Worte triefen von Verachtung. »Die bedingungslose Kapitulation?«

Über Cals Gesicht huscht ein Ausdruck von Abscheu. »Maven wird euch trotzdem töten. Ob in einer Zelle oder auf dem Schlachtfeld. Er wird keinen von uns am Leben lassen.«

»Dann sterben wir doch besser im Kampf.« Kilorns Stimme klingt fest, aber seine Finger zittern. Auch wenn mein Freund – wie alle anderen Rebellen – bereit ist, für die gerechte Sache bis zum Äußersten zu gehen, hat er trotzdem Angst. Er ist noch so jung, nicht älter als achtzehn. Er hat noch zu viel, wofür es sich zu leben lohnt, und zu wenig Grund zum Sterben.

Cal verzieht nach Kilorns trotzig-entschlossener Parole das Gesicht, sagt aber nichts mehr. Er weiß, dass niemandem damit geholfen ist, wenn er uns unseren bevorstehenden Tod noch drastischer ausmalt.

Farley winkt mit einer wegwerfenden Geste, die beiden gilt, ab. Mein Bruder wirkt ebenso entschlossen wie sie.

Sie wissen etwas, das wir nicht wissen; etwas, worüber sie noch nicht sprechen wollen. Maven hat uns alle gelehrt, dass blindes Vertrauen einen hohen Preis hat.

»Wir sind nicht die, die heute sterben«, ist alles, was Farley sagt. Dann marschiert sie zur Spitze des Zuges. Ihre Stiefel knallen über den Metallboden, jeder Schritt ein Hammerschlag sturer Entschlossenheit.

Noch vor allen anderen spüre ich, dass die Bahn an Tempo verliert. Der Stromfluss wird schwächer, als wir in eine unterirdische Station einfahren. Ich habe keine Ahnung, was uns draußen am Himmel erwartet. Weißer Nebel oder Kampfjets mit orangefarbenen Tragflächen? Die anderen scheint es nicht zu kümmern, sie verlassen die Tunnelbahn zielstrebig. In ihrer stummen Entschiedenheit sehen die bewaffneten und maskierten Gardisten wie echte Soldaten aus, doch ich weiß es besser. Dem, was uns erwartet, sind sie in keiner Hinsicht gewachsen.

»Mach dich bereit«, wispert Cal mir ins Ohr und mich überläuft ein Schauer. Seine Stimme erinnert mich an längst vergangene Zeiten, an einen Tanz im fahlen Licht des Mondes. »Denk daran, wie stark du bist.«

Kilorn drängt sich mit der Schulter zwischen uns, bevor ich Cal sagen kann, dass ich fest auf meine Stärke und meine Fähigkeit baue. Die Elektrizität in meinen Adern ist wahrscheinlich das Einzige auf der Welt, in das ich noch Vertrauen setze.

Ich möchte an die Scharlachrote Garde glauben und vor allem an Shade und Kilorn, aber ich gestatte es mir nicht; nicht nach dem Chaos, in das mein Vertrauen, mein blindes Vertrauen Maven gegenüber uns gestürzt hat. Auf Cal zu setzen, verbietet sich von selbst. Er ist ein Gefangener, ein Silberner, der Feind, der uns verraten würde, wenn er die Möglichkeit hätte, wenn es einen Ort gäbe, an den er fliehen könnte – und trotzdem fühle ich mich zu ihm hingezogen. Trotzdem erinnere ich mich an den besorgten Jungen, der mir eine Silbermünze geschenkt hat, als ich noch ein Nichts war. Er hat meine Zukunft verändert – und seine eigene zerstört.

Und doch verbindet uns etwas; es ist eine unbehagliche Allianz, die durch Blut und Verrat geschmiedet wurde. Wir sind geeint – gegen Maven, gegen alle, die uns betrogen haben, gegen die Welt, die im Begriff steht, sich selbst zu zerreißen.

Stille empfängt uns. Über den Ruinen von Naercey liegen schwere graue Nebelschwaden; der Himmel hängt so tief, dass ich ihn berühren könnte. Es ist kalt. Der Herbst hat Einzug gehalten, die Jahreszeit der Veränderung und des Todes. Noch ist über uns nichts zu sehen, keine Kampfjets, die Zerstörung auf eine bereits zerstörte Stadt herabregnen lassen. Farley gibt ein flottes Tempo vor, während sie uns von den Gleisen zu der verlassenen alten Prachtstraße führt. Die Verwüstung wirkt wie ein gähnender Schlund; es sieht hier noch trister und zerklüfteter aus, als ich es in Erinnerung habe.

Wir marschieren nach Osten, auf das nebelverhangene Hafengebiet zu. Am Straßenrand ragen bedrohlich die hohen, halb eingestürzten Gebäude auf. Ihre Fenster sind wie Augen, die uns beobachten. Überall in diesen zerstörten Räumen und dunklen Gewölben könnten Silberne stecken, die darauf lauern, der Scharlachroten Garde ein Ende zu bereiten. Maven könnte mich zwingen, dabei zuzusehen, wie er einen Rebellen nach dem anderen niederstreckt. Mir würde er den Luxus eines sauberen, schnellen Todes nicht gönnen. Oder schlimmer noch, denke ich. Er würde mich überhaupt nicht sterben lassen.

Bei dem Gedanken gefriert mir das Blut in den Adern, als würde mich ein silberner Frierer berühren. So schamlos Maven mich auch belogen hat – zumindest einen kleinen Teil seines Herzens kenne ich. Ich habe nicht vergessen, wie er mit zitternden Händen durch die Gitterstäbe meiner Zelle nach mir gegriffen hat. Und ich habe mir auch den Namen gemerkt, den er mit sich herumträgt; den Namen, der mich daran erinnert, dass in seiner Brust ein Herz schlägt. Er hieß Thomas, und ich habe ihn sterben sehen. Er konnte diesen Jungen nicht retten. Aber mich kann er retten, auf seine eigene perverse Art.

Nein. Diese Genugtuung gönne ich ihm niemals. Lieber sterbe ich.

Aber trotz allem kriege ich den verlorenen und vergessenen Prinzen nicht aus dem Kopf, als der er mir erschienen war. Den Schatten der Flamme. Ich wünschte, dieser Mensch wäre real. Ich wünschte, er würde noch anderswo existieren als nur in meiner Erinnerung.

Die Ruinen von Naercey werfen ein seltsames Echo zurück. Es ist unheilvoll still hier. Und mit einem Mal begreife ich auch, warum das so ist. Die Flüchtlinge sind nicht mehr da. Die Frau, die Berge von Asche zusammengefegt hat; die Kinder, die sich in der Kanalisation versteckt hielten; die Schatten meiner roten Brüder und Schwestern – sie alle haben anderswo Zuflucht gesucht. Außer uns gibt es hier niemanden mehr.

»Du kannst von Farley halten, was du willst, aber glaub mir, dumm ist sie nicht«, sagt Shade und beantwortet damit meine Frage, bevor ich sie stellen kann. »Noch gestern Abend, nachdem sie aus Archeon entkommen war, hat sie den Befehl zur Evakuierung erteilt. Sie ging davon aus, dass du oder Maven unter Folter reden würden.«

Sie hat sich geirrt. Maven brauchte man gar nicht zu foltern. Er hat sämtliche Informationen und alles, woran er sich erinnern konnte, freiwillig preisgegeben. Er hat seine Mutter in seinem Kopf herumspionieren lassen. Die Tunnelbahn, die geheime Stadt, die Liste. All das hat er an sie verraten, so wie er es immer getan hat.

In unserem Rücken erstreckt sich die Reihe der Kämpfer der Scharlachroten Garde, ein ungeordneter Haufen bewaffneter Männer und Frauen. Kilorn marschiert direkt hinter mir und lässt dabei wachsam die Blicke schweifen, während Farley uns anführt. Zwei kräftige Soldaten halten Cals Arme umklammert und sorgen dafür, dass er in ihrer Nähe bleibt. Mit den roten Tüchern sehen sie bedrohlich aus. Aber wir sind so wenige, vielleicht dreißig, und alle sind verwundet. So wenige haben überlebt.

»Wir sind nicht genug, um diese Rebellion am Laufen zu halten, selbst wenn wir ein weiteres Mal davonkommen«, flüstere ich meinem Bruder zu. Der Nebel in der Luft dämpft meine Stimme, aber er versteht mich.

Seine Mundwinkel zucken, als würde er sich ein Lächeln verkneifen. »Mach dir mal keine Sorgen.«

Bevor ich nachhaken kann, was er damit meint, bleibt der Soldat vor uns abrupt stehen. Und er ist nicht der Einzige. Farley an der Spitze reckt eine Faust hoch und schaut wütend in den schiefergrauen Himmel. Wir anderen tun es ihr nach; wir suchen etwas, das wir nicht sehen können. Nur Cal hält den Blick gesenkt. Er weiß bereits, wie unser Verhängnis aussieht.

Ein fernes, unmenschliches Heulen dringt aus dem Nebel zu uns her. Es kreist über unseren Köpfen, klingt mechanisch und monoton. Und es bleibt nicht allein. Zwölf pfeilförmige Schatten rasen über den Himmel, deren orangefarbene Tragflächen mal zwischen den Wolken hervorblitzen, mal dahinter verschwinden. Noch nie habe ich Kampfjets aus der Nähe und ohne den Schutz der Nacht gesehen. Deshalb fällt mir unwillkürlich die Kinnlade herunter, als sie in Sicht kommen. Farley brüllt irgendwelche Befehle, aber ich höre sie nicht. Dazu starre ich viel zu gebannt in den Himmel und beobachte, wie der geflügelte Tod dort oben seine Kreise zieht. Wie Cals Motorrad haben auch diese Fluggeräte aus gebogenem Stahl und Glas etwas Schönes. Ich vermute, dass bei ihrer Konstruktion Magnetoren die Hände im Spiel hatten – wie sonst könnte Metall fliegen? Unterhalb der Tragflächen sprühen blau gefärbte Triebwerke Funken, das untrügliche Anzeichen für Elektrizität. Ich spüre sie kaum, eher wie einen Atemhauch auf der Haut, und die Flieger sind zu weit entfernt, als dass ich etwas bewirken könnte. Ich kann sie nur mit den Augen – und voller Abscheu – verfolgen.

Laut surrend umrunden sie die Insel von Naercey, ohne dabei auch nur einmal aus dem perfekten Kreis auszuscheren, in dem sie fliegen. Fast bin ich versucht so zu tun, als wären sie harmlos, nichts als neugierige Vögel, die gekommen sind, um die letzten Überreste einer Rebellion in Augenschein zu nehmen. Dann saust plötzlich ein Geschoss aus grauem Metall über unsere Köpfe hinweg. Es zieht einen Rauchschweif hinter sich her und bewegt sich fast zu schnell, als dass man mit den Augen folgen könnte. Es verschwindet in dem kaputten Fenster eines halb zerfallenen Gebäudes am oberen Ende der Straße und den Bruchteil einer Sekunde später wird das gesamte Stockwerk von einer rot-orangen Explosion erschüttert. Tausend Jahre alte Träger zerbersten wie Zahnstocher, während das Bauwerk in sich zusammensackt. Dann neigt es sich zur Seite und kippt mit irreal wirkender Langsamkeit auf die Straße, wo es uns den Weg versperrt. Ich spüre das dumpfe Krachen in meinen Knochen. Eine Wolke aus Rauch und Staub rollt auf uns zu, aber ich gehe nicht in Deckung. Es braucht längst mehr als das, um mich in Angst zu versetzen.

Cal bleibt wie ich inmitten des grau-braunen Schleiers aufrecht stehen, während seine Wächter sich wegducken. Unsere Blicke treffen sich einen Moment lang, dann sacken seine Schultern nach unten – das einzige Zeichen der Niederlage, das er mich sehen lässt.

Farley packt eine Gardistin in ihrer Nähe und hilft ihr hoch. »Zerstreut euch!«, schreit sie, zeigt dabei auf die kleinen Nebenstraßen rechts und links. »Nach Norden! Zu den Tunneln!« Dann gibt sie ihren Leutnanten Anweisungen, wohin sie laufen sollen. »Shade, zum Park!« Mein Bruder nickt; er weiß offenbar, was sie meint. Die nächste Rakete schlägt schlingernd in ein nahe gelegenes Gebäude ein und übertönt Farley. Aber es ist unschwer zu erkennen, was sie ruft.

Lauft.

Ein Teil von mir möchte sich dem Angriff stellen, möchte stehen bleiben und kämpfen. Mein violett-weißer Blitz gibt sicherlich eine gute Zielscheibe ab und könnte die Kampfjets von der fliehenden Garde ablenken. Vielleicht nehme ich sogar ein oder zwei der Flieger mit in den Tod. Aber das darf nicht passieren. Ich bin wertvoller als der Rest, als rote Tücher vor dem Gesicht und blutgetränkte Verbände. Shade und ich müssen überleben – wenn nicht für die Sache, dann für die anderen. Für die vielen Hundert anderen von der Liste derer, die so sind wie wir, die sterben werden, wenn wir scheitern.

Shade weiß das ebenso gut wie ich. Er hakt sich bei mir unter und hält mich so fest, dass es wehtut. Es ist beinahe zu einfach, im Gleichschritt mit ihm zu laufen und mich von der breiten Straße weg in ein grau-grünes Dickicht wild wuchernder Pflanzen ziehen zu lassen. Das Grün wird immer üppiger, je tiefer wir eindringen, die Bäume sind ineinander verwachsen und knorrig wie deformierte Finger. Tausendjährige Verwahrlosung hat dieses Waldstück in einen toten Dschungel verwandelt. Er schirmt uns vor dem Himmel ab, bis wir nur noch hören können, dass die kreisenden Flieger näher und näher rücken. Kilorn ist die ganze Zeit dicht hinter uns. Einen Moment lang kann ich so tun, als wären wir zu Hause und würden auf der Suche nach ein bisschen Spaß und Ärger durch Stilts streifen. Wie es aussieht, finden wir inzwischen nur noch Ärger.

Als Shade irgendwann schlitternd zum Stehen kommt, schaue ich mich vorsichtig um. Kilorn stoppt neben uns und zielt mit seinem Gewehr sinnlos in den Himmel. Hinter ihm folgt niemand mehr. Ich kann nicht einmal mehr die Straße sehen oder rote Tücher, die in Ruinen Zuflucht suchen.

Mein Bruder schaut grimmig durch die Zweige nach oben und wartet darauf, dass die Kampfjets weiterziehen.

»Wohin wollen wir eigentlich?«, frage ich ihn atemlos.

Kilorn antwortet an seiner Stelle. »Erst zum Fluss«, sagt er. »Dann aufs Meer raus. Kannst du uns hinbringen?«, fügt er hinzu und wirft einen Blick auf Shades Hände, als könnte man von ihnen seine Fähigkeit ablesen. Doch Shades Stärke ist, ebenso wie meine, gut verborgen und bleibt unsichtbar, bis er beschließt, sie zu enthüllen.

Mein Bruder schüttelt den Kopf. »Nein, nicht alle auf einmal. Das ist zu weit. Außerdem laufe ich lieber, um Kräfte zu sparen.« Sein Blick verdüstert sich. »Bis wir sie dringender brauchen.«

Ich nicke zustimmend. Ich weiß nur zu gut, wie es ist, wenn man sich mit seiner Fähigkeit völlig verausgabt hat, wenn man müde bis auf die Knochen ist und sich kaum noch bewegen kann, von kämpfen ganz zu schweigen.

»Und wo bringen sie Cal hin?«

Kilorn verzieht das Gesicht bei dieser Frage. »Das interessiert mich nicht im Geringsten.«

»Das sollte es aber«, feuere ich zurück, doch meine Stimme zittert, denn ich habe Zweifel. Nein, es sollte ihn nicht interessieren. Und mich ebenso wenig. Wenn der Prinz weg ist, lass ihn gehen. »Er kann uns helfen, hier rauszukommen. Er kann mit uns kämpfen.«

»Der haut doch ab oder bringt uns um bei der erstbesten Gelegenheit, die sich ihm bietet«, faucht Kilorn und reißt sich das Tuch vom Gesicht, damit ich seine Wut sehe.

Vor meinem geistigen Auge erscheint Cals Feuer. Es verbrennt alles, was sich ihm in den Weg stellt, egal ob Metall oder Fleisch. »Er hätte dich schon längst umbringen können.« Das ist keine Übertreibung und Kilorn weiß es, das zeigt sich in seinem Gesicht.

»Irgendwie dachte ich immer, ab einem gewissen Alter hört ihr auf mit dieser Streiterei«, sagt Shade und stellt sich zwischen uns. »Wie dumm von mir.«

Kilorn presst eine Entschuldigung hervor, aber meine Gedanken sind schon wieder bei den Jets. Ich erspüre deren elektrischen Puls mit meinem eigenen, die Verbindung wird mit jeder Sekunde schwächer. »Sie fliegen von uns weg. Wenn wir loswollen, sollten wir es jetzt tun.«

Shade und Kilorn schauen mich merkwürdig an, ziehen aber nicht in Zweifel, was ich sage. »Hier entlang«, befiehlt mein Bruder und zeigt in den Dschungel. Ein beinahe unsichtbarer Pfad schlängelt sich durch die Bäume, Stein und Asphalt sind zu sehen, wo die Erde weggefegt wurde. Shade hakt sich erneut bei mir unter, während Kilorn mit zügigem Tempo vorausstürmt.

Über den immer enger werdenden Pfad hängen Zweige, die uns ins Gesicht schlagen, bis es schließlich nicht mehr möglich ist, nebeneinander herzulaufen. Doch anstatt loszulassen, drückt Shade mich sogar noch fester an sich. Dann merke ich, dass es gar nicht Shade ist, der diesen starken Druck ausübt. Es ist die Luft, die Welt. In einer schwarzen Wahnsinnssekunde komprimiert sich alles um uns herum, und plötzlich stehen wir außerhalb des Dickichts und sehen, wie Kilorn hinter uns aus dem grauen Wäldchen kommt.

»Aber er war doch eben noch vor uns«, murmele ich und blicke zwischen Shade und dem Grün hin und her. Wir treten in die Mitte der Straße, Rauchschwaden ziehen über den Himmel. »Du –«

Shade grinst, was angesichts der heulenden Kampfjets in der Ferne ziemlich unpassend ist. »Sagen wir, ich bin … gesprungen. Solange du dich an mir festhältst, kann ich dich mitnehmen«, erklärt er, bevor er uns eilig in die nächste Seitenstraße zieht.

Die Erkenntnis, soeben teleportiert worden zu sein, lässt mein Herz derart heftig schlagen, dass ich beinahe vergessen kann, in welcher Gefahr wir sind.

Aber die Jets erinnern mich schon allzu bald wieder daran. Nördlich von uns schlägt ein weiteres Geschoss ein und bringt ein Gebäude mit dem Getöse eines Erdbebens zum Einsturz. Wieder wälzt sich eine Welle von Staub auf uns zu und hüllt uns in eine weitere Schicht Grau. Rauch und Feuer sind mir inzwischen so vertraut, dass ich den Geruch in der Luft kaum noch wahrnehme, selbst als Ascheflocken wie Schnee auf uns herabfallen. Man sieht unsere Fußabdrücke in dem grauen Belag. Vielleicht sind es die letzten Spuren, die wir hinterlassen.

Shade kennt unser Ziel und weiß, wie man dort hinkommt. Kilorn hält trotz seines schweren Gewehrs problemlos mit. Inzwischen sind wir in einem Halbkreis zur Prachtstraße zurückgekehrt. Von Osten her bahnt sich das Tageslicht einen Weg zurück durch Staub und Dreck und bringt einen Hauch salzige Meeresluft mit. Im Westen liegt das erste eingestürzte Gebäude wie ein gefallener Riese über der Straße und blockiert die Rückkehr zur Tunnelbahn. Rings um uns her ragen zerbrochenes Glas, die Stahlskelette der Häuser und merkwürdige, ehemals weiße Wandabschnitte empor – es ist ein Palast aus Ruinen.

Was war das wohl vorher?, frage ich mich. Julian wüsste es. Allein an seinen Namen zu denken, tut schon weh, und ich schiebe das Gefühl beiseite.

Ein paar andere rote Tücher flitzen durch die von Asche graue Luft, und ich halte nach einer vertrauten Silhouette Ausschau. Doch Cal ist nirgends zu sehen, und ich bekomme schreckliche Angst.

»Ich gehe nicht ohne ihn von hier weg!«

Shade braucht gar nicht erst zu fragen, wen ich meine. Er weiß es auch so.

»Der Prinz begleitet uns. Darauf gebe ich dir mein Wort.«

»Auf dein Wort kann ich nicht vertrauen.« Meine Reaktion versetzt mir selbst einen Stich ins Herz.

Shade war Soldat. Sein bisheriges Leben war alles andere als leicht und er weiß, was Schmerz bedeutet. Dennoch trifft ihn meine Antwort schwer. Das kann ich ihm ansehen.

Ich entschuldige mich später bei ihm, sage ich mir.

Wenn es ein Später gibt.

Die nächste Rakete segelt über unsere Köpfe hinweg und schlägt ein paar Straßen weiter ein. Doch der ferne Krach der Explosion übertönt nicht das durchdringende und noch beängstigendere Geräusch, das sich ringsum erhebt.

Die rhythmischen Schritte von tausend Marschierenden.