Horst Bosetzky
Teufelssee
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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1. Auflage 2017
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Daniel Thornberg / Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5290-1
Der Mensch ist eine Bestie und seiner Niedertracht muss mit Mitteln aus demselben Arsenal begegnet werden.
Theodor Fontane, aus einem Brief an Moritz Lazarus
Theodor Fontane liebte die Berliner Müggelberge und schreibt im Band Spreeland seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg über sie:
Diese Müggelberge repräsentieren ein höchst eigentümliches Stück Natur, abweichend von dem, was wir sonst wohl in unserem Sand- und Flachlande zu sehen gewohnt sind. Unsere märkischen Berge (wenn man uns diese stolze Bezeichnung gestatten will) sind entweder einfache Kegel oder Plateauabhänge. Nicht so die Müggelberge. Diese machen den Eindruck eines Gebirgsmodells, etwa als hab’ es die Natur in heiterer Laune versuchen wollen, ob nicht auch eine Urgebirgsform aus märkischem Sande herzustellen sei. Alles en miniature, aber doch nichts vergessen. Ein Stock des Gebirges, ein langgestreckter Grat, Ausläufer, Schluchten, Kulme, Kuppen, alles ist nach Art einer Reliefkarte vor die Tore Berlins gelegt, um die flachländische Residenzjugend hinausführen und ihr über Gebirgsformationen einiges ad oculos demonstrieren zu können.
Durch dieses Mittelgebirge en miniature wanderten nun im Jahre 2015 zwei junge Menschen, die, was mehr als erstaunlich war, diesen Text kannten: Svea, weil sie Deutschlehrerin werden wollte und dieses Fach »aufs Lehramt« studierte, und Finn, weil er Schauspieler war und sie in einem kleinen Off-Theater gerade das Stück »Fontane Reloaded« von Martin Nehmer spielten. Er kannte auch das dem Kapitel über die Müggelberge vorangestellte Gedicht und trug es professionell vor: »Es rührt kein Blatt sich, alles schläft und träumt, / Nur je zuweilen knisterts in den Föhren, / Die Nadel fällt, – es ruht der Wald.«
Auch bei ihm knisterte es, und zwar unten in der Hose, was ihn dazu bewog, keinen großen Dichter, sondern den Volksmund zu bemühen: »Ist der Mai warm und trocken, / kann man schon im Freien bocken.« Er war am Fuße der Müggelberge groß geworden, in Wendenschloss, und hatte schon als pubertierender Knabe davon geträumt, einmal mit einer tollen Frau im Freien zu – koitieren. Möglichst mit einer Stewardess, denn von denen hieß es ja: Gehen in die Luft. Vögeln gleich. Und Svea hatte ihr Studium finanziert, indem sie zwei Jahre lang als eine solche gearbeitet hatte. Er stellte sich vor, wie sie in ihrer hautengen blauen Uniform durch den Gang eines fast leeren Airbusses schritt, um nachzusehen, ob er sich auch angeschnallt hatte. Dabei bemerkte sie seine Erektion. Schnell war sein Reißverschluss geöffnet und ihr Rock hochgeschoben. Dann saß sie auf ihm und …
»Woran denkst du gerade?«, fragte ihn Svea.
»Daran!« Er umarmte sie stürmisch und ließ sie deutlich spüren, was rasant schnell hart geworden war.
»Nicht hier!«
»Doch hier!«
»Da hinten kommen Leute«, warnte sie ihn.
Er lachte. »Dann nehmen wir 20 Euro fürs Zusehen dürfen. Aber da rechts im Wald ist eine Kuhle, da habe ich schon als Kind immer drin gespielt.«
Vielleicht konnte er die Kontrolle über seine entgleiste Libido doch noch zurückgewinnen. Sie wollte versuchen, Zeit zu gewinnen, indem sie ihm intellektuelle Assoziationen verschaffte, etwa mit dem Satz: »Kuhle, ja, aber dann ›Kuhle Wampe‹. Ein fantastischer Film damals! Wer hat die männliche Hauptrolle gespielt?«
»Ernst Busch. Aber mich interessiert jetzt nur dein Busch.«
Damit fuhr seine Hand unter ihren Rock und tastete sich zu ihrem Schamhaar vor. Immer stürmischer drang er auf sie ein. »Svea, bitte! Ich hab’ auch Kondome mit.«
Langsam ließ sie sich vom Strom seiner Begierde mitreißen und fieberte sogar dem eigenen Orgasmus entgegen. In einer Kuhle im Sand …
Im FLOW kämpften sie sich durch Gras und Unterholz, und er nahm seinen Steifen als Kompassnadel, der ihnen den Weg zu seiner Kuhle weisen sollte.
Jetzt waren sie dort angekommen und …
… und nichts war mehr mit Rammeln und orgiastischen Schreien, denn in seiner Kuhle lag ein Toter.
*
Der Masterstudiengang »Klinische Psychologie und Gesundheitspsychologie« ist ein anwendungsorientierter Studiengang, der durch die Verbindung von Klinischer und Gesundheitspsychologie nationale und internationale gesundheitspolitische Entwicklungen und die damit einhergehenden Veränderungen auf dem europäischen Arbeitsmarkt berücksichtigt. In den Lehrinhalten werden explizit ökologische, soziale, kulturelle und institutionelle Bedingungen sowie der Einfluss der Geschlechtsrollenzugehörigkeit einbezogen.
Es wird eine fundierte Ausbildung in Methoden und Diagnostik gewährleistet. Die Vermittlung allgemeiner Methodenkompetenzen wird ergänzt durch fachspezifische Methodenseminare zur Versorgungs- und Interventionsforschung und zu spezifischen diagnostischen Verfahren sowie durch eine individualisierte Beratung bei der Planung und Durchführung der Masterarbeit. Weitere methodische Kompetenzen werden über die Mitarbeit an Forschungsprojekten der Klinischen Psychologie oder Gesundheitspsychologie erworben.
So hatte es Björn Görke auf dem Bildschirm stehen gehabt, als er im Internet das Studienangebot der FU Berlin durchgegangen war, und sofort gewusst, dass das sein Ding war. Man hatte seine Mutter mit einer schweren Depression in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik eingeliefert, als aus ihrem idyllischen Familienleben im West-Berliner Dörfchen Lübars ein einziger Horrortrip geworden war. Und er hatte in »Bonnies Ranch«, wie die KBoN im Volksmund hieß, so viele arme Teufel kennengelernt, dass er es als Aufgabe und Ziel seines Lebens ansah, sie zu verstehen und ihnen zu helfen. Ein bisschen stimmte es aber auch, wenn Freunde lästerten: »Mensch, Björn, du willst dich doch bloß besser selbst therapieren können!«
In der heutigen Vorlesung ging es um wahnhaftes Denken und um Wahnideen.
»Schon bei Eugen Bleuer finden wir drei Sätze, die alles auf den Punkt bringen«, begann die Dozentin: »Zum Wesen des Wahns gehört seine Unerschütterlichkeit. Er lässt sich weder an der eigenen Erfahrung noch durch Belehrung beeinflussen. Kurzum: Dem Wahnkranken fehlt die Kritikfähigkeit seinem Wahn gegenüber, in allen anderen Belangen kann sie erhalten sein.« Dann stellte sie die Wahnformen vor, auf die sie in den nächsten Sitzungen näher eingehen wollte: »Da sind der Größenwahn, von dem Sie alle schon einmal gehört haben werden, ebenso wie vom Verfolgungs- und Eifersuchtswahn, vergleichsweise neu aber werden Ihnen erscheinen: der Versündigungswahn, wo die Kranken glauben, schwerste Verbrechen begangen zu haben, der hypochondrische oder auch depressive Krankheitswahn und der Verneinungswahn. Fangen wir einmal mit diesem an, denn darüber habe ich geforscht und kann Ihnen ein paar Fallbeispiele vorführen. Die Franzosen kennen ihn unter dem Begriff délire des négations. Sie finden diesen wahnhaften Glauben an die eigene Nicht-Existenz in der Literatur aber auch unter dem Begriff Cotard-Syndrom, benannt nach dem Franzosen Jules Cotard (1840 – 1889). Die Kranken haben das Gefühl, dass alles um sie herum nicht mehr existiert: die Klinik, die Welt, ein Gott, sie selbst. Sie sind überzeugt, dass sie tot seien, überhaupt nicht mehr existierten. Sie meinen zu verwesen oder ihr Blut sowie ihre inneren Organe verloren zu haben. Ursachen können bipolare Störungen sein, aber auch Unfälle, bei denen der Temporallappen im Gehirn beschädigt worden ist, und die Nebenwirkungen bestimmter Medikamente.«
Björn Görke meldete sich. Das brachte Pluspunkte bei der Dozentin, und außerdem tat er das immer, wenn er einzuschlafen drohte. »Frau Dr. Nüsslein-Vögele, gehört zum nihilistischen Wahn auch die délire d’énormité?« Von der hatte er beim Klinikaufenthalt seiner Mutter gehört.
»Ja natürlich. Das klassische Beispiel dafür ist, dass ein Kranker es nicht wagt, auf die Toilette zu gehen, weil er fürchtet, mit seinen Fäkalien die ganze Stadt zu überschwemmen und alle Bewohner dadurch zu Tode kommen. Mit der délire d’énormité zusammenhängend, aber das genaue Gegenteil davon, ist die Mikromanie, bei der sich die Betroffenen körperlich ganz klein fühlen, so klein wie ein Maiskorn, das die Hühner wegpicken.«
»Diese Mikromanie wünsche ich Helmut Schmidt!«, kam es aus den hinteren Reihen, und es wurde noch eine sehr launige Lehrveranstaltung.
An deren Ende packte Björn Görke seinen Notizblock in seine Umhängetasche und machte sich von der Habelschwerdter Allee auf zum U-Bahnhof Thielplatz. Bis zum Boxhagener Platz, in dessen Nähe er in einer WG wohnte, brauchte er rund eine Stunde, also fast genauso lange, wie man mit dem ICE vom Bahnhof Berlin-Südkreuz bis zum Leipziger Hauptbahnhof unterwegs war. Krass! Wahnsinn! Seine »Weltreise« begann also am Thielplatz, den es eigentlich gar nicht gab, und die Uni forderte immer wieder, die Station »FU Berlin« zu nennen, doch die Bedenkenträger in den zuständigen Behörden hatten dies bislang immer abgelehnt. Einmal, weil sie sich in ihrer Trägheit gestört fühlten, zum Zweiten, weil ihnen dies nur irreführend zu sein schien, da einzelne Institute der Freien Universität in der Nähe ganz anderer Bahnhöfe lagen. Gleichviel, die U3 hielt am nicht vorhandenen Platz und brachte ihn zum Nollendorfplatz, wo bis zur Warschauer Straße in die U12 umzusteigen war. Weiter ging es mit der Metrotram M 10 und dem Bus 240. Da bei der BVG niemand streikte, gelangte er in der eingeplanten Zeit ans Ziel. Im angesagten Boxhagener Kiez hatten sie in einem ziemlich vergammelten Seitenflügel der Boxhagener Straße eine bezahlbare Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche und Toilette gefunden. Neben dem Klingelknopf klebte ein Zettel mit drei Namen: BJÖRN GÖRKE, PAULINE GROSSMANN und DIETMAR MENZ. Pauline, Lini, war Björns feste Freundin, mit der er sich auch das eine Zimmer teilte, während das andere von einem werdenden Förster belegt war, der schon lange vor ihnen hier eingezogen war. Bei ihnen hing an der Zimmertür das Schild BJÖRN & LINI und bei Menz ARGENTINISCHES ZIMMER. Das war keine Selbstironie, sondern Paulines Idee, die Lehrerin war, Sport und Englisch, und auf folgende Assoziationskette gekommen war: Ein Messie war eine Person mit einem schweren Defizit in der Fähigkeit, die eigene Wohnung ordentlich zu halten und die Alltagsaufgaben zu organisieren, Lionel Messi war argentinischer Nationalspieler und oftmals weltbester Fußballer des Jahres – das Zimmer eines Messies war also ein argentinisches Zimmer.
Björn Görke war zu sehr Psychologe, um nicht zu wissen, dass dem Messie-Syndrom zumeist ernsthafte seelische Störungen zugrunde lagen, und er hatte daher viel Verständnis für Menz, aber was der sich manchmal leistete, das ging ihm doch über die berühmte Hutschnur und löste gelinde Wutanfälle aus. Wie in dieser Sekunde, als er die gemeinschaftliche Toilette betrat und geradezu zurückprallte, so bestialisch stank es. Die Ursache war schnell gefunden: Menz hatte eine Kotsäule von elefantösen Ausmaßen in die Kotschüssel gesetzt, aber zu spülen vergessen. Ohne das nun selber zu tun und das Fenster aufzureißen, stürzte Björn Görke zum argentinischen Zimmer und hämmerte mit der Faust gegen die Tür.
»Dietmar, du Bundesobersau, kommst du mal bitte raus und spülst in der Toilette!«
Keine Reaktion, Stille.
Björn Görke erschrak. Sofort schossen ihm Horrorgedanken durch den Kopf: Herzinfarkt, Schlaganfall, bei Menz im Kopf ist ein Aneurysma geplatzt! Dann gewann der Verstand die Oberhand: Quatsch, der ist bloß nicht zu Hause! So einleuchtend das war, Björn Görke wäre dennoch ins Messie-Zimmer getreten und hätte nachgesehen, doch in diesem Augenblick wurde die Wohnungstür aufgeschlossen, und er zuckte zurück, denn er wusste, dass Dietmar Menz es nicht gern hatte, wenn man in seinem Zimmer herumstöberte.
Aber es war nicht der etwas eigenartige WG-Genosse, der in den Flur trat, sondern Pauline.
»Oh, I have you surprised at a burglary!«, rief sie.
Björn Görke sah sie fragend an, denn sein Englisch war very limited, wie er selbst von sich sagte.
»Burglary gleich Einbruch«, half sie ihm auf die Sprünge. »Görke, setzen! Fünf!«
»Danke, Frau Dr. Grossmann-Görke. Ich wollte nur nachsehen, ob mit Messie-Menz alles in Ordnung ist. Manchmal hat er einen etwas präsuizidalen Eindruck auf mich gemacht.«
Pauline lachte. »Ja, der Herr wird ihn heimgeholt haben mit dem Lasso?«
»Wie?«
»Na er wird sich aufgehängt haben!«
Björn Görke sah sie tadelnd an. »Damit spaßt man nicht.«
Sie hatte es nicht gern, wenn er versuchte, ihr Verhalten zu reglementieren, und so setzte sie noch einen drauf und sang: »Hang down your head, Tom Dooley …«
»Komm, es reicht! Wir müssen uns wirklich mehr um ihn kümmern, denn er ist ein armes Schwein.«
»Wer: Tom Dooley? Klar: Poor boy, you’re bound to die.«
»Quatsch, der Dietmar Menz. Das lässt mir keine Ruhe, ich seh’ jetzt doch mal nach.«
Damit drückte er dessen Zimmertür auf. Auf mancher Müllhalde sah es ordentlicher aus. Menz wohnte seit zwei Jahren hier und hatte in dieser Zeit nichts auf den Müll geworfen, was sich an alten Kleidungsstücken, Flyern, Wurfsendungen, Zeitungen, Verpackungsmaterialien und Krimskrams angehäuft hatte.
»Hier ist er aber nicht«, musste Björn Görke feststellen, nachdem er auch die Bettdecke hochgehoben hatte.
Da entdeckte Pauline auf dem kleinen runden Tisch inmitten der dort angehäuften Speisereste, Teller und Tassen einen DIN-A4-Bogen. Die etwas ungelenken Buchstaben deuteten darauf hin, dass Dietmar Menz ihn mit der Hand geschrieben hatte. Sie riss das Blatt hoch, und dann überflogen beide das, was ganz offensichtlich ein Abschiedsbrief war:
Hallo Björn & Pauline,
sucht nicht nach mir. Ich bin ein so kleines Licht und so ein loser, dass sich das nicht lohnt. Was soll ich auf dieser Welt, ich bin nur ein Irrtum und keiner braucht mich. Ich verurteile mich hiermit selbst zum Tode durch die Guillotine. Die Räder eines U-Bahnzuges werden mir den Kopf vom Rumpf trennen. Dietmar
Sie standen da, als agierten sie in einem Film und der Regisseur hätte »Freeze!« gerufen. Nur langsam lösten sie sich aus ihrer Schockstarre.
*
Der U-Bahnhof Samariterstraße, gelegen an der Strecke Alexanderplatz – Hönow, der U5 also, hatte eine ganz besondere Geschichte. Eröffnet 1930, war er zu DDR-Zeiten mit 18 großflächigen Gemälden geschmückt worden, auf denen die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und ihrer führenden Partei, der KPD bzw. SED, dargestellt war. Nach der Wende hatte man das alles entfernt und Kinder und Jugendliche die smaragdgrün gekachelten Wände neu gestalten lassen. Irgendwann stellte man den ganzen Bahnhof unter Denkmalschutz, und während alle anderen Stationen der U5 nach der Jahrtausendwende saniert und neu gestaltet worden waren, hatte man Samariterstraße weitestgehend in ihren Ursprungszustand zurück versetzt. Für die links-autonome Szene war die Station zur Pilgerstätte geworden, seit hier in der Vorhalle am 21. November 1992 der Antifaschist Silvio Meier von Neonazis ermordet worden war. Die an dieser Stelle angebrachte Gedenktafel war im Laufe der Zeit mehrmals gestohlen, aber immer wieder ersetzt worden.
Von der Boxhagener, Ecke Colbestraße zum U-Bahnhof Samariterstraße lief man auf direktem Wege keine zehn Minuten, aber Menz machte immer wieder Umwege, denn so fest er entschlossen war, sich dort vor den einfahrenden Zug zu werfen, so unsagbare Angst hatte er davor. Aber es gab für ihn keinen anderen Weg mehr. Wie in Trance eilte er durch die Straßen. Scharnweber-, Finow-, Oder-, Jung-, Weser-, Kinzigstraße, wieder die Scharnweberstraße, diesmal aber die andere Richtung entlang bis zur Mainzer Straße. Die führte zur Frankfurter Allee, und unter der lag der U-Bahnhof Samariterstraße. Menz blieb stehen. Er dachte daran, dass im Mittelalter diejenigen, die geköpft, gehängt oder gevierteilt werden sollten, von Bütteln und Knechten zur Richtstätte geschleift wurden, er aber musste sich aus eigener Kraft und eigenem Willen dorthin begeben. Und an beidem hatte es ihm sein Leben lang gefehlt. Er blieb stehen und begann, sich halblaut zu beschimpfen.
»Du Weichei! Du Affenarsch! Du Zombie! Du Waschlappen! Du Lutscher! Du Fickfehler!«
Er hasste sich selbst immer mehr und hatte schließlich nur noch den einen Wunsch, dass endlich alles vorbei sei.
»Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!«, rief er, als er den Eingang zum U-Bahnhof vor Augen hatte. »Auf zur Reise in die Ewigkeit!«
Er rannte zum Bahnsteig hinunter. Hoffentlich kam der nächste Zug schon in wenigen Sekunden. Ja, er sah seine Lichter schon hinten im Tunnel aufblitzen. Mit ein paar schnellen Schritten war er an der Bahnsteigkante angekommen. Niemand konnte etwas von seiner Absicht ahnen, niemand war da, ihn noch aufzuhalten. Das Letzte, was er las, war eine Aufforderung, die man vor Jahrzehnten mit schwarzen Lettern sauber an die grüne Wand geschrieben hatte:
Benutzen sie bitte auch die hinteren Wagen, -----> denn sie sind schwächer besetzt!
Da war der Zug heran.
Und – Sprung!
*
Björn Görke und Pauline stiegen am Bahnhof Lichtenberg aus der U-Bahn, um über die Siegfried- zur Fanningerstraße zu gelangen. Dort lag das OZK, das Oskar-Ziethen-Krankenhaus.
»Wieso Oskar Zieten?«, fragte Björn Görke scheinbar verwundert. »Der Mann hieß doch Hans Joachim mit Vornamen, und außerdem war er adlig. Und warum benennt man ein Krankenhaus nach einem General? Wahrscheinlich, weil er dafür gesorgt hat, dass durch sein Wirken so viele Patienten angefallen sind, Tote und Verwundete, und dadurch Geld in die Kassen gekommen ist.«
Pauline gab sich als strenge Lehrerin. »Björn, du redest wirr. Oskar Ziethen war der erste Bürgermeister der Stadt Lichtenberg.« Weil sie ihren Freund kannte, hatte sie das vorher gegoogelt.
»Ich finde den anderen Zieten besser«, maulte Björn Görke. »Schließlich war er einer der berühmtesten Reitergeneräle und ein enger Vertrauter Friedrich des Großen.«
»Friedrich II. von Preußen«, korrigierte ihn Pauline, die aus der Ex-DDR kam, wo man großen Wert auf diesen kleinen Unterschied gelegt hatte.
Sie traten in die neue Empfangshalle des OKZ und fragten nach Dietmar Menz. Nach einem schnellen Blick auf den Bildschirm bekamen sie seine Zimmernummer genannt und machten sich auf den Weg durch die Stationen. Endlich standen sie an seinem Bett. An der linken Hand trug er einen dicken Verband, und an seiner Stirn war eine Platzwunde getackert und geklebt worden.
»Du Armer!«, rief Pauline und umarmte ihn.
Björn Görke mimte einen Jugendlichen mit Migrationshintergrund. »Ey, Alter, schwör mir, Wallah, dass du nie wieder gehst U-Bahn! Sonst isch mach dich Messer!«
Menz quittierte das mit einem gequälten Lächeln.
Pauline liebte das Sachliche und erklärte Menz, was geschehen war. »Wir haben deinen Abschiedsbrief gefunden, und da hat Björn geistesgegenwärtig die Leitstelle der U-Bahn angerufen, und die haben per Funk die U-Bahnfahrer angewiesen, ganz langsam in die Bahnhöfe einzufahren, die bei uns in der Nähe liegen. So konnte der Fahrer in dem Zug, vor den du dich geworfen hast, noch rechtzeitig abbremsen. Ja, du hast Björn dein Leben zu verdanken, weil er so schnell geschaltet hat. Hätte er bei der Polizei und der Feuerwehr angerufen, dann …«
Menz drehte sich weg. »Ich habe Björn nichts zu verdanken, ich verfluche ihn nur! Ich habe alles so satt!«
»Jaja«, sagte Björn Görke. »Shakespeare, 66. Sonnet: Tir’d with all these, for restful death I cry …«
Menz begann, deutlicher zu berlinern. »Watt heißt’n dit? Kannste det ooch uff Deutsch sajen?«
»Sicher: All dessen müd, nach Rast im Tod ich schrei.«
»Ja, da ist wat Wahret dran …«
»Klar, James Joyce sagt ja auch: Nur Gott ist größer als Shakespeare.«
Jetzt kam Menz ein wenig aus seiner depressiven Schleife heraus. »Ich würde noch Messie und Neymar dazu zählen.«
Björn Görke freute sich, den WG-Genossen ein wenig aufgeheitert zu haben. »Was singen sie immer: Fußball ist unser Leben! Da hast du’s.«
Pauline setzte sich auf die Bettkante und versuchte sich als Psychotherapeutin. »Dietmar, nun erzähl’ uns doch mal, warum du so verzweifelt warst.«
Menz tat es und hatte sein bisheriges Leben so deutlich vor Augen, als hätte jemand einen Dokumentarfilm darüber gedreht.
Beginn der RÜCKBLENDE.