Hans-Jürgen Rusch
Die Erben der Wende
Kriminalroman
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Erbenscharade (2015), Gekapert (2013) Bremen und umzu (2012), Neptunopfer (2011), Gegenwende (2010)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
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1. Auflage 2017
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – HM Sewcz
ISBN 978-3-8392-5332-8
Impressum
Inhalt
Charaktere
Abkürzungen/Synonyme
Einige Worte vorab
1 – Nachts auf dem Friedhof
2 – Potemkinsche Dörfer
3 – In verschiedenen Welten
4 – Der Musterknabe aus Stralsund
5 – Ausgestoßen
6 – »Sie reden von einem Putsch?«
7 – Bürgerforum
8 – Warum um Poschmann einen Bogen machen?
9 – Der dienstbare Geist
10 – Kann die Volkssolidarität helfen?
11 – Die Mutigen vom Rügendamm
12 – Was plant der Krisenstab?
13 – Existiert doch ein Testament?
14 – Lebendes Schutzschild
15 – Der Verräter verachtet die Verräter
16 – Verfolgungsjagd
17 – Das Operationsgebiet in Augenschein nehmen
Eine Woche später
18 – Keine Hängematte
19 – Wo wohnt Tauber?
20 – Der Einschreibebrief
21 – Eine Schnapsidee
Fünf Wochen später
22 – »Wie viel verlangen Sie?«
»Wer zu spät kommt, …«
Aufgeführt sind die wichtigsten Charaktere mit ihrem Alter.
Brandstätter, Erich (58): Minister in der DDR-Regierung
Bräsig, Holger (34): Lokalreporter bei der Ostseezeitung
Freese, Arthur (61): ehemaliger Fischer, im Ruhestand
Kessler, Katja-Marie (30): Protagonistin; arbeitslos, Hobby-Erbenforscherin
Kessler, Michael (35): Ehemann von Katja; Abteilungsleiter
Moltner, Frieder (34): Oberleutnant der Kriminalpolizei in Stralsund
Olbert, Franz († 87): Rentner, ehemaliger Opern-/Operettensänger
Poschmann, Bernd (42): Rechtsanwalt/Notar beim Nachlassgericht
Schwarz, Peter (42): Landschaftsgärtner auf dem städtischen Friedhof
Schürle, Alexander (30): Sekretär des Rates des Kreises
Viktor (45): Abteilungsleiter einer Sondereinheit im Sicherheitsdienst
Abkürzungen und Synonyme aus der DDR, die im täglichen Sprachgebrauch benutzt wurden.
ABV: Abschnittsbevollmächtigter; Polizeioffizier in Wohngebieten
Adlershof: Synonym des DDR-Fernsehens, das in dem Berliner Stadtteil gleichen Namens lag
Alu-Chips: abwertend für DDR-Mark; abgeleitet von den Aluminium-Münzen
Bundis: landläufig gebrauchte Kurzform für Bundesbürger
DEFA: (Deutsche Film AG), staatliche Filmgesellschaft der DDR
Freunde: umgangssprachliche Bezeichnung für alle Sowjetbürger
Glasnost: die beiden Schlagworte Glasnost und Perestroika kennzeichnen die Reformpolitik von Gorbatschow nach mehr Offenheit/Transparenz der Regierungspolitik und zur Umgestaltung
Grenzer: Angehöriger der Grenztruppen, der an der Mauer Dienst tut
Hohenschönhausen: Untersuchungsgefängnis im gleichnamigen Berliner Stadtteil
Interhotel: Hotel gehobener Klasse; vorrangig für ausländische Gäste, für überteuerte Preise aber auch DDR-Bürgern zugänglich
Joint Venture: ein von zwei Parteien geführtes Unternehmen; geplante Rechtsform für Gemeinschaftsunternehmen zwischen Ost und West
viertel/dreiviertel: Uhrzeitangabe für viertel nach bzw. viertel vor
Volksmarine: Seestreitkräfte der DDR
VPKA: Volkpolizeikreisamt – Behörde, die die polizeiliche Arbeit in einem Landkreis koordinierte
Liebe Leser, mit diesem Buch halten Sie einen Kriminalroman in Händen, dessen Handlung auf einem kontrafaktischen Szenario beruht.
Kontrafaktisches Szenario? Was ist das?
Sicherlich kennen Sie Was-wäre-wenn-Romane!
Solche Bücher, die in einer Ungeschehenen Vergangenheit spielen, haben seit jeher Autoren und Leser gereizt. Und so bin ich mit dieser meiner Kriminalgeschichte auch der unwiderstehlichen Versuchung erlegen.
Mit dem 07. Oktober 1989 – die DDR feierte ihren letzten Jahrestag – entfernt sich mein Plot von der realen Vergangenheit, nimmt einen Umweg, und kehrt am 09. November 1989 – am Tag des Mauerfalls – in die tatsächliche Historie zurück. Die kleine Skizze verdeutlicht die Abweichung, die ich mir als Grundlage der Romanhandlung ausgedacht habe:
Nun aber Schluss den Vorbemerkungen! Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Entdecken einer unbekannten Vergangenheit und beim Rätseln um die Lösung des spannenden Kriminalfalls.
Ihr Hans-Jürgen Rusch
Sonntag, der 08.10.1989
»Blödes Sauwetter!«
Nervtötender Nieselregen und grässlicher Wind verleideten mir die Wartezeit. Ich schüttelte mich, kreiste mit den Armen, aber die Gänsehaut ließ sich nicht vertreiben. Ich schlug den Kragen meines Anoraks hoch und zog dessen Kapuze tiefer in die Stirn. Das lichte Laubwerk der Kastanie über mir schützte schon lange nicht mehr vor der Nässe. Ich steckte die Hände bis zum Anschlag in die Taschen und stapfte missmutig hin und her.
Für diesen Sonntagabend hatte ich mir den unwirtlichsten Platz ausgesucht, der sich denken ließ. Eigentlich müsste ich zu Hause Rundfunk und Fernsehen verfolgen, weil in Berlin die Republik auf den Kopf gestellt wurde. Gestern die Rede von Gorbi und heute Honeckers Rücktritt erschütterten das Land in seinen Grundfesten; selbst wenn ich nur in der Lokalredaktion der Ostseezeitung hier in Stralsund meine Brötchen verdiente, wollte ich am Ball bleiben – eine Superstory war noch immer der beste Wegbereiter nach oben.
Und genau deswegen schlug ich mir jetzt an diesem unwirtlichen Ort, direkt vor dem Haupteingang des Zentralfriedhofs, die Zeit um die Ohren. Wäre mir doch bloß dieser vermaledeite Telefonanruf erspart geblieben. Inge, unsere Redaktionssekretärin, hatte mich gerade eben vor Feierabend erwischt: eine »besorgte Bürgerin« wolle mich sprechen, nur mich. Am liebsten wäre ich abgehauen, in meine telefonlose Wohnung geflüchtet, um dem ewigen Klingeln zu entkommen, das mich den ganzen Tag über genervt hatte. Unsere Redaktion war bereits am frühen Morgen des Sonntags vollständig besetzt gewesen, nachdem Gorbatschow am Vortag eine sensationelle Rede während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag gehalten und seinen Sieben-Punkte-Plan verkündet hatte. Eigentlich hatten wir die politische Sensation diskutieren und gemeinsam die Neuigkeiten aus Berlin verfolgen wollen, aber wir waren nicht dazu gekommen – unentwegt hatte das Telefon geklingelt, hatten uns die Bürger mit Fragen bombardiert: Wann können wir in den Westen reisen? Welche Veränderungen wird es in der Staatsführung geben? Wann ersetzt die D-Mark unsere Alu-Chips? Und als schließlich gegen Mittag die Rücktritte von Honecker als Partei- und Stoph als Regierungschef bekannt wurden, waren wir in der Flut nerviger Anfragen untergegangen.
Und am Ende erreichte mich auch noch der Anruf dieser »besorgten Bürgerin«: Ein populärer Politiker der Kreisverwaltung werde sich zu nachtschlafender Zeit am Zentralfriedhof mit einem Helfershelfer treffen, lautete die Botschaft der Frau. Die Verachtung ob derartiger Zeitgenossen war aus ihrer Stimme deutlich herauszuhören. Solchen Leuten, forderte sie, müsse die Presse auf die Spur kommen; ganz besonders jetzt, wo auch bei uns Glasnost und Perestroika einziehen würden. Wer denn wen treffe?, hatte ich wissen wollen. Das sehe ich, wenn ich hinfahre. Nein, ihren Namen verrate die »besorgte Bürgerin« ebenso wenig – solcherart Wachsamkeit koste einen heutzutage schnell mal Arbeitsplatz und Gesundheit. Mir hatte die Frage nach den konkreten Erwartungen der Frau auf der Zunge gelegen, da hatte sie schon aufgelegt. Ich verachtete anonyme Hinweise, ignorierte sie meistens, doch die Aussicht auf eine Enthüllungsstory hatte mich dennoch bei diesem saumäßigen Wetter hierherfahren lassen.
So langsam könnte jemand kommen; die Uhr ging bereits auf elf. Eine Viertelstunde wartete ich noch, aber dann war Schluss. Ich lief in Richtung der nächstgelegenen Straßenlaterne und holte mein Notizbuch heraus. Die Ereignisse der vergangenen 30 Stunden dürften bei uns in der Redaktion einiges an Arbeit verursachen – mal sehen, wie der Chef die Aufgaben verteilte; mir blieben bestimmt nur unbedeutende Brosamen. Wäre schon hilfreich für mich, wenn diese nächtliche Spähaktion einen lohnenswerten Ansatz für eine Story böte. Ich schaute erneut auf die Uhr: zehn nach elf! Die »besorgte Bürgerin« hatte sich wohl geirrt oder den Mund zu voll genommen. Anstatt hier draußen herumzuhängen und mir eine ordentliche Erkältung an den Hals zu holen, könnte ich daheim zwei Stunden Nachtschicht dranhängen. Meine Aufzeichnungen lieferten genug Material für einen schönen Kommentar. Lag der Text morgen auf dem Schreibtisch des Chefs, musste der handfeste Gründe aufbieten, um meine Arbeit abzulehnen.
Ich steckte das Notizbuch ein und lief zur Straße, wo mein Trabi stand. Beim Einsteigen entdeckte ich einen Lada Niva, der aus Richtung Innenstadt kam. Den Wagen kannte ich doch. Der Fahrer hielt einige Meter vor dem Eingang des Zentralfriedhofs auf der anderen Straßenseite. Ich hastete um meinen Trabi herum und duckte mich. Die schummrige Straßenbeleuchtung spendete genügend Licht, sodass ich den Mann erkennen konnte, der aus seinem Lada ausstieg: Alexander Schürle. Der smarte 30-Jährige zählte zu den beliebtesten Politikern in Stralsund und im gesamten Umland bis hinauf nach Rügen. Als Sekretär des Rates des Kreises, und damit als rechte Hand des Landrats, machte er sich praktisch sämtliche Bürgersorgen zu Eigen. Es gab keinen Brennpunkt in der Stadt und im Landkreis, bei dem Schürle nicht auftauchte. Und folglich berichtete die Ostseezeitung jede Woche mehrfach über den Strahlemann. Was die Ankündigung der »besorgten Bürgerin« bezüglich des populären Politikers betraf, hatte sie recht behalten.
Schürle spannte einen Regenschirm auf, überquerte die Straße und lief auf das Eingangstor zu. Ich fragte mich, ob er bei diesem nächtlichen Besuch auf dem Friedhof einen seiner teuren Maßanzüge trug. Seine dunklen Schuhe, die im Licht der Straßenbeleuchtung blitzten, würden wohl dreckig werden. Die Popularität des Sekretärs beruhte auch auf der erlesenen Kleidung, die er stets zur Schau stellte. Selbst wenn man ihn am Sonntagnachmittag auf dem Sportplatz als Zuschauer eines Ligaspiels von Vorwärts Stralsund traf, trug er einen modernen Anzug, mit dem er anschließend getrost ins Theater hätte gehen können. Jetzt verbarg ein dunkler Regenmantel Schürles Garderobe. Gerade öffnete er das schwere Eisentor und verschwand auf dem Gelände des Zentralfriedhofs. Besaß eigentlich jeder Politiker einen Schlüssel?, fragte ich mich, während ich dem späten Besucher folgte.
Der Hauptweg lag in völligem Dunkel. Deutlich hörte ich das Klacken von Schritten auf dem Straßenpflaster vor mir. Ich bewegte mich mehr am Rand, wo Moos und Gras meine Tritte dämpften. Schürle lief sehr schnell, als fürchtete er einen Überfall und wollte schnellstmöglich den unwirtlichen Ort verlassen. Bereits nach kurzer Zeit trat mir ob der Rennerei Schweiß auf die Stirn. Irgendwann musste doch die Halle für die Trauerfeiern auftauchen, die in der Mitte des Friedhofs lag. Kurz darauf schimmerten tatsächlich zwei gelblichrote Lichter durch den Regenschleier, die den Gebäudekomplex ankündigen dürften. Ich beschleunigte meine Schritte, um zu Schürle aufzuschließen, bestimmt traf er seinen Partner irgendwo da vorn. Besser konnte man sich kaum verstecken, mitten in einer verregneten Nacht, auf einem Friedhof, in einer dunklen Mauernische.
Plötzlich verstummten die Geräusche vor mir – kein Tappen von Schuhen auf dem Pflaster und auch kein Rascheln. Ich lief zu der Wand, die mir am nächsten lag, und tastete mich dort entlang bis zur Mauerecke, wo ich zu meiner Erleichterung unverständliches Gemurmel vernahm. Ich drückte den Rücken an den rauen Putz und neigte den Kopf in die Richtung, wo gesprochen wurde:
»Einen blöderen Zeitpunkt für das Treffen konntest du wohl nicht wählen!«, schimpfte Schürle.
»Du hetzt doch tagsüber von Termin zu Termin und bist nie zu sprechen«, entgegnete eine männliche Stimme, die mir unbekannt vorkam.
»In stürmischen Zeiten habe ich als Politiker eben alle Hände voll zu tun. Ich muss auch gleich wieder ins Büro zurück«, erklärte Schürle mit dem Unterton eines gehetzten Promis. »Was willst du?«
»Mir wurde zugetragen, du setzt dich ab? In Richtung Berlin?«, entgegnete der andere.
Verzweifelt überlegte ich, ob mir dessen Stimme vielleicht doch irgendwo schon begegnet war. Aber ich hatte keine Idee, wo ich Schürles Gesprächspartner hinstecken sollte. Und um die Ecke der Gebäudemauer zu spähen, war mir zu gefährlich. Wenn die mich erwischten, reichte ein Anruf des Kreissekretärs beim Chefredakteur der Ostseezeitung und ich war meinen Job los; der Alte hatte mich sowieso schon auf dem Kieker.
»Ich? Nach Berlin? Wer behauptet das?« Schürle klang genervt, wie ein Ehemann, den die teure Gattin der Untreue bezichtigte.
»Also stimmt es doch.«
»Ja und?« Schürle schien bemüht, in dem Gespräch Oberwasser zu gewinnen. »In der Hauptstadt brauchen die gegenwärtig neue und fähige Köpfe.«
»Na toll! Und was wird aus mir? Was wird aus der Karriere, die du mir versprochen hast?« In der Stimme des Unbekannten lag zunehmende Verzweiflung. »Nimm mich mit!«
»Spinnst du? Wie soll das gehen? Meinst du, ich kann in Berlin in Begleitung einer Horde von Leuten auftauchen?«
»Aber hier in der Provinz war ich dir gut genug.«
Ich befürchtete, der Fremde fing jeden Moment an zu heulen. »Für dich habe ich mir stets ein Bein ausgerissen. Das ging nur, weil ich meinen eigentlichen Job auf die leichte Schulter nahm.«
»Ich habe dich nie gezwungen, deine Arbeit zu vernachlässigen«, erwiderte Schürle schnoddrig. »Außerdem habe ich dich gut bezahlt.«
Mir lief förmlich das Wasser im Mund zusammen; entspann sich hier eine Seite-eins-Story, mit unserem Polit-Promi in der Hauptrolle? Hoffentlich konnte ich mir den Inhalt der »Plauderei« merken.
»Das Geld gebe ich zurück.«
Schürle gluckste vor Vergnügen. »Wovon? Von den paar Piepen, die du jeden Monat einstreichst?« Es trat eine kurze Pause ein – er schien zu überlegen. »Pass auf: Ich zahle dir vorerst die vereinbarten Raten weiter, und wenn ich mich in Berlin eingelebt habe, kommst du hinterher.«
Jetzt lachte der andere mit höhnischer Stimme. »Du holst mich nach? Du willst mich abhängen. Ich schlage Folgendes vor: Du gibst mir meine Berichte zurück, legst 5.000 Märker obendrauf und wir vergessen alles.«
»Vergiss es!«, prustete Schürle los. »Und anschließend lieferst du mich ans Messer. Nein, nein! Die Belege für deine ›Unterstützung‹ bleiben bei mir unter Verschluss. Dann kommst du wenigstens nicht auf dumme Gedanken.«
»Du Schweinehund!«
Hektisches Getrappel und die unverkennbaren Geräusche von Handgreiflichkeiten bestimmten plötzlich das Geschehen hinter der Hausecke.
»Spinnst du?«, fluchte Schürle. »Lass mich gefälligst los!«
»Ich will meine Unterlagen zurück!«, schnaufte der andere.
Das unsichtbare Gerangel ergänzte jetzt leises Stöhnen.
»Mir reicht’s!«, wetterte Schürle. Seinen Worten folgte lautes Poltern und ein kurzer Schmerzensschrei. Dann tauchte der Rücken des Sekretärs auf.
Erschrocken flüchtete ich hinter die nächste Ecke.
»Wenn du wieder bei klarem Verstand bist, können wir weiterreden«, fertigte Schürle den Unbekannten ab. »Bis dahin, hab dich wohl. Und solltest du eine unüberlegte Aktion starten, vielleicht irgendwo meine Wechselabsichten verlauten lassen, springst du über die Klinge – deine Dienstgeheimnisse hast du mir schließlich regelrecht aufgedrängt.«
»Ach ja? Da kann ich nur lachen.« Die heisere Stimme des Fremden kam von unten, er musste am Boden liegen. »Dein Geld habe ich ordentlich auf mein Konto eingezahlt, jeden Monat. Was meinst du, wie ich den Nebenverdienst erkläre?«
»Du Schwachkopf!«, höhnte Schürle. »Das wäre dein Untergang. Ich habe einflussreiche Freunde, die mich aus der Schusslinie nehmen, jetzt, wo ich gebraucht werde. Überleg dir gut, welche Dummheiten du anstellst. Also, hab dich wohl.«
Unvermittelt entfernten sich Schritte vom Gebäude. Im Schutz der Dunkelheit riskierte ich einen flüchtigen Blick um die Ecke: Schürle lief den Weg zurück, den er vorhin gekommen war.
Ihm zu folgen, konnte gefährlich werden, der Fremde steckte noch irgendwo. Wenn der auf Vergeltung sann, seinem »Geschäftspartner« folgte und mich dabei erwischte, geriet ich womöglich zwischen die Fronten. Ich wagte mich neuerlich kurz vor, lugte zum Schauplatz der Auseinandersetzung, entdeckte aber niemanden. Und jetzt? Während ich mein weiteres Vorgehen bedachte, knirschten Schritte. Wenig später sah ich einen dunklen Schatten in Richtung Hauptweg davonschleichen. Erkennen konnte ich nur seine stattliche und bullige Figur. Wie Schürle den bestimmt einen Kopf größeren und 30 Kilogramm schwereren Gegner von den Füßen geholt hatte, hätte ich gern gesehen.
Gerade schickte ich mich an, dem Fremden zu folgen, da verfiel der in einen scharfen Laufschritt und verschwand unter den Bäumen. Knöpfte der sich Kumpel Schürle doch noch vor? Den Kampfhähnen wollte ich keineswegs über den Weg laufen – ich bekam schon heraus, welcher Freund Schürle Dienstgeheimnisse verraten hatte.
Ich verließ mein Versteck und lief zu der Stelle, an der die Männer miteinander gesprochen hatten. Im funzligen Schein einer der beiden Lampen, die ich vorhin gesehen hatte, leuchtete etwas Helles auf der Erde. Ich bückte mich und hielt einen viereckigen Taschenspiegel in der Hand. Das Fundstück zierten nur wenige Regentropfen und es war kaum verschmutzt; eben so, als läge es erst Minuten da. Den Spiegel musste der Fremde verloren haben, als Schürle ihn unsanft auf den Boden befördert hatte. Mit Sicherheit hafteten dem Ding Fingerabdrücke des Eigentümers an. Mal sehen, ob mir die eines Tages weiterhelfen konnten. Ich holte ein Papiertaschentuch hervor und wickelte meine Beute vorsichtig ein.
Montag, der 09.10.1989
»Also, Viktor, der Heini von der Westpresse gibt keine Ruhe.« Der Ärger des Ministers stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Wir gehen da jetzt raus, und ich erzähle dem einige Allgemeinplätze zum Sieben-Punkte-Plan des Genossen Gorbatschow.«
Viktor nickte.
»Sie halten sich abseits, sehen aber zu, dass Ihr Körpermikrofon das Interview aufzeichnet. Wir müssen hinterher feststellen können, was ich wirklich gesagt habe. Zupfe ich mir am Ohr, holen Sie mich da weg – irgendeine dringende Angelegenheit.« Minister Brandstätter lief zur Tür, die nach draußen in das Foyer führte. »Alles klar?«
»Selbstverständlich.« Viktor nickte und folgte dem schwergewichtigen Politiker, der seit Jahrzehnten eine entscheidende Rolle in der SED-Elite spielte.
Der Heini von der Westpresse entpuppte sich als ein vielleicht 30-jähriger Bursche, den ein Kameramann und eine junge Frau begleiteten. Brandstätter wandte sich der Gruppe zu, bewahrte aber eine augenfällige Distanz und übersah beflissentlich die Hand, die der Reporter ihm zur Begrüßung entgegenstreckte.
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, strahlte der Minister in Kamera und Mikrofon. »Obwohl schon alles über den Sieben-Punkte-Plan vom Generalsekretär der KPdSU geschrieben wurde, will ich Ihnen gern noch einmal die Schwerpunkte erläutern.«
Viktor stand schräg hinter dem Presseteam und behielt Brandstätter im Auge. Der lächelte zwar unablässig, fühlte sich aber offensichtlich unwohl in seiner Haut. Viktor fragte in der Überwachungszentrale nach, ob die das Gespräch aufzeichneten, was die Genossen bejahten.
Im Wechsel von Frage und Antwort erläuterte der Minister den vorgestern verkündeten Sieben-Punkte-Plan: Dass alle neuen Parteien und Gruppen zugelassen werden, wie es der erste Schwerpunkt vorsehe, sei eine Selbstverständlichkeit, schließlich müsse die Opposition eine stärkere Rolle im Land spielen. Die Änderung der Verfassung, um das Machtmonopol der SED aufzuheben, sei ebenfalls ein Gebot der Stunde.
Viktor kannte Erich Brandstätter seit vielen Jahren und merkte sehr wohl, dass dem strammen Parteikader gerade das zweite Element des Gorbatschow-Plans wenig behagte. Würden die angekündigten Konsequenzen wirklich umgesetzt, dürfte der Mann in Kürze den Job und somit Macht und Einfluss verlieren.
Das Abhalten von freien, gleichen und geheimen Wahlen zur Volkskammer im kommenden Mai folge zwangsläufig aus den ersten beiden Punkten, so Brandstätter weiter in seinen Erläuterungen. Bereits in den nächsten Wochen werde die Regierung unter Hochdruck ein Reisegesetz ausarbeiten, entsprechend Gorbatschows vierter Forderung. Garantiere die Staatsführung den Menschen uneingeschränkte Reisen in alle Welt, sei die gegenwärtige Hauptforderung des Volkes erfüllt.
Wenn Viktor das Interview so verfolgte, gewann er mehr und mehr den Eindruck, Brandstätter müsse ein Aktionsprogramm von Bundeskanzler Kohl verteidigen. Die theaterreife Vorstellung seines Chefs weckte Viktors Verdacht, die SED-Spitze stehe in keiner Weise hinter der verkündeten Politik einer Wende hin zu Glasnost und Perestroika. Jetzt musste der Minister aber tapfer durchhalten und wenigstens die drei noch fehlenden Schwerpunkte abhandeln:
Uneingeschränkte Pressefreiheit und die Zulassung neuer Medien, so Brandstätter, sei ihm schon immer eine Herzensangelegenheit gewesen. Darüber hinaus messe die Staatsführung der Gründung privatwirtschaftlicher Unternehmen eine große Bedeutung zu. Dieser Schritt trage wesentlich zur Überwindung der Mangelwirtschaft bei. Auf dieser Basis werde eine konvertierbare DDR-Mark erreicht, wie sie der siebente Schwerpunkt des Gorbatschow-Programms vorsehe. Damit stehe einem dynamisch wachsenden Export der Produkte aus einer prosperierenden DDR-Wirtschaft nichts mehr im Wege.
War da ein heimlicher Seufzer beim Minister zu erkennen, überlegte Viktor, den Sieben-Punkte-Plan endlich abgehandelt zu haben?
»Vielen Dank für die Zusammenfassung«, erklärte der Reporter. »Das Umschwenken Ihrer Regierung auf die Politik des Kreml-Chefs kam sehr überraschend?«
Aua!, schoss es Viktor durch den Kopf, als habe ihn ein Insekt gestochen. Das böse Wort, das mit Kreml… anfing und mit …chef aufhörte, galt in den Fluren der SED-Mächtigen als Ausdruck westlicher Dekadenz. Benutzte ein Fußsoldat den Begriff, konnte das schnell zu einer fristlosen Kündigung führen. Erstaunlicherweise verzog Brandstätter hier und jetzt keine Miene.
»Für die Öffentlichkeit kam unsere Einigung vielleicht überraschend, aber wir …«
»Wurden Sie unter Druck gesetzt?«, unterbrach der Reporter den Interviewgast.
Damit war der Mann wohl zu weit gegangen, das Gesicht des Ministers verriet seinen Ärger. »Behauptet das jemand?«, fragte er kühl, als hätte der Heini mit dem Mikrofon die Kompetenz des Regierungsmitglieds angezweifelt. »Wenn ja, sollten Sie den fragen.«
»Die Leute hecheln halt den Gerüchten hinterher. Ich biete Ihnen die Gelegenheit, möglichen Intriganten das Handwerk zu legen.«
Brandstätter zupfte sich am Ohr. Viktor reagierte augenblicklich und trat seitlich an die Gruppe heran. »Entschuldigen Sie, Genosse Minister, in Ihrem Büro erwartet Sie ein Anruf aus Moskau.«
Brandstätter lächelte. »Bitte entschuldigen Sie mich. Gerade in diesen Tagen gilt es, alle möglichen Themen zwischen den sowjetischen Genossen und uns zu besprechen, aber gewiss keine ›Erpressungen‹.« Er nickte dem Fernsehteam kurz zu und lief dann in Richtung der Tür, durch die sie vorhin das Foyer betreten hatten. Viktor folgte ihm. Als sie sich weit genug entfernt hatten und der Reporter unmöglich noch etwas hören konnte, blubberte der gewichtige SED-Mächtige: »Die Medienheinis aus dem Westen machen einen guten Job, weil sie munter drauflosfragen können. Hält diese Masche auch bei uns Einzug, müsste für unsereiner aber ebenso die Kandare der Partei wegfallen.« Der Minister machte eine Geste, als spucke er auf den Boden. »Na ja, vergessen Sie’s, Viktor. Vielen Dank so weit, ich brauche Sie nicht mehr. Bis morgen.«
Viktor blieb zurück. Die Episode eben würde er mit seinen Leuten am Abend besprechen.
Die sechs Kameraden saßen in der hintersten Ecke einer Kneipe im Zentrum von Berlin. In der Vorwoche hatten sie den Tisch als Kegelfreunde aus Rostock reservieren lassen. Aber die Kegelbrüder waren keine Kegelbrüder – es handelte sich um den Kommandeur Viktor und seine fünf Gruppenleiter. Insgesamt dienten 21 Männer und 9 Frauen in der Sondereinheit, die dem Ministerrat zugeordnet war und für Spezialaufgaben der Aufklärung, der gedeckten Absicherung hochrangiger Tagungen und für den Personenschutz eingesetzt wurde. Viktor und die ihm direkt unterstellten Gruppenleiter trugen Tarnnamen, die aus Buchstabieralphabeten entlehnt waren: Demzufolge leitete Anton die erste, Bruno die zweite, Charlie die dritte, Daniel die vierte und Emil die fünfte Gruppe, während Viktor für die gesamte Mannschaft verantwortlich zeichnete. Deren Mitglieder arbeiteten verdeckt, saßen in verschiedenen Polizei- und Armeedienststellen oder dienten in den Reihen des Geheimdienstes. Öffentlich traten sie niemals als Angehörige von Viktors Einheit in Erscheinung, die für Außenstehende und Dienstvorgesetzte eben lediglich sechs Mitglieder zählte. Viktor kannte als Einziger die Klarnamen seiner ihm direkt unterstellten Männer.
Jetzt saßen sie abseits des sonstigen Besucherverkehrs in dieser Kneipe, die ausschließlich Bus-Reisegruppen frequentierten, und besprachen die wichtigsten Details ihrer Arbeit. Viktor hielt es für die beste Tarnung, wenn man in aller Öffentlichkeit tagte.
Nachdem sie die Routine-Schwerpunkte der nächsten zwei Wochen in der gebotenen Kürze mit eingeübter Geheimsprache besprochen hatten, erwähnte Viktor sein Erlebnis vom Nachmittag. Er schilderte in wenigen Worten das Interview und folgerte dann: »Bei Glasnost und Perestroika deutscher Prägung handelt es sich um Potemkinsche Dörfer.«
»Wie? Weißt du etwas oder vermutest du das nur?«, wollte Charlie wissen.
»Die müssen doch mit den Freunden gemeinsame Sache machen! Honecker verzichtet doch niemals aus Spaß auf seinen Posten«, gab Emil zu bedenken.
»Wer weiß, womit Moskau unsere Häuptlinge ›überzeugt‹ hat«, schwenkte Anton auf Viktors Linie ein.
Die Männer begannen, untereinander zu diskutieren.
Viktor hob beschwichtigend die Hände. »Schluss jetzt! Spekulationen helfen niemandem weiter.« Er grinste, trank einen Schluck Bier und zwinkerte den Männern am Tisch zu: »Wir klären den Fall; und sollte irgendetwas stinken, bekommen wir das heraus.«