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Für Erik Range,

weil du so vielen so viel gibst.

#LaFamilia

Kapitel 1

Vignette

»Bin da-ha!«, rufe ich in die WG. »Wer noch?« Als Kind habe ich Die Dinos geliebt. Eine schöne Zeit war das; lange vor … ihm.

»Niemand!«, antwortet meine beste Freundin Emilie aus der Küche. Ein lautes Geräusch, als würde man Steine durch einen Schredder jagen, verrät mir, dass sie wieder mit ihrer nagelneuen Küchenmaschine spielt. Das Ding macht mindestens so viel Lärm wie ein ganzer Hauptbahnhof, aber es fabriziert leckere Dinge wie Überraschungseikakao und deshalb akzeptiere ich seine Anwesenheit großzügig.

»Hach, Thermi, ich liebe dich!«, seufzt Emilie, während ich meine Schlüssel aufhänge und aus den High Heels steige. Ich hasse diese Dinger, aber es gibt nichts, was einen Fuß schicker aussehen lässt als diese Halsbrecher. Lachend stecke ich meinen Kopf in die Küche, wo Emilie in einem oversized Shirt, das ihr über die nackte Schulter fällt, und Leggins barfuß auf den schwarzen Fliesen steht und mit einem Löffel eine ziemlich ekelhaft aussehende Pampe aus der Küchenmaschine schaufelt. Das Zeug riecht allerdings gut, das muss ich dieser mysteriösen Masse lassen, die aussieht, als hätte man sie vor einem Club vom Boden gekratzt.

»Hey, Sexy!«, begrüßt mich Emilie. Ihre rosa gefärbten Haare hat sie zu einem Messy Bun auf dem Kopf zusammengebunden. Anders als ich ist sie ein absoluter Paradiesvogel und ich liebe sie genau so, wie sie ist: kreativ, verrückt und voller Leben.

»Was machst du da?«, frage ich und mustere grinsend den grünlichen Matsch.

»Das ist selbst gemachte gekörnte Brühe. Aus frischem Gemüse.« Ein Hoch auf Emmis Vater, der das alles sponsert.

»Oha.« Mehr fällt mir dazu nicht ein. »Ist Jean da?«

»Nein, das Senftöpfchen ist einkaufen.«

Ich rolle mit den Augen und gehe durch die Diele zu meinem Zimmer. Jean ist unser Mitbewohner und er ist – wie er selbst sagt – schw², also schwul und schwarz. Auch wenn Letzteres nicht politisch korrekt ist, aber ich denke, da er sich selbst so bezeichnet, ist es in Ordnung. Den Spitznamen Senftöpfchen hat ihm Emilie verpasst. Sie meint, unser lieber Jean sei wie ein Schälchen voll Senf, jeder darf mal sein Würstchen reinstecken. Darüber möchte ich allerdings nicht näher nachdenken.

»O verdammt, Helena«, schimpfe ich mich selbst, als ich die Tür zu meinem Zimmer öffne. Ich habe heute Morgen meine alten Zeugnisse im Schrank gesucht und dabei ein ziemliches Chaos hinterlassen. Ich habe sogar meine Schublade mit Unterhosen geleert und jetzt gucke ich wahrhaftig dumm aus der Wäsche. Ich hatte es eilig und alles auf den letzten Drücker zusammengesucht. So bin ich nun mal, ständig schiebe ich alles bis zur letzten Minute auf. Ich hätte gestern nicht den ganzen Tag auf YouTube hängen sollen …

»Oooooh!«, kommt es aus der Küche. »Helena! Ich habe das Bewerbungsgespräch vergessen.« Patschend nähern sich zierliche nackte Füße auf dem Laminat, dann erklingt ein dreckiges Lachen. »Hähä, viel Spaß beim Aufräumen.«

»Das ist nichts gegen Jeans Zimmer«, verteidige ich mich. Dort herrscht nur noch Chaos und man benötigt einen Kompass und Koordinaten, um etwas zu finden.

»Ja«, seufzt Emilie und stemmt eine Hand in die Hüfte. »Er ist eindeutig die Schlampe in diesen vier Wänden.« Sie stupst mich an. »Also: Wie war es?«

»Der Personalsachbearbeiter war sehr angetan von mir«, erzähle ich, »und er wird eine Empfehlung aussprechen.«

»Yes, Baby«, jubelt Emilie und hält mir eine Hand zum Einschlagen hin. Ich gebe ihr High five und kicke die Klamotten auf dem Boden mit dem Fuß beiseite. Vielleicht tritt sich das ja fest? Wäre ein hübsches Muster auf dem Laminat …

»Das schreit nach einem Festessen«, meint meine beste Freundin.

»Lass mich raten, du schmeißt dafür wieder dieses Ding an?« Ich setze mich an meinen Schreibtisch und massiere kurz meine Füße.

»Thermi und ich machen das schon«, verspricht Emilie im Gehen und ruft dann aus der Diele: »Wirst schon sehen!«

Das Teil hat ihren Vater über tausend Euro gekostet. Da ist es wahrscheinlich angebracht, dass sie es auch benutzt.

»Du wirst das Ding noch heiraten«, rufe ich ihr nach und höre, dass die Haustür aufgeht.

»Sobald es einen Dildoaufsatz für Thermi gibt, sofort!«, gluckst Emilie und ich höre Jeans tiefe Lache.

»Ich komme wohl genau richtig«, meint er. Seine Schlüssel landen mit einem Klappern auf der Ablage in der Diele. Ich bin die Einzige, die ihre ordentlich aufhängt. Dennoch mag ich das Geräusch; es ist vertraut und gibt mir Sicherheit – da sind zu viele Dinge in meiner Vergangenheit passiert, die mir Angst gemacht haben.

»Hey, Senftöpfchen! Wie war die Uni?«, fragt Emilie in normalem Ton.

Verdammt, ist diese Wohnung hellhörig. Ich weiß schon, warum ich mich zum Lesen immer in die Ruheoase in meiner Bücherei flüchte. Wenn ich lese, muss es absolut still um mich sein.

»Wie immer«, antwortet Jean. »Ich glaube nur, dass mir dieses Mal vor Langeweile das Gesicht eingeschlafen ist.«

»Du sollst dort was lernen!«, mische ich mich von meinem Zimmer aus ein.

»Ach komm schon, Helena.« Jean klingt amüsiert. »Nirgends kann man besser schlafen als in der Uni.«

Emilie lacht. Ich lehne mich im Stuhl zurück und rolle mit den Augen. Leider kann ich das nicht beurteilen.

»Helena, o Helena«, seufzt Jean und ich höre, dass er zu mir kommt. »Wie war dein Tag, meine griechische Göttin?« Er steht im Türrahmen und zieht die Augenbrauen hoch. »Jemanden kennengelernt?«

Seit dem letzten und einzigen One-Night-Stand in meinem Leben, habe ich nie wieder einen Mann mitgebracht, was meinen Mitbewohnern Sorgen bereitet. Aber ich bin für so etwas nicht gemacht. Eine Nacht und auf Wiedersehen … Nein, das bin nicht ich. Aber dieser One-Night-Stand war trotzdem das Beste, was ich machen konnte. Es brachte mich dazu, ihn ein Stück weit zu vergessen. Ihn, der mich fast vier Jahre meines Lebens gekostet hat und wegen dem ich bis heute keine Ausbildung gemacht habe.

»Nur zu eurer Info«, sage ich und grinse dabei. »Ich habe spanisches Blut, kein griechisches.«

Jean lächelt mich schelmisch an. Seine Jeans sitzt tief auf den Hüften und sein weißes Shirt ist so eng, dass es keinen Raum mehr für Fantasie lässt.

»Du kleine Latina.«

»Latina nennt man Frauen …«

»… aus Südamerika.« Er lacht und seine weißen Zähne blitzen auf. »Ich weiß.«

»Ich wollte nur sichergehen, dass du dein letztes bisschen Hirn nicht im Darkroom vergessen hast«, sage ich mit einem Zwinkern.

Jean übergeht meinen Kommentar und lässt sich auf meinem Bett nieder. »Wie war das Bewerbungsgespräch?«

»Ich habe gute Chancen«, berichte ich auch ihm.

»Das ist klasse, Helena.« Die Freude in seinen Augen lässt mich schmunzeln. Jean ist einer der wenigen Menschen, die sich aus ganzem Herzen mit anderen freuen können. Vielleicht ist das so, weil er mit sich selbst im Reinen ist. Wozu also neidisch sein? Jean ist mit sich und seiner Existenz zufrieden. Ein beneidenswerter Zustand.

»Wann erfährst du, ob du da anfangen kannst?«

»Morgen Nachmittag vermutlich.« Ich atme tief durch, um die aufkeimende Aufregung in meinem Bauch im Zaum zu halten. Es funktioniert nicht ganz. Ich nehme meine Ohrringe ab und lege sie in die Schmuckschatulle, die ich samt Inhalt von meiner Oma geerbt habe. Mit einem geübten Griff löse ich die hochgesteckten Haare an meinem Hinterkopf. Ein Meer aus schwarzen Locken fällt über meine Schultern und meinen Rücken bis zum Po. Ich bin eigentlich gar keine High-Heels-und-Hochsteckfrisuren-Frau, aber wenn man eine Ausbildungsstelle zur Rechtsanwaltsgehilfin haben will, muss man sich schon ein wenig ins Zeug legen. Vielleicht sollte ich mich doch in einem anderen Berufsfeld umsehen? Ach, ich bin im Moment einfach nur planlos. Und pleite. P², wie Jean sagen würde.

»Wenn ich nicht schwul wäre …«, seufzt dieser und betrachtet mich lächelnd.

»Ich fühle mich geehrt.« Ich grinse ihn an.

»Du bist das Urbild der Frau mit diesen großen Augen und dann erst der Busen und die geschwungene Hüfte, wow!«

»Äh, danke«, stammele ich. »Sag doch gleich, dass ich einen fetten Hintern habe.« Mit einem Ruck schlüpfe ich aus dem engen kurzen Rock, den mir meine Mutter zugeschickt hat, und knöpfe die Bluse auf. Den Kontakt zu meinen Eltern habe ich fast komplett abgebrochen. Nach dem, was er mit meinem Bruder gemacht hat, schäme ich mich viel zu sehr, um mehr als einmal im Monat dort anzurufen …

Jean betrachtet mich. »Den hättest du, wenn dein Busen das nicht ausgleichen würde. So hast du eine wunderschöne Sanduhrfigur.«

»Ich trage Kleidergröße zweiundvierzig. Gelte ich damit in der Welt da draußen nicht schon als fett?«, füge ich fragend hinzu und schlüpfe in ein Shirt und meine Jogginghose. Besser. Viel besser! Ich mag meine Figur. Vielleicht ein paar Gramm weniger am Hintern und die Haut an meinen Oberschenkeln könnte auch … ach, egal.

»Du bist heiß, Süße. Lass dir von niemandem was Anderes einreden.«

Jean traue ich alles zu, aber lügen würde er nie. Jemand, der so in sich ruht wie er, hat das auch gar nicht nötig. Also nehme ich das Kompliment an und lächele die leichte Röte in meinem Gesicht einfach weg. Jean erhebt sich und sieht zu dem Klamottenhaufen.

»Mist, ich färbe auf dich ab«, stellt er nachdenklich fest.

»Aaaah!«, kommt es aus der Küche, bevor ich auf seinen Einwurf antworten kann. Jean und ich rennen beide wie von der Tarantel gestochen los. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Emilie schon mit dem Kopf in ihrer Küchenmaschine stecken. Doch sie steht nur da und starrt auf ihr Smartphone. Um sie herum liegen überall Lebensmittel verstreut, als hätte sich der Kühlschrank in den Raum übergeben.

»Aiden ist auf Twitch online!«, informiert sie uns alarmiert, woraufhin wir ins ALEP, ins Aiden-Live-Emergency-Program, übergehen. Während Jean die Xbox anschmeißt, schließe ich die Haustür ab, stelle sämtliche Telefone und die Klingel ab und Emilie sorgt für Snacks und Getränke. Zwei Minuten später sitzen wir hinter zugezogenen Vorhängen auf der Couch und warten darauf, dass sich Twitch öffnet und wir Aiden live beim Spielen zusehen können. Als sein Logo oben rechts auf dem Fernseher erscheint, geht ein Seufzen durch das Wohnzimmer.

Aiden ist ein YouTuber, der in seinem Kanal Let's Plays online stellt. In denen spielt er die verschiedensten PC- und Konsolenspiele und hat sich damit in das Herz von Millionen von Menschen geschlichen. Auch in meins. Was aber nicht nur an seinem Können als Gamer liegt, sondern viel mehr an seinem unvergleichlichen Charakter und seiner atemberaubend schönen Stimme. Wie Aiden aussieht, weiß niemand. Er zeigt sich nie, doch das warme Timbre, das mit jedem seiner Worte zu mir herüberschwingt, hat ein wundervolles Bild in meinem Kopf gezeichnet. Ich kann es gar nicht genau beschreiben. Aiden spielt nicht oft live auf Twitch. Normalerweise nimmt er die Spiele und seine Moderation auf und stellt sie auf YouTube. Deswegen lassen wir auch immer sofort alles stehen und liegen, wenn wir die E-Mail von Twitch bekommen, dass er on air ist. Ich kann nicht erklären, was mich so sehr an ihm fasziniert. Er ist einfach einer dieser Menschen, die man bewundern muss. Egal wie scheiße mein Tag war, er schafft es mit seinen Videos immer wieder, mir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Nicht selten lasse ich ihn zum Einschlafen auf meinem Handy laufen. Man fühlt sich ihm sofort verbunden und zu wissen, was er in genau diesem Moment tut, ist einfach großartig. Irgendwie beruhigend. So verrückt es auch klingt, ich fühle mich ihm plötzlich nah, auch wenn Aiden nicht viel über sich preisgibt. Was ich allerdings mit Sicherheit weiß, ist, dass seine warme Stimme und seine Menschlichkeit mich durch eine harte Zeit gebracht haben. Egal wie schlimm es war, Aiden war da, baute mich auf und so konnte ich mich immer wieder aufs Neue aufrappeln und weitermachen. Das geht nicht nur mir so. Viele Leute schreiben in den Kommentaren, dass sie ihn wie einen Freund in ihr tägliches Leben integriert haben. Nicht wenige planen sogar ihre Abende nach den Veröffentlichungen seiner Videos, lassen ihn beim Frühstück oder Abendessen laufen und werden nicht müde, seine Community mit Leben zu füllen. Man trifft sich online und live mit anderen Aiden-Fans, schwärmt, diskutiert und hat einfach nur Spaß mit Gleichgesinnten. Dieses Wir-Gefühl ist ziemlich stark und Aiden ist der Dreh- und Angelpunkt. Ohne ihn hätte ich viele Menschen nicht getroffen; Emilie und Jean zum Beispiel. Ich habe sie auf Facebook in einer Gruppe kennengelernt, die besonders die Horrorgame-Let's-Plays von Aiden diskutiert. Er vereint Menschen; einfach nur damit, dass er Computerspiele spielt. Ich glaube, das sagt viel über ihn aus. Wäre die Welt doch nur voller Aidens …

In dem Moment sagt er etwas und seine Stimme bringt mich zum Lächeln. Man hört an seinem Akzent, dass er aus Amerika kommt. Aus dem Mittleren Westen, hat er mal erzählt. Er ist vierundzwanzig und damit zwei Jahre älter als ich. Mehr ist nicht bekannt, auch nicht, wo in Deutschland er lebt. Oder ob er eine Freundin hat. Oder einen Freund. Jean hofft ja inständig, dass er schwul ist. Allerdings kann man das fast sicher ausschließen, denn Aiden gibt gern mal Kommentare zu heißen Frauen in Spielen ab. Gerade spricht er mit den Leuten im Chat und ich kann sehen, wie sich Emilie neben mir auf ihrem Smartphone einloggt, um mit zu chatten.

»Kannst du schwimmen?«, liest er vor und lacht dabei leise. Allein das bringt meinen Bauch dazu, sich mit Schmetterlingen zu füllen. Wenn Aiden lacht, ist alles Schlechte, was einem an diesem Tag passiert ist, für kurze Zeit vergessen. Emilie legt ihren Kopf an meine Schulter und ich lehne mich an sie.

»Und wie ich schwimmen kann!«, antwortet Aiden. »Wie ein Haifisch! Oder sagen wir wie ein Lachs. Vielleicht auch eher wie eine Quietscheente.«

Wir lachen.

»Ich kann schwimmen, also darfst du mich gern mal ins Becken stoßen«, sabbert Emilie förmlich neben mir und Jean verschluckt sich fast an der Cola, die er gerade an die Lippen geführt hat.

»Ich hab's gleich«, meint Aiden, während er darauf wartet, dass das Spiel startet. »Nein, ich spiele kein Minecraft, Leute.« Im Chat wird dieses Spiel immer wieder gefordert. Vielleicht weil Aiden selbst so viel Spaß daran hat. Es ist so mitreißend, dass man sich automatisch mit ihm freut, wenn er etwas gebaut hat, das ihm gefällt.

»Immer diese Minecraft-Fans«, jammert Emilie, die das Spiel hasst und es sich nur wegen Aiden anschauen würde.

»Ich dachte, wir spielen heute mal ein paar Indie-Horrorgames.« Aiden seufzt, weil eine Fehlermeldung erscheint. »Läuft ja prima. Fehlermeldungen sind gruseliger als jede Irrenanstalt bei Nacht. Das beste Spiel der Welt. Was sagt ihr?« Er ist einen kurzen Moment still, vermutlich liest er den Chat. Dann lacht er. »Du brauchst keine Angst zu haben, Serafina23, ich bin bei dir.«

»Oooooooooh!«, kreischt Emilie.

Moment mal, das ist ihr Nickname!

»Aiden hat mit dir gesprochen!«, ruft Jean.

»Ich meinte mit ›Ich habe Angst‹ eigentlich, dass es bestimmt doch Minecraft wird. Aber so ist es auch okay.« Sie seufzt verträumt. »Du darfst gern auf mich aufpassen, Aiden.«

»Du Glücksschwein.« Ich lache, doch im Gegensatz zu Jean bin ich bei so was sofort neidisch.

»Alter Verwalter«, staunt mein Mitbewohner verblüfft, »über fünfzehntausend Leute gucken gerade zu und der Chat scrollt schwindelerregend schnell durch, aber er liest DEINEN Kommentar.«

»Ich sag doch, sie ist ein Glücksschwein.«

Emilie zwickt mich in die Seite und wir lachen, doch dann hören wir den Grund, warum wir immer abschließen, wenn Aiden läuft. Unsere Mitbewohnerin Jessica kommt nach Hause. Zum Glück kommt sie am Anfang des Livestreams und wir müssen noch nichts hastig aufräumen. Jessica ist ein wenig pingelig, was ja nicht verkehrt ist, aber sie hasst Aiden und Computerspiele und auch sonst eigentlich so ziemlich alles.

»O nein«, höre ich sie sagen. »Ihr guckt wieder, wie der Typ irgendeinen Scheiß spielt.« Jessica seufzt.

»Er heißt Aiden!«, informiert Emilie sie in einem fröhlichen Singsang.

»Schön für euch, ich bin in meinem Zimmer.« Wir hören Schritte und dann ihre Tür.

»Sobald sie abends zu Hause ist, wird es hier immer so ungemütlich«, meint Jean und ich stimme ihm zu. Aber bevor Jessica uns die Laune verderben kann, rettet Aiden den Abend, indem er zu singen beginnt. Auf ihn ist eben Verlass. Vergessen ist Jessica und ihre eisige Art, stattdessen hören wir alle mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht zu, wie Aiden eine Ode an Fehlermeldungen verfasst.

»Hahaha, Hashtag-Gespamme im Chat«, freut sich Emilie, die ihr Handy immer im Auge hat.

»Was denn? #Aiden4DSDS?«, rät Jean.

»Nein, #MeineOhrenbluten.«

»Echt jetzt?«, frage ich amüsiert und sehe auf das Display ihres Smartphones. Sie hat nicht gelogen und ich muss lachen. Aiden ebenfalls.

»Ihr seid alle Kulturbanausen«, schimpft Aiden mit einem Schmunzeln in der Stimme. »Ihr würdet gute Musik nicht mal erkennen, wenn man sie euch mit einem Q-tip ins Ohr drückt. Passt auf, ich trete beim Eurovision Song Contest an.« Seine Interpretation von Lena Meyer-Landruts Satellite zerstört jedoch jede Hoffnung auf Verwirklichung dieses Traums. »Ich liebe ihren merkwürdigen Akzent«, merkt er zwischen zwei Zeilen des Liedes an und macht sie in dem Punkt zugegebenermaßen ziemlich gut nach. »Like a total jerk, I try to start this game for you …«

»#LassmichdeinQtipsein«, gluckst Emilie.

»Das ist irgendwie ekelhaft«, stelle ich fest, was Jean zum Lachen bringt. Doch dann startet plötzlich das sehnsüchtig erwartete Spiel und man hört Aiden erleichtert seufzen.

»Ich dachte schon, wir müssen heute Solitär spielen«, meint er, »und das kann ich überhaupt nicht. Da stecke ich immer irgendwann fest und muss von vorn anfangen.«

»Aiden würde ich auch beim Erbsenzählen zusehen.« Jean nimmt sich eine Tüte Chips und legt die Füße auf den Tisch. Auch ich stelle mich innerlich auf einen gruselig-lustigen Abend ein. Bisher hat Aiden uns nie enttäuscht.

Das Menü des Spiels ist finster und ein umgekehrtes Kreuz zuckt wie bei einer Bildstörung immer wieder über den Schirm.

»Ach ja«, meint Aiden und seine Stimme ist dabei etwas höher geworden. »Wer hatte die doofe Idee, ein Horrorgame zu zocken?« Trotzdem sieht man den Mauszeiger tapfer auf »Spiel starten« klicken.

Ein düsteres, bedrückendes Intro beginnt und Aiden schweigt, lässt es uns ohne Störung ansehen, bis sein Charakter schließlich verletzt und blutend in einer Gasse aufwacht, nur ein Handy in der Hand. Es ist Nacht und man weiß schon intuitiv, dass hier irgendwas nicht stimmt.

»In Ordnung, wir wurden also nach einem Besuch in einer Bar von etwas Düsterem – und wenn ihr mich fragt, Nicht-Menschlichem – angefallen«, hören wir Aiden mit leiser, dunkler Stimme sprechen und ich bekomme Gänsehaut. Er atmet tief durch. »Checken wir erst mal das Handy.« Der Charakter hebt das Gerät hoch und das Display wird angezeigt. Es ist zwei Uhr nachts und wir haben keine neue Nachricht. Mehr gibt das Handy nicht preis. »Gut, dann gehen wir aus der Gasse raus … Oh, verdammt, wir hinken und irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir gar nicht so allein sind, wie es aussehen mag.«

Emmi und ich klammern uns aneinander fest. Wir verfolgen, wie Aiden eine in tiefdunkler Nacht versunkene Stadt erkundet, in der sich kein Mensch aufzuhalten scheint. Strom existiert, die Straßenlampen brennen oder flackern zumindest, doch niemand scheint dort zu sein. Aiden will gerade langsam um eine Ecke schleichen, damit kein Jumpscare – also eine plötzliche Attacke oder das simple Auftauchen von etwas Gruseligem – ihn erschreckt, da brummt sein Handy und Aiden gibt einen erstickten Schrei von sich.

»Holy shit!«, ruft er. »Jetzt zucke ich schon zusammen, wenn mein verdammtes Handy summt!«

Wir lachen, doch mittlerweile ist auch Jean ganz nah an mich herangerückt.

Ich sehe dich, verkündet die eingegangene SMS auf dem Display im Spiel und ein unheilvolles Dröhnen erklingt. Ich schließe die Augen und vergrabe mein Gesicht an Jeans Schulter.

»Wir sind so was von am Arsch«, meint Aiden.

***

Als ich am nächsten Morgen wach werde, sind meine Mitbewohner alle schon zur Arbeit oder in die Uni aufgebrochen. Nur ich hänge mal wieder nutzlos in der Wohnung herum. Also räume ich als Erstes mein Zimmer auf. Zur Unterhaltung mache ich Musik an, doch als ich ins Wohnzimmer komme, wo Jessica einen Zettel mit der Bitte um Säuberung hinterlassen hat, entscheide ich mich um und starte YouTube auf der Xbox. Ich lasse ein altes Let's Play von Aiden laufen. Um diese Uhrzeit hat er noch nichts Neues hochgeladen. Zum Glück macht er jedoch von den guten Spielen immer ein dreißigminütiges Best-of-Video. Das reicht genau, um das Wohnzimmer aufzuräumen. Als die Wohnung schließlich blitzt und blinkt, starre ich eine Weile auf mein Handy, doch der Typ vom Bewerbungsgespräch hat sich noch nicht gemeldet. Aus dem Briefkasten fische ich zwei Absagen und setze mich dann frustriert mit einem Kaffee in die Küche. Wieso musste ich mich damals in so einen kaputten Typen verlieben? Ich war so blind und habe nicht gesehen, dass er mich mit sich in den Abgrund riss. Immer wieder habe ich mich von ihm bequatschen lassen, habe mir Geschichten über seine schlimme Kindheit angehört und bin aus Mitleid an seiner Seite geblieben. Ich habe ihn vor aller Welt verteidigt, wenn er mal wieder einen seiner Ausraster hatte.

In meinen Augen brennt es und ich nehme schnell einen Schluck Kaffee, um die aufkeimenden Erinnerungen herunterzuspülen. Ich stelle die leere Tasse in die Spülmaschine und gehe in mein Zimmer. Aus dem Spiegel blickt mir ein rundliches Gesicht mit braunen Augen entgegen. Ja, ich sehe wirklich aus wie eine Helena. Nicht wie die, wegen der sich Heere von Männern die Köpfe eingeschlagen haben. Nein, nach der hat mich meine Mutter nur benannt., Aber immerhin sehe ich so aus, wie man sich eine Helena eben vorstellt. Dunkle Haare, südländischer Teint. Ob meine Eltern damit gerechnet haben, dass mich alle für eine Griechin halten, wenn sie mich Helena nennen? Helena Sorrento. So heißt immerhin in Deutschland nicht jeder und meine spanische Mutter kann meinen Namen nicht mal richtig aussprechen und nennt mich Elena. Ich lächele mein Spiegelbild an.

»Du siehst müde aus, ich wasche und schminke dich mal«, sage ich zu der Frau im Spiegel.

Nachdem ich mich dann auch noch angezogen habe, fühle ich mich halbwegs menschlich. Eines werde ich vermissen, wenn ich irgendwann mal einen Job habe: mittags in die Bücherei zu gehen. Um die Zeit ist es dort ganz leer und man kann ungestört lesen. Na ja, fast. Ein Mann, etwa in meinem Alter, ist auch oft da. Wir haben nie ein Wort gewechselt, trotzdem lächeln wir uns immer zur Begrüßung und Verabschiedung an. Es ist, als hätten wir jeden Mittag eine Art Lesedate. Ich mag ihn sehr gern. Er ist ein angenehmer Lesepartner und wenn er nicht da ist, fühle ich mich dort schon fast ein wenig einsam.

Als ich die Bücherei betrete, atme ich zuerst tief den Duft der Bücher ein, die dort in den heiligen Hallen lagern. Margot, die Bibliothekarin, hebt den Blick von ihrer Frauenzeitschrift und sieht mich über den Rand ihrer Brille an. Für Margots Verhältnisse ist das wirklich sagenhaft. Vergleichbar mit einem Menschen, der dich zur Begrüßung umarmt und dir ins Ohr brüllt: HALLO, DA BIST DU JA, WAS HABE ICH DICH VERMISST! Ich winke Margot zu, die daraufhin ihren Blick wieder senkt. Ja, ich finde es auch schön, dich zu sehen, denke ich und schlendere direkt zu den Liebesromanen. Mir steht der Sinn nach ein wenig Kitsch, doch einen geeigneten Roman zu finden ist nicht leicht. Bücher über Kerle, die total kaputt sind und von einer Frau gerettet werden, überschwemmen den Markt förmlich, doch so etwas kann ich beim besten Willen nicht lesen. Ich habe es nicht hinbekommen, meinen Typen zu retten, und bin gerade noch abgesprungen, bevor er mich mit in die Dunkelheit reißen konnte.

Ich schlendere am Regal entlang und bleibe bei den Büchern von Cecilia Ahern stehen, die mich bisher in Sachen Liebesromane nie enttäuscht hat. Ich finde auch einen, der ziemlich zerlesen aussieht und den ich selbst schon mal vor einigen Jahren verschlungen habe. Egal. Ich drücke das Buch wie einen Schatz an meine Brust und verschwinde in die Ruheoase. Es ist ein recht großer Raum mit einer gemütlichen Sofalandschaft. Überall stehen Blumen und eine Fensterfront flutet das Zimmer mit Sonnenlicht. Draußen sieht man einen kleinen Koiteich in einer liebevoll angelegten Parkanlage. Es ist das Paradies. Eine kleine Teeküche grenzt an die Ruheoase an, wo man sich für wenig Geld Getränke am Automaten ziehen kann. Mein Herzschlag beschleunigt sich, als meine Augen den Raum scannen. Er ist da. Mein Lesedate. Doch nicht nur er. Heute ist es in der Ruheoase richtig voll. Zuerst wundere ich mich, doch dann fällt mir ein, dass wir den ersten Mittwoch im Monat haben. Senioren-Tag. Heute darf jeder ohne Ausweis in der Bücherei lesen, wenn er Ü60 ist. Mein Lesedate bemerkt mich nicht, doch ich sehe, dass neben ihm noch ein Platz frei ist, also steuere ich direkt auf ihn zu und betrachte ihn, während ich gehe. Da er gern James Karlsson liest, habe ich ihm irgendwann mal den Namen Jamie gegeben. Er sieht zwar nicht wirklich aus wie ein schwedischer Karlsson, mit seinen dunkelbraunen Haaren und den graublauen Augen, aber ich bin auch nicht unbedingt für meine Kreativität bekannt. Jamie ist schlank und trägt oft Kapuzen-Pullover. So wie auch heute. Er hat die Schuhe ausgezogen und liegt bequem auf dem Sofa, die Kapuze seines Pullovers über den Kopf gezogen. Das macht er öfter, vermutlich weil er nicht will, dass man ihm ständig auf das Feuermal in seinem Gesicht starrt. Seine linke Wange ist von dieser Hautstörung betroffen. Das Mal des Feuers leckt förmlich um sein Auge, herunter bis zu seinem Ohr und den Nacken hinab, wo es im Saum seines Pullovers verschwindet. Ich habe mich schon oft gefragt, wie weit es nach unten geht. Jamie ist ein gut aussehender, aufregender Mann. Er hat schöne Gesichtszüge und in seinen Augen liegt etwas, das mich total anzieht. Als ich bei ihm ankomme, sehe ich, dass dort nicht so viel Platz ist, wie ich anfänglich gedacht habe. Doch er hat mich mittlerweile bemerkt. Jamie bückt sich hinunter und greift nach seinen Schuhen, um mir Platz zu machen.

»Danke«, flüstere ich, woraufhin er mich ansieht und lächelt. Über seinen Augen liegt ein Schleier. Es ist die Magie des Buches, die ihn gepackt hat. Sie erlaubt ihm zwar, mich anzugucken, aber nicht wirklich zu sehen. Ich kenne diesen Blick und er ringt mir ein kleines Schmunzeln ab.

Nein, Mann, der vom Feuer geküsst wurde, ich werde dich nicht weiter stören. Tauch wieder ab in deine Geschichte, aber ich danke dir für dieses Lächeln. Es war ehrlich und verursacht ein warmes Kribbeln.

»Gern«, antwortet er ebenfalls flüsternd, um die anderen nicht zu stören. Es ist das erste Wort, das ich aus seinem Mund höre. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Als ich neben ihm Platz nehme, bin ich plötzlich irgendwie nervös und frage mich, ob ich mich überhaupt auf mein Buch konzentrieren kann. So nah bin ich Jamie noch nie gewesen. Er riecht gut. Sicher hat er geduscht, bevor er hierhergekommen ist.

Ich öffne das Buch und halte es mir vors Gesicht, doch meine Augen ruhen auf seinen Füßen, die gerade noch in mein Blickfeld ragen. Er sitzt immer noch mit ausgestreckten Beinen auf dem Sofa … und seine Zehen zappeln ein wenig in den Socken, während er liest. Ich lächele darüber und widme mich dem Liebespaar im Buch. Die Protagonisten lernen sich kennen und vergucken sich ineinander, doch ich bin nur mit halber Aufmerksamkeit bei ihnen. Die andere Hälfte ist bei dem Mann neben mir. Jedes Mal wenn er umblättert, berührt sein Ellenbogen – oder vielmehr eine Falte seines Pullovers – meinen Arm. Ob er das extra macht?

Erinnerungen an ein anderes Buch flammen in mir auf. Vor einigen Wochen habe ich einen Erotikroman gelesen. Allein mit Jamie in der Ruheoase. Mein Kopf muss feuerrot gewesen sein, weil ich mir ständig … ja, ich gebe es zu, ich habe mir unanständige Dinge mit ihm vorgestellt. Vor meinem inneren Auge wurde ich zur Protagonistin und er zu meinem Gegenpart. Ohne dass er davon wusste, habe ich in den verschiedensten Stellungen mit ihm geschlafen.

Ich räuspere mich, weil mir etwas Spucke im Hals stecken geblieben ist. Sein Seitenblick brennt mir direkt im Gesicht. Der Schleier in seinen Augen ist verschwunden. Ob er auch von meiner Nähe abgelenkt ist? Das ist sicher Wunschdenken, aber dem gebe ich mich gern für einen Moment hin. Mit Lesen war es das jedenfalls für heute. Ich werde nicht wieder in die Geschichte finden.

Da ich keine Ahnung habe, was ich sonst tun soll, sehe ich auf mein Handy. Ein Anruf in Abwesenheit und eine Nachricht auf der Mailbox. Ich lächele Jamie zum Abschied an und stehe auf. Er scheint etwas verwirrt, weil ich schon wieder gehe, doch ich ergreife feige die Flucht nach draußen, wo ich sofort meine Mailbox abhöre.

»Hallo Frau Sorrento«, höre ich eine männliche Stimme. Es ist der Personalsachbearbeiter von gestern. Am Telefon klingen Menschen irgendwie immer anders als live. Jedenfalls hätte ich ihn nicht wiedererkannt, wenn er sich nicht vorgestellt hätte. »… deshalb haben wir uns leider für eine Mitbewerberin entschieden …« Er redet noch weiter. Sagt, dass sie mich in Erinnerung behalten, falls wieder eine Stelle frei wird. So genau höre ich nicht mehr zu, denn Enttäuschung dröhnt laut in mir. Verzweifelt lasse ich mich auf einer Parkbank vor der Bücherei nieder und atme tief durch. Du bekommst das schon hin, Helena, versuche ich mich selbst aufzubauen, doch in diesem Moment fühle ich mich wie eine Versagerin. Von allen abgelehnt zu werden ist ein Gefühl, welches ich niemandem wünsche.

***

»Die wissen ja gar nicht, was sie verpassen. Ihr Verlust!«, meint Emilie trotzig, die mir einen warmen Kakao macht. Schließlich nippt sie an ihrem und winkt die Sache ab. »Denk nicht weiter dran. Sag mir lieber, ob dein Date da gewesen ist.«

Meine Stimmung hellt sich auf. »Ja, und wir haben sogar miteinander gesprochen.«

Emilie spuckt fast ihren Kakao über den Tisch. »Und das sagst du erst jetzt?« Sie sieht auf die Uhr. »Du bist seit zehn Minuten hier und das erzählst du mir JETZT? Was hat er gesagt? Den genauen Wortlaut bitte.«

»Oh, das ist einfach.« Ich schmunzele. »Es war: Gern.«

»Ein Wort?« Emilie sieht enttäuscht aus. »Mehr nicht?«

Ich schüttele den Kopf. »Nachdem ich mich bedankt habe, weil er Platz für mich gemacht hat, flüsterte er mir ein Gern zu.«

Emilie seufzt. »Ich will ihn endlich mal sehen.«

»Er würde dir nicht gefallen.« Ich liebe meine beste Freundin, aber sie ist total oberflächlich, wenn es um Männer geht … Und eigen. Ich weiß nicht, wie sie auf Jamies Feuermal reagieren würde. Vielleicht tue ich ihr aber auch Unrecht? Egal, sie ist ohnehin in ihr Traumbild von Aiden so verliebt, dass niemand sonst eine Chance bekommen würde. Ach ja, natürlich ist da auch noch ihre Küchenmaschine … Diese Liebe kann man sogar nachlesen. In ihren Kochbüchern. Sie hat überall Herzchen reingemalt und auf einem steht sogar »Emmi loves Thermi«.

»Im Forum wird gerade darüber diskutiert, ob wir uns alle hier in Köln bei der Gamescom treffen und einen großen Lauschangriff starten«, erzählt Emilie, die kurz auf ihr Handy gesehen hat. Das tut sie nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil sie an Nomophobie leidet. Das meine ich nicht im Scherz. Emmi bekommt kalte Schweißausbrüche, wenn ihr Handy nicht in greifbarer Nähe ist.

»Verstehe ich nicht«, gebe ich zu. »Lauschangriff?« Mit gerunzelter Stirn nehme ich noch einen Schluck köstlichen Kakao.

»Na, wir wollen versuchen, ob wir dort jemanden an der Stimme als Aiden identifizieren können.«

»Wird er denn da sein?«, frage ich aufgeregt. Nicht, dass ich der Sache große Chancen zumesse. Nein, ich war schon auf der Gamescom: unmöglich. Zu viele Menschen, zu laut. Und dann ist da noch die Tatsache, dass eine Stimme live manchmal anders klingt als über ein Mikro. Man kennt das vom Telefon. Akzente sind auf einer Messe auch nicht selten und wir können nicht jeden, der auch nur ansatzweise englisch klingt, direkt als Aiden hinstellen.

»Er hat eben gepostet, dass er sich auf die Gamescom freut und jeden Tag dort sein wird.« Emilie grinst, weil sie weiß, dass sie mich am Haken hat.

»Dann werden wir auch da sein«, beschließe ich. Und wenn es nur darum geht, am selben Ort wie er zu sein. Irgendwie bekomme ich das Geld dafür schon zusammen. So ein Community-Treffen ist einfach das Beste, was es gibt. Lauter Menschen, die dasselbe lieben, die so ticken wie man selbst. Und dann noch das Wissen, dass Aiden ganz in der Nähe ist. Unbezahlbar.

»Ich wusste es.« Emilie freut sich. »Und weißt du was? Ich lade dich ein.«

»Echt?« Ich falle fast vom Stuhl vor Freude. Emilie nickt und ich springe endgültig auf und drücke sie. »Du bist die beste Freundin, die man haben kann.«

Sie erwidert den Druck meiner Arme fest. »Du hast es verdient.« An ihrer Stimme kann ich erkennen, dass sie auf ihn anspielt. Auf das Arschloch, wegen dem ich jetzt mit nichts dastehe und wegen dem mich niemand will. Emilie liest in meinem Gesicht, dass meine Laune kippt, und räuspert sich. »Sofa? Aiden?«, fragt sie mit Hoffnung in den Augen.

Ich grinse. »Aiden würde ich überall nehmen.«

Sie boxt mich sanft. »Komm, abschalten. Ich hole noch meinen Laptop und wir buchen nebenbei die Gamescom.«

»Du bist die Beste.«

»Ich weiß.«

***

Margot sieht mich nicht an, als ich in die Bücherei komme. Manchmal frage ich mich, ob sie ein unsichtbares drittes Auge hat oder ob man hier auch ohne Ausweis ein und aus gehen kann. Ich bleibe nie lange genug vorn, um das herauszufinden, sondern verschwinde immer gleich nach hinten zu den Büchern. Ich habe entschieden, mir etwas Anderes zu suchen als den Liebesroman von gestern. Mir ist eher nach etwas Gruseligem. Am besten mit viel Blut. Ich habe auch recht flott etwas gefunden – von James Karlsson. Das ist reiner Zufall, ich schwöre es. Doch leider breitet sich Enttäuschung in mir aus, als ich die Ruheoase betrete. Kein Jamie. Nur eine Frau mit tiefen Augenringen, die sich hier vermutlich vor ihren Kindern versteckt. Das verrät die Schnullerkette, die noch immer an ihrer Jeans fest geclippt ist. Ob sie die dort vergessen hat? Wie ein Modeaccessoire sieht sie jedenfalls nicht aus.

Ich setze mich ans andere Ende des Raums und ziehe die Schuhe aus. Mit angezogenen Beinen mache ich es mir auf dem Sofa bequem und schlage das Buch auf. Eigentlich ist es genau der richtige Tag für Horror; graue Regentropfen trommeln auf das Fenster in meinem Rücken. Herrlich. Jetzt hätte ich gern eine Decke, doch ich kann mich nicht mal in meine Jacke kuscheln, die tropfnass an der Garderobe am Eingang hängt. Egal, ich öffne das Buch und bin sofort in der Geschichte gefangen. Nur am Rand bekomme ich mit, dass der Regen draußen immer stärker wird und irgendwann das Licht angeht. Wegen mir hätten sie es auch auslassen können, aber vermutlich konnte Margot ihr Kreuzworträtsel nicht mehr erkennen. Als der Protagonist im Buch für einen Moment zur Ruhe kommt, lehne ich meinen Kopf zurück und schließe die Augen.

Als ich sie wieder öffne, kommt Jamie ins Zimmer. Der Regen hat ihn ganz schön erwischt, sein Pullover ist klitschnass. Er grinst mich an und geht dann zu der Frau mit der Schnullerkette. Diese sieht von ihrem Buch auf und gibt ein überraschtes Geräusch von sich. Sie erhebt sich und begrüßt ihn mit Wangenküssen. In meinem Bauch bildet sich ein Knoten. Ich nehme das Buch hoch. Da ich jetzt gar nichts mehr sehen kann, justiere ich es ein wenig nach unten. Grade rechtzeitig, um zu sehen, dass Jamie den Pullover über den Kopf zieht. Himmel … Mein Buch schießt kurzzeitig wieder hoch. In wenigen Sekunden bin ich tomatenrot geworden und das, obwohl er ein T-Shirt trägt. Ich schlucke. Das Shirt war nämlich kurz mit dem Pullover nach oben gerutscht und der flache Bauch und der kleine Glückspfad aus Haaren, den ich da im Bund der Jeans verschwinden gesehen habe, haben meinen Hormonhaushalt in Schwung gebracht. Wenn das so weitergeht, werde ich meinen Lieblingsleseplatz verlieren. In Jamies Nähe kann ich mich bald nicht mehr konzentrieren.

Ich spähe erneut über das Buch. Sein Feuermal geht definitiv tiefer. Es ist auch auf seinem linken Arm zu sehen, um den sich ein Tattoo in Form eines Drachen schlängelt. Ich verfluche den bisher nicht existenten Sommer dafür, dass nicht schon längst T-Shirts angesagt sind. Jamie hat schöne Arme. Obwohl er so schlank ist, sieht man, dass er anpacken kann. Das hat man unter den Hemden und Pullovern nicht unbedingt erkannt, denn gerade seine Hoodies sind immer gefühlt zwei Nummern zu groß.

Doch woher kennt er die Schnullerkettenfrau? Ein Paar sind sie eher nicht, denn dann hätten sie sich auf die Lippen geküsst. Vielleicht ist sie seine Schwester? Sie unterhalten sich so leise, dass ich kein Wort verstehen kann. Warum habe ich mich auch ans andere Ende des Raums gesetzt? Ich könnte heulen, das wäre die Gelegenheit gewesen, etwas über Jamie zu erfahren. Vielleicht auch seinen richtigen Namen. Langsam nervt es mich, ihn immer Jamie zu nennen. Ich würde wirklich gern wissen, wie ihn seine Mutter genannt hat, als man ihn ihr als Baby in den Arm gelegt hat.

Die Schnullerkettenfrau gibt ihm erneut zwei Wangenküsse und geht. Irritierenderweise sieht sie dabei noch einmal zu mir herüber. Ich verstecke mich hinter meinem Buch, lese aber keine Zeile. Stattdessen lausche ich mit pochendem Herzen, was im Raum geschieht. Jamie geht in die kleine Teeküche und man hört das leise Geräusch der Kaffeemaschine. Als er wieder herauskommt, nimmt er ganz in meiner Nähe Platz. Wo genau, kann ich nicht sagen, denn meine räumliche Orientierung war noch nie besonders gut.

Um meine Lage zu checken, tue ich so, als müsse ich meinen Rücken mal ausstrecken. Doch als ich das Buch herunternehme, kann ich mir nur mit größter Not ein erschrockenes Quieken verkneifen. Er sitzt fast direkt neben mir. Dort, wo noch jemand zwischen uns Platz nehmen könnte, hat er seinen Pullover und eine Laptoptasche hingelegt. Unsere Blicke treffen sich, während er seinen Kaffee trinkt. Ein Buch liegt auf seinem Schoß. Er zwinkert mir über den Rand der Tasse hinweg zu. Ich kann nicht anders, als zurückzulächeln, wofür ich mich zwei Sekunden später – wieder hinter meinem Buch versteckt – schäme. Ich muss ausgesehen haben wie ein Marzipanschweinchen.

Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass ich schon in zehn Minuten wieder gehen will, aber jetzt ist mir so gar nicht danach. Mein ganzer Körper fühlt sich an, als sei ich in Alarmbereitschaft. Mir entgeht keine von Jamies Regungen. Ich höre, wie er den Kaffee schluckt und wie er es sich auf dem Sofa bequem macht. Zum Glück habe ich kein Erotikbuch, das wäre jetzt unheimlich peinlich. Wobei er schon längst gesehen hat, dass ich die lese; nur eben nicht aus nächster Nähe.

Ich kneife verlegen die Augen zu. O Gott, was mag er wohl von mir denken? Hält er mich für eine sexuell frustrierte Arbeitslose, weil ich mittags hier herumhänge und Liebesromane lese? Moment mal, genau das bin ich doch … Am liebsten würde ich mir das Buch vor den Kopf hauen. Er kann ja nicht wissen, dass ich in der Zeit, in der andere studieren oder eine Ausbildung machen, einen total kaputten Kerl immer wieder aus der Gosse gekratzt habe, nur um mich dann von ihm schlagen zu lassen. Ich seufze. Das wird immer schlimmer. Ich war so dumm.

»Da bist du ja!«, ruft plötzlich eine vertraute Stimme. Mein ganzer Körper verkrampft sich. O nein, Emmi. Was tut sie hier? Will sie mich blamieren? Dafür brauche ich doch offensichtlich gar keine Hilfe, liebes Schicksal!

»Meine Güte, ich suche dich schon die ganze Zeit in dem miefigen Laden hier.«

Ob ich einfach so tun kann, als würde ich sie nicht kennen? Komme ich damit durch?

»Helena?«

»Dies ist der automatische Anrufbeantworter von … Hallo! Hier ist Helena, ich bin gerade in der Bücherei und da man da leise sein muss, gehe ich nicht ans Handy … Bitte hinterlassen Sie Ihre Nachricht nach dem Piepton.«

»Pieeep!«, sagt Emmi und lacht laut.

»Psssst!«, fahre ich sie an und sehe entschuldigend zu Jamie, dessen Augen amüsiert über den Rand seines Buches zu uns herüberlinsen. Das Graublau seiner Iris lässt meine Knie weich werden.

»Hey, schon klar. Ich habe deinen dezenten Hinweis durchaus verstanden. Ich habe mein Abitur schließlich nicht in Nasebohren und Doofgucken gemacht.«

»Deutsch und Kunst ist aber fast das Gleiche«, entweicht mir der Gedanke laut und ich kann Jamie hinter seinem Buch lachen hören.

»Ja, ich mag dich auch«, meint Emilie und redet weiter, ohne Luft zu holen. »Hör zu, ich habe gerade erfahren, dass Aiden schon in der Stadt sein muss. Er hat ein Bild gepostet, auf dem lauter Menschen mit Regenschirm am Dom rumrennen.«

Bitte, lieber Gott, lass Jamie nicht wissen, wer Aiden ist. Wie peinlich wäre das denn? Er soll nicht wissen, dass ich ein verdammter Nerd bin, der einem Mann nachlechzt, von dem man nicht mal weiß, wie er aussieht.

»Und was willst du jetzt tun?«, frage ich und stehe auf. Ich ziehe sie zur Seite. Zum Glück halten mich meine Puddingbeine.

»Na, wir fahren zur Domplatte! Ist doch logisch, oder?«

»Nicht dein Ernst! Er könnte schon längst wieder weg sein.« Ich sehe zum Fenster. »Bei dem Wetter bleibt doch niemand länger als nötig draußen.«

»Egal, komm, ich lade dich auf ein Eis ein.«

»Du sollst mich nicht immer einladen«, maule ich. »Langsam bekomme ich ein ganz schlechtes Gewissen.« Ich brauche dringend einen Job.

»Ach Quatsch.« Emilie spricht so laut, dass Jamie uns hören muss. Nicht dass sie brüllen würde, aber in einem Raum, wo es ansonsten still ist, ist es kein Kunststück, sie zu verstehen. Selbst wenn wir am anderen Ende wären. »Spar dein Geld lieber für den Schuber da draußen.«

»Schuber?«, frage ich irritiert. Emmi scheint es ebenfalls zu sein.

»Oh, war das nicht der Schuber von dieser Fantasy-Trilogie, die du so geil findest? Da ist so eine Olle drauf, die einen Bogen hält.«

»Das ist eine Armbrust«, sage ich wie in Trance. »Das kann nicht sein, hier werden nur gebrauchte Büchereibücher verkauft. Keine Sammlerausgaben.«

»Wenn ich es dir doch sage, das ist das Teil, das du bei Amazon so angeschmachtet hast. Du hast es mir oft genug gezeigt. Ich habe mich schon fast genötigt gefühlt, es für dich zu kaufen.« Emilie dreht eine rosa Haarsträhne um den Finger. »Also? Aiden? Eis?«

»Was kostet der Schuber?«, übergehe ich ihre Frage und laufe zurück zu meinen Schuhen und der Handtasche. Emmi folgt mir.

»Zwanzig Euro.«

»Das kann er nicht sein. Der kostet nicht nur zwanzig Euro.« Ich bin beruhigt, das sind sicher andere Bücher. Emmi muss sich getäuscht haben.

»Wenn ich es dir doch sage …«

»Sollte er das sein, fresse ich einen Besen und komme nie wieder hierher. Ich habe keine zwanzig Euro.« Jedenfalls nicht für Bücher. Wobei ich vielleicht ein paar Tage auf mein Mittagessen verzichten könnte?

»Soll ich sie dir leihen?«, fragt Emilie und ich schüttele den Kopf.

»Nein.« Ich sehe peinlich berührt zu Jamie, der hinter seinem Buch verschwunden ist. »Ich will keine Schulden haben und du weißt ja …«

»Na komm, dann gehen wir Eis essen. Vergiss die Bücher.«

Ich nicke enttäuscht und schnappe mir meine Tasche. Leider habe ich vergessen, dass ich sie geöffnet hatte und ehe ich mich versehe, landet der gesamte Inhalt vor Jamies Füßen. Er nimmt sein Buch runter, steht auf und geht fast gleichzeitig mit mir in die Knie.

»Tut mir so leid, heute ist nicht mein Tag«, fasele ich nervös vor mich hin. Ich höre ihn nur leise in sich hineinlachen. Er versucht es zu unterdrücken, während er mir hilft, Kram wie Deoroller und … Tampons … wieder in die Tasche zu befördern. Mein Gesicht muss flammend rot sein, aber verdammt … er riecht gut. Wieso duftet er nur so lecker? Ich wage einen Blick zur Seite und entdecke ein weiteres Tattoo, das in seinem Nacken unter dem T-Shirt herausschaut. Das Emblem kommt mir bekannt vor. Es ist ein Zacken, vermutlich der eines Sterns und darum sind die Strahlen einer … Sonne? Was versteckt Jamie da noch alles unter seinen Klamotten? Er sieht zu mir und erwidert meinen Blick. Seine Augen wirken freundlich und amüsiert.

»D-danke«, stammele ich grenzdebil. Sein Blick hat mich für kurze Zeit gelähmt und meinen IQ halbiert, wenn nicht sogar komplett ausgelöscht, denn ich scheine vergessen zu haben, wie man schluckt. Was gar nicht gut ist, wenn einem der Mund auf Grund seines köstlichen Dufts wässrig wird. Statt etwas zu sagen, zwinkert er mir grinsend zu und erhebt sich wieder. Bevor er sich setzen und sein Buch nehmen kann, habe ich schon meine Sachen genommen und ihm den Rücken zugekehrt. Emilie steht da wie angewurzelt und sieht mich mit großen Augen an.

»Du stehst auf ihn, oder? Ich meine, so richtig«, hakt sie nach, als wir die Ruheoase verlassen.

»Schhht!«, mache ich, auch wenn Jamie uns hier nicht mehr hören kann und Emilie zur Abwechslung mal leise gesprochen hat. Wir durchqueren die Bücherei und am Eingang sehe ich, wovon Emmi gesprochen hatte. Da steht er, der Schuber. Er ist gebraucht, sieht aber aus wie neu. Ehrfürchtig streiche ich über den Karton. Zwanzig Euro. Im Internet bekommt man den nur noch für mindestens hundert Euro.

»Ich muss zur Bank«, sage ich. Die ist zum Glück gegenüber.

»Okay«, flötet meine Freundin und geht vor.

Ich sehe noch einmal auf die Bücher. Sie rufen mich förmlich. Wer braucht schon Mittagessen? Und für irgendwas müssen die zusätzlichen Pfunde auf meinen Hüften ja gut sein.

Ich schnappe mir meine Jacke von der Garderobe und folge Emmi in den Regen. In der Bank muss ich warten, weil eine Oma vor uns ihren Pin falsch eingegeben hat und einen neuen Versuch starten muss.

»Nervös?«, fragt Emmi und sieht mich an, als halte sie mich für verrückt.

»Zwanzig Euro sind lachhaft. Ich habe Angst, dass mir jemand die Bücher wegkauft.«

»Du willst also sagen, dass nicht nur du so einen Kram liest?«

Ich rolle mit den Augen. Leuten, die nicht lesen, den Wert eines Buches zu erklären, macht ungefähr so viel Spaß, wie sich ein Messer in den Kopf zu rammen.

»Der Typ sieht süß aus«, meint Emmi und ich weiß sofort, dass sie von Jamie spricht. »Aber was hat der denn da im Gesicht?«

»Ein Feuermal.«

»Das sieht total merkwürdig aus. Wie ein Ausschlag.«

»Ist es aber nicht«, murre ich genervt von der Oma vor mir.

Emmi lacht. »Niemand sollte sich zwischen dich und deine Bücher stellen, was?«

»Niemals!«

Endlich ist die Frau fertig und als ich meine Karte reinschieben will, sehe ich, dass sie ihr Geld gar nicht mitgenommen hat. Kurz gerate ich in Versuchung, es einfach zu nehmen, denn sie geht bereits zur Tür hinaus. Verdammt. Ich rufe nach ihr und sie dreht sich um.

»Ihr Geld«, sage ich und halte ihr die Scheine hin.

»O Gott, vielen Dank, junge Frau.« Sie ist plötzlich kreidebleich geworden. »Das ist fast meine ganze Rente.« Ihre Hände zittern, als sie mir das Geld abnimmt. »Vielen lieben Dank.«

Ich nicke ihr zu und will mich schon umdrehen, als sie mir einen Zehneuroschein hinhält.

»Nehmen Sie das bitte als Dank.«

Meine Augen werden groß. »Ich … kann … nicht …«

»Doch.« Sie knüllt den Schein in meine Hand. »Es gibt nicht mehr viele ehrliche Menschen.«

Emilie und ich sehen ihr nach.

»Ist doch geil«, meint meine beste Freundin. »Somit kosten die Bücher nur noch zehn Euro.«

Ich schlucke und starre ungläubig auf das Geld in meiner Hand. Zehn Euro sind für mich verdammt viel und ich kann mein Glück kaum fassen. Schnell hole ich noch einen Zehner aus dem Automaten und jogge dann durch den Regen zurück zur Bücherei. Emmi jammernd und stöhnend hinter mir. Ich stoße die Tür auf und … möchte am liebsten losheulen. Der Schuber ist weg.

»Nein!«, rufe ich.

»Fuck«, raunt Emmi. »Das ist doch jetzt nicht wahr, oder?« Sie fährt sich über ihre nassen rosa Haare.

Ich möchte am liebsten in Tränen ausbrechen. Es war einfach zu schön, um wahr zu sein.

»Frau Sorrento?«, höre ich Margot nach mir rufen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie das schon einmal getan hätte. Traurig sehe ich zu ihr auf. Sie winkt mich zu sich herüber. Mit schwerem Herzen gehe ich zu Margot. Ich weiß gar nicht, wie sie mit Nachnamen heißt. Alle nennen sie nur beim Vornamen.

»Ja?«

Margot hebt etwas auf den Tresen.

Es. Ist. Der. Schuber.

»Haben Sie den für mich reserviert?«, frage ich verwirrt.

»Nein, den hat jemand hier für sie deponiert.« Sie schiebt die Bücher zu mir herüber. »Bitte schön.«

»Danke«, sage ich geistesabwesend.

»Da ist ein Zettel.« Emmi deutet auf ein Stück abgerissenes Papier, das zwischen Band eins und zwei steckt.

Ich kann doch nicht riskieren, dass du nicht mehr kommst ;)
Josh

»Oh«, bringe ich nur heraus, weil ich völlig überwältigt bin.

»Er mag dich anscheinend auch«, sagt Emilie und es ist nicht zu überhören, wie sehr sie sich darüber freut. Ich drücke den Schuber an mein Herz. Jetzt ist er noch viel wertvoller für mich als zuvor. Vorsichtig lege ich Joshs Zettel hinein. Ihm darf nichts passieren.

Kapitel 2