Über das Buch

Mit einprägsamen Bildern erinnert sich Peter Henisch in diesem großen Roman an jene Frau, von der er gelernt hat, was sein weiteres Leben prägen sollte: das Erzählen. 1945 hörte Paul Spielmann auf Spaziergängen durch das zerbombte Wien Geschichten von seiner Großmutter, und nun, Jahrzehnte danach, nimmt er den Faden wieder auf und sucht nach ihrer eigenen Geschichte. Peter Henisch setzt sich hier, mehr als dreißig Jahre nach »Die kleine Figur meines Vaters«, noch einmal mit seiner Familiengeschichte auseinander - ein Buch, das bleiben wird.

Peter Henisch

Eine sehr kleine Frau

Roman

Deuticke

Erster Teil

1

Es war fast Mitternacht, als ich das erste Mal an diesem Geschäft vorbeikam. In einem Lokal, in dem ich mich fehl am Platz fühlte, hatte ich ein wenig getrunken. Sollte ich nicht. Die Tabletten, die mir der Arzt verschrieben hatte, enthielten Valium. Aber eigenartigerweise fühlte ich mich nicht schläfrig, sondern wach.

Das Schaufenster war nicht beleuchtet, doch das Klavier zog meinen Blick auf sich. Dabei stand es im Hintergrund, im Vordergrund finstere Ölbilder und Stilmöbel. In der Mitte zwei Pianos, die mich nicht weiter interessierten. Aber der Flügel, den ich zuerst bloß aus den Augenwinkeln gesehen hatte, übte eine geradezu magnetische Wirkung auf mich aus.

Ich kam also genaugenommen nicht an diesem Geschäft vorbei, sondern blieb fürs erste ein paar Minuten davor hängen. Möglicherweise auch länger. Ich hatte das Gefühl, daß die Zeit anders verstrich als sonst. Auch räumlich war ich ein bißchen desorientiert. Das war meine Stadt, aber ich war lange weg gewesen.

Mir waren die Geräusche in der neuen Wohnung noch fremd. Eigentlich war es eine alte Wohnung. Eine ebenerdige Wohnung in einem alten Haus. Zwischen mir und dem Himmel war nur der Dachboden.

Ich hatte den Vertrag unterschrieben, ohne lang zu zögern. Die Wohnung war viel zu groß für mich, aber sie gefiel mir. Sie war nicht möbliert, sie war geräumig leer. Durch die hohen Türen hatte man schöne Durchblicke von Zimmer zu Zimmer.

Schaute ich aus dem Fenster, so sah ich in den Innenhof. Es gab Fenster und Türen zu zwei anderen Wohnungen, aber die Mieter waren nicht da. Trotzdem glaubte ich von irgendwoher Klaviermusik zu hören. Einige Male, als ich die Schwelle zu Schlaf und Traum schon fast überschritten hatte, holte mich ein Knarren oder Knacken, das inmitten der Stille extrem laut erschien, zurück.

Als ich endlich einschlief, muß es fast vier gewesen sein. Aber um neun war ich wieder vor dem Laden. Antiquitäten & Klaviere, stand auf dem Portal. Ständiger Ankauf von Verlassenschaften.

Geschäftszeiten Montag bis Freitag 15 bis 18 Uhr und nach telefonischer Vereinbarung. Diese Information, klein gedruckt, auf einer Visitenkarte, die innen am Schaufenster klebte, hatte ich in der Nacht übersehen. Es war mir jedoch ganz recht, daß jetzt niemand da war. So konnte ich das Klavier genauer betrachten. Zwar nach wie vor durch die Glasscheibe und aus einer Distanz von vier bis fünf Metern. Aber in Ruhe und nun immerhin bei Tageslicht. Ja, es war tatsächlich ein schwarzer Stutzflügel. Leider standen die beiden Pianos (eines der Marke Bechstein und eines der Marke Petrof) im Weg.

Wieder brauchte ich eine gewisse Zeit, um mich von der Anziehungskraft, die dieses Instrument auf mich ausübte, zu lösen. Allerdings war das bei Tag leichter als in der Nacht. Die Passanten auf dem Gehsteig und die Fahrzeuge auf der Straße verhinderten ein totales Versinken. Nach einer Weile schaffte ich es, wirklich weiterzugehen, stadteinwärts oder stadtauswärts, die Richtung war mir nicht ganz klar, aber das war egal, ich hatte ohnehin kein Ziel.

Am Nachmittag gegen vier kehrte ich zurück, nun war ein älterer Mann im Geschäft. Wahrscheinlich der Inhaber selbst, er saß über eine alte Zeitung oder ein Dokument gebeugt und las mithilfe einer Lupe. Als er seinen Blick hob und mich durch das Glas der Tür, vor der ich immer noch stand, ansah, schoß mir das Blut in den Kopf. Rasch trat ich beiseite und nahm das Mobiltelefon aus der Tasche, so, als hätte mich gerade in diesem Moment jemand angerufen.

Das Geschäft zu betreten schaffte ich erst am dritten Tag. Im Café vis-à-vis hatte ich einen doppelten Weinbrand gekippt. Ich trat ein, grüßte, und tat vorerst so, als würde ich mich für einen Schreibtisch interessieren. Ein schönes Stück, sagte der Antiquitätenhändler, aus der Verwandtschaft der Wiener Werkstätte.

Einen Schreibtisch hätte ich durchaus brauchen können. Den Klapptisch, auf dem ich vorläufig schrieb, hatte mir die Vermieterin geliehen. Das schöne Stück hier war allerdings viel zu teuer. Ich müsse noch überlegen, sagte ich, und dann versuchte ich den Eindruck zu erwecken, als hätte ich das Klavier im Hintergrund gerade erst gesehen.

Ich tat ein paar Schritte darauf zu, dann blieb ich stehen, um durchzuatmen. Tatsächlich. Es handelte sich um einen Bösendorfer. Das Holz schwarz glänzend, die Metallteile in einem etwas matt gewordenen Goldton. Die Tasten in den höheren Bereichen leicht vergilbt, eine davon ein bißchen lädiert durch einen Sprung im Elfenbein.

Die abgeschlagene Stelle an der linken Seite des Klangkörpers fand ich allerdings nicht.

Konnte es sein, daß man sie so perfekt ausgebessert hatte? Oder war die Verletzung rechts gewesen? Für einen Augenblick sah ich mich in dem ovalen Spiegel, der hinter dem Klavier an der Wand hing, und erschrak.

Keine Scheu, sagte der Antiquitätenhändler, probieren Sie nur. Dieses Instrument hat einen wunderschönen Klang.

Im Stehen schlug ich einige Töne an.

Minimalistisch. Der Mann mußte nicht merken, daß ich nicht wirklich Klavier spielen konnte.

Außerdem wollte ich mich nicht zu sehr auf dieses Klavier einlassen.

Die Ähnlichkeit war frappant. Sogar der Geruch schien zu stimmen.

Ein zartbitterer Duft zwischen schwarzer Schokolade und Uralt-Lavendel.

Kaum waren die Töne im Raum, hatte ich diesen Geruch in der Nase.

Na, sagte der Antiquitätenhändler. Klingt es nicht wirklich gut?

Ja, hätte ich beinahe gesagt, es klingt noch besser, wenn man darunter sitzt.

Doch ich besann mich und unterließ das lieber.

Ja, schön, sagte ich möglichst emotionslos und klappte den Deckel zu.

Der Antiquitätenhändler klappte ihn wieder auf — allmählich wirkte er gereizt.

Ich gab ihm auch Grund dafür: Auf dem Rückzug hätte ich beinah eine Stehlampe umgeworfen.

So passen Sie doch auf!

Entschuldigung, sagte ich.

Eine komische Figur. War das ich oder war das ein anderer?

Ohne daß ich danach gesucht hätte, fand ich einen Internetpoint. Ich setzte mich an einen der Bildschirme und mailte ein paar Zeilen. Nicht an Ruth, dazu fühlte ich mich noch nicht in der Lage. Aber an Harry, dazu fühlte ich mich verpflichtet.

Dear Harry, schrieb ich, so I am back in Vienna. After so many years it feels strange. I’ve found an apartment in one of the outlying districts. A part of the town I hardly knew before.

Maybe it’s better so. Maybe this is how things ought to be. I hope you don’t mind that I burden you with my affairs. You are not just the lawyer, I trust, but also my friend. Thank you for both, understanding and helping

Yours

Paul

Dann ging ich noch eine Weile kreuz und quer. Das Klavier aus dem Antiquitätengeschäft spukte mir nach wie vor im Kopf herum. Natürlich war dieses Klavier nicht jenes Klavier.

Obwohl … Diese Ähnlichkeit … Aber nein, das war doch Unsinn!

Das konnte nicht das Klavier meiner Großmutter sein. Das Klavier, das sie damals völlig unerwartet gekauft hatte. Jedenfalls unerwartet für meine Eltern und mich. Ich war damals drei oder vier. Die Oma hatte uns zu sich eingeladen.

Wir sind mit der Stadtbahn gekommen und an der Station Kettenbrückengasse ausgestiegen. In der Stadtbahn noch die blau gefärbten Scheiben, auf dem Naschmarkt, wo wir Schnittblumen kaufen, die russischen Soldaten. Diese Erinnerung ist dunkel, aber sie hellt sich auf, als wir in die Mühlgasse einbiegen. Die Großmutter erwartet uns schon vor dem Haustor, sie breitet die Arme aus, als ich auf sie zulaufe, sie steht mitten in einem Fleck Sonne und lächelt.

Sie lächelt aber auf ganz besondere Art. Sie lächelt — ja, das ist es: sie lächelt schelmisch. Die Oma hat ein Geheimnis, sagt mein Vater. Ja, sagt sie, als wir in den Hausflur treten, in dem das Licht wieder gedämpft ist, aber bunt, gefiltert durch die Butzenscheiben zum Hof, die trotz der Bombentreffer in der Nachbarschaft nicht zerbrochen sind, oben in meiner Wohnung wartet eine Überraschung.

Wie wir dann die zwei Stockwerke bis zur Wohnung der Großmutter hinauf steigen. Die Zeit, zu der ich die Treppenstufen noch einseitig in Angriff genommen habe, immer mit dem linken Fuß voran, den rechten dann auf das jeweils erreichte Niveau nachziehend, ist noch nicht lang vorbei. Nun aber beherrsche ich das Treppensteigen beinahe schon wie ein Erwachsener, einen Fuß vor den anderen setzend, abwechselnd links und rechts. An diesem Nachmittag jedoch stolpere ich zwei, drei Mal beinahe, so ungeduldig bin ich.

Endlich sind wir oben und die Großmutter sperrt die Tür auf. Mein Herz klopft. — Eine Überraschung? Was mag das sein? — Wir treten in das winzige, nur durch eine weiß lackierte Holzwand von der Küche abgeteilte Vorzimmer. Und dann öffnet die Großmutter die Tür zum Zimmer und da steht das Möbel.

Groß und schwarz. Beinahe das halbe Zimmer nahm es ein. Stutzflügel oder nicht. Davon hatte ich damals noch keinen Begriff. Zu groß und zu schwarz. Ja, mir erschien das Klavier vorerst als Fremdkörper. In dieser vertrauten Wohnung. Ich war befremdet und enttäuscht.

Daß die Großmutter nicht mir, sondern sich selbst etwas schenkte! War das richtig? Ich hatte da meine Zweifel. Mißtrauisch ging ich um das Klavier herum, nahm seine Witterung auf. Der Geruch war mir noch neu. Es dauerte eine Weile, bis ich ihn mochte.

Dann aber schlug die Großmutter einen Ton an. Und noch einen. Und einen dritten. Und dann war schon der Ansatz einer Melodie im Raum. Wie flink ihre Finger sich auf den Tasten bewegten! Wie kleine, muntere Tiere kamen sie mir damals vor, die sich freuten, daß man sie endlich wieder losgelassen hatte.

Und das traf ja auch etwa den Sachverhalt.

Ich hab gar nicht gewußt, sagte meine Mutter, daß du Klavier spielen kannst.

Ja, sagte die Großmutter, als junges Mädel habe sie es gelernt. Doch dann sei das Leben, das sie bis dahin geführt habe, abgerissen, jetzt wolle sie wieder daran anknüpfen, wo es damals abgerissen sei.

Justament. Das war eines der Lieblingsworte der Großmutter.

Wie alt war sie damals? Das war im Jahr 1947 oder 1948.

Da mußte sie ungefähr so alt gewesen sein wie ich jetzt.

Es ist eine Schande, aber ich weiß ihr Geburtsdatum nicht.

Auf einer Bank in einem Park sitzend notierte ich diesen Satz.

Es könnte der erste Satz einer Geschichte sein.

Das wäre eine Geschichte über eine Großmutter und ihren Enkel.

Sie ist seit Jahren tot, er war seit Jahren fern von hier, auch fern von ihr, aber dann …

Nein, aber ich wollte mich nicht mehr auf so etwas einlassen. Nicht auf das Schreiben von Geschichten, damit hatte ich Schluß gemacht. Daran würde meine Rückkehr nichts ändern. Paul Spielmann. Diesen Namen sollte der Literaturbetrieb vergessen.

Schon wahr, ich hatte trotzdem vom Schreiben gelebt. Aber das hatte nichts mit meinem früheren Leben zu tun. Über das Schreiben zu schreiben, das war etwas anderes. Und anderen Leuten das Schreiben beizubringen.

Noch dazu in einer anderen Sprache. In dieser Distanz hatte ich mich drüben ganz gut eingerichtet. Eine Stelle am German Department an einem netten, kleinen College. Und abgesehen von der Literaturwissenschaft, die sich dort ungestörter treiben ließ als hier, die Kurse für Creative Writing.

Aber warum hatte ich dann meinen Vertrag als Professor für deutschsprachige Literatur am Bates College mit Schluß des vergangenen Semesters auslaufen lassen? Und warum war ich nicht auf das Angebot eingegangen, wenigstens die Schreibkurse weiterzuführen? Warum saß ich jetzt statt im gepflegten Garten des Campus auf einer Bank in diesem eher schäbigen Park?

Das war eine Geschichte, die ich genausowenig schreiben wollte.

Noch schien die Sonne fast sommerlich, aber dahinter war schon die herbstliche Kälte zu ahnen. Feine Fäden glitzerten in der Luft, winzige Spinnen ließen sich darauf treiben. Indian Summer, in Maine war er besonders schön, aber dort hatte ich meine Zelte abgebrochen. Altweibersommer hatte das die Großmutter genannt, mit einem versonnenen Ausdruck im Gesicht, das sie der Sonne entgegen hielt, trotz allem.

War das im Stadtpark? Ja, möglicherweise war es beim Wetterhäuschen. Oder beim Teich. Da fütterten wir die Schwäne. Manchmal erhaschte auch eine Ratte ein Stück Brot. Schon gut, sagte die Großmutter. Die Ratten wollen auch leben.

Erst sei sie ein junges Mädel gewesen, auch wenn ich mir das wahrscheinlich kaum vorstellen könne. Dann eine junge Frau, aber das sei bald vorbeigegangen. Dann eine Frau in den sogenannten besten Jahren, aber leider in schlechten und nach und nach immer böseren Zeiten. Und jetzt …, sagte sie.

Jetzt bist du meine Oma, sagte ich.

Ja, lachte sie. Da hast du recht.

Meine Großmutter zu sein, das war durchaus eine Aufgabe, die sie ernst nahm. Manchmal schien es tatsächlich, als ob sie diese Aufgabe total ausfüllte. Und meine Eltern stellten das gern so dar. Ich sei ihre letzte Liebe. Ihr Ein und Alles.

Bis zu einem gewissen Grad hätte ich es der Oma zu verdanken, daß ich überhaupt auf der Welt sei. Die Oma habe mich sozusagen bestellt. Wie das genau zugegangen sein sollte, davon hatte ich als Kind im Vorschulalter natürlich nur eine vage Idee. Es traf jedoch zu, daß meine Großmutter eine besondere Beziehung zur Ankunft von Babys hatte — sie war Schwester auf der 1. Geburtsstation im Wiener Allgemeinen Krankenhaus.

Meine Eltern und ich, wir kamen dort öfter vorbei. Auf einen Sprung, wie meine Mutter das nannte. Manchmal durften wir bei dieser Gelegenheit einen Blick auf die Säuglinge werfen, die mir immer ein bißchen unheimlich waren, wie sie da entweder eingeschnürt nebeneinander lagen oder kurz von ihrer Einschnürung befreit mit verschrumpelten Beinchen in der Luft ruderten. Um diese Engerlinge ging es allerdings nur am Rande.

Zentrale Szene jener Spitalsbesuche: Die Großmutter in ihrer Schwesterntracht, blau und weiß, wie sie aus einer nur einen Spaltbreit offenen Milchglastür winkt. Und dann huscht sie heraus auf den Korridor, ein Säckchen aus Packpapier in der Hand. Und damit hat es eine ganz besondere Bewandtnis.

Darin befanden sich nämlich Lebensmittel. Weißbrot, Biskuit, Dosen mit Nestlé-Kindernahrung, vor allem aber Milch. Das war ein wichtiger Beitrag zu meiner Ernährung. Ich war in jenen mageren Jahren ein wohlgenährtes Kind, und meine Großmutter war stolz darauf.

Daß sie die Lebensmittel für mich beiseite schaffte, lag auf der Hand. Auch wenn meine Vorstellung davon ähnlich vage war wie die von der Herkunft der kleinen Kinder. Meine Eltern redeten davon zwar mit heiteren Mienen, aber mit gedämpften Stimmen. Die Großmutter würde wahrscheinlich auch Pferde für mich stehlen, meinte meine Mutter.

Allerdings gab es damals, das muß im Jahr 45 oder 46 gewesen sein, nur mehr sehr wenige Pferde in Wien. In einer dunklen Erinnerungssequenz liegt ein Roß schon halb skelettiert auf der Straße, aber graue hohlwangige Leute schneiden noch Fetzen und Fasern von Fleisch aus seinem Leib. Ist das tatsächlich meine Erinnerung oder habe ich das irgendwo gelesen?

Vielleicht habe ich einen Film gesehen. Vielleicht habe ich geträumt.

Was man so träumt.

Du bist also wieder da, sagt die Großmutter. Wie siehst du denn aus? Ich hätte dich kaum erkannt. Nur an den Augen. Aber warum schaust du so traurig?

Im Aufwachen muß ich mich erst in der neuen Wohnung orientieren.

Hier ist das Klappbett, auf dem ich liege, dort ist der Klapptisch, auf dem ich schreibe. Und dort ist die Tür, durch die ich hoffentlich ins Badezimmer finde. Da ist das Fenster, aber draußen ist es noch dunkel. Von irgendwoher glaube ich Klaviermusik zu hören, aber vielleicht ist das nur ein Nachklang aus dem Traum.

Dann höre ich Kehrgeräusche draußen im Hof. Ach ja, der Kastanienbaum! Ach ja, die abfallenden Blätter! Ich gehe in die Küche und stelle Teewasser auf. Wie das Wasser in die Kanne rinnt, wie der Boden der Kanne die Herdplatte berührt — in der immer noch fast leeren Wohnung hat jedes Geräusch ein unverhältnismäßig lautes Echo.

Teetrinkend lese ich, was ich gestern notiert habe. Vielleicht sollte ich die handschriftlichen Notizen doch abtippen. So lang ich sie selbst noch lesen kann (eine rein praktische Überlegung). Während ich den Laptop hoch fahre, versinke ich in den Anblick der Hände auf den Tasten.

Meine Hände und die Hände der Großmutter. Erstaunlich flink, wie sich ihre Finger bewegten. Sie hatte sehr kleine Hände. Wollte sie eine Oktave greifen, so mußten diese Hände hüpfen. Das sah lustig aus. Da mußte ich wider Willen lachen.

Siehst du, sagte die Großmutter. Sie spielte jetzt irgendein Kinderlied. Hörst du, sagte die Großmutter. Ein Ton gab den andern. So wie ein Wort das andere gibt. Hänschen klein ging allein. Oder Kommt ein Vogel geflogen? Die Töne flogen durch den Raum und zum Fenster hinaus.

Draußen war der Hof, und auf der anderen Seite des Hofs wohnte die Frau Zillner. Sie stand am Fenster und schaute, sie stand am Fenster und lauschte. Die Frau Zillner war alt, und die Klaviertöne waren neu. Die Frau Zillner war die älteste Mieterin im Haus, viel älter als die Großmutter, aber die Klaviertöne schienen auch ihr zu gefallen.

Jetzt du, sagte die Großmutter. Sie nahm meine Finger und führte sie auf die Tasten. Meine Hände waren damals noch viel kleiner als die ihren. Wenn sie meine Finger festhielt und auf die Tasten nieder drückte, tat das ein bißchen weh. Aber auch das gab Töne, wenn auch schwächere als die von der Großmutter angeschlagenen.

Na also, lächelte die Großmutter, das geht doch schon. Es ging aber zweifellos besser, wenn sie selbst spielte. Von den Kinderliedern, für die sie keine Noten brauchte, kam sie wieder auf Musik, die sie aus irgendeinem Notenheft ablas, in meiner Erinnerung schaut sie nun mit ernstem, fast strengem Blick durch ihre Brille mit den runden Gläsern und dem schlichten Drahtrahmen. Zu viele Töne auf einmal — die Mutter verdreht die Augen, aber der Vater hebt mich hoch und ermöglicht mir einen ersten Blick ins Innere des Klaviers, das jetzt offen steht, da drin ist etwas wie eine Harfe verborgen, mit dickeren und dünneren Saiten, auf die kleine Holzhämmerchen schlagen.

Das hatte schon etwas. Davon ging eine gewisse Faszination aus. Aber in diese Beobachtungsposition kam ich damals nur mit Hilfe des Vaters, der Mutter oder sonst eines Erwachsenen. Unter den Flügel schlüpfen hingegen konnte ich ganz selbständig. Das war die Position, die ich für die nächsten paar Jahre bevorzugte.

Wahrscheinlich hätte mich diese Position auch gereizt, wäre das Klavier irgendein stummes Möbel gewesen. Wie andere Kinder in diesem Alter auch, liebte ich die Höhlen. Aber diese Höhle war etwas ganz besonderes. Wenn die Großmutter oben in die Tasten griff, saß ich da unten eingehüllt in einen rundum vibrierenden Klang.

Die Großmutter oben also und ich unten. Ihre kleinen Hände und ihre kurzen Beine. Auch wenn sie den Sitz des Klavierhockers ganz tief hinunter schraubte, mußte sie sich sehr strecken, um die Pedale zu erreichen. Sie war eine sehr kleine Frau. Ja. auch mit diesem Satz könnte die Geschichte beginnen.

Sie war eine sehr kleine Frau — in den Kaufhäusern Gerngroß und Herzmansky, zu deren treuesten Kundinnen sie zählte, paßten ihr oft Kleider aus der Kinderabteilung. Als sie mit über achtzig nach einem Oberschenkelhalsbruch nicht mehr recht auf die Beine kam und vorübergehend in einem Pflegeheim untergebracht war, das wir uns auf die Dauer nicht leisten konnten, scheint sie sich tatsächlich wieder wie ein Kind gefühlt zu haben. Habt ihr mir meine Puppe mitgebracht? fragte sie — Katrin’ und ich, die sie anscheinend für ihre Eltern hielt, schüttelten etwas beklommen die Köpfe. Sie aber nickte und sank zurück, hockte in der Ecke und sah drein wie das kleine Mädchen auf der Fotografie, die sie mir manchmal gezeigt hatte, ein kartonstarkes Bild von jenem matten Braunton, der die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufgenommenen Fotos so schön macht.

Eine sehr kleine Frau war sie, ja — ins Kino nahm sie in ihrer alten Krankenschwesterntasche zwei Telefonbücher mit. Wenn sie auf denen saß, war sie oben so groß wie andere Leute, aber unten baumelten ihre Beine. Sie packte die Telefonbücher erst aus, wenn das Licht erlosch, und schob sich dann mit einer Technik, die sie im Lauf der Jahre perfektioniert hatte, auf den hochgestapelten Sitz — die hinter ihr Sitzenden bemerkten das kaum. Am Ende des Films aber galt es, wieder hinunter zu gleiten und die Bücher in der Tasche verschwinden zu lassen, bevor das Licht anging, etwas, das sie bei aller Benommenheit durch die großen Ereignisse, die noch vor kurzem auf der Leinwand zu sehen gewesen waren, nicht immer schaffte — sobald ich anfing, ihr über den Kopf zu wachsen, ging ich in solchen Fällen ein paar Schritte voraus und wartete, am Ende der Reihe in die Luft schauend, bis sie die Telefonbücher endlich wieder in der Tasche verstaut hatte.

Meine Mutter nannte diese Tasche eine Hebammentasche. Aber meine Großmutter ist nie Hebamme gewesen. Sie war allerdings Säuglingsschwester im Allgemeinen Krankenhaus. Kurz nachdem man sie — eigenartigerweise etwas früher als damals üblich — in Pension geschickt hatte, kaufte sie das Klavier.

2

Ein Wort gab das andere, ein Satz gab den anderen. So wie ein Ton den anderen ergab, so war das. Ich mußte aufpassen, daß ich nicht rückfällig wurde. Mein Leben als Schriftsteller hatte ich vor zwanzig Jahren beendet.

In der Entwöhnungsphase war es mir dreckig gegangen, doch nach einer Weile hatte ich mich besser gefühlt. Zumindest erleichtert. Da war nicht mehr dieser dauernde Anspruch an mich selbst. Keine Aufgabe, die ich mir selbst gestellt hatte, gewisse (wenn auch im Grund genommen läppische) Aufgaben stellte ich nun meinen Studenten und Kursteilnehmern. Ich war, so sah ich das damals, mit fast vierzig, endlich erwachsen geworden — wollte ich jetzt regredieren?

Ich machte Notizen, okay, aber mehr sollte das nicht werden. Notizen, die Großmutter betreffend, an die ich mich erinnerte. Daß ich mich nun an sie erinnerte, mehr als in all den Jahren zuvor, hing mit meiner Rückkehr zusammen, das war also kein Wunder. Allerdings trugen gewisse Zufälle und Phänomene dazu bei, diese Erinnerung zu intensivieren.

Zum Beispiel jetzt wieder diese Klaviermusik. War sie in meinem Kopf oder war sie draußen, in der sogenannten Realität? Ich ging in die Küche und nahm eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank. Doch.Von hier aus hörte ich es noch deutlicher. Jemand spielte Klavier.

Das ist aber nicht irgendein Klavier, sagte die Großmutter, sondern ein Bösendorfer. Die Betonung, die sie auf dieses Wort legte! Zwar kein Konzertflügel, sondern eben ein Stutzflügel. Aber ein Konzertflügel hätte ohnehin nicht in ihr Zimmer gepaßt.

Sie sagte das in der Küche, nachdem sie uns eine erste Probe ihrer unvermuteten Fähigkeit gegeben hatte. Diese Küche, in die man durch eine weiße Schiebetür mit Fenstern aus geriffeltem Glas trat. Die Oma stand am Herd und kochte Tee, meine Eltern und ich saßen auf der Eckbank, auf dem Tisch stand ein Teller mit Keksen. Über uns hing die Pendeluhr mit dem beeindruckenden Messingperpendikel.

In meiner Erinnerung schlägt sie gerade in dem Moment, in dem die Großmutter das Wort Bösendorfer wiederholt. Anscheinend wirken wir noch nicht ausreichend beeindruckt. Zwar sei das Instrument längsseitig und nicht kreuzseitig, und die Wiener Mechanik habe gewisse Nachteile gegenüber der Englischen Mechanik. Aber insgesamt sei dieses Klavier ein gediegenes Stück.

Das muß aber, sagte meine Mutter, einen Haufen Geld gekostet haben.

Na ja, sagte die Großmutter. Geradezu geschenkt bekommen habe sie den Flügel nicht.

Aber es sei ein Gelegenheitskauf gewesen. Und mit der kleinen Abfertigung, die sie sich letzten Endes doch erkämpft habe, habe sie diese Gelegenheit beim Schopf packen können.

Justament. Wäre es nach ihr gegangen, dann hätte sie noch etliche Jahre im Allgemeinen Krankenhaus weitergearbeitet. Auf der 1. Station für Gynäkologie und Geburtshilfe. Auf ihrer Station, wie sie es nannte. Sie identifizierte sich mit dieser Abteilung. Der neue Klinikchef aber bevorzugte jüngere Kräfte.

Und solche, die nicht nur eine provisorische Ausbildung in Kriegszeiten hinter sich hatten.

So ein Blödsinn, sagte die Großmutter, Schwestern wie sie hätten eine praktische Erfahrung gehabt, die man auf keiner Schwesternschule lernen konnte. Außerdem war ich beliebt, sagte sie, sowohl bei den Kolleginnen als auch bei den Wöchnerinnen. Noch Monate und Jahre nachdem sie auf ihrer Station gelegen waren, hätten ihr manche Frauen Karten geschrieben.

Egal. Das alles zählte nicht. Wenn sie davon sprach, klang die Stimme der Großmutter bitter. Wie man ihr nahegelegt habe, etwas früher als vorgesehen in den Ruhestand zu treten. Womöglich hatte das auch damit zu tun, daß man sie beim Abzweigen von Lebensmitteln erwischt hatte. Das sagte sie allerdings nie. Auf diese Idee kam ich erst später.

Damals begriff ich nur, daß wir sie nicht mehr im Spital besuchen gingen. Und daß sie auch keine Milch und kein Biskuit mehr mitbrachte, wenn sie zu uns kam. Aber da ging es uns ohnehin schon besser. Mein Vater hatte einige Geschäftsbeziehungen aufgetan, durch die wir zusätzliche Lebensmittelmarken bekamen.

Etwas vorzeitiger Ruhestand also — seien Sie doch froh, habe man im Spital gesagt, daß wir Ihnen diese Gelegenheit geben. Aber die Großmutter war nicht froh darüber. Sie habe sich wohlgefühlt in ihrer Schwesterntracht. Im Lauf der Jahre, sagte sie, sei sie in diese Tracht hineingewachsen wie in eine zweite Haut.

Damit ihr die Sentimentalitäten vergingen, versetzte man sie auf die Krebsstation. Erwartungsgemäß hielt sie es dort nicht allzu lang aus. Sie wurde selbst krank, die Gallensteine, die sie schon geraume Zeit mit sich herumtrug, ohne ihnen, abgesehen von einer gewissen Diät, große Beachtung zu schenken, wogen nun anscheinend schwerer. Nach der Operation zog sie die Schwesterntracht nicht wieder an und bekam eine kleine Abfertigung.

Die hatte sie nun in dieses Klavier investiert. Das war eine Mezzie, sagte sie. Was ist das, Oma? Dieses Wort hatte ich bis dahin noch nie von ihr gehört. Der Mutter schien es zu mißfallen, sie zog ein Gesicht, das mich davon abhielt, noch einmal zu fragen.

Ein trotz allem noch begüterter Bekannter habe dieses Klavier für seine Tochter gekauft. Aber die sei mit einem Besatzungssoldaten nach Amerika gegangen. Vielleicht war der Soldat sogar schwarz, jedenfalls sei der Vater dagegen gewesen. Als sie dann trotzdem weg war, habe er das Klavier nicht mehr sehen können.

Des einen Leid, sagte die Großmutter, des anderen Freud. Aber so eine Gelegenheit dürfe man nicht vorbeigehen lassen. Greif zu, habe das Leben zu ihr gesagt, es ist schon ein bißchen spät, aber du hast noch Zeit. Da sprach das Leben die Wahrheit. Die Großmutter hatte noch mehr als dreißig Jahre vor sich.

Und spielte bis fast an ihr Ende auf dem Klavier. Dieses Klavier, das mir an jenem ersten Tag so fremd erschienen war, gehörte fortan zu ihr. Dieses Klavier und sein Geruch, den ich nach und nach liebgewann. Meine Erinnerung rekonstruiert diesen Geruch aus dem Duft seines matt glänzenden Resonanzkörpers, seiner Tasten und der Metallteile, also der Pedale und der kleinen Räder, die auf runden Filzuntersätzen ruhten.

All die Jahre stand es in ihrem Zimmer, in dem es immer ein bißchen kühl blieb, damit sich die Saiten nicht verstimmten. Und diese erstaunliche, kleine Frau spielte darauf das ganze, große Repertoire der klassischen und romantischen Klaviermusik. Jeden Monatsersten, wenn ihr der Geldbriefträger die Pension und die Witwenrente brachte, ging sie in die Musikalienhandlung Doblinger in der Dorotheergasse und kaufte neue Noten. Genaugenommen waren die neuen Noten alte Noten, denn neue Noten waren der Großmutter bei ihrem Verbrauch zu teuer — aber in der Musikalienhandlung gab es eine Reihe von Regalen, in denen sogenannte antiquarische Notenbücher warteten. Die waren zwar nicht im besten Zustand und rochen nach Mottenkugeln, doch die Musik, die erklang, wenn die Großmutter nach ihnen spielte, löste sich auf erstaunliche Weise von der Schäbigkeit dieser Vorlagen. Und die Geruchserinnerung an die Mottenkugeln wurde überdeckt von der Gegenwart des Uralt-Lavendels, von dem die Oma gern ein paar Tropfen im Raum versprühte, und die Klangfülle, die eine Frau mit so kleinen Händen und so kurzen Beinen zustande brachte, war nicht nur aus der extremen Position unter dem Klavier gehört beachtlich.

So spielte die Großmutter meine Kindheit lang. Und über diese Kindheit hinaus, als ich ein junger Mann wurde und es nicht mehr angebracht fand, unter dem Klavier zu sitzen. Was das Klangerlebnis betraf, so war das entschieden von Nachteil, aber ich wollte damals unbedingt erwachsen werden. Sie spielte auch noch, als ich wirklich erwachsen war, was man so nennt, achtzehn, zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig, als ich sie immer seltener besuchen kam, mit stetig wachsendem schlechtem Gewissen, auch wachsender Sorge, denn inzwischen war sie wirklich eine alte Frau, und in der Zeit, in der ich sie nicht besucht hatte, weil ich für meinen damaligen Begriff Wichtigeres zu tun hatte, konnte ihr, wenn ich es recht bedachte, immer etwas zugestoßen sein.

Wenn ich in jenen Jahren mit manchmal recht bangen Gefühlen das Haustor geöffnet hatte, und dann schon im Treppenhaus die Großmutter spielen hörte, da atmete ich auf. Ja, sie spielte noch, und sie spielte laut, daran hatten sich die anderen Hausparteien im Lauf der Zeit gewöhnt. Womöglich spielte sie auch immer lauter, so gegen Ende siebzig wurde ihr Gehör, das schon früher nicht das beste gewesen war, immer schlechter. Aber sie hielt bis Ende achtzig durch, spielte nach wie vor ihren Beethoven, ihren Schubert, ihren Schumann und ihren Mendelssohn —, und erst jenseits der neunzig schien ihre Energie einigermaßen nachzulassen, da war es manchmal erschreckend still im Haus.

Nun mußte man lange an ihrer Tür klopfen, eine Klingel hatte die Großmutter nie für nötig gehalten. Wozu brauch ich denn die? sagte sie. Klopfet an, und es wird euch aufgetan! Aber immer, wenn mir sehr lange nicht aufgetan wurde, und ich mich schon darauf eingestellt hatte, die Tür mit dem Schlüssel, den sie mir für alle Fälle gegeben hatte, aufzusperren und sie vielleicht endgültig eingeschlafen vorzufinden, erschien sie im letzten Moment doch noch. Sie habe geträumt, sagte sie dann lächelnd, und im Traum sei sie nicht da gewesen, in diesen engen vier Wänden, sondern in einer ganz anderen Weltgegend.

Doch das Klavier war noch immer da, wo es hingehörte. Bis zu jenem Tag etwa eine Woche vor dem fünfundneunzigsten Geburtstag der Großmutter, an dem wir, meine Mutter, meine um viele Jahre jüngeren Geschwister und ich, sie kurz besuchten, um zu klären, wie und wo wir diesen Geburtstag feiern sollten. Wir gingen die Treppe hinauf, klopften und wurden überraschend prompt gehört. Wir traten ein und irgend etwas war anders.

Wir begriffen nicht gleich, was es war, wir standen im Vorraum, die Schiebetür zur Küche war geschlossen, aber die Tür zum Zimmer war offen. Die Atmosphäre hatte sich irgendwie verändert. Ja: Irgendwie. Aber wie? Kommt nur weiter, lächelte die Großmutter. Und dann sahen wir den hellen Fleck an dem Platz, an dem das Klavier nun fehlte.

Du hast den Flügel verkauft, sagte meine Schwester. Aber warum?

Die Großmutter saß im Fauteuil und lächelte still vor sich hin.

Meine Mutter wollte wissen, ob sie wenigstens einen guten Preis dafür erzielt habe.

Die Großmutter nickte. Sie habe gerade so viel dafür bekommen, wie sie brauche.

Wozu sie das Geld brauchte, darüber war nichts Klares aus ihr herauszukriegen.

Alles was Flügel hat, fliegt, sagte sie. Ihre Augen glänzten.

Hält sie uns zum Narren? fragte meine Mutter.

Sie ist nicht mehr ganz bei sich, sagte mein Bruder.

Aber womöglich war gerade das Gegenteil der Fall.

Vielleicht war sie eben erst so richtig bei sich. Aber das ahnte damals auch ich noch nicht. Auch mir kam die Großmutter ein bißchen verwirrt vor. Erst recht, nachdem sie, zwei Tage später, gestürzt war. Danach ging alles sehr schnell.

3

Der Vormittag ging vorbei, ich wußte nicht wie. Mein Zeitgefühl war durcheinandergeraten. Vielleicht war das immer noch die Nachwirkung der Flugreise. Ich hatte keinen Hunger, doch gegen drei Uhr nachmittag verspürte ich Bedürfnis nach einem Kaffee.

An der Ecke der Gasse, in der ich nun wohnte, war ein Espresso, aber das gefiel mir nicht. Weiter unten, in der Hauptstraße, die stadteinwärts führte, gab es eine Konditorei, doch die hatte geschlossen. So kam es, daß ich wieder in dem Lokal landete, in dem ich bereits am Vortag gewesen war. Dem Café, in dem ich den Weinbrand getrunken hatte, bevor ich mich in den Antiquitätenladen mit dem Klavier wagte.

Daß auch hier ein Klavier stand, war mir bei dieser Gelegenheit gar nicht aufgefallen. Es war allerdings ein recht unscheinbares Instrument. Gut getarnt überdies, vom selben öden Hellbraun wie die Theke, obenauf mit Illustrierten und Zeitungen belegt. Ich nahm eine davon, blätterte darin, während ich meinen Kaffee trank.

Koalitionsverhandlungen — die Namen der Protagonisten sagten mir nichts bis wenig. Zu lang war ich weg gewesen, zu wenig hatte ich mich um die Verhältnisse in meinem früheren Land gekümmert. Kleine Verhältnisse, wie mir schien, kleinkarierte Verhältnisse. Daran hatte sich in den letzten zwanzig Jahren anscheinend wenig geändert.

Noch immer das gleiche Theater, dachte ich. Auf der Kulturseite las ich etwas über ein neues Theaterstück. Auf einem Foto standen Schauspieler und Schauspielerinnen in der Unterwäsche auf der Bühne. Mich ekelte ein bißchen, und ich legte die Zeitung beiseite.

Ich zahlte und ging. Erst auf der Straße kam mir zu Bewußtsein, daß ich auch etwas über einen Raketenangriff auf eine israelische Stadt gelesen hatte. Die Missiles der Hisbollah trafen nun anscheinend präziser. War es Kirjat oder Haifa? Hatte es eine Busstation getroffen oder ein Einkaufszentrum? Der Vergeltungsangriff würde nicht lang auf sich warten lassen.

Auf der anderen Straßenseite war das Antiquitätengeschäft. War das Klavier noch da? Aus der Entfernung konnte ich das nicht erkennen. Der Antiquar jedenfalls saß wie gestern an seinem Pult. Als er aufblickte und mich sah, wandte ich mich rasch ab und ging aus seinem Blickfeld.

Ich ging in mich gekehrt, schaute nicht links oder rechts. Ich wollte nun nichts als zurück in meine Klause. Ich fühlte mich plötzlich müde. Vielleicht würde ich jetzt schlafen können. Offenbar reagierte ich auf Koffein ebenso falsch wie auf Valium.

Schon eigenartig, die Körper- und Seelenchemie. Am helllichten Tag ging ich vor mich hin wie ein Traumwandler. Aber da stieß ich auf die Bücherschachtel. Sie stand buchstäblich im Weg, ein Hindernis auf dem Gehsteig.

Eine Schachtel auf einem Blumentisch. Eine Falle vor der Tür eines Ladens. Keine Buchhandlung, sondern ein Second Hand Shop. Im Schaufenster gebrauchte Haushaltsgegenstände, alte Radioapparate, Porzellanfigürchen.

Diesen Ramsch sah ich allerdings nur am Rande. Mein Blick konzentrierte sich sofort auf die Bücher. Das ist so bei mir, dagegen kann ich nichts machen. Bücher sind prinzipiell ein Köder für mich.

Die hier allerdings wirkten auf den ersten Blick recht unattraktiv. Die Schutzumschläge, sofern noch vorhanden, zerfleddert, auch die Leineneinbände zum Teil recht abgenutzt. Meist billige Buchgemeinschaftsausgaben aus den Vierziger- und Fünfzigerjahren. Aber: Fast jedes zweite dieser Bücher war im Bücherschrank der Großmutter gestanden.

Natürlich nicht diese häßlichen Exemplare. Kaffee- oder Rotweinflecken entsprachen ihrem Umgang mit schöner Literatur ebensowenig wie das Einfalten der Seiten zu sogenannten Eselsohren. Diese mißhandelten Bände waren sozusagen verwahrloste Geschwister der ihren. Und trotzdem, ich konnte nicht anders, ich mußte einige davon mitnehmen.

Einzeln kosteten sie je einen Euro, nahm man drei, so bekam man sie um zwei. Konnte ich dieses günstige Angebot ausschlagen? Schicksalsergeben schloß ich die Augen und zog. Ich erwischte Jane Eyre, Menschen im Hotel und Vom Winde verweht.

Drin im Geschäft saß eine weißblonde Frau. Daß sie Klaviermusik hörte, überraschte mich nicht mehr.

Das kommt mir bekannt vor, sagte ich. Ist das Mendelssohn?

Nein, sagte die Frau und lächelte, das ist Schumann.

Ah ja, sagte ich.

Kinderszenen Opus 15, sagte sie.

Was Sie nicht sagen!

Gespielt von Klara Haskil.

Als sie die Bücher in eine Plastiktasche gesteckt hatte, ging sie mit mir nach draußen, um die Schachtel herein zu holen. Wahrscheinlich lag das daran, daß es gerade zu regnen begann, aber einen Moment lang hatte ich das Gefühl, als hätte sie nur auf mich gewartet.

Und als hätten die Bücher auf mich gewartet. Natürlich! Die Bücher waren ja früher da gewesen als das Klavier. Die Bücher und ihre Inhalte. Die Bücher und die Geschichten. Wenn ich einen Roman über mich und die Großmutter schriebe, sollte ich eher damit beginnen.

Im Kopf formulierte ich das als Konditionalsatz. Vielleicht konnte ich so am besten damit umgehen. Unter dem Arm trug ich die Bücher in der Plastiktasche. Vielleicht konnte ich das Klavier bis auf weiteres außer acht lassen.

Am Ende des Parks, in dem ich am Vortag gesessen war, gab es ein kleines Lebensmittelgeschäft. Die Tür stand offen. Es roch nach levantinischen Gewürzen. Das machte mir Appetit. Ich ging hinein und verlangte ein Stück Fladenbrot. Dazu eine Flasche Rotwein. Ja, sagte ich, und ein paar Oliven.

Grüne oder schwarze? fragte der Verkäufer, er sprach mit Akzent, aber mit leicht angewienertem Tonfall. Er musterte mich aufmerksam. Anscheinend fiel ihm mein Akzent auf.

Sind Sie Amerikaner? fragte er.

Ja, sagte ich. Aber nicht von Geburt an.

Machen Sie sich nichts draus, sagte er, ich bin auch nicht von Geburt an Österreicher.

Hier konnte ich einfach nicht anders, ich mußte lachen.

Na, sagte der Verkäufer. Was finden Sie daran komisch?

Entschuldigung, sagte ich. Es hat nichts mit Ihnen zu tun.

Na hoffentlich, sagte der Verkäufer. Er wirkte nicht überzeugt.

Zurück in der leeren Wohnung legte ich die Bücher vorerst aufs Klappbett. Öffnete die Flasche, setzte mich an den Klapptisch und schaltete den Laptop wieder ein. Las, was ich am Vormittag geschrieben hatte — sollte ich mich im Ernst darauf einlassen? Natürlich, sagte die Großmutter. Wozu bist du sonst zurückgekommen?

Ach ja. Wozu? Ich verschwieg ihr die Untersuchung. Witzlos, einer seit Jahren toten Frau von Krankheitsängsten zu erzählen. Anderseits: Daß die Untersuchung im Allgemeinen Krankenhaus stattfinden sollte, hätte ihr wahrscheinlich gefallen. Da kann man sagen, was man will, aber auf dem Gebiet der Medizin hat Wien einen guten Ruf.

So ihre Rede. Hoffentlich wurde Wien wenigstens diesem guten Ruf noch gerecht. Jedenfalls war die Untersuchung und eine allfällige Operation hier billiger als in den Staaten. Vielleicht konnte ich das Schreiben ja als eine Art von Beschäftigungstherapie auffassen. Bis zu meinem Termin im Spital hatte ich immerhin noch vierzehn Tage.

Daß ich mir vor zwanzig Jahren geschworen hatte, nicht mehr zu schreiben, mir diese immer aufs neue vergebliche Anstrengung nicht mehr anzutun, konnte ich in dieser besonderen Situation vielleicht vergessen. Außerdem mußte es ja nicht völlig im Ernst sein. Hatte ich meinen Studenten und Kursteilnehmern nicht immer wieder erzählt, daß Literatur ein Spiel sei? Literature is a game. Ein Spiel mit gelebten und ungelebten Möglichkeiten.

Ich nahm einen Schluck vom Wein. Da ich noch keine Gläser im Haus hatte, trank ich aus der Flasche. Der Wein tat mir gut. Jedenfalls der erste große Schluck. Also: Wie wäre in diesem Fall die Spielanordnung? Zwei aufeinander bezogene Personen. Ein Enkel und eine Großmutter.

Der Enkel war lange im Ausland, aber jetzt ist er wieder da. In der Stadt, in der er geboren und aufgewachsen ist. In diesem Winkel, aus dem er die Welt zuerst erblickt hat. Da ist es kein Wunder, daß ihm die Großmutter einfällt, die für sein geistiges und seelisches Erwachen wahrscheinlich entscheidende Person.

Sie war eine sehr kleine Frau. Oh ja, dieser Anfang war nicht schlecht. Allerdings ging mir auch ein anderer Satz im Kopf herum. Daß er kein Pianist wurde, war für sie sicher eine Enttäuschung. Unversehens schrieb ich diesen Satz in der dritten Person.

Merkwürdig. Ich versuchte es auch in der ersten Person. Daß ich kein Pianist wurde u.s.f. So oder so verursachte mir dieser Satz Unbehagen. Ich verschob ihn vorerst. Das kam ja erst später.

Die Musik kam ja erst später. Der ganze Musik-Komplex kam ja erst später. So wie das Klavier ja eigentlich erst später kam. Am Anfang waren die Worte. Ja, an diesen Anfang mußte ich zurück. Die Großmutter hatte mir doch nicht nur die Fenster und Türen zur Musik geöffnet, sondern — schon früher — die zur Literatur.

Um einiges früher. Jedenfalls lang vor ihrer Pensionierung. Das schien mir seit je so gewesen zu sein, so weit meine Erinnerung in immer dunklere Bereiche zurücklotete. Kaum hatte ich Wörter verstehen und bilden können. Daß sie mir Geschichten erzählte, das war ebenso selbstverständlich, wie daß sie mich mit Milch und anderen Grundnahrungsmitteln versorgte.

Die kleine Großmutter mit ihrer Hebammentasche. Am Morgen nach ihren Nachtdiensten ging sie die Strecke vom Allgemeinen Krankenhaus bis in die Obere Bahngasse, wo meine Eltern und ich damals wohnten, zu Fuß. Ein Weg durch sechs Bezirke und vier Besatzungszonen. Die Bezirke Alsergrund, Josefstadt, Neubau waren amerikanisch, der Bezirk Mariahilf war französisch und der Bezirk Landstraße englisch, aber der Bezirk Wieden, der dazwischen lag, war russisch.

Zwei oder drei Mal, erzählte sie, hätten russische Soldaten den Inhalt der Tasche kontrolliert. Aber sie habe gesagt, die Lebensmittel seien für ihr Enkelkind. Und das habe gewirkt wie ein guter Zauber. Sobald die Russen das Wort Enkelkind kapiert hätten, hätten sie nicht mehr daran gedacht, ihr etwas wegzunehmen, sondern hätten ihr, im Gegenteil, noch etwas dazugegeben.