© Loewe Verlag GmbH, Bindlach 1993, 2017
© 1925 by McClelland & Stewart, Stokes and Hodder & Stoughton.
© 1989 by Ruth Macdonald and John Gordon McClelland
Titel der Originalausgabe: Emily Climbs
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dagmar Weischer
Coverillustration: Ulrike Heyne
eBook-Konvertierung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
E-Pub 2.0 ISBN 978-3-7320-0907-7
Printausgabe Hardcover ISBN 3-7855-2580-X
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Für Pastor Felix in herzlicher Verbundenheit
Cover
Titel
Geheime Gedanken
Jugendliche Unbeschwertheit
In der Stille der Nacht
In den Augen der anderen
Noch einmal davongekommen
Die erste Zeit in Shrewsbury
Vermischtes
Die Ungewißheit
Ein entscheidender Augenblick
Das Faß läuft über
Höhen und Tiefen
Die Botschaft
Das Obdach
Die Frau, die den König verprügelt hat
Das verschollene Kind
Dies und Das
Ertappt
Freispruch für Emily
Himmlische Stimmen
Im alten John-Haus
Tante Ruth greift ein
Eine tierische Begrüßung
Die große Chance
Die Erkenntnis
Abschied von Shrewsbury
Weitere Titel von Lucy Maud Montgomery
Weitere Infos
Impressum
Vor langer Zeit, als die Welt noch nicht kopfstand, saß Emily Byrd Starr an einem stürmischen Februarabend allein in ihrem Zimmer auf New Moon, der alten Farm in Blair Water. Sie war in diesem Augenblick so glücklich, wie ein Mensch überhaupt nur sein kann. Weil es so bitter kalt war, hatte Tante Elizabeth ihr ausnahmsweise erlaubt, in ihrem eigenen kleinen Kamin Feuer zu machen. Es brannte hell und freundlich und verbreitete einen rotgoldenen Schein über das kleine, sauber aufgeräumte Zimmer mit seinen altmodischen Möbeln und seinen tiefliegenden Fenstern. An den blauweißen Fensterrahmen und den mit Eisblumen bedeckten Scheiben blieben die Schneeflocken wie kleine Kränze haften. Das Flackern des Feuers verlieh dem Spiegel an der Wand etwas Geheimnisvolles und Faszinierendes; im Spiegel war Emily zu sehen, wie sie auf dem Polsterschemel vor dem Kamin saß und im Schein der beiden großen weißen Kerzen–die einzige Beleuchtung, die auf New Moon erlaubt war – in ein nagelneues, schwarz glänzendes „Jimmy-Buch“ schrieb, das Cousin Jimmy ihr eben erst geschenkt hatte. Emily hatte sich sehr darüber gefreut, denn das Buch, das sie letzten Herbst von ihm bekommen hatte, war längst voll; seit mehr als einer Woche schon hatte sie es vor Schreibwut kaum aushalten können.
Emilys Tagebuch war ein ganz wichtiger Bestandteil ihres jungen, bewegten Lebens. Es war an die Stelle jener „Briefe“ getreten, die sie als Kind ihrem verstorbenen Vater geschrieben und in denen sie sich ihre Sorgen und Nöte „von der Seele“ geschrieben hatte. Sorgen und Nöte hat man schließlich auch noch im blühenden Alter von beinahe vierzehn Jahren, besonders wenn man unter dem zwar gutgemeinten, aber strengen Regiment einer Tante namens Elizabeth Murray zu leiden hat. Manchmal hatte Emily das Gefühl, aus der Haut fahren zu müssen, wenn sie nicht auf der Stelle an ein neues Tagebuch herankam. Das dicke schwarze „Jimmy-Buch“ war für sie wie ein richtiger Freund, dem sie alles anvertrauen konnte, was sie unbedingt loswerden wollte und was ihr für menschliche Ohren zu heikel erschien. Nun war es auf New Moon nicht gerade ein leichtes, an ein unbeschriebenes Heft oder Buch heranzukommen, und wenn Cousin Jimmy nicht gewesen wäre, hätte es wohl nie ein Tagebuch für Emily gegeben. Von Tante Elizabeth brauchte sie sich keines zu erhoffen – die fand ohnehin, daß Emily viel zuviel Zeit mit „diesem Geschreibsel“ vergeudete –, und Tante Laura wagte nicht, Tante Elizabeth in dieser Angelegenheit zu widersprechen – wo sie doch selbst der Meinung war, Emily sollte sich lieber mit etwas Sinnvollerem beschäftigen. Tante Laura war die Seele von einem Menschen, aber gewisse Dinge wollten selbst ihr nicht einleuchten.
Cousin Jimmy hingegen ließ sich von Tante Elizabeth kein bißchen einschüchtern, und wenn ihm einfiel, daß es vielleicht mal wieder Zeit sei für ein neues „unbeschriebenes Buch“, dann „zauberte“ er augenblicklich eins herbei, da konnte Tante Elizabeth ihm noch so böse Blicke zuwerfen. An diesem Tag war er trotz des herannahenden Sturms eigens nach Shrewsbury gefahren, um so ein Buch zu besorgen. Nun saß Emily also glücklich und zufrieden vor ihrem kleinen, gemütlichen Kaminfeuer, während draußen der Wind heulend und kreischend durch die großen alten Bäume fuhr. Der Sturm wirbelte den Schnee zu riesigen, geisterhaften Girlanden auf und blies sie über Cousin Jimmys berühmten Garten; er ließ die Sonnenuhr unter einer Schneewehe verschwinden und erschreckte mit seinem unheimlichen Pfeifen die Drei Prinzessinnen – so nannte Emily die drei großen Pyramidenpappeln in einer Ecke des Gartens.
„Ich mag es, wenn es nachts draußen stürmt und ich nicht hinausmuß“, schrieb Emily. „Cousin Jimmy und ich hatten einen herrlichen Abend; wir haben Pläne für unseren Garten geschmiedet und Samen und Pflanzen aus dem Katalog ausgesucht. Hinter dem Sommerhaus, da, wo das Schneegestöber am stärksten ist, da wollen wir ein Beet mit rosaroten Astern anlegen, und hinter den Goldblumen, die jetzt tief unter dem Schnee schlafen, wollen wir ein paar von diesen herrlich blühenden Mandelbäumen anpflanzen. Es macht mir riesigen Spaß, mir auszumalen, wie schön der Sommer sein wird, während es um mich herum stürmt und schneit. Es kommt mir dann vor, als ob ich einen Sieg erringe über etwas, was viel, viel größer ist als ich; ich kann immerhin denken, aber der Sturm nicht – er wütet bloß blindlings drauflos. Ich lache ihn aus, während ich es mir vor meinem kleinen Feuer gemütlich mache. Aber erlauben kann ich mir das nur, weil vor über hundert Jahren Ururgroßvater Murray dieses Haus mit seinen dicken Mauern erbaut hat. Ob wohl in weiteren hundert Jahren auch jemand einen Sieg erringt, bloß weil ich etwas Besonderes hinterlassen oder getan habe? Was für eine aufregende Vorstellung!
Jetzt habe ich schon wieder schräg geschrieben! Mr. Carpenter sieht das gar nicht gem. Das ist eine Besessenheit aus der frühviktorianischen Zeit, sagt er, und ich muß mir das unbedingt abgewöhnen. Ich habe im Wörterbuch nachgeschlagen, was eine Besessenheit ist, und mir fest vorgenommen, davon loszukommen, denn was da steht, hört sich gar nicht erfreulich an, wenn auch nicht ganz so schlimm wie Wahnsinn. Da, schon wieder!
Eine ganze Stunde lang habe ich im Lexikon gelesen – bis Tante Elizabeth Verdacht geschöpft hat und meinte, ob es nicht viel sinnvoller sei, wenn ich an meinen Strümpfen weiterstricke. Was eigentlich schlimm daran sein soll, sich in ein Lexikon zu vertiefen, wußte sie wohl selbst nicht; aber bloß, weil sie nie auf die Idee kommt hineinzusehen, muß es gleich etwas Schlimmes sein. Dabei liebe ich es, im Lexikon zu lesen. (Das mußte ich jetzt einfach schräg schreiben, Mr. Carpenter! Sonst käme doch meine Leidenschaft überhaupt nicht zum Ausdruck!) Worte sind doch wirklich etwas unglaublich Faszinierendes! Schon bei ihrem Klang – schauerlich – überkommt mich der Blitz! Oje, schon wieder! Aber den Blitz muß ich unbedingt schräg schreiben! Schließlich ist er etwas ganz Besonderes – er ist das Aufregendste und Herrlichste in meinem ganzen Leben! Wenn er kommt, dann ist es, als wenn vor meinen Augen plötzlich eine Tür aufspringt und mir einen ganz kurzen Blick in den – ja, in den Himmel gewährt. (Und schon wieder diese Schrägschrift! Jetzt weiß ich, warum Mr. Carpenter immer mit mir schimpft! Ich muß mir das einfach abgewöhnen!)
Hochtrabende Worte klingen eigentlich nie schön – diskriminieren‘ zum Beispiel oder ‚international‘ oder ‚verfassungswidrig‘. Sie erinnern mich an diese furchtbar protzigen Dahlien und Chrysanthemen, die Cousin Jimmy mir letzten Herbst auf der Gartenschau in Charlottetown gezeigt hat. Manche Leute fanden sie hinreißend, aber wir konnten gar nichts Schönes an ihnen finden. Cousin Jimmys gelbe Zwergchrysanthemen, die mit dem Tannenwäldchen im Hintergrund wie entzückende kleine Sterne leuchten, sind viel, viel schöner. Aber ich komme vom Thema ab – auch so eine schlechte Angewohnheit von mir, wie Mr. Carpenter behauptet. Er sagt, ich muß unbedingt (diesmal ist er schuld an der Schrägschrift, weil er es so betont hat) lernen, mich zu konzentrieren – wieder so ein hochtrabendes Wort, und noch dazu besonders häßlich.
Auf jeden Fall hat es mir großen Spaß gemacht, das Lexikon zu studieren – kein Vergleich zu diesen dummen Strümpfen, die ich stricken soll. Wenn ich wenigstens ein Paar Seidenstrümpfe haben dürfte – nur ein einziges Paar! Ilse hat sogar drei Paar. Sie bekommt von ihrem Vater alles, was sie will, seitdem er sie ins Herz geschlossen hat. Aber Tante Elizabeth behauptet, Seidenstrümpfe seien unanständig. Ich möchte nur wissen, warum – Seidenkleider sind es doch auch nicht.
Nächsten Herbst schickt Dr. Burnley Ilse auf die High-School nach Shrewsbury und später dann nach Montreal, wo sie zur Vortragskünstlerin ausgebildet wird. Ich beneide sie darum. Ich würde so gern auch nach Shrewsbury gehen, aber ich fürchte, das erlaubt Tante Elizabeth mir nie. Sie meint, sie könne mich nicht aus den Augen lassen, wo doch meine Mutter damals mit ihrem Geliebten durchgebrannt ist. Aber darum braucht sie sich bei mir wirklich keine Sorgen zu machen. Ich habe nämlich beschlossen, niemals zu heiraten. Ich werde vielmehr mit meiner Kunst den Bund fürs Leben eingehen.
Teddy würde im Herbst auch gern nach Shrewsbury gehen, aber seine Mutter erlaubt es nicht. Nicht, weil er womöglich durchbrennt, sondern weil sie ihn so sehr liebt, daß sie sich nicht von ihm trennen kann. Teddy möchte Maler werden, und Mr. Carpenter sagt, er sei ein Genie und sollte seine Chance bekommen, aber niemand traut sich, mit Mrs. Kent darüber zu sprechen. Mrs. Kent ist ziemlich klein – bestimmt nicht größer als ich – und ein ruhiger, scheuer Mensch; und doch hat jeder Angst vor ihr. Sogar ich habe schreckliche Angst vor ihr. Daß sie mich nicht mag, habe ich von Anfang an gewußt – seit damals, als Ilse und ich Tansy Patch zum erstenmal aufsuchten, um mit Teddy zu spielen. Aber inzwischen haßt sie mich richtig – ich weiß es ganz genau –, und das nur, weil Teddy mich mag. Sie kann es nicht ertragen, wenn er außer ihr noch jemand anderen oder auch etwas anderes mag. Sie ist sogar eifersüchtig auf seine Bilder. Deshalb wird er wohl kaum nach Shrewsbury gehen dürfen. Perry dagegen geht hin. Er hat nicht einen Pfennig Geld, aber er will für sein Studium arbeiten. Deshalb geht er auch nicht auf die Queen’s Academy, weil er meint, in Shrewsbury gäbe es eher Arbeit und außerdem preiswertere Zimmer.
‚Tante Tom, dieses alte Biest, hat zwar ein bißchen Geld‘, hat er zu mir gesagt, ‚aber sie rückt nur was raus, wenn – wenn –‘ Da hat er mir einen vielsagenden Blick zugeworfen. Ich wurde rot, und ich ärgerte mich über mich selbst und gleichzeitig über Perry, weil er auf etwas anspielte, was ich nicht hören wollte. Ich sollte nämlich einmal vor langer Zeit seiner Tante Tom versprechen, Perry, zu heiraten, sobald ich erwachsen bin. Sie sagte, dann würde sie ihm auch seine Ausbildung bezahlen. Ich schämte mich damals so, daß ich nie jemandem etwas davon erzählt habe, außer Ilse, und die sagte: ‚Perry mit einer Murray verkuppeln zu wollen, was diese alte Tante Tom sich einbildet!‘
Aber Ilse ist sowieso immer unfreundlich zu Perry, und oft genug streitet sie sich mit ihm um Dinge, über die ich nur lachen kann. Perry läßt sich nie unterkriegen. Letzte Woche auf Amy Moores Party zum Beispiel: Ihr Onkel erzählte uns, er hätte mal mit eigenen Augen ein mißgebildetes Kalb mit drei Beinen gesehen; da sagte Perry: ‚Ach, das ist doch gar nichts im Vergleich zu der Ente, die ich mal in Norwegen gesehen habe.‘
(Perry war wirklich in Norwegen. Als kleiner Junge ist er mit seinem Vater um die ganze Welt gesegelt. Aber was diese Ente betrifft, glaube ich ihm kein Wort. Dabei hat er bestimmt nicht gelogen – sondern nur ein bißchen phantasiert. Armer Mr. Carpenter, ich schaffe es einfach nicht ohne Schrägschrift!)
Jedenfalls hatte Perrys Ente vier Beine – zwei an der Stelle, wo jede Ente Beine hat, und zwei, die ihr aus dem Rücken wuchsen. Wenn ihre normalen Beine müde wurden, behauptete Perry, dann ließ sie sich einfach auf den Rücken plumpsen und watschelte mit den beiden anderen weiter!
Perry machte ein todernstes Gesicht, als er das erzählte; alle mußten lachen, und Amys Onkel sagte: ‚Weiter so, Perry.‘ Aber Ilse war wütend und redete auf dem ganzen Heimweg kein Wort mit ihm. Sie sagte, wie lächerlich, mit so einem Blödsinn angeben zu wollen; ein richtiger Gentleman würde sich nie so verhalten.
Perry sagte darauf: ‚Noch bin ich ja auch kein Gentleman, sondern nur ein Knecht, aber eines Tages, liebes Fräulein Ilse, da werde ich der vornehmste Gentleman sein, den du jemals zu Gesicht gekriegt hast.‘
‚Ein Gentleman ist man, oder man ist es nicht‘, sagte Ilse in gehässigem Ton. ‚Das läßt sich nicht einfach lernen.‘
Ilse hat sich inzwischen fast ganz abgewöhnt, Schimpfwörter zu gebrauchen, so wie früher, wenn sie mit Perry oder mit mir stritt. Dafür macht sie jetzt oft ganz gemeine, bissige Bemerkungen. Die sind viel schlimmer als die Schimpfwörter, aber ich mache mir nichts daraus – zumindest nicht allzuviel oder zumindest nicht lange –, weil ich weiß, daß Ilse es nicht so meint und mich im Grunde genauso gern hat wie ich sie. Aber Perry sagt, es trifft ihn in tiefster Seele, wenn sie so redet. Den restlichen Heimweg sprachen sie kein Wort mehr miteinander, doch gleich am nächsten Tag knöpfte Ilse ihn sich wieder vor, als er es wieder mal mit der Grammatik nicht so genau nahm und es nicht für nötig hielt aufzustehen, wenn eine Dame den Raum betritt.
‚Das ist wohl wirklich zuviel verlangt von dir‘, sagte sie so schnippisch wie möglich, ‚aber was die Grammatik angeht, hat Mr. Carpenter sich wohl die größte Mühe mit dir gegeben.‘
Perry sagte kein Wort zu Ilse, sondern wandte sich mir zu. ‚Sag du mir lieber, wenn ich etwas falsch mache‘, sagte er. ‚Bei dir macht es mir nichts aus – schließlich mußt du mit mir zurechtkommen, wenn wir erwachsen sind, nicht Ilse.‘
Das sagte er nur, um Ilse wütend zu machen, aber ich wurde darüber noch wütender, weil er damit ein Tabu angeschnitten hat. Infolgedessen sprachen wir beide zwei Tage lang nicht mehr mit ihm, aber er sagte nur, dann hätte er wenigstens mal Ruhe vor Ilses Frechheiten.
Perry ist aber nicht der einzige, der sich auf New Moon öfter einen Fehltritt leistet. Gestern abend habe ich selber etwas ganz Dummes gesagt, und ich schäme mich jetzt noch, wenn ich daran denke. Die Damen von der Frauenhilfsorganisation ‚Ladies’ Aid‘ trafen sich bei uns und brachten auch ihre Männer mit. Tante Elizabeth machte für alle Abendessen. Es fand in der Küche statt, weil der Tisch im Eßzimmer zu klein ist. Ilse und ich trugen das Essen auf. Zuerst fanden wir das sehr aufregend, doch nachdem wir alle Leute bedient hatten, wurde es ein wenig langweilig. Ich fing deshalb an, mir ein Gedicht auszudenken, während ich am Fenster stand und in den Garten hinausschaute. Ich war so vertieft, daß ich alles um mich herum vergaß, bis plötzlich Tante Elizabeth mit ihrer scharfen Stimme rief: ‚Emily!‘ und einen auffordernden Blick zu Mr. Johnson, unserem neuen Pfarrer, hinüberwarf. Verwirrt griff ich nach der Teekannne und fragte in meiner Zerfahrenheit: ‚Ach, Entschuldigung, Mr. Tasse, soll ich Ihre Johnson nachfüllen?‘
Alles hat gebrüllt vor Lachen, nur Tante Elizabeth hat ein empörtes Gesicht gemacht, und Tante Laura hat sich geschämt, und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen deswegen. Komischerweise hat mir das mehr ausgemacht, als wenn ich etwas wirklich Schlimmes angestellt hätte. Das ist natürlich wieder mal der ‚Murray-Stolz‘, und wahrscheinlich gehört es sich nicht, so zu denken. Manchmal habe ich die Befürchtung, Tante Ruth Dutton könnte womöglich recht haben mit ihrer schlechten Meinung über mich. Aber nein, sie hat nicht recht!
Trotzdem gehört es zu den Traditionen von New Moon, daß eine Dame sich in jeder Situation so benimmt, wie man es von ihr erwartet, und immer Höflichkeit und Würde zeigt. Meine Frage an den neuen Pfarrer war natürlich alles andere als höflich und würdevoll. Ich bin sicher, daß er in Zukunft jedesmal daran denken muß, wenn er mich sieht, und ich werde mich unter seinen Blicken in Grund und Boden schämen.
Immerhin, jetzt, wo ich es mir von der Seele geschrieben habe, ist es nicht mehr so schlimm. Wenn man sich etwas von der Seele schreibt, kommt einem plötzlich alles nicht mehr so schwierig und schrecklich vor – allerdings auch nicht mehr so herrlich und wunderbar, leider! Alles scheint im selben Augenblick, wo man es niederschreibt, zu schrumpfen. Sogar die Gedichtzeile, die ich mir gerade ausgedacht hatte, bevor mir diese dumme Frage herausrutschte, kommt mir jetzt gar nicht mehr so wunderbar vor:
‚Die Dunkelheit entschwindet auf samtenem Fuß.‘
Irgendwie haben diese Worte jetzt an Reiz verloren. Und doch – während ich so dastand, abseits von dieser schwatzenden und schmatzenden Gesellschaft, und sah, wie die Dunkelheit sich ganz sachte über den Garten und die Hügel legte wie eine in Schatten gehüllte schöne Frau mit Augen wie Sterne, da überkam mich der ‚Blitz‘, und ich vergaß alles um mich herum. Ich hatte nur noch eins im Sinn, nämlich etwas von dieser Schönheit in Worten festzuhalten. Als mir dann diese Gedichtzeile einfiel, hatte ich das Gefühl, als hätte nicht ich sie erdacht, sondern als wollte irgend etwas anderes aus mir sprechen – und dieses andere machte diese Zeile so wunderbar, doch jetzt, wo es fort ist, klingen die Worte nur noch platt und albern und geben nichts von dem wunderbaren Bild wieder, das ich ausdrücken wollte.
Wenn ich doch bloß die Dinge so in Worte fassen könnte, wie ich sie sehe! Mr. Carpenter sagt: ‚Streng dich an – mach weiter so – es liegt dir im Blut, mit Worten umzugehen, mach sie dir zu Sklaven, so lange, bis sie dir gehorchen.‘ Er hat recht, und ich gebe mir ja auch alle Mühe – aber es kommt mir immer so vor, als ob hinter den Worten etwas ist, das mir entwischt, sobald ich es packen will – und das mir doch etwas zurückläßt, was ich ohne den Versuch, es zu ergreifen, nicht bekommen hätte.
Da fällt mir jener Tag im letzten Herbst wieder ein, als Dean und ich über den Berg der Freude bis hinunter zum Wald wanderten – es ist eigentlich ein Tannenwald, nur daß in einer Ecke eine Gruppe herrlicher alter Pinien steht. Wir ließen uns darunter nieder, und Dean las mir vor, unter anderem einige von Scotts Gedichten. Dann schaute er zu den großen, federartigen Zweigen hinauf und sagte: ‚Ich höre die Götter in den Bäumen – die Götter des alten Nordlandes – aus den Sagen der Wikinger. Kennst du die Zeilen, die Emerson geschrieben hat, Sternchen?‘
Und dann sagte er sie mir vor – und sie gefielen mir so gut, daß ich sie heute noch weiß:
‚Die Götter flüstern im Hauch des Waldes,
sie flüstern im Wind, der die Pinie wiegt,
ihre Stimmen erfüllen das Ufer des Meeres,
wo das Schicksal des Dichters begraben liegt.
Ein Wort nur, das beiläufig dringt an sein Ohr,
das öffnet ihm ewiglich Tür und Tor.‘
Dieses beiläufige Wort, genau das ist es, was mir immer wieder entwischt. Sosehr ich auch lausche, sosehr weiß ich doch, daß ich es niemals hören kann – mein Gehör ist nicht fein genug; aber manchmal höre ich sein Echo, ganz schwach und weit entfernt, und dann überkommt mich eine solche Sehnsucht und ein solches Verlangen, seine Schönheit eines Tages in Worte fassen zu können, daß es beinah weh tut.
Trotzdem, ich ärgere mich immer noch, daß ich mich nach diesem wunderschönen Erlebnis so blamiert habe. Wenn ich statt dessen an Mr. Johnson herangeschwebt wäre wie meine samtfüßige Dunkelheit und ihm den Tee aus Ururgroßmutter Murrays Silberkanne mit denselben graziösen Bewegungen eingeschenkt hätte wie meine Schattenfrau, dann hätte ich damit Tante Elizabeth viel mehr imponiert als mit dem wunderbarsten Gedicht der Welt.
Cousin Jimmy ist da ganz anders. Als wir heute abend mit unserem Pflanzenkatalog fertig waren, habe ich ihm mein Gedicht aufgesagt, und er fand es sehr schön. (Schließlich konnte er ja auch nicht wissen, wie wenig es eigentlich aussagte im Vergleich zu dem, was ich in meiner Phantasie gesehen hatte.) Cousin Jimmy erfindet auch Gedichte. An manchen Stellen funktioniert sein Gedächtnis einwandfrei. Nur dort, wo sein Gehirn verletzt wurde, damals, als Tante Elizabeth ihn in den Brunnen gestoßen hat, da ist nichts. Nur Leere. Deswegen sagen die Leute, er sei einfältig, und Tante Ruth behauptet sogar, er könne noch nicht einmal bis zehn zählen. Aber wenn man die Stellen in seinem Gehirn, die klug sind, zusammenzieht, dann gibt es in Blair Water keinen, der auch nur halb soviel Klugheit besitzt wie er – noch nicht mal Mr. Carpenter. Das Dumme ist nur, daß man die klugen Stellen nicht zusammenziehen kann, weil da immer diese Furchen dazwischenliegen. Aber ich liebe Cousin Jimmy, und ich habe kein bißchen Angst vor ihm, wenn er hin und wieder diese komischen Anwandlungen hat. Alle anderen haben dann Angst vor ihm – sogar Tante Elizabeth, wobei das bei ihr auch das schlechte Gewissen sein kann. Nur Perry hat keine Angst. Er gibt gerne damit an, daß er vor gar nichts Angst hat – und noch nicht einmal weiß, was Angst ist. Das muß herrlich sein. Ich wünschte, ich könnte auch so ganz ohne Angst sein. Mr. Carpenter sagt, Angst sei etwas Abscheuliches, weil sie fast immer die Ursache sei für Unrecht und Haß auf der Welt.
‚Treibe sie aus‘, sagt er. ‚Vertreibe sie aus deinem Herzen. Angst ist ein Zeichen von Schwäche. Das, wovor man Angst hat, ist stärker als du, zumindest glaubst du, daß es so ist, sonst hättest du ja keine Angst davor. Denk an Emerson – tu immer das, wovor du Angst hast.‘
Aber das ist leichter gesagt als getan, wie Dean immer sagt, und ich glaube nicht, daß ich das jemals schaffe. Um ehrlich zu sein, es gibt eine ganze Menge Dinge, vor denen ich Angst habe, aber es gibt immerhin nur zwei Menschen auf der ganzen Welt, die mir ernsthaft angst machen. Das sind Mrs. Kent und Mr. Morrison, der Verrückte. Vor ihm habe ich schreckliche Angst, und die meisten anderen Leute wohl auch. Er wohnt in Derry Pond, aber er ist fast nie zu Hause – statt dessen irrt er überall herum und sucht nach seiner verschollenen Braut. Er war erst wenige Wochen verheiratet, als seine junge Frau starb. Das ist schon viele Jahre her, und seitdem ist er nicht mehr ganz richtig im Kopf. Er behauptet steif und fest, sie sei nicht tot, sondern nur verschollen, und er ist sicher, daß er sie eines Tages finden wird. In all den Jahren der Suche ist er alt und krumm geworden, aber sie ist für ihn immer noch jung und hübsch.
Letzten Sommer kam er mal bei uns vorbei. Er steckte bloß mit sehnsüchtigem Blick den Kopf zur Küchentür herein und fragte: ‚Ist Annie hier?‘ An dem Tag war er recht freundlich, er kann aber auch richtig bösartig sein. Er behauptet, Annie würde ständig nach ihm rufen – ihre Stimme würde immerzu vor ihm herhuschen, ähnlich wie das Wort, hinter dem ich ständig her bin. Er hat ein ganz zerfurchtes Gesicht, und er sieht aus wie ein uralter Affe. Aber am widerwärtigsten finde ich seine rechte Hand – sie ist von Geburt an ganz dunkelrot. Ich weiß nicht, warum, aber wenn ich diese Hand sehe, erschrecke ich zu Tode. Nicht auszudenken, wenn ich die anfassen müßte! Außerdem hat er oft so ein schreckliches Lachen. Das einzige Lebewesen, um das er sich wirklich kümmert, ist anscheinend sein alter schwarzer Hund, der immer an seiner Seite ist. Die Leute sagen, Mr. Morrison würde lieber hungern, als irgend jemanden um ein Stück Brot zu bitten. Aber für seinen Hund würde er betteln gehen. Ich habe wirklich schreckliche Angst vor ihm und war deshalb heilfroh, daß er an jenem Tag nicht ins Haus kam. Tante Elizabeth schaute ihm noch nach, wie er mit seinem wallenden grauen Haar davonstapfte, und sie sagte: ‚Fairfax Morrison war früher so ein eleganter, intelligenter junger Mann mit den besten Aussichten. Gottes Wege sind eben unergründlich.‘
‚Aber dafür um so interessanter‘, sagte ich.
Da runzelte Tante Elizabeth die Stirn und sagte, ich soll nicht so ehrfurchtslos sein – wie immer, wenn ich über Gott spreche. Es paßt ihr auch nicht, wenn Perry und ich uns über Gott unterhalten, wo doch Perry sich so für Gott interessiert und alles über ihn erfahren möchte. Einmal habe ich Perry erzählt, wie ich mir Gott vorstelle; Tante Elizabeth hat heimlich gelauscht und dann zu mir gesagt, sie fände es skandalös, wie ich über ihn rede.
Aber das finde ich überhaupt nicht. Das eigentliche Problem ist, daß Tante Elizabeths Gott sich von meinem unterscheidet. Ich glaube, jeder hat einen anderen Gott. Der von Tante Ruth zum Beispiel ist einer, der ihre Feinde bestraft – er ‚verurteilt‘ sie. Mir scheint, das ist das einzige, wozu er ihr nützlich ist. Jim Cosgrain braucht seinen Gott ständig zum Schwören. Tante Janey Milburn wiederum wandelt im Schein seines Antlitzes und macht immerzu ein verzücktes Gesicht.
So, nun habe ich genug geschrieben für heute abend und werde jetzt zu Bett gehen. Ich weiß, ich habe wieder viel zu viele ‚Worte verschwendet‘ – auch so eine literarische Entgleisung, wie Mr. Carpenter behauptet.
‚Du gehst viel zu verschwenderisch mit den Worten um. Du mußt lernen, sparsam und zurückhaltend zu sein.‘
Natürlich hat er recht, und in meinen Aufsätzen und Geschichten versuche ich ja auch, mich an seinen Grundsatz zu halten. Aber in meinem Tagebuch, das niemand liest außer mir und das auch nach meinem Tod niemand lesen wird, da will ich meinen Gedanken freien Lauf lassen.“
Emily warf einen Blick auf die Kerze – auch sie war beinah erloschen. Und sie wußte, daß sie für heute keine weitere Kerze bekommen würde – auch einer von Tante Elizabeths Grundsätzen. Emily legte ihr Tagebuch zurück in den Hängeschrank rechts über dem Kaminsims, löschte das Feuer im Kamin, zog sich aus und blies die Kerze aus. Langsam breitete sich im Zimmer das schwache, gespenstische Licht des Vollmonds aus, das durch die vorüberjagenden Sturmwolken fiel. Und gerade, als Emily in ihr hohes schwarzes Bett schlüpfen wollte, da kam ihr plötzlich eine Idee – eine herrliche Idee für eine neue Geschichte. Im Zimmer wurde es kalt, und sie fröstelte. Aber die Idee mußte unbedingt aufgegriffen werden. Emily fuhr mit der Hand unter ihr dickes Federbett und zog eine halb niedergebrannte Kerze hervor, die sie dort heimlich für Notfälle wie diesen versteckt hielt.
Das war natürlich nicht gerade anständig. Aber schließlich habe ich nie behauptet – und ich werde es auch nie behaupten –, daß Emily ein anständiges Kind sei. Über anständige Kinder schreibt man keine Bücher. Sie wären so langweilig, daß niemand sie lesen würde. Emily zündete also die Kerze an, zog Strümpfe und einen dicken Mantel an, holte ein anderes halbvolles Jimmy-Buch hervor und fing beim flackernden Schein der Kerze an zu schreiben. Und so schrieb sie fort, während die Stunden der Nacht dahinschlichen und die anderen Bewohner von New Moon friedlich schlummerten; sie fror, und ihre Hand wurde langsam steif, aber sie bemerkte nichts davon. Ihre Augen brannten – ihre Wangen glühten –, die Worte folgten dem Ruf ihrer Feder wie Scharen gehorsamer Geister. Mit einem sprühenden Funken und einem Zischen in dem kleinen Teich geschmolzenen Talgs erlosch schließlich ihre Kerze. Mit einem Seufzer und einem Zittern kehrte Emily in die Wirklichkeit zurück. Es war zwei Uhr, und sie war todmüde und völlig ausgekühlt; aber sie hatte ihre Geschichte zu Ende geschrieben, und es war die beste Geschichte, die sie je geschrieben hatte. Mit dem Gefühl tiefster Zufriedenheit kroch sie in ihr kaltes Nest und ließ sich vom abflauenden Sturm in den Schlaf singen.
Dieses Buch wird sich nicht nur aus Emilys Tagebucheintragungen zusammensetzen; aber ein paar Auszüge, die für sich gesehen nicht interessant genug wären für ein ganzes Kapitel, die jedoch wichtig sind, um Emily und ihre Mitmenschen besser verstehen zu können, möchte ich noch einfügen. Außerdem, wenn man schon Material zur Verfügung hat, warum soll man es nicht verwenden? Emilys „Tagebuch“, mit all seinen unausgegorenen Ausdrücken und schräg geschriebenen Betonungen vermittelt doch eigentlich ein viel genaueres Bild von ihr, von ihrer Phantasie und ihrer Selbstbeobachtungsgabe als jede Biographie, und sei sie noch so wohlwollend geschrieben. Wir wollen also noch einmal einen heimlichen Blick in das vergilbte „Jimmy-Buch“ werfen, das vor langer, langer Zeit im „Aussichtszimmer“ von New Moon geschrieben wurde.
„15. Februar 19…
Ich habe beschlossen, jeden Tag meine guten und meine bösen Taten in dieses Tagebuch zu schreiben. Diese Idee habe ich einem Buch entnommen. Ich habe fest vor, ganz ehrlich dabei zu sein. Die guten Taten aufzuschreiben dürfte leicht sein, mit den bösen sieht es da schon ein wenig anders aus.
Heute habe ich nur eine einzige böse Tat begangen – das heißt, ich glaube, daß es eine war. Ich war nämlich ungezogen zu Tante Elizabeth. Sie meinte, ich brauche zu lange zum Geschirrabwaschen. Dabei war überhaupt keine Eile geboten, und so habe ich mir währenddessen eine Geschichte ausgedacht; sie heißt Das Geheimnis der Mühle. Tante Elizabeth warf erst einen Blick auf mich und dann auf die Uhr und fragte in ihrem ekligsten Ton: ‚Geht es nicht noch langsamer, Emily?‘
‚Nein, tut mir leid‘, sagte ich, und zwar von oben herab.
Dabei war nicht das, was ich gesagt habe, ungezogen, sondern die Art, wie ich es gesagt habe. Aber das war meine volle Absicht. Ich war eben wütend – solche Boshaftigkeiten machen mich einfach rasend. Hinterher tat es mir leid – aber nicht etwa, weil ich mich schlecht benommen habe, sondern weil ich es albern und unehrenhaft von mir fand, so zu reagieren. Richtige Reue war das also eigentlich nicht.
Und was die guten Taten angeht, so habe ich heute gleich zwei vollbracht. Und zwar habe ich zwei kleine Lebewesen vor dem Tod gerettet: Saucy Sal hatte einen Schneefinken gefangen, und ich nahm ihr den armen Kerl weg. Er schwirrte sofort davon, und ich bin sicher, er war überglücklich. Später ging ich in den Keller und fand dort eine Maus, die mit einem Bein in die Mausefalle geraten war. Das arme Ding war vom vielen Zappeln schon ganz erschöpft, und dieser Blick in den kleinen schwarzen Äuglein! Ich konnte es nicht ertragen. Also befreite ich sie, und sie huschte ganz flink davon, trotz ihres verletzten Beinchens. Was diese Tat angeht, habe ich gewisse Zweifel. Vom Standpunkt der Maus aus war es sicher eine gute Tat, aber von Tante Elizabeths Standpunkt aus …?
Heute abend haben Tante Laura und Tante Elizabeth eine Schachtel alter Briefe verbrannt. Zuvor haben sie jeden einzelnen laut vorgelesen und ihren Kommentar dazu abgegeben, während ich in der Ecke saß und an meinen Strümpfen weiterstrickte. Die Briefe waren höchst interessant, und ich erfuhr eine ganze Menge über die Murrays, was ich bis dahin noch nicht wußte. Ich finde es wunderbar, zu so einer Familie zu gehören. Kein Wunder, daß die Leute von Blair Water uns ‚das auserwählte Volk‘ nennen – auch wenn sie es nicht als Kompliment meinen. Ich glaube, es ist meine Pflicht, mich an die Traditionen der Familie zu halten.
Heute kam ein langer Brief von Dean Priest. Er verbringt den Winter in Algier. Er schreibt, daß er im April zurückkommt und sich in den Sommermonaten bei seiner Schwester, Mrs. Fred Evans, einquartieren will. Ich freue mich sehr. Wie schön, daß er den ganzen Sommer in Blair Water sein kann. Niemand spricht so mit mir wie er. Ich kenne sonst niemanden in seinem Alter, der so nett und interessant ist. Tante Elizabeth sagt, er sei egoistisch wie alle Priests. Aber das sagt sie nur, weil sie die Priests nicht mag. Und sie nennt ihn immer Huckebein, das versetzt mir jedesmal einen Stich. Es stimmt zwar, daß Dean ein wenig krumm ist, aber das ist schließlich nicht seine Schuld. Einmal habe ich zu Tante Elizabeth gesagt, ich möchte nicht, daß sie meinen Freund so nennt, aber da hat sie nur geantwortet: ‚Ich habe doch den Spitznamen für deinen Freund nicht erfunden, Emily. Seine ganze Sippschaft hat ihn nie anders als Huckebein genannt. Feingefühl war schließlich noch nie ihre Stärke!‘
Auch Teddy hat einen Brief von Dean bekommen, und dazu noch ein Buch über berühmte Maler – Michelangelo, Raffael, Velazquez, Rembrandt, Tizian. Teddy sagt, seine Mutter dürfte das Buch auf keinen Fall sehen, sonst würde sie es verbrennen. Ich bin sicher, wenn Teddy seine Chance bekäme, dann würde er ein genauso großer Künstler werden wie die in seinem Buch.
18. Februar 19…
Heute abend habe ich eine Geschichte geschrieben. Tante Elizabeth hat es mitbekommen und war sehr ärgerlich. ‚Reine Zeitverschwendung‘, schimpfte sie. Aber es war keine Zeitverschwendung. Ich bin mit dieser Geschichte gewachsen – das weiß ich ganz genau. Und gewisse Sätze gefielen mir besonders gut, zum Beispiel: ‚Ich fürchte mich vor dem grauen Wald‘ oder ‚weiß und erhaben, einem Mondstrahl gleich, schritt sie durch den dunklen Wald.‘ Ich finde, das klingt sehr hübsch. Aber immer, wenn ich etwas besonders hübsch finde, dann sagt Mr. Carpenter, ich soll es streichen. Aber das kann ich unmöglich streichen! – jedenfalls jetzt noch nicht. Das Komische ist nämlich, daß mir die Stellen, die ich streichen soll, ungefähr drei Monate später selber nicht mehr gefallen. Ich bin dann plötzlich seiner Meinung und schäme mich dafür. Heute hat mir Mr. Carpenter ziemlich schonungslos seine Meinung über meinen letzten Aufsatz gesagt. Nichts daran hat ihm gepaßt.
‚Drei Achs in einem Absatz, Emily! Eins wäre schon zuviel gewesen! Unwiderstehlicher – Emily, um Himmels willen, was für eine Steigerung! Das ist wirklich unverzeihlich.‘
Recht hatte er. Ich sah es ein und schämte mich in Grund und Boden. Dann, nachdem Mr. Carpenter beinah jeden Satz rot angestrichen, an all meinen hübschen Sätzen herumgenörgelt, an meinen Satzkonstruktionen herumkritisiert und mir schließlich noch vorgeworfen hatte, ich würde alles, was ich schreibe, mit Vorliebe ‚auf die Spitze treiben‘, schleuderte er mir mein Aufsatzheft wutentbrannt vor die Füße, raufte sich die Haare und schrie: ‚Du und schreiben! Mädchen, schnapp dir lieber einen Löffel und lerne kochen!‘
Damit ließ er mich stehen und fluchte noch eine Weile vor sich hin. Ich hob meinen armseligen Aufsatz auf, aber ich nahm die Sache nicht allzu tragisch. Kochen kann ich nämlich schon, und davon abgesehen habe ich Mr. Carpenter durchschaut: Je besser meine Aufsätze sind, desto lauter schimpft er über sie. Also muß dieser Aufsatz besonders gut gewesen sein. Was ihn so ungeduldig und wütend macht, ist, daß ich es noch besser hätte machen können, wenn ich nicht so nachlässig oder so faul wäre. Er kann es nun mal nicht ertragen, wenn jemand nicht sein Bestes gibt. Und er würde sich gar nicht erst mit mir abgeben, wenn er nicht so große Hoffnungen in mich setzen würde!
5. März 19…
Ich glaube, ich habe heute eine gute Tat vollbracht. Jason Merrowby war hier und hat Cousin Jimmy beim Holzsägen geholfen – und da habe ich gesehen, wie er in den Schweinestall geschlichen ist und einen ordentlichen Schluck aus einer Whiskeyflasche genommen hat. Aber ich habe es niemandem verraten – das war eine gute Tat.
Vielleicht sollte ich es Tante Elizabeth sagen, aber dann würde sie ihn nie wieder bei uns aushelfen lassen, und er ist doch wegen seiner armen Frau und seiner Kinder auf jede Arbeit angewiesen. Oft ist es gar nicht so leicht zu sagen, wann eine Tat gut und wann sie schlecht ist.
20. März 19…
Gestern war Tante Elizabeth böse auf mich, weil ich mich geweigert habe, ein ‚Nachrufgedicht‘ auf Peter DeGeer zu schreiben, der letzte Woche gestorben ist. Mrs. DeGeer hatte mich darum gebeten. Ich sagte nein – eine Frechheit, mich um so etwas zu bitten! Ich finde, damit würde ich meine eigene Kunst entwürdigen. Das habe ich natürlich nicht zu Mrs. DeGeer gesagt. Erstens wollte ich sie nicht kränken, zweitens hätte sie sowieso nicht verstanden, was ich damit meine. Sogar Tante Elizabeth verstand es nicht, als ich ihr klarmachen wollte, warum ich abgelehnt habe.
,Du schreibst ellenlang kitschiges Zeug, das keinen interessiert’, sagte sie. ‚Ich finde, du könntest ruhig einmal etwas Sinnvolles schreiben. Du hättest damit der armen alten Mary DeGeer eine große Freude gemacht. Entwürdigung deiner Kunst, daß ich nicht lache! Wenn du schon den Mund aufreißen mußt, Emily, dann sprich wenigstens vernünftig!‘
Also ging ich dazu über, vernünftig zu sprechen: ‚Tante Elizabeth‘, sagte ich ernst, ‚kannst du mir sagen, was ich in diesem Nachruf hätte schreiben sollen? Ich werde doch nicht lügen, nur, um jemandem eine Freude zu machen! Und du weißt so gut wie ich, daß man über den alten Peter DeGeer nichts Gutes sagen kann, ohne lügen zu müssen!‘
Tante Elizabeth wußte das sehr wohl, und sie ärgerte sich um so mehr, weil ich sie jetzt in Verlegenheit brachte. Sie ging mir so auf die Nerven, daß ich auf mein Zimmer ging und aus Rache ein ‚Nachrufgedicht‘ über Peter schrieb. Es macht wirklich Spaß, einen ehrlichen Nachruf über jemanden zu schreiben, den man nicht mag. Nicht, daß ich Peter DeGeer verabscheut hätte; ich mochte ihn einfach nicht besonders, so wie die meisten Leute. Es ging nur darum, daß Tante Elizabeth mich geärgert hatte, und wenn ich wütend bin, dann kann ich ganz besonders bissig schreiben. Und wieder hatte ich das Gefühl, als ob dieses Etwas aus mir schreibt – diesmal allerdings ein ganz anderes Etwas als sonst –, ein böses, gehässiges Etwas, das sich daran ergötzte, über den armen alten Peter DeGeer herzuziehen, so faul und unbeholfen und unehrlich und dumm und scheinheilig, wie er war. Ideen – Worte – Reime –, alles schien von selbst zu fließen, während dieses Etwas sich ins Fäustchen lachte.
Ich fand mein Gedicht so gelungen, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, es heute mit in die Schule zu nehmen und es Mr. Carpenter zu zeigen. Ich dachte, es könnte ihm gefallen – und ich glaube, in gewisser Weise gefiel es ihm auch, doch als er es fertiggelesen hatte, legte er es beiseite und schaute mich an. ‚Ich kann mir schon vorstellen, daß es Spaß macht, eine Satire über einen Versager zu schreiben‘, sagte er. ‚Der arme alte Peter war ein Versager – möglich, daß sein Schöpfer mit ihm Erbarmen hat, seine Mitmenschen haben jedenfalls keins. Wenn ich mal tot bin, schreibst du dann so etwas über mich? Du hast Talent – ja, das sieht man ganz deutlich –, wirklich, sehr gelungen. Es ist geradezu unheimlich, wie ein Mädchen in deinem Alter den schwachen und niederträchtigen Charakter eines Menschen so deutlich wiedergeben kann. Aber ist es wirklich der Mühe wert, Emily?’
‚Nein – nein’, sagte ich. Ich schämte mich so, daß ich am liebsten fortgelaufen wäre und geweint hätte. Glaubte Mr. Carpenter denn allen Ernstes, ich würde so etwas über ihn schreiben nach all dem, was er für mich getan hat?
‚Es lohnt sich nicht‘, sagte Mr. Carpenter. ‚Satirisch zu schreiben mag hier und da angebracht sein, aber überlasse das lieber den großen Genies. Es ist besser, zu heilen als zu verletzen. Das weiß jeder, der ein Versager ist, auch ich.‘
‚Ach, Mr. Carpenter!’ fing ich an, und ich wollte noch sagen, daß er doch bestimmt kein Versager sei – alles mögliche wollte ich noch sagen –, aber er ließ mich nicht.
‚Schon gut, schon gut, Emily, wir wollen nicht davon sprechen. Wenn ich tot bin, dann sag: ‚Er war ein Versager, und niemand wußte es besser als er.’ Verzeih den Versagern, Emily. Über einen schlechten Menschen kannst du meinetwegen eine Satire schreiben, aber mit einem schwachen solltest du Mitleid haben.’
Damit ließ er mich stehen und rief die Schüler herein. Jetzt bin ich todunglücklich, und bestimmt kann ich heute nacht nicht schlafen. Aber seine Worte haben mir zu denken gegeben, und ich schreibe sie hiermit feierlich in mein Tagebuch: Es ist besser, zu heilen als zu verletzen. Und ich schreibe das jetzt in Schrägschrift, denn es ist mir sehr, sehr ernst.
Allerdings habe ich das Gedicht nicht zerrissen; ich konnte es einfach nicht, dazu ist es mir zu gut gelungen. Ich verstaute es in meinem Gedichtschrank, damit ich es ab und zu noch einmal lesen kann, aber nur zu meinem eigenen Vergnügen; jemand anders soll es nie wieder zu Gesicht bekommen.
Es tut mir so leid, daß ich Mr. Carpenter verletzt habe!
28. April 19…
Vor zwei Wochen habe ich mein allerbestes Gedicht mit dem Titel Windgesang bei einer New Yorker Zeitschrift eingeschickt. Heute kam es zurück mit einer kurzen Notiz, auf der gedruckt stand: ‚Leider haben wir für diesen Beitrag keine Verwendung.‘
Ich bin zutiefst betroffen. Ich glaube, ich bin wirklich nicht in der Lage, etwas Brauchbares zu schreiben.
Aber ich werde es schaffen! Diese Zeitschrift wird sich eines Tages darum reißen, meine Gedichte zu veröffentlichen!
Mr. Carpenter weiß nicht, daß ich das Gedicht eingeschickt habe. Er hätte ja doch kein Verständnis dafür. Er sagt, in fünf Jahren sei es immer noch früh genug, den Zeitungen auf die Nerven zu fallen. Dabei sind viele von den Gedichten, die ich in dieser Zeitschrift gelesen habe, mit Sicherheit nicht besser als mein Windgesang.
Im Frühjahr habe ich am meisten Lust, Gedichte zu schreiben. Mr. Carpenter sagt, ich soll dagegen ankämpfen, denn der größte Quatsch würde immer im Frühjahr geschrieben.
1. Mai 19…
Dean ist wieder zurück. Er kam gestern bei seiner Schwester an und hat mich heute abend besucht. Wir spazierten durch den Garten bei der Sonnenuhr und unterhielten uns. Ich freue mich, ihn wieder bei mir zu haben, mit seinen geheimnisvollen grünen Augen und seinem hübschen Mund.
Wir unterhielten uns sehr lange. Dabei redeten wir über alles mögliche – über Algier und über Seelenwanderung, über Einäscherung und über Gesichtsformen – Dean sagt, ich hätte ein schönes Profil, ‚richtig griechisch‘. Deans Komplimente habe ich schon immer gern gemocht.
‚Bist du aber groß geworden, mein Morgenstern!‘ sagte er zur Begrüßung. ‚Im Herbst warst du noch ein Kind – und jetzt bist du schon eine junge Frau!‘
(In drei Wochen werde ich vierzehn, und ich bin ziemlich groß für mein Alter. Dean scheint das zu gefallen – ganz im Gegensatz zu Tante Laura, die jedesmal einen Seufzer ausstößt, wenn sie meine Kleider verlängern muß. Sie findet, Kinder wachsen viel zu schnell.)
‚So vergeht die Zeit‘, sagte ich; ich zitierte damit den Spruch auf der Sonnenuhr und kam mir ungeheuer weltklug vor.
‚Du bist fast schon so groß wie ich‘, sagte Dean und fügte niedergeschlagen hinzu: Aber ich weiß schon, Huckebein Priest ist nicht gerade von aufrechter Statur.‘
Ich habe bisher immer vermieden, seine krumme Schulter zu erwähnen. Aber jetzt sagte ich: ‚Dean, du sollst nicht über dich selbst spotten, zumindest nicht in meiner Gegenwart. Daß deine Schulter nicht ganz gerade gewachsen ist, hat mich noch nie gestört.‘
Da nahm Dean meine Hand und schaute mir tief in die Augen, so, als ob er mir tief ins Herz sehen wollte. ‚Bist du dir da ganz sicher, Emily? Wäre es dir nicht lieber, ich wäre nicht lahm – und krumm?‘
‚Doch, um deinetwillen‘, sagte ich, ‚aber was mich betrifft, macht es nicht den geringsten Unterschied – und das wird auch immer so bleiben.‘
‚Immer so bleiben!‘ wiederholte Dean mit Nachdruck. ‚Wenn ich mir dessen doch nur sicher sein könnte, Emily!‘
‚Du kannst dir sicher sein‘, versicherte ich. Es ärgerte mich, daß er ganz offensichtlich daran zweifelte. Etwas an seinem Gesichtsausdruck verunsicherte mich außerdem, und mir fiel plötzlich wieder ein, was er damals gesagt hatte, als er mir an dem Abhang über der Küste zu Hilfe kam: Dein Leben gehört mir, weil ich dich gerettet habe. Der Gedanke gefällt mir nicht, ich will nicht, daß mein Leben jemand anderem gehört als mir, auch nicht Dean, und wenn ich ihn noch so gern habe. In gewisser Hinsicht habe ich ihn sogar lieber als sonst irgend jemanden auf der Welt.
Als es dunkel wurde, beobachteten Dean und ich Sterne durch sein wunderbares neues Fernglas. Das war richtig aufregend. Dean weiß alles über die Sterne – mir scheint, er weiß überhaupt alles. Doch als ich ihm das sagte, meinte er nur: ‚Es gibt etwas, was ich nicht weiß – und ich würde alles, was ich weiß, dafür geben, es zu erfahren; aber vielleicht erfahre ich es nie. Was kann ich tun, damit mein Herzenswunsch – mein Herzenswunsch – ’
‚Was meinst du?‘ fragte ich neugierig.
‚Damit mein Herzenswunsch in Erfüllung geht‘, sagte Dean und blickte sehnsüchtig zu einem funkelnden Stern über den Drei Prinzessinnen hinauf. Jetzt kommt mir dieser Wunsch so unerreichbar vor wie dieser Stern, der so funkelt wie ein Edelstein. Aber – wer weiß?‘
Ich möchte zu gern wissen, was Deans Herzenswunsch ist.
4. Mai 19…
Dean hat mir aus Paris eine hübsche Mappe mitgebracht, und ich habe meinen Lieblingsvers aus dem Gedicht Der Gefranste Enzian auf die Innenseite geschrieben. Ich werde ihn jeden Tag aufs neue lesen und daran denken, was ich mir einmal geschworen habe: den steilen Weg zum Gipfel zu erklimmen. Ich glaube, ich werde ganz schön klettern müssen. Früher dachte ich immer, ich brauche meinem Ziel nur entgegenzufliegen. Mr. Carpenter hat mir diese Illusion ausgetrieben. ‚Du mußt deine ganze Kraft einsetzen und darfst nie den Mut verlieren – das ist die einzige Möglichkeit‘, sagt er.
Heute nacht habe ich mir schon ein paar hübsche Titel zu den Büchern ausgedacht, die ich einmal schreiben werde: Eine Dame von hohem Rang, Auf Treu und Glauben, Das Königreich am See. Jetzt fehlen mir zu den Titeln nur noch Ideen!
Ich schreibe gerade an einer Geschichte mit der Überschrift ‚Das Haus unter den Vogelbeerbäumen‘ – auch ein ganz guter Titel, finde ich. Aber mit dem Liebesgeflüster stehe ich immer noch auf Kriegsfuß. Alles, was ich in dieser Richtung schreibe, klingt so steif und albern, daß ich jedesmal wütend werde. Ich habe Dean gefragt, ob er mir das nicht beibringen kann, denn immerhin hat er es mir vor langer Zeit versprochen; aber er hat gesagt, ich sei noch zu jung – und dabei hat er mich wieder mit diesem komischen Blick angesehen, der seinen Worten einen tieferen Sinn zu geben scheint. Ich wünschte, ich könnte mich auch so vielsagend ausdrücken; das macht einen richtig interessant.
Heute abend haben Dean und ich draußen auf der Bank gesessen und noch einmal Die Alhambra zusammen gelesen. Bei diesem Buch kommt es mir immer so vor, als öffnete ich eine Tür, die direkt ins Märchenland führt.
‚Wie gern würde ich die Alhambra sehen!‘ sagte ich.
‚Eines Tages werden wir sie uns ansehen – zusammen‘, sagte Dean.
‚Ach, das wäre schön!‘ rief ich aus. ‚Glaubst du das wirklich, Dean?‘
Im selben Augenblick hörte ich Teddys Pfeifen in Lofty Johns Busch – dieses nette kleine Pfeifen mit den zwei kurzen hohen Tönen und dem langen tiefen Ton; das ist unser Zeichen.
‚Entschuldige, ich muß gehen, Teddy ruft mich‘, sagte ich.
‚Mußt du denn immer gehen, wenn Teddy ruft?‘ fragte Dean.
Ich nickte und erklärte es ihm: ‚Wenn er pfeift, dann weiß ich, daß er mich dringend braucht, und ich habe ihm versprochen zu kommen, wann immer es möglich ist.‘
‚Ich bin es, der dich dringend braucht!‘ sagte Dean. ‚Ich bin heute abend doch eigens hierher gekommen, um mit dir Die Alhambra zu lesen.‘
Da war ich plötzlich ganz unglücklich. Zu gern wäre ich bei Dean geblieben, aber es zog mich zu Teddy. Dean schaute mich durchdringend an. Dann klappte er Die Alhambra zu. ‚Geh‘, sagte er. Ich ging, aber irgendwie war jetzt alles verdorben.
10. Mai 19…
Ich habe drei Bücher gelesen, die Dean mir diese Woche geliehen hat. Das eine erinnert an einen Rosengarten – es ist sehr hübsch, aber eine Spur zu niedlich. Das andere ist wie der würzige Duft eines Tannenwaldes – es gefiel mir gut, obwohl es mich auch ein wenig wehmütig gestimmt hat. Es war so schön geschrieben – so werde ich bestimmt niemals schreiben können. Das dritte Buch hat mich eher an einen Schweinestall erinnert. Dean hat es mir aus Versehen gegeben. Als er das feststellte, hat er sich große Vorwürfe gemacht.
‚Sternchen – verzeih mir, daß ich dir dieses Buch gegeben habe, das liegt nur an meiner verflixten Nachlässigkeit. Es war bestimmt keine Absicht. Es ist eine andere Welt, die in dem Buch beschrieben ist – aber zum Glück nicht deine Welt; es wird auch nie deine Welt werden. Sternchen, versprich mir, daß du dieses Buch vergißt.