Heinz G. Konsalik
Roman
An einem sonnigen Morgen im Spätsommer – genau am 3. September um acht Uhr zweiundvierzig – ereignete sich in Paris, an der Ecke der Avenue George V. und der Champs-Elysées, ein Verkehrsunfall. Kein Polizeibericht erwähnte ihn später, es erschien kein Flic, um den Vorfall aufzunehmen und ein Protokoll anzufertigen, ja selbst die Passanten blickten nur mit einem Auge hin und gingen weiter – so wenig wichtig war dieser kleine Unfall.
Ein Radfahrer stieß mit einem Mädchen zusammen, das gerade die Straße überquerte. Es gab keine Toten, nicht einmal Verletzte, nur das alte, klapprige Fahrrad brach auseinander, und drei unbemalte Leinwandrahmen, eine Palette und ein Kasten mit Ölfarben und Pinseln schlitterten über den Asphalt. Ein nachfolgendes Auto stoppte, fuhr einen Bogen um die Trümmer und bog dann in die Champs-Elysées ein. Der Fahrer grinste, winkte dem Radfahrer zu, warf einen Blick auf das Mädchen, schnalzte mit der Zunge, sagte vor sich hin: »O lala!«, und fädelte sich in den Pariser Morgenverkehr ein, eine Kunst, die höchste Konzentration verlangt.
Pierre de Sangries war sofort aufgesprungen, als er nach dem Zusammenstoß plötzlich auf der Straße lag, gab den Trümmern des Fahrrades, seinen Leinwänden, der zusammenklappbaren Staffelei und was sonst noch herumlag, einige Tritte, beförderte alles an den Straßenrand und wandte sich dann dem Mädchen zu, das auf dem Asphalt saß und sich das Knie rieb. Doch bevor er helfen konnte, sprang das Mädchen auf und hinkte, kaum merkbar, auf den Bürgersteig.
»Sie Trottel!«, sagte sie dabei. »Sind Sie blind?«
»Vielleicht.« Pierre de Sangries strich seine dünne Leinenjacke gerade und betrachtete wehmütig die Überbleibsel seines Rades. »Wenn ich die Reden der Kunsthändler höre, die meine Bilder betrachten, verstärkt sich immer mehr der Eindruck, dass ich wirklich blind bin. Haben Sie sich verletzt, Mademoiselle?«
»Sie sehen – nein.«
»Sie hinken.«
»Es ist schon vorbei –«
Sie wandte sich schroff ab und wollte weiterlaufen, aber Pierre hielt sie am Ärmel ihres Kleides fest. Ein schönes Kleid, dachte er. Rot-weiß-blau gestreift … die französischen Farben. Eine Patriotin im Unterbewusstsein.
»Sehen Sie sich Fifi an …«, sagte er dabei.
»Lassen Sie mich los!«
Ihr Kopf flog herum, ihre Augen schleuderten einen Blick auf ihn, der ihn traf wie eine Speerspitze. Tiefblaue Augen in einem ovalen Gesicht. Ein Rahmen aus blonden gelockten Haaren, in der vom Morgendunst gebrochenen Sonne schimmernd wie Metallfäden.
»Ich bin ein armer Mensch –«, sagte Pierre und ließ ihren Ärmel los. Sie zerrte an seinem Griff, und das fiel den Passanten mehr auf als der Zusammenprall. Wenn ein Mädchen sich gegen einen Mann wehrt, wird selbst der älteste Pariser zum beschützenden Kavalier. Pierre begann verzeihend zu grinsen, blinzelte einigen kritisch hinblickenden Männern zu und hob die Schultern. Die Mädchen, Messieurs … jeder Mann sollte einen Pflichtunterricht als Dompteur durchmachen.
»Fifi war mein einziges, noch funktionierendes Kapital. Es hatte zwei Räder, einen Rahmen, eine Lenkstange und einen Sattel. Was ist von ihm geblieben?«
Das Mädchen antwortete nicht. Sie streifte ihn nur mit einem Blick, der alle Schärfe verloren hatte, ein Blick, der das ganze Gesicht verwandelte und ihm etwas Fernes, Entrücktes, Geistesabwesendes verlieh, dann wandte sich das Mädchen ab, ganz langsam, als stünde sie auf einer Drehscheibe, und ging davon. Zuerst steifbeinig wie eine maschinelle Puppe, dann immer schneller … Nach ungefähr zehn Schritten begann sie zu laufen und tauchte in dem Strom der Fußgänger unter.
»Mademoiselle!«, rief Pierre und lief ihr nach. »He! Bleiben Sie stehen! Sie haben Fifi zertrümmert … das ist eine Tasse Kaffee wert –«
Aber sie war schneller als er, hatte schon zu viel Vorsprung, und er sah nur noch ein paar Streifen ihres vaterländischen Kleides im Gewühl der Passanten und einige Männer, die ihn böse anstarrten und offensichtlich bereit waren, ihm den Weg zu versperren. Da blieb er stehen, hob bedauernd die Arme und trottete zurück zur Ecke der Avenue George V. Jetzt war auch ein Polizist da, betrachtete das auseinandergefallene Rad und die Leinwandrahmen und trommelte mit den Fingern gegen sein Koppel. Er hatte beide Daumen hinter den Lederriemen geschoben und sah so aus, als habe ihm der Frühstückstoast nicht besonders geschmeckt.
»Ist das Ihres, Monsieur?«, fragte er. Er sprach es so aus, als frage man nach einer abgesetzten Riesenkakerlake.
Pierre de Sangries nickte, bückte sich, legte die Leinwandrahmen übereinander und band sie wieder mit einer Schnur zusammen. »Das war ein Fahrrad«, sagte er. »Sie haben es richtig erkannt.«
»Und man konnte wirklich auf ihm fahren?«
»Mit etwas artistischer Begabung entpuppte es sich als ein wunderbares Fahrrad.« Pierre betrachtete wehmütig die Trümmer. Wie kann ein Fahrrad nach einem so leichten Zusammenprall bloß so gründlich zerfallen? Leicht? Mein Gott, das muss ein harter Zusammenstoß gewesen sein, und sie muss sich verletzt haben, es ist ausgeschlossen, dass sie nichts davongetragen hat, sie wird es später merken, vielleicht innere Verletzungen, sie wird Schmerzen haben, innere Blutungen, was ist, wenn ich sie mit der Lenkstange getroffen habe, wenn ihre Milz zerrissen ist, davon hört man doch immer, und das merkt man erst später. Sie … wer ist sie? Warum habe ich sie nicht festgehalten?
»Aber dann brach es auseinander«, sagte der Flic.
»Wir müssen sie wiederfinden!«, sagte Pierre heftig und hob den Lenker auf. »Hören Sie, wir müssen sie wieder finden …«
»Die Schraube, die Ihnen fehlt?« Der Polizist trommelte wieder gegen sein blankes Lederkoppel. Bestimmt waren seine morgendlichen Croissants nicht frisch genug gewesen. »Wissen Sie, Monsieur, dass es eigentlich ein Verbrechen gegenüber dem Pariser Verkehr ist, mit solch einem Vehikel noch zu fahren? Schaffen Sie den Müll beiseite, und zwar sofort! Machen Sie die Straße frei! Wollen Sie Erklärungen abgeben? Dann melden Sie sich auf dem Revier, Monsieur.« Der Flic musterte noch einmal die Trümmer und schüttelte den Kopf. »Oder hatten Sie etwa einen Unfall? Mit diesem Ding? War ein Auto hinter Ihnen, hat gehupt, und vor Schreck fiel alles auseinander …«
»Sehr witzig.« Pierre hob die beiden Räder auf und stützte sich auf den grün lackierten Rahmen. Es war der neunzehnte Anstrich, und Kenner in Saint-Germain-des-Prés nannten Fifi nur den rollenden Farbtopf. »Wissen Sie, was ein Fahrrad wert ist, wenn man in einem halben Jahr nur ein Bild verkaufen kann?«
»Ich kann es mir denken. Wäre es nicht einfacher, den Beruf zu wechseln?«
»Und wer ist dann da, das zauberhafte Leuchten der Morgensonne über den Dächern von Paris zu malen?«
»Räumen Sie die Straße«, knurrte der Polizist, zögerte etwas, bückte sich dann und half Pierre, die Staffelei und die Malutensilien aus dem Rinnstein zu heben. Er half sogar, das Rad einige Meter weiter über die Champs-Elysées zu schieben und lehnte es dort an einen der schönen gusseisernen Kandelaber.
Paris.
Man kann es aussprechen mit Honig auf der Zunge.
Sie hat sich bestimmt irgendwo verletzt, dachte Pierre, als er wieder allein neben seinem Rad stand. Vielleicht ist sie jetzt schon irgendwo auf der Straße zusammengebrochen, eine Ambulanz kommt und fährt sie in ein Hospital. Dort wird ein Arzt sie untersuchen und betroffen fragen: »Mademoiselle, wie ist das passiert? Wann und wo? Warum hat sich niemand sofort um Sie gekümmert? Man hat Sie spät eingeliefert, sehr spät …«Zu spät würde er niemals sagen, und sie wird bereits zu schwach sein, diese Wahrheit in seinen Augen zu lesen.
Pierre suchte in den Taschen seines Anzuges, holte eine zerknitterte Packung Zigaretten heraus und steckte sich mit zitternden Fingern eine an. Er schwitzte auch plötzlich, und es war nicht die Morgensonne, die ihm die Nässe auf die Stirn trieb. Fangen wir mit der Schuldfrage an, dachte er und sog an der zerknitterten Zigarette. Er inhalierte den Rauch, behielt ihn kurz in der Lunge und stieß ihn dann mit kleinen schnellen Stößen wieder aus. Aber dieses Mal beruhigte ihn die Zigarette nicht – sie hinterließ nur ein aufreizendes Kratzen im Hals.
Sie kam von links und rannte mir direkt ins Rad – so war’s! Ich habe sie kommen sehen und habe noch gedacht: Mädchen, wo hast du deine Augen? Hallo, hier kommt Pierre! Bleib stehen, Blondchen! Aber nein – sie lief weiter, sie sah mich sogar an, ihr ganzes Gesicht war mir zugedreht, und ich habe noch gedacht: Das gibt’s doch nicht, dass jemand weiterläuft und sieht, dass es gleich knallen wird … ja, und dann die Klingel! Wer hat daran gedacht, dass eine Klingel, die nie benutzt wird, verrostet? Ich habe an dem Hebel gerissen … kein Ton, kein Ton … und dann die Rücktrittbremse! Fifi hat nie auf Rücktritt reagiert! Er ist da wie ein eigensinniger Politiker. Es gab keine Rettung mehr – was kann man in zwei Sekunden denn schon tun?
Pierre rauchte seine Zigarette zu Ende, dann packte er die Trümmer des Rades, schob sie weiter über die Champs-Elysées, lehnte sie gegenüber dem Arc de Triomphe gegen das eiserne Gitter des unterirdischen Pissoirs und streichelte noch einmal über das dick mit Grünlack bemalte Gestänge.
»Leb wohl, Fifi!«, sagte er. »Ich bekomme es nicht übers Herz, dich als Alteisen zu verkaufen. Leb wie ein Clochard … irgendjemand wird schon für dich sorgen.«
Er schob die Staffelei und die Leinwandrahmen unter die Achseln, wandte sich mit einem Seufzer ab und stieg hinunter in den Fußgängertunnel, der hinüberführte zum Arc de Triomphe. Der Morgenverkehr war voll im Fluss, um die Place de l’Etoile, die jetzt Place Charles de Gaulle hieß, schoben sich die Autos Stoßstange an Stoßstange vorwärts, um sich dann sternförmig in die Avenuen zu verteilen. Das Laub der Bäume hatte sich bereits verfärbt, der Farbenrausch des Herbstes war über Paris gekommen, von oben mussten die Avenuen und Boulevards aussehen wie Bänder aus verschiedenfarbigem Gold.
Ein solches Bild einmal richtig malen, dachte Pierre. Mit den Augen eines van Gogh und der Hand eines Utrillo, mit dem Herzen eines Monet und der Eleganz eines Manet, oder von allem nur ein bisschen und die Hauptsache von Pierre de Sangries – dafür lohnt es sich, zu leben und zu hungern und ab heute zu Fuß zu gehen und glücklich zu sein.
Paris.
Das ist keine Stadt. Das ist ein Schicksal.
Man sollte wissen, wer Pierre de Sangries war.
Das einzig Vornehme war sein Name. Er hatte ihn von seiner Mutter bekommen, die eine geborene Loretta de Sangries gewesen war und – wenn man Fotos trauen darf – eine sehr schöne Frau mit langen schwarzen Haaren. Loretta, in einem von Nonnen geleiteten Pensionat erzogen und dadurch von der realen Welt abgeschirmt, erlag eines Tages (nicht des Nachts, was erschwerend war!) dem Charme eines Mannes, dessen Namen sie nie kennen lernte. Er hieß Pierre, das war alles, was sie sagen konnte, als sie nach sechs Wochen Wartezeit zum Arzt ging – angeblich wegen einer Blinddarmreizung – und dort erfahren musste, dass sie diesen Blinddarm in acht Monaten in einem Kinderwagen spazieren fahren könne.
Der Familienrat, der sofort zusammentrat, beschloss zunächst, das Pensionat wegen Verletzung der Aufsichtspflicht zu verklagen und verlangte beim Mutterhaus der Nonnen eine Strafversetzung der Oberin. Dass damit nicht viel erreicht war, sah jeder ein, und so begann man, systematisch in langen Verhören die schöne Loretta zu befragen, wie der Wüstling (man nannte den charmanten Mann wirklich Wüstling, was er in Lorettas Erinnerung durchaus nicht war) ausgesehen hatte, wie er sich kleidete, wo man sich getroffen habe, wie es geschehen konnte, wo die ruchlose Tat vollbracht worden war und wie das alles vor sich gegangen war. Letzteres musste die Mutter fragen, weil sich der Vater zu solchen Fragen außerstande sah.
Wahrheiten sind oft ernüchternd, so auch bei Loretta de Sangries. Sie gestand, Pierre bei einem Ausflug des Pensionats kennen gelernt zu haben, und während nach dem Mittagessen die Mädchenklasse unter Vorsitz der Nonne Domina eine Ruhestunde einlegte, hatte sich Loretta neugierig weggeschlichen. Und bloße Neugier war es auch, was dann geschah, in einer sonnenwarmen, sandigen Mulde hinter dem Haus, dem Landcafe ›Saint Vincent‹. Es war eine Enttäuschung gewesen, Loretta hatte sich das anders vorgestellt, und deshalb hatte sie auch nicht weiter gefragt, als sie auf ihre Frage: ›Wie heißt du?‹ die knappe Antwort ›Pierre‹ erhielt.
Madame de Sangries verließ nach diesem Intimgespräch weinend den Salon, starrte ihren draußen wartenden Mann an und sagte mühsam: »Charles, wir haben eine bis ins Mark verdorbene Tochter!« Dann verfiel sie in ihre Migräne und schloss sich in ihrem Schlafzimmer ein.
Loretta de Sangries wurde aus Paris entfernt, lebte in der Nähe von Dole bei einem Onkel und gebar im Anblick der von der Sonne übergoldeten Maisfelder einen Sohn. Sie nannte ihn Pierre, weigerte sich auch dann noch, den Vater bekannt zu geben (man glaubte ihr einfach nicht, dass sie nur den Namen Pierre kannte, so verworfen kann ein Mädchen aus gutem Hause nicht sein), und so blieb nach dem Gesetz nichts anderes übrig, als das Kind nach der Mutter zu benennen: de Sangries. Die schockierte Familie bemühte sich drei Jahre lang um eine Adoption, aber sie missglückte immer wieder, weil Loretta sagte: »Ich gebe mein Kind nicht her! Ich liebe meinen Sohn!«
Als Pierre vier Jahre wurde, starb seine Mutter an einer Blutvergiftung. Sie hatte sich, als sie glücklich und vor Freude jauchzend mit Pierre barfüßig durch einen Wald lief, einen Dorn in den großen Zeh getreten, ihn herausgezogen und nicht weiter die winzige Wunde beachtet. In der Nacht begann das Blut im Bein zu klopfen, als hämmerten winzige Schmiede gegen den Knochen, am Morgen bekam sie Fieber, gegen Mittag schwoll das Bein rot an. Ein Krankenwagen jagte mit Blaulicht und Sirene in die nächste Klinik, aber dort kam Loretta bereits ohne Besinnung an.
Man versuchte alles, amputierte das rechte Bein weit im Gesunden, gab alle erdenklichen Gegenmittel … Loretta de Sangries erwachte nicht wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit. Sie starb, im Fieber glühend und verbrennend. Ein Dichter würde sagen: Sie hatte die Sonne geliebt, und die Sonne holte sie heim …
Charles de Sangries, der Vater, sah es anders. »Der Junge hat sie getötet!«, sagte er hart. »Hätte sie das Kind nicht gehabt, wäre sie nicht im Wald herumgesprungen wie eine Irre und hätte sich also keinen Dorn –« Eine zwingende Logik.
Pierre lernte sie auf seine Weise kennen: Er wurde in ein Heim gegeben, in das Kinderheim ›Charité chrétienne‹, was nicht ›Liebe eines Kretins‹, sondern ›Christliche Nächstenliebe‹ heißt. Ein Heim hinter dicken düsteren Backsteinmauern, irgendwo im 18. Arrondissement, neben den Bahngleisen des Gare du Nord, über die Tag und Nacht die Züge donnern. Aber auch daran kann man sich gewöhnen.
Nicht gewöhnen konnte sich Pierre an die Ohrfeigen seines Heimvaters Laluc. Er kannte nur die warmen Zärtlichkeiten seiner schönen Mutter, das einzige, was in seiner Erinnerung geblieben war, die Geborgenheit zwischen ihren weichen Brüsten, ihre leise, schwebende Stimme, die ihn in den Schlaf brachte. Monsieur Laluc, ein bulliger Mann mit einer roten Knollennase, schrie ihn an, nannte ihn Bastard, für den man gerade so viel Geld erhalte, um ihm den Hintern abzuwischen, und wenn Pierre in seinem namenlosen und unsagbaren Kummer ab und zu des Nachts sein Bett nässte, schlug Monsieur Laluc auf ihn ein, als wolle er aus Pierres Kopf Getreidekörner dreschen.
Der Junge hielt das zwei Jahre lang aus. Zwei Jahre, in denen sich die Drescherei steigerte, denn Pierre begann – aus einem unwiderstehlichen Zwang heraus – die Wände mit allem zu bemalen, was sich zum Malen eignete. Kreide, Kohle, Senf, Marmelade, Butter, Gemüsesaft … alles, was irgendwie Farbe hergab, wurde unter seinen kleinen Händen zum Werkzeug.
Monsieur Laluc verzweifelte. Charles de Sangries weigerte sich, für die Schäden aufzukommen; er behauptete, das sei wiederum ein Fall von Verletzung der Aufsichtspflicht, und von diesen Folgen – siehe Pierre – habe er nun die Nase voll.
Als Pierre sein fünftes Lebensjahr beendete, schlug Monsieur Laluc, gewissermaßen als Gratulation, einen dicken Kochlöffel auf seinem Rücken in kleine Stücke. Mit dicken roten Striemen bedeckt, schwankte Pierre in sein Bett (er hatte auf dem Lokus Nr. 3 mit Erdbeer- und Orangenmarmelade einen herrlichen Sonnenuntergang an die Wand gemalt) –, aber am nächsten Morgen war das Bett leer, das Fenster stand offen, und bis heute weiß niemand im Kinderheim ›Charité chrétienne‹, wie es einem Fünfjährigen gelingen konnte, über die hohe Backsteinmauer zu entkommen.
»Er war der geborene Halunke!«, sagte Monsieur Laluc zu den Polizisten, die den Fall protokollierten. »Sie werden später von diesem Früchtchen permanent beschäftigt werden. Denken Sie an meine Worte –«
Der kleine Pierre wurde nie gefunden, denn zum ersten Mal nach dem Tod seiner Mutter hatte er Glück: Ein Reise-Chlochard, im Gegensatz zu den Brücken-Clochards nicht ansässig, las den Jungen im Morgengrauen neben den Schienen des Güterbahnhofs auf und erkannte sofort die Möglichkeiten, die ihm der Himmel damit schickte. Er lehrte Pierre, wie man bettelt, übte die verschiedenen Variationen des Handaufhaltens, des Jammerblicks und des Körperzitterns mit ihm und fand, dass Pierre ein gelehriger Schüler war.
Bis zu Pierres zehntem Lebensjahr bettelten sich die beiden kreuz und quer durch Frankreich. Sie verdienten gut, denn ab dem neunten Jahr malte Pierre bereits kleine Bilder, zuerst mit geklauten Wasserfarben, dann – schon arriviert – mit reell gekauften Temperatuben. »Du bist ein Genie«, sagte sein väterlicher Freund immer wieder. Er hieß Jean-Claude, und das war genug. »Weißt du, was ein Genie ist? Die Menschen werden einmal deine Bilder kaufen und dich mit Geld bewerfen! Das heißt, wenn sie nicht zu doof sind, dein Genie zu erkennen –«
Ein prophetisches Wort! Pierre konnte Jean-Claude später nicht mehr daran erinnern. In einem verdammt kalten Winter starb Jean-Claude an einer Lungenentzündung, durchaus bürgerlich in einem Krankenhausbett, für das Pierre (und für die Arztkosten) eine Wand der Hospitalkapelle ausmalte. Damals war er vierzehn Jahre alt, lang aufgeschossen und schmächtig, ein Gerippchen mit einem schwarz umlockten Kinderkopf und sehr wachsamen, alles sehenden und alles abschätzenden Augen.
Mit vierzehn, nach Jean-Claudes Tod, kam er auch zum ersten Mal in die Schule, ein Findling, ein moderner Kaspar Hauser. Und in vier Jahren holte er nach, wozu andere neun lange Jahre brauchen. Das war in Concarneau, oben in der Bretagne, an der Küste des Atlantik.
Als Pierre de Sangries achtzehn war, malte er eine Madonna, die so aussah, wie seine Mutter ausgesehen haben musste … ein Engel mit schwarzen langen Haaren und einem Blick, in dem die Liebe der ganzen Welt lag. Als er das Bild fertig hatte, saß er zwei Tage davor und weinte zum ersten Mal wieder nach Jahren. Am dritten Tag verkaufte er die Madonna an den Direktor seiner Schule, bekam dafür große Worte und 50 Francs und verschwand aus der kleinen Stadt Concarneau.
Irgendwann tauchte er dann in Paris auf, bereicherte die Straßenmaler auf der Place du Tertre, wohnte mit vier anderen hungernden Malern zusammen in einem stinkenden Kellerzimmer auf dem Montmartre, porträtierte Touristen, vor allem Amerikaner, sparte das Geld und versoff es nicht oder steckte es den Huren zwischen die Brüste, sondern kaufte auf dem Flohmarkt ein gebrauchtes Fahrrad: Fifi.
Das war vor neun Jahren gewesen.
Paris war um ein Genie reicher geworden … aber Paris wusste es nicht.
Es wusste es bis heute nicht, diesen 3. September, an dem Pierre de Sangries sein neunzehn Mal lackiertes Fahrrad an dem eisernen Geländer des Pissoirs an der Place de l’Etoile abstellte und im Fußgängertunnel verschwand.
Wer oben auf der Plattform des Arc de Triomphe steht und über Paris blickt, wenn das Sonnenlicht wie ein goldener Schleier über den Avenuen und Boulevards, den Alleen und Dächern, den Brücken und der Seine liegt, wenn er sieht, wie ein Stahlgigant wie der Eiffelturm plötzlich schweben kann, das Trocadero zu einem Zauberschloss wird und Sacré-Cœur weit in der Ferne aus dem Himmel zu taumeln beginnt, der drückt die Hände auf sein Herz und wagt nicht mehr zu atmen. Was Schönheit ist, kann kein Wort erklären, kein Ton vermitteln, keine malende Hand aufzeichnen – es bleibt alles unvollkommen. Schönheit ist nur zu sehen und Schönheit ist zu empfinden für den, der eine Seele dafür hat.
Pierre hatte seinen kleinen Klappstuhl vorn an der Brüstung der Plattform aufgebaut, seine Staffelei aufgeklappt, eine Leinwand darauf abgestellt, die Palette und den Farbkasten griffbereit auf den Boden gelegt und saß nun in der Sonne mit der ihm bekannten Angst im Herzen, vor dieser geballten Schönheit um sich herum kapitulieren zu müssen.
»Ich werde es nie können«, sagte er und stemmte die Sohlen seiner Schuhe gegen die Brüstung. »Nie! Ich bin ein Stümper. Aber auch Stümper müssen leben. Fangen wir also an. Das Übliche: Paris von oben in der Sonne. Ein Postkartenbild in Öl. Zum Kotzen.«
Er schob die Hände in die Hosentaschen, rührte sich nicht und starrte hinüber zu dem weißen, im Sonnenglast schwebenden Wunder Sacré-Cœur auf dem Montmartre-Hügel. Die Plattform des Arc de Triomphe war nur schwach besucht, die Schulklassen kamen erst gegen zehn, die Touristen noch später – es war eine herrliche Ruhe um ihn herum. Den brausenden Verkehr auf den Straßen hörte er nicht … hier oben war er wie ein geschlossenes Summen, kein Lärm, sondern etwas Unnennbares, das zu dieser Stadt gehörte. Ein Sonnengesang, würde der rote Henry sagen, aber so etwas fiel auch nur einem erfolglosen Dichter ein. Claude Puy, der rote Henry … Pierre lächelte verträumt. Neun Uhr vierzehn … um diese Zeit schlief Henry noch, nach Rotwein duftend und nach Weiberschweiß, und keiner löst das Rätsel, woher er für beides das Geld nimmt.
Plötzlich sah Pierre sie. Vor einer Minute war sie noch nicht auf der Plattform gewesen, sie musste mit dem letzten Fahrstuhl heraufgekommen sein. Sie hielt ihre flatternden Haare fest mit beiden Händen, lief zur Brüstung und blieb abrupt stehen, als habe sie jemand vor die Brust gestoßen. Dann zog sie die Schultern hoch, ließ die Haare und den Kopf los, warf die Hände nach vorn und stützte sich ab, um sich auf die Brüstung zu schwingen.
Pierre machte aus dem Sitzen einen weiten Satz nach vorn und bekam gerade noch ihren Rock zu fassen, der im Zugwind sich bauschte und an den langen nackten Beinen hochstieg, als sei er ein Kranz, der hochgezogen wurde. Mit einem heftigen Ruck riss er an dem Stoff, das Mädchen fiel nach hinten in seine Arme, und gemeinsam rollten sie über die Plattform, umschlangen sich instinktmäßig und kollerten in die rechte Ecke der Brüstung. Pierre war zuerst auf den Beinen und zog das Mädchen hoch. Sie wehrte sich jetzt, hieb mit kleinen Fäusten auf ihn ein, und wieder traf ihn dieser lanzenhafte Blick, der das bleiche ovale Gesicht aufriss, wie ein Blitz einen fahlen Himmel zerstört und ihm trotzdem unheimliches Leben verleiht.
»Lassen Sie mich los!«, keuchte das Mädchen und hieb wieder gegen Pierres Arme. »Was mischen Sie sich ein? Es ist mein Leben, nicht Ihr Leben –«
Es gelang ihr, sich mit einem wilden Ruck loszureißen, aber Pierre griff nach, fasste das rot-weiß-blau gestreifte Kleid vorn an ihren Brüsten, sie zerrte wieder, der leichte Stoff blieb mit einem ratschenden Laut in seinen Händen, sie starrte auf ihre Blöße, auf den weißen, kleinen Büstenhalter mit den Spitzenrüschen, bedeckte dann alles mit gespreizten Fingern und wich zur Wand des Fahrstuhlschachtes zurück.
»Mischen Sie sich nicht ein!«, sagte sie wieder. Ihre Stimme war fremd, sie passte nicht zu diesem Körper, diesem Gesicht. Sie muss eine warme, streichelnde Stimme haben, dachte Pierre widersinnig. Jetzt ist sie rostig, geradezu unnatürlich. Eine erwürgte, misshandelte, blutende Stimme. »Lassen Sie mich doch los!«
Pierre hielt seine Hände mit dem Stofffetzen vor sich hin. »Ich halte Sie ja gar nicht fest«, sagte er. »Aber ich schwöre Ihnen, dass ich es jeden Moment wieder tun werde, wenn Sie weiter so dumme Sachen machen! So viel war Fifi nun wirklich nicht wert –«
»Sie Scheusal!«, sagte sie laut. »Sie fürchterliches Scheusal!« Plötzlich weinte sie, schob die Hände, die noch ihre Brüste bedeckten, höher über ihr Gesicht, drehte sich um und presste die Stirn gegen die Wand. Ihr Körper begann im Schluchzen zu zittern. Ein Glück, dachte Pierre, dass heute kein Betrieb auf dem Arc de Triomphe ist. Man würde es schwer haben, die Tatsachen zu erklären, mit einem Stück Kleid in der Hand, weggerissen von ihrer Brust.
Er ließ sie stehen, ging ein paar Meter zur Seite, blickte um den Liftschacht herum und sah zwei junge Männer, die Hand in Hand an der Brüstung standen und hinunterblickten auf die Avenue de la Grande Armee. Zwei Schwule, versunken in ihre Liebe. Beruhigt kehrte Pierre zurück. Das Mädchen schluchzte nicht mehr … es drehte sich, als es seinen Schritt hörte, herum und zog das Kleid mit beiden Händen über dem Büstenhalter zusammen.
»Jetzt sind Sie stolz, nicht wahr?«, sagte sie. Ihre Stimme hatte sich wieder verändert. Das Weinen hatte sie reingewaschen, jetzt war sie blank, gläsern, aber mit einem Sprung im Glas, man hörte es deutlich. »Der Lebensretter! Warum haben Sie mich nicht springen lassen?«
»Vom Arc de Triomphe? Unmöglich, Mademoiselle!«
»Wieso ist das unmöglich?«
Sie redet, dachte Pierre. Sie diskutiert. Ein seltsames Glücksgefühl durchströmte ihn. Wer debattiert, nimmt sich nicht das Leben. So weit habe ich sie schon, dass sie über den Tod sprechen kann wie über ein Problem. Er steckte den Stofffetzen in seine linke Hosentasche und holte mit der anderen Hand seine zerknitterte Packung Zigaretten heraus.
»Wer ein rot-weiß-blaues Kleid trägt, stürzt sich nicht vom Arc de Triomphe auf die Avenuen«, sagte er dabei.
»Was hat ein Kleid damit zu tun?«, antwortete sie hart.
»Ich bin ein Patriot, Mademoiselle.« Er griff wieder in seine linke Hosentasche, holte den Kleiderfetzen heraus und tupfte ihr damit die Tränen aus den Augenwinkeln. Sie warf den Kopf zurück und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand des Liftschachtes. »Lassen Sie das«, sagte sie abweisend.
»Welcher Franzose stürzt sich schon vom Arc de Triomphe! Das ist kein Stil, Mademoiselle. Wir stehen hier auf einem Monument des Stolzes und des Sieges! Das Herz der Grande Nation schlägt in diesem Bauwerk … und so etwas entweihen Sie zum Sprungbrett in den Tod –«
Sie sah ihn groß an, neigte den Kopf etwas zur Seite und schien zu denken: Ist er wirklich ein so großer Idiot, oder spricht er so nur, um mich zu provozieren? Pierre konnte diese Frage in ihren großen blauen Augen lesen und lächelte sie etwas schief an.
»Ich bin Deutsche«, sagte sie endlich.
»Da hat man es!« Pierre tupfte sich mit dem Kleiderfetzen die Stirn. Sie wird nicht wieder springen, dachte er. Nicht jetzt, und nicht, solange ich bei ihr bin. Aber wie lange kann ich bei ihr sein? Was ist am Abend, am nächsten Tag, vielleicht sogar in ein paar Stunden? »Ein Franzose würde sich für solches Privatvergnügen jeden anderen Platz aussuchen, nur nicht den Arc de Triomphe!«
»Ein Vergnügen nennen Sie das?«, fuhr sie ihn an. Ihre schönen, vollen Lippen wurden schmal wie zwei Striche. Blutige Narben in einem bleichen, ratlosen Gesicht.
»Wie wäre es mit dem Eiffelturm?«, fragte er.
Sie warf den Kopf mit einem Ruck in den Nacken. »Dort hat man ein Drahtgitter gebaut. Es geht nicht. Ich war schon oben.«
»Bleiben noch die Brücken. Ich schlage wegen der Romantik die Pont d’Alexandre vor.«
»Ich kann zu gut schwimmen.«
»Werfen Sie sich unter einen Bus!«
»Und wenn er zu gute Bremsen hat?«
»Sie sind wirklich eine anspruchsvolle Dame. Eine Idee: Der Gare du Nord! Unter einen TEE-Zug …«
»Fürchterlich! Ich möchte nicht verstümmelt werden!« Das Mädchen sah Pierre mit großen blauen Augen an. Sie standen so nah voreinander, dass er in ihrer Pupille sich selbst erkennen konnte, so, als wäre er schon in ihr und sie könne die Welt mit seinen Augen sehen. »Warum wollen Sie mich umbringen, Monsieur?«, fragte sie leise.
»Ich? Es war Ihre dumme Idee. Ich dachte, es würde Sie aufmuntern, wenn ich Ihnen einige sichere Todesarten vorschlage. Kommen Sie mit.«
Er fasste plötzlich ihre Hände, zog sie von der Wand zur Brüstung, und als sie sich gegen ihn stemmte, drehte er sie mit einem Ruck herum, umklammerte ihre Schulter und zwang sie so, über den Rand der Brüstung hinunter auf die Champs-Elysées zu blicken, über das sonnenüberflutete Paris, zum Horizont, der ein Goldstreifen war und über dem Sacré-Cœur wie eine weiße Wolke schwebte.
»Sehen Sie sich das genau an, Mademoiselle«, sagte er und hielt sie mit hartem Griff fest, als sie zurückweichen wollte. Sie stieß mit dem Kopf nach ihm, aber da sie nur seine harten Schulterknochen traf, hörte sie bald damit auf. »Dieses Leben da unten! Diese unsagbare Lust, auf dieser Welt zu sein! Das Glück, die Sonne zu sehen, die Blumen zu riechen, den Vögeln zuzuhören, den Wind auf der Haut zu spüren, in den Sand greifen zu können und ihn durch die Finger rieseln zu lassen, das Rauschen des Meeres bis in die Träume einzusaugen, einfach im duftenden Gras zu liegen und den ziehenden Wolken nachzusehen … das alles wollten Sie wegwerfen?«
»Ich hasse dieses Leben!«, sagte das Mädchen. Ihr Kopf blieb, nach hinten geneigt, neben seiner rechten Wange auf der Schulter liegen. Sie hatte die Augen geschlossen und sah wundervoll aus. »Ich hasse es.«
»Ein Mann!« Pierre strich mit der Linken die Haare zur Seite, die der Wind über ihr Gesicht trieb. »Natürlich ein verdammter Mann –«
»Ja.«
Sie sagte es nüchtern und klar. Ohne Schmerz, ohne Hass. Es ist vorbei, sagte dieses Ja.
»Er ist weg?«, fragte Pierre.
»Nein.«
»Er hat eine andere?«
»Er hat immer eine andere.«
»Dann werfen Sie diesen Mann weg und nicht Ihr Leben!«
»Sie Schwätzer!«
»Es war nur ein logischer Vorschlag, Mademoiselle.«
Das Mädchen hob den Kopf und schüttelte ihn mehrmals. Dann blickte sie hinunter auf die Avenuen und hob, plötzlich vor der Tiefe schaudernd, die Schultern. »Ich kann ihn nie wegwerfen«, sagte sie leise. »Nur mich! Ich bekomme ein Kind …«
»Und das ist nun ein Grund, vom Arc de Triomphe zu springen?«
Er zog sie von der Brüstung weg, weil sie wieder zu zittern begann und er sich nicht ganz sicher war, ob sie den Willen zu sterben bereits ganz überwunden hatte. Ich könnte Ihnen viel erzählen von meiner schönen Mama, Mademoiselle, dachte er dabei und führte sie zur Liftwand zurück. Auf der anderen Seite der Plattform hockten die beiden Schwulen auf der Brüstung, rauchten eine Zigarette und waren offensichtlich glücklich.
Meine Mama ist nicht irgendwo hinuntergesprungen … sie hat mich geboren und sich durchgebissen wie eine eingesperrte Ratte. Es ist nicht viel dabei herausgekommen, zugegeben. Ein Pierre de Sangries, der erfolglos malt, noch erfolgloser Storys schreibt, und der, um zu leben, morgens von 4 bis 7 in den Markthallen Kisten und Säcke schleppt, Ochsenseiten und Schweinehälften, ab und zu auch mal Kunstdünger, wonach man einen Tag lang stinkt, als habe man in Scheiße gebadet … aber es ernährt seinen Mann. Glauben Sie nicht, Mademoiselle, dass ich ein Nichtskönner bin, o nein! Ich verfertige auch Werbesprüche und male Plakate. Hat das Toulouse-Lautrec nicht auch getan? Ist er mit Hurenbildern nicht berühmt geworden? Vor einer Woche hatte ich einen schönen Erfolg. Hundert Francs von der Babyausstattungsfirma ›Bébé‹. Ein Plakat, auf dem ein Säugling lachend in einer Waschschüssel sitzt, gefüllt mit dem neuen Babyschaum ›Vapeur printanier‹. Frühlingsduft! Den Säugling für das Foto habe ich mir von Mademoiselle Marguite geliehen. Sie wohnt im Nebenhaus und hat drei Kinder ohne Väter. Drei, Mademoiselle! Und springt nicht vom Arc de Triomphe.
»Wir sollten irgendwo eine Tasse Kaffee trinken«, sagte er und blickte auf ihr zerrissenes Kleid und den Büstenhalter mit den Spitzenrüschen. Sie bedeckte die Blöße nicht wieder mit beiden Händen, sondern presste die Fäuste gegen ihre Schläfen, als springe ihr Kopf auseinander. »Das hatte ich schon vor, nachdem Sie mir Fifi zertrümmert hatten. War das auch schon ein Versuch? Sehr, sehr schlecht, Mademoiselle.«
»Ich habe Sie gar nicht gesehen.«
»Aber Sie haben mich groß angeblickt.«
»Ich habe Sie trotzdem nicht gesehen. Ich habe nichts mehr gesehen … können Sie das nicht verstehen?«
»Trinken wir Kaffee?«
»So?« Sie zeigte mit dem Kinn auf das zerrissene Kleid. »Selbst in Paris wird man sich darüber wundern.«
»Gehen wir zu mir.« Er verstand ihren abweisenden und zugleich fragenden Blick und schüttelte den Kopf. »Natürlich klingt das so, als wollte ich Sie zu mir locken. Sie verstehen mich falsch. Ich will wirklich nur für uns eine Tasse Kaffee kochen. Weiter nichts.«
»Wo wohnen Sie?«
»Drüben im Quartier. Rue Princesse.«
»Das klingt königlich.«
»Und ist eine aus der Urzeit übrig gebliebene Höhle. Man hat sie nur nach oben gestreckt und nennt sie jetzt Haus.«
»Sie sind Maler?«
»Pierre de Sangries.« Er verbeugte sich und hoffte, dass sie nun auch ihren Namen nennen würde. Aber sie tat es nicht. »Ich habe bisher 431 unverkäufliche Bilder gemalt. Hundert Jahre nach meinem Tode wird man damit einige Millionäre ausstatten können …«
Sie lächelte plötzlich, ein schmerzliches Lächeln, das ihn wie ein Streicheln berührte. »Glücklich klingt das auch nicht«, sagte sie sanft. »Sie sind arm?«
»Wenn Sie Geld meinen – sehr arm. Wenn Sie die Freude am Leben meinen … der reichste Mann der Welt ist ein Bettler gegen mich.«
Er machte eine einladende Bewegung zur Lifttür. »Gehen wir, Mademoiselle?«
»Ich heiße Eva. Eva Bader.«
»Wie kann ein Mädchen, das den ältesten Namen der Menschheit trägt, sein Leben wegwerfen …«
»Vielleicht deshalb. Ich fühle mich so alt, wie der Name ist …«
Am Eingang zum Lift blieben sie stehen und sahen sich kurz an. Sie dachten das Gleiche und wichen wieder von der Tür zurück. Der Lift kam gerade herauf … man hörte durch den Schacht ein vielstimmiges Durcheinander. Die erste Schulklasse war gekommen, Frankreichs große Geschichte zu bewundern.
»Mein Kleid«, sagte sie.
»Ich habe Leim im Farbkasten. Wenn wir den Stoff anleimen –«
»Wo?«
»Auf Ihrer Haut, Ev.« Zum ersten Mal sagte er Ev … es klang gut, vertraut, brüderlich, kameradschaftlich, so, wie er es aussprach. Kein Unterton war darin, und das machte sie plötzlich innerlich freier. »Es geht nicht anders. Bei mir zu Hause werden wir den Stoff wieder ablösen.«
»Geht das denn, Pierre?«
Er schwieg, überrascht, dass sie Pierre gesagt hatte, und glücklich, es von ihr zu hören. Pierre … wie verschieden eine Frau diesen Namen aussprechen kann. Wenn Monky Pierre sagte, bekam selbst das Bettlaken eine Gänsehaut. Monky … hoffentlich war sie schon weg. Als er vor zwei Stunden weggefahren war, hatte er sie aus dem Bett geworfen. Sie hatte um elf Uhr Modeaufnahmen in der Faubourg St. Honoré, bei Jean Bioggia, einem verrückten Hund von neuem Modeschöpfer.
»Ich hoffe«, sagte Pierre. »Es wäre grässlich, Sie mit dem Leimfetzen auf der Brust bis zum Jahre 2000 herumlaufen zu sehen. Das Jahr 2000 erleben wir noch. Das wette ich …«
Sie lachte. Er bestaunte die Verwandlung ihres Gesichts und schwieg, weil man vor Schönheit nur schweigen kann, sonst zerstört man sie. Leichte Röte war über die Blässe gezogen, und die Sonne in ihrem goldenen Haar reflektierte und verschmolz die einzelnen Haare zu einem massiven Ganzen. Darunter das weite Blau ihrer Augen mit den kleinen schwarzen Punkten der Pupillen, dem veränderbaren Tor in ihre Seele.
»Ich denke nur an eine Tasse Kaffee«, sagte sie. »Weiter nicht. Ich habe seit gestern Mittag nichts mehr gegessen … und nicht geschlafen …«
»Beginnen wir mit dem Ausflicken.« Pierre zog sie zu seiner Staffelei, klappte den Farbkasten auf und holte eine Tube Leim heraus. Madame Coco wird Kaffee haben, dachte er. Ich habe keine Bohne im Zimmer. Wenn sie Ev sieht, wird sie mir etwas leihen, obwohl sie geschworen hat, mir nie wieder etwas zu leihen. Madame Coco, werde ich sagen, nur einmal noch bitte ich Sie um eine kleine Gefälligkeit. Nicht für mich … für Ev. Sehen Sie sich Ev an, Madame … sie ist die Großzügigkeit Ihres Herzens wert.
»Machen Sie schnell, Pierre«, sagte Ev. Er schrak zusammen und nickte. »Es kommen immer mehr Leute auf die Plattform …«
Er schraubte die Tube auf, holte das Stück Stoff aus der Hosentasche, drückte den Leim darüber, verrieb ihn und pappte den Fetzen Ev auf den Büstenhalter. Zum ersten Mal berührte er damit bewusst ihre Brust, und sie hielt still, weil es keine Zärtlichkeit, sondern eine Reparatur war. In Pierre aber stieg ein fremdes Gefühl auf, verbreitete sich in ihm und glitt in seine Hände. Er strich den Stoff glatt, seine Finger umfassten die festen Rundungen und nahmen mit tausend feinen Nerven die Form in sich auf, so wie ein Blinder mit den Fingerspitzen sieht und im Dunkel das Bild von Schönheit ersteht.
»Es hält!«, sagte er, als er seine Hände zurückzog. Er brauchte viel innere Gewalt dazu.
Ev sah ihn an, ernst und fragend, und plötzlich schämte er sich in Grund und Boden.
»Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Pierre«, sagte sie langsam.
Es gibt Ohrfeigen, die hört und sieht man nicht, aber sie treffen vernichtend. Pierre warf die Leimtube zurück in den blechernen Farbkasten.
»Wenn Sie wollen, bringe ich Sie zurück«, sagte er heiser.
»Wohin?«
»Nach Hause.«
»Ich habe kein Zuhause mehr.«
»Sie wissen nicht, wo Sie heute Nacht schlafen werden?«
»Nein!« Sie wandte sich ab, als würde sie der Anblick des unter ihr liegenden Paris schwindelig machen. »Ich hatte mich auf einen anderen Schlaf eingestellt …«
Die guten Adressen von Paris, der Beweis gefüllter Bankkonten, die Sichtbarwerdung von Ehre und Fleiß, Können und Erfolg, aber oft auch von Rücksichtslosigkeit und vernichtender Kälte sind die Wohnviertel hinter der Place de l’Etoile: Bois de Boulogne, Neuilly, St. Cloud, Sèvres und natürlich Versailles. Wer hier eine Wohnung hat, braucht keine Türen mehr einzurennen, er wird eingeladen. Wer hier ein Haus besitzt, lädt ein.
Die Familie Chabras besaß seit 1890 einen schlossähnlichen Besitz an der Seine bei Boulogne. Ein Prachtbau mit Säulenhalle und Freitreppe in den Park hinunter, angelegt nach dem Muster der großen französischen Könige, mit Rosengärten und Springbrunnen, verträumten Pavillons hinter kunstvoll zu Figuren geschnittenen Hecken, mit steinernen Statuen und Putten, Kieswegen und künstlichen Bachläufen, Laubengängen und Muschelgrotten mit Wasserspielen.
Fernand Chabras fand das alles lächerlich, aber da es sein Großvater angelegt, sein Vater liebevoll gepflegt hatte, blieb ihm nichts anderes übrig, als diese Familientradition des nachempfundenen barocken Gigantismus zu ertragen. Seine Frau Myrna – eine Amerikanerin – liebte diesen Prunk sogar und stellte ihn jedes Jahr neunmal bei in ganz Paris berühmten Partys heraus, und sein einziger Sohn Jules, mit sechsundzwanzig Jahren noch immer Student der Volkswirtschaft, ohne die Aussicht, das Studium jemals mit einem Examen zu beenden, betrachtete ›Château Aurore‹ als etwas Selbstverständliches, was zum Leben eines Chabras einfach gehört. Er fuhr einen verrückt schnellen, grellgelben Maserati, graste die hübschen Mädchen ab wie ein nimmersatter Büffel eine fette Weide und machte dem alten Fernand nur insoweit Spaß, als er nie daran dachte, sich ernsthaft zu verlieben oder gar zu heiraten.
Die Millionen der Chabras’ wurden in elf chemischen Fabriken zusammengekocht. Die ›Union de Chemie‹ beherrschte den Markt, füllte Frankreichs Exportkonto, saß in irgendeiner Form am Tisch eines jeden Franzosen – sei es, wenn er eine Konservendose aufschnitt (Konservierungsmittel), oder wenn er zufrieden in sein Brot biss (Mehlbleichmittel), oder wenn er harmlos den Löffel in die Marmelade tauchte (Fruchtfarbe). Chabras erhielt für seine Verdienste, die man überall sah, das rote Bändchen der Ehrenlegion ins Knopfloch gesteckt, und so blieb es nicht aus, dass das Leben des Sohnes Jules, so wüst es manchmal war, mit Schweigen zugedeckt wurde.
Im ›Château Aurore‹ begann an diesem 3. September der Tag wie jeder andere. James, der britische Butler (Myrna Chabras hatte extra sieben Wochen in London verbracht, um ihn aus neun Bewerbern auszusuchen), hatte das Personal aufmarschieren lassen, um die Sauberkeit der Kleidung und den frischen Mut für den beginnenden Tag zu kontrollieren. So standen sie jetzt alle in der großen Halle herum, blickten verstohlen auf die Uhr, musterten aus den Augenwinkeln James und warteten auf die vornehm-giftige Zurechtweisung, die mit Sicherheit kommen würde, wenn der Unpünktliche endlich erscheinen würde.
Es fehlte das Au-pair-Mädchen aus Deutschland, Eva Bader. Seit einem halben Jahr bei den Chabras’, um im Kreise der Familie Französisch zu lernen … so hatte man es dem deutsch-französischen Studentenaustauschdienst (kein Franzose kann das aussprechen!) geschrieben. Als Eva Bader auf ›Château Aurore‹ eintraf, war sie überwältigt von dem Prunk. Überwältigt, vom ersten Augenblick an, war aber auch Jules Chabras … er traf Eva Bader in der großen Personalküche, wo sie mit den beiden Hausmädchen, dem Gärtner, dem Chauffeur, dem indonesischen Koch und Butler James aß. Der ›Kreis der Familie‹ war rein rhetorisch gemeint, Eva erkannte das sofort am ersten Tag, als Myrna Chabras sie empfing, ihr die Fingerspitzen reichte (immer dieses deutsche Händeschütteln!) und zu ihr sagte: »Sie werden sich bei uns wohl fühlen, Eva. James wird sich um Sie kümmern …«
»Wie kommt diese Orchidee unter euch Kaktusse!«, rief am Abend Jules Chabras am runden Familientisch im Roten Salon. Er aß mit seiner Mutter allein … Fernand Chabras war wieder unterwegs zu einer seiner elf Fabriken. Dort fühlte er sich wohler und konnte in Hemdsärmeln durch die Produktionshallen gehen.
»Sie ist eine Deutsche«, antwortete Myrna Chabras. »Eine Studentin. Lass sie in Ruhe, Jules. Keine Affären im Haus, das hast du Papa und mir versprochen.«
Das war vor einem halben Jahr.
Wie kurz kann ein halbes Jahr sein … und wie unendlich in der Erinnerung.
Da war diese erste Juni-Nacht. Eva Bader hatte heimlich im Swimming-pool geschwommen, in völliger Dunkelheit, denn das Schwimmbad war für das Personal gesperrt. Hinter ihr lag das große Haus wie ein schlafendes Untier mit hundert geschlossenen Augen. Die Säulenhalle, auch Terrasse genannt, von der die geschwungenen breiten Freitreppen mit den steinernen Blumenvasen in den Rasenpark hinabführten, wirkte wie ein geschlossenes, aber dennoch fletschendes Riesengebiss.
Das waren die Stunden des Heimwehs … Eva Bader hatte es nie für möglich gehalten, dass es so etwas gab wie Sehnsucht nach einem Zuhause. Das Möbelgeschäft in Köln. ›In Bader-Möbeln wohnt sich’s gut!‹ – ein Slogan, über den sie mitleidig gelächelt hatte, als er zwischen zwei Flaschen Bier und vier Doppelkorn in Hubert Baders Wohnzimmer geboren wurde. Das ist doch Käse, hatte sie gedacht. Das hat schon Staub angesetzt, bevor es überhaupt ans Licht kommt. Aber sie hatte geschwiegen. Zwischen ihrem Vater und ihr lagen 31 Jahre. Das merkt man, dachte sie oft, wenn sie Hubert Bader reden hörte. Er hat Ansichten wie ein Fossil … bald wird die Neuzeit ihn überrollen, und er merkt es gar nicht.
In diesen nächtlichen Stunden, draußen zwischen Bois de Boulogne und Versailles im Park eines Schlosses sah das Leben plötzlich anders aus. So vieles vermisste sie: Vaters Stimme, wenn er abends aus dem Geschäft kam und schon im Flur rief: »Else, hab’ ich einen Brand! Gequatscht habe ich heute! Aber zwei Schrankwände sind dabei herausgesprungen, ein Schlafzimmer und eine Garnitur. Netto 22 000 DM! Nur das Beste vom Besten! Ein Bier, Else –«
Und dann die Abende. Fernsehen, natürlich. Kauen und Trinken vor der Mattscheibe. Dazwischen die Zeitung. Kommentare über Politik und Wirtschaft, Spezialität Ostpolitik der Regierung. Hubert Bader war in Russland gewesen, von 1940 bis 1944. EK II, EKI, Verwundetenabzeichen in Schwarz (zweimal leicht verwundet, zweimal Schulterschuss, glatt durch, und einmal – Anlass zu Witzen bei der Skatrunde – Steckschuss in der rechten Hinterbacke), Gefrierfleischorden (das war ein Blechding, das an den mörderischen Winter 1941 in Russland erinnern sollte). Männer, da kennt man Russland! Und dann diese Ostpolitik der Regierung! Waren die überhaupt mal in Russland – ich meine im Krieg, nicht zur Ausbildung in Moskau? Manchmal ein Giftzwerg, dieser Hubert Bader … aber jetzt fehlte er, hier im ›Château Aurore‹, fehlte seiner Tochter, die nass im warmen Gras lag, auf einem Boden, der die Hitze eines Junitages wideratmete, und die Rosen roch, den späten Jasmin, die süßen Wolken des Geißblatts, aus dem man einen Laubengang zum Rosengarten gezogen hatte.
Eine kleine Stunde Wehmut. Erkenntnisse, die wehtaten. Es gibt so etwas wie eine Heimat, auch wenn es unmodern ist, so zu denken. Aber das Herz, das Gefühl, die Seele, sie denken nicht … sie fühlen bloß die Leere inmitten einer neuartigen Welt.
Eine Stimme schreckte sie auf. Sie zog das Handtuch über ihren noch nassen Körper und drehte sich mit einem Schwung auf den Bauch. Sie sah nur einen länglichen Schatten, zwischen der Gartenschaukel und dem noch immer aufgespannten Sonnenschirm.
»Ich habe es immer geahnt, aber mir glaubt ja keiner«, sagte die Stimme. Eine angenehme, etwas weichliche, an Zärtlichkeit gewöhnte Stimme. »In unserem Park lebt eine Nymphe.«
»Monsieur Chabras …«, sagte Eva. »Ich … ich weiß, dass es verboten ist, zu baden. Ich habe geglaubt, im Haus schläft alles … Wenn Sie mich verraten –«
»Sie sind noch nicht lange bei uns, Mademoiselle«, Jules Chabras kam näher, sein Schatten verdichtete sich zu einem Körper, ein sportlicher, bis auf eine knappe Badehose nackter Körper. Vor der Brust pendelte ein goldenes Medaillon an einer schimmernden Gliederkette, als er sich neben Eva ins Gras setzte. »Sonst wüssten Sie, dass, wenn alles im Hause schläft, ich erst munter werde. Schwimmen wir eine Runde gemeinsam?«
»Nicht böse?«
»Welche Frage! Meine Mutter regiert hier wie die Pompadour … nur die Liebhaber fehlen. Ich vermute, selbst das ist ihr zu anstrengend. Einmal – vor zwei Jahren – tauchte so etwas wie ein Liebhaber auf. Monsieur Bertrand de Donzenac. Uralter Adel, etwas vertrottelt, aber noch aktiv. Doch ich wette: Bis auf ein Streicheln von Mamas immer noch schönem Busen ist er nie weitergekommen …«
»Wie reden Sie von Ihrer Mutter, Monsieur!« Sie drehte sich wieder auf den Rücken und breitete das Handtuch über sich aus. »Warum erzählen Sie so etwas?«
»Um Ihnen die Angst zu nehmen vor der großen Madame. Sie werden in unserem Pool schwimmen können, wann immer Sie wollen. Ich werde mit Mama darüber sprechen.« Er legte sich neben Eva, verschränkte die Arme hinter dem Nacken und stieß, wie aus Versehen, gegen ihr Bein. Aber er zog seins nicht zurück, sondern ließ es liegen. Erst als Eva ihr Bein wegrückte, erlosch der Kontakt.
»Sie sind zu uns gekommen, um Französisch zu lernen?«, fragte Jules.
»Ja. Über den Studentenaustausch. Ich will Romanistik studieren. Ich habe mit Pädagogik angefangen, aber ich glaube, ich bin keine gute Lehrerin …«
»Schrecklich!«
»Was ist schrecklich?«
»Der Gedanke, dass Sie eine Lehrerin sein könnten. Schule ist für mich ein Trauma geworden …«
»Sie waren kein guter Schüler?«
»Ich war nicht einmal ein schlechter! Ich war eine einzige Katastrophe. Ich habe vier Hauslehrer verbraucht und zu Frührentnern gemacht. Aber Papas Beziehungen reichten aus, mir das Abitur – so nennt man es doch bei Ihnen? – zu beschaffen. Jetzt studiere ich im 14. Semester Volkswirtschaft …«
Er lachte gurrend, räkelte sich im Gras und legte, wie ganz unbeabsichtigt, seine Hand auf Evas Bauch. Wortlos schob sie sie weg. Die Wärme des Bodens war angenehm, es war eine windstille, warme Nacht, durch die das Plätschern der vier Springbrunnen im Park wie das Rauschen eines Wasserfalles klang.
»Und dieses Leben gefällt Ihnen?«, fragte sie plötzlich.
»Man ist nur einmal jung, Mademoiselle.«
»Wenn alle so denken würden –«