Titel der Autorin bei beHEARTBEAT:
Hochzeitssommer
Der Duft des Sommerwindes
Über dieses Buch
Das Leben meint es gerade schlecht mit Gina: Als wäre der Tod von Vater und Lieblingstante nicht schon genug, verliert sie auch noch Job und Freund. Einziger Lichtblick ist das Erbe ihrer Tante, ein Häuschen in der Nähe von Bordeaux. Gina entschließt sich, ein Jahr Auszeit zu nehmen, sich in Sachen Wein fortzubilden und danach in London noch mal richtig durchzustarten. Allerdings hat auch das Leben in Frankreich so seine Vorteile, besonders einen sehr attraktiven namens Cédric Thibault …
Ein Sommerroman mit viel Charme, einem kleinen Haus in Frankreich und einer sympathischen Heldin, die zwischen Weinbergen ihr Glück sucht.
Über die Autorin
Die Bücher von Fiona Valpy, einer der meistverkauften Kindle-Autoren, wurden weltweit in ein Dutzend Sprachen übersetzt.
Fiona lebte sieben Jahre in Frankreich, nachdem sie 2007 aus Großbritannien hierher gezogen war. Ihre Liebe zu Land, Leuten und Geschichte hat Eingang in die Bücher gefunden, die sie geschrieben hat. Sie lässt sich vor allem in den Jahren des Zweiten Weltkriegs von den Geschichten starker Frauen inspirieren, und ihre sorgfältige historische Recherche bereichert ihr Schreiben mit einem anregenden Gefühl für Zeit und Ort.
Fiona lebt heute in Schottland, besucht aber regelmäßig Frankreich auf der Suche nach der Sonne.
Fiona Valpy
Der Duft des Sommerwindes
Roman
Aus dem britischen Englisch von Freya Gehrke
Digitale Neuausgabe
»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2013 by Fiona Valpy
Titel der englischen Originalausgabe: »The French for Love«
Originalverlag: Bookouture
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Stefanie Kruschandl, Hamburg
Covergestaltung: © Julia Röck, Guter Punkt, München unter Verwendung
von Motiven von © samael334/GettyImages; © barmalini /GettyImages
eBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-0897-5
be-ebooks.de
lesejury.de
Für Carin, meine Schwester
lieben: vtr. aimer; affectionner; ressentir une attirance pour; être amoureux; adorer; désirer; faire l’amour; Liebe: f. amour m; attirance passionnée f, affection f; tendresse f; intérêt m; personne aimée f; Liebling: mon chou, chéri, amour …; sich verlieben: tomber amoureux/amoureuse; die Liebe seines Lebens: l’amour m de sa vie; Liebe auf den ersten Blick: le coup de foudre m; Liebesaffäre: liaison f; histoire d’amour f …
To-do-Liste:
Wie sich herausstellt, ist Pilates in einer sardinenbüchsengroßen Fährkabine ein Ding der Unmöglichkeit. Also gehe ich stattdessen an Deck, um mir die Beine zu vertreten und zu beobachten, wie sich Saint-Malo aus dem frühmorgendlichen Nebel materialisiert. Während ich das Schiff der Länge nach abschreite, atme ich tief die Seeluft ein und schlage dadurch gleich zwei Fliegen von meiner To-do-Liste mit einer Klappe. Gut. Jetzt bin ich hoffentlich vorbereitet auf die lange Fahrt, die mich erwartet. Es ist die gleiche Strecke wie auf meiner Heimreise letztes Frühjahr. Nur dass mein Zuhause nun seltsamerweise in der entgegengesetzten Richtung liegt.
Meine Wohnung in Arundel ist für ein Jahr an ein junges Paar vermietet, das keinen Eigenheimkredit bekommen hat. Neuerdings sind die Banken ja nicht mehr so spendabel. Vor einem Jahr hätte man den beiden noch eine volle Hypothek ohne jedes Eigenkapital gegeben. Vor einem Jahr hatte ich noch meine schöne, sichere Arbeitsstelle. Vor einem Jahr waren Ed und ich noch zusammen. Vor einem Jahr hätte Liz in ihrem Haus auf mich gewartet, dort, am Ziel meiner Reise.
In einem Jahr kann verdammt viel passieren.
»Freedom’s just another word for nothing left to lose«, singe ich mit dem Autoradio mit. Freiheit ist, wenn man nichts mehr zu verlieren hat. Tja, wer wüsste das besser als ich. Dinge zu verlieren scheint momentan der Tenor meines Lebens zu sein. Während ich im Takt der Musik auf dem Lenkrad trommle, zähle ich meine Verluste an den Fingern ab. Zuerst ist mein Vater gestorben. Dann hat mein Freund mich verlassen. Als Nächstes ist meine Tante gestorben. Und jetzt habe ich meinen Job verloren. Frei wie ein Vogel. Und halb tot vor Angst. Neben mir auf dem Beifahrersitz liegt mein Terminplaner, das letzte Überbleibsel meines alten ach so geordneten Lebens. Früher haben meine täglichen To-do-Listen mühelos eine Seite gefüllt, doch jetzt fällt es mir schwer, auch nur ein paar Zeilen zusammenzukriegen. Dennoch ist es wichtig, eine gewisse Routine beizubehalten. Ich bin immer jemand gewesen, der in festen Strukturen aufblüht. Also werde ich auch jetzt meinen Standards treu bleiben und meine Ohren britisch steif halten – egal, wie sehr mein Leben aus der Bahn geraten ist.
Als ich auf die autoroute nach Süden abbiege, fort von dem grauen Himmel über England und Nordfrankreich, umgibt mich plötzlich gleißend heller Sonnenschein. Es fühlt sich an, als wäre ich aus dem Schwarz-Weiß-Film meines alten Lebens mitten hinein in eine Technicolor-Produktion geraten. Die Wolken sind wie die Vorhänge in einem Theater, sie gleiten beiseite, um – was zu enthüllen? Ich habe keine Ahnung, was dieses neue Leben für mich bereithält. Dennoch sende ich aus tiefstem Herzen einen Dank an Liz, dass sie mir ihr Haus hinterlassen hat. Dass sie mir diese Chance geschenkt hat.
Liz war meine Lieblingstante. Um genau zu sein, war sie meine einzige Tante, aber selbst wenn ich noch andere gehabt hätte, wäre sie mir die liebste gewesen. Vielleicht haben Sie von ihr gehört – Liz Chamberlain erlangte in den Swinging Sixties eine gewisse Berühmtheit als Fotografin. Ihre ausdrucksstarken Porträts von Rockstars und Künstlern werden immer noch von Zeit zu Zeit nachgedruckt (dieser Tage vor allem in Begleitung von Nachrufen, muss man dazu sagen). Ende der Siebziger kehrte Liz dem Glamour und Aufsehen ihres Londoner Lebens den Rücken, um in die französische Provinz zu ziehen und dort gewissermaßen als Einsiedlerin zu leben. Ihren Blick für das Schöne verlor sie allerdings nie, auch wenn sie statt irgendwelcher Stars nun lieber die Natur porträtierte, in die ihr neues Zuhause eingebettet war. Ihre Fotos erschienen in Büchern über die Weine von Bordeaux oder über die Flora und Fauna Südfrankreichs. Mit dem Siegeszug der digitalen Fotografie schwand ihre Leidenschaft jedoch, weil dadurch die Herausforderung und die Kunstfertigkeit verloren gingen, wie sie sagte. »Es ist das Ende einer Ära.«
Als ich Richtung Süden meinem neuen Heim entgegenfahre, das Auto vollgestopft mit all meinem irdischen Besitz und einem Dutzend Schachteln Schokoladen-HobNobs (die unentbehrliche Überlebensration), kann ich Liz’ Stimme hören. Vielleicht ist ihr Geist auf dieser Reise bei mir. Die Vorstellung beruhigt mich ein bisschen und gibt mir Selbstvertrauen, während ich mein vertrautes Leben hinter mir lasse.
Ein Neuanfang. Ich schätze, so eine Chance bekommt man nicht oft: eine völlig unbeschriebene Seite. Wobei, um ehrlich zu sein, die Leere dieser Seite ein ganz klein bisschen beängstigend ist, wenn man es bisher gewohnt war, dass die Tage von einem Vollzeitjob mit festem Gehalt ausgefüllt waren – und einem regen Sozialleben, bei dem man das schwer verdiente Geld wieder ausgeben konnte.
Ich werde mir hier draußen neue Strukturen aufbauen müssen, beschließe ich. Ab jetzt werde ich einen gesunden und ausgeglichenen Lebensstil pflegen, mit einer Mischung aus Sport, guter Ernährung, Wein in Maßen (eventuell schwierig, wenn man in einer der größten und besten Weinregionen der Welt lebt) und einem straffen Lernprogramm für meine Fortbildung zum Master of Wine. Jawohl, ich werde meine Zwangspause einfach als Sabbatical nutzen und intensiv an meiner persönlichen Weiterentwicklung arbeiten. Und wenn ich einige Monate später nach England zurückkehre, gebräunt, gestrafft und hochqualifiziert, mit einer Aura französischer Raffinesse, nehme ich meine steile Karriere im Londoner Weinhandel wieder auf. Dann wird es dieser schleimigen Kröte Ed Cavendish noch leidtun, dass er mich für die jüngere und besser ausgestattete – jedenfalls finanziell, ihre Figur ist nicht der Rede wert – Camilla abserviert hat.
Ruhig bleiben und tief durchatmen, rufe ich mir in Erinnerung, während ich von der autoroute abfahre und auf die Straße abbiege, die an Saint-Émilion vorbei nach Sainte-Foy-la-Grande führt. Punkt Nummer zwei auf meiner To-do-Liste. Warum ist Loslassen nur so schwer?
Ich war kaum zwei Wochen wieder zu Hause, nach jener letzten Frankreich-Reise im Frühling, als der Anruf kam. Im Grunde habe ich es wohl geahnt, die Vorzeichen aber geflissentlich ignoriert. Wie ein kleines Kind, das sich aus Angst vor einem Monster die Augen zuhält: Seh ich dich nicht, siehst du mich nicht.
Ich saß am Küchentisch, als meine Mutter mir die Nachricht vom Tod meiner Tante überbrachte. Vor mir lag meine Samstagmorgen-Einkaufsliste. Brot, stand drauf. Eier, Milch, Spüli. Erstarrt vor Schock und Trauer spürte ich, wie sich die Worte in meine trockenen Augen einbrannten, banal und bedeutungslos. Mums Stimme am Telefon klang ruhig und gefasst. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, durch ein Loch in der Zeit gefallen zu sein und zu hören, wie sie mir ein Jahr zuvor vom Tod meines Vaters berichtete. Auch damals hatte sie so kühl und beherrscht geklungen, und ihre Distanz traf mich schwer. Warum zeigte Mum so selten ihre Gefühle für meinen Vater? Nicht einmal im Angesicht seines Todes? Aber vielleicht war das ja nicht verwunderlich. Schon öfter hatte ich den Eindruck gehabt, dass ihre Ehe eher auf Vernunft als auf Leidenschaft beruhte.
Ich schüttelte den Kopf und zwang mich, Mums Worten zu folgen. Und diesmal waren es andere.
»Eine Nachbarin hat sie gefunden, gestern Nachmittag. Sie glauben, es war ein Schlaganfall, sehr plötzlich. Celia Everett hat mich angerufen, um es mir zu sagen. Sie und Hugh kümmern sich da drüben ganz wundervoll um alles. Das ist wirklich eine große Hilfe, sie sprechen so gut Französisch und sind direkt vor Ort. Die Trauerfeier dürfte Ende der Woche sein. Scheinbar hat Liz Anweisungen hinterlassen.«
Kummer und Verlust schnürten mir die Kehle zusammen, und mir wurde die Brust eng. Es tat weh, zu sprechen.
»Sie hat es gewusst«, erklärte ich dumpf. In meinem Kopf blitzte das Bild auf, wie Liz in ihrem Arbeitszimmer gesessen und stapelweise Papiere geordnet hatte bei meinem letzten Besuch. Und dann fielen mir die Kleiderhaufen in ihrem Schlafzimmer wieder ein, daneben eine Rolle schwarzer Müllsäcke. Frühjahrsputz, hatte sie gesagt. Das schöne Vintage-Oberteil, das sie mir unbedingt hatte schenken wollen, hing jetzt in meinem Schrank, und plötzlich entwich mir ein Schluchzen wie eine Luftblase, die vom tiefsten Grund des Ozeans emporsteigt.
»Oh Gina, Liebes«, sagte meine Mutter. »Ich weiß, wie viel sie dir bedeutet hat. Bleib, wo du bist, ich komme rüber.«
Sorgsam legte ich das Telefon vor mir auf den Tisch und sah seine Konturen verschwimmen, als meine Tränen fielen und die Tinte auf meiner Samstagmorgen-Einkaufsliste verwischten. Ich saß noch immer da, betäubt und zitternd, als Mum eine halbe Stunde später an der Tür klingelte. Ohne meine Tante war diese Welt ein kälterer Ort geworden.
Jetzt ist es nicht mehr weit. Ich schlängele mich durch das Kreisverkehr-System auf dem Straßenring um Sainte-Foy und nehme dann die Abzweigung. Das Sträßchen windet sich den Hügel hinauf zu dem weitläufigen Bauernhaus, das am Rand des Abhangs über dem weiten Tal der Dordogne thront. Es wird seltsam sein, in Liz’ Haus zu wohnen – noch kann ich es nicht als meines sehen. Aber auch wenn es etwas einschüchternd ist, diese Reise allein zu machen, ist es nicht halb so traumatisch wie jener letzte Besuch mit Mum zu Liz’ Trauerfeier.
Die Einäscherung war für Freitagnachmittag angesetzt, und am Abend zuvor holte uns Hugh Everett am Flughafen Bergerac ab. »Natürlich werdet ihr bei uns übernachten«, hatte Celia bei einem der vielen Telefonate zwischen ihr und meiner Mutter im Lauf der vergangenen Woche beharrt. Mir wäre es weit lieber gewesen, in Liz’ Haus zu schlafen, aber diese Idee war rigoros beiseitegewischt worden von der eindrucksvollen organisatorischen Taskforce (Niederlassung Sussex und Gironde), die sich der Sache angenommen hatte.
Als wir auf wunderschön bezogenen (Sanderson) Chintz-Sesseln im wunderschön tapezierten (Farrow & Ball) Wohnzimmer der Everetts saßen und Gin Tonic aus wunderschön funkelnden (Edinburgh Crystal) Gläsern nippten, legte Celia eine Hand an ihre ebenfalls wunderschön dekorierte (Kaschmir und Perlen) Brust und seufzte tief. »Solch ein Schock für uns alle, ein schrecklicher Verlust. Und vor allem schlimm für dich, Gina. Wir wissen, wie nahe du Liz gestanden hast und wie gern sie dich hatte.« Sie hielt inne und blickte zu Hugh hinüber, der sich gerade neben Mum auf dem Sofa niedergelassen hatte und einen langen, dankbaren Schluck von seinem Drink nahm. »Liebling«, murmelte sie, »ich glaube, du hast Gina etwas zu erzählen?«
»Ja, richtig.« Hugh wandte sich mir zu. »Liz hat alles außergewöhnlich gut organisiert. Vor einer Weile hat sie mich gebeten, einer ihrer Testamentsvollstrecker zu sein, und ich freue mich, dir sagen zu können, Gina, dass sie ihren gesamten Besitz dir hinterlassen hat. Nicht dass das nun so viel wäre – eigentlich nur das Haus und alles darin. Sie hatte ein wenig Geld in die Altersvorsorge investiert, und natürlich ihre staatliche Rente. Dann gibt es hier und da noch Lizenzeinnahmen von ihren Büchern und Fotos, aber die kommen dieser Tage nur noch tröpfchenweise. Das Haus ist natürlich ein, zwei Shilling wert, solltest du verkaufen wollen. Sicher, da muss ein bisschen was dran gemacht werden, aber hier in der Gegend findet sich eigentlich immer ein ausgewanderter Engländer, der auf der Suche nach einem geeigneten Renovierungsprojekt ist.«
Das ging alles viel zu schnell, als dass ich es begreifen konnte. Meine erste Reaktion war: »Auf keinen Fall verkaufe ich Liz’ Haus«, doch dann stockte ich. »Aber Mum, solltest du nicht auch was von all dem bekommen?«
»Ach Schatz, das ist so lieb von dir, aber nein. Ich brauche wirklich nicht mehr, als ich habe. Dein Vater hat mich sehr gut versorgt zurückgelassen, wie du weißt. Natürlich wollte Liz, dass du das hier bekommst, und zu Recht. Denk nur darüber nach, was es bedeuten würde, wenn du das Haus verkaufst. Du könntest das Geld verwenden, um das Darlehen für deine Wohnung zurückzuzahlen oder um die nächste Stufe im Immobilienmarkt zu erklimmen und dir etwas Attraktiveres zuzulegen. Das ist eine wundervolle Gelegenheit.«
Ein paar Meilen entfernt lag der reglose Leib meiner Tante in einem Bestattungsunternehmen, und hier saß ihre Schwester in der wohlig beleuchteten Wärme von Celias elegantem Wohnzimmer und redete völlig gelassen über irgendwelche »wundervollen Gelegenheiten«. Ich liebe meine Mutter sehr, aber mal ehrlich, manchmal kann sie derartig kalt sein. In solchen Momenten ist es schwer, zu glauben, dass sie und Liz Schwestern sind – waren. Die eine so herzlich und unkonventionell mit ihrem Aussteigerleben in der französischen Provinz, und die andere solch eine reservierte und korrekte Sussex-Matrone mit einer Vorliebe für Bridge-Kaffeekränzchen und Designerhandtaschen.
Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde und mir Tränen der Wut in die Augen schossen angesichts der Herzlosigkeit meiner Mutter, die weiter über den Verkauf des Hauses plapperte. Celia, die trotz ihrer etwas nervigen Art ein gütiger und ziemlich scharfsinniger Mensch ist, schien das zum Glück zu bemerken. »Na ja«, ergriff sie das Wort und tätschelte mir den Arm, »du hast mehr als genug Zeit, um in Ruhe über alles nachzudenken. Es besteht keine Eile, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, und es wird sowieso eine Weile dauern, bis der Notar den ganzen Papierkram geordnet hat. Lass es erst einmal etwas sacken. Wir werden ab und zu im Haus nach dem Rechten sehen, und natürlich hat auch Liz’ Nachbarin, Mireille Thibault, ein Auge darauf. Sie hat übrigens Lafite aufgenommen. Wie es scheint, hat der alte Kater die ganze Zeit neben Liz’ Leichnam gesessen. Als würde er über sie wachen. Mireille meinte, es war wirklich rührend.«
Ich erinnerte mich an Mireille. Liz hatte mich ihr vorgestellt, als ich sie das letzte Mal besucht hatte. »Komm her, du musst meine liebe Nachbarin kennenlernen. Mireille Thibault, meine Nichte, Gina Peplow.«
Eine winzige, sehr aufrechte Dame in Schwarz hatte mir die Hand geschüttelt. Ihr Gesicht war eine einzige Faltenlandschaft, und die Furchen wurden noch tiefer, als sich ein warmes Lächeln auf ihren Zügen ausbreitete. »Liz hat mir schon viel von Ihnen erzählt«, verriet sie.
»Mireille wohnt in dem Haus gleich oben am Weg«, erklärte meine Tante. Ich nickte; das kleine Naturstein-Cottage zwischen den Pflaumenbäumen hatte ich schon öfter bemerkt, wenn wir dort entlangspaziert waren – zum Pilzesammeln oder um Brombeeren von dem dichten Dornengestrüpp zu pflücken, das hier und dort am Wegesrand wild wucherte.
»Richtig, und nun muss ich mich auf den Rückweg machen«, sagte Mireille lächelnd. »Zwei meiner Enkelkinder werden jeden Augenblick auftauchen, und wenn ich nicht vor ihnen dort bin, werden sie den ganzen Kuchen verputzen, den ich gebacken habe. Sie sind immer ganz ausgehungert, wenn sie von der Schule kommen. Auf Wiedersehen, Mademoiselle; genießen Sie den Aufenthalt bei Ihrer Tante.« Zum Abschied hatte sie Liz umarmt und war dann über die Hofeinfahrt verschwunden.
Während jener seltsamen, angespannten Stunden im Wohnzimmer der Everetts wirkte die Erinnerung an meine Tante und ihre Nachbarin beinahe realer als die traurige Wirklichkeit.
In einem Nebel emotionaler Erschöpfung würgte ich das Abendessen hinunter und verabschiedete mich dann ins Bett. Trotz all der kleinen behaglichen Details, für die Celia gesorgt hatte – eine Vase mit frischen Blumen, eine Flasche Mineralwasser, entspannendes Badeöl –, fühlte ich mich trostlos. Unter der Steppdecke im zweiten Gästezimmer der Everetts (in der großen Gästesuite war meine Mutter untergebracht) verbrachte ich eine schlaflose Nacht. Ich wünschte, ich wäre in Liz’ Gästezimmer – jetzt meinem Gästezimmer –, um mich ihr in den letzten Stunden, die ihr Körper auf Erden weilte, näher zu fühlen.
Das Krematorium war genauso trist und deprimierend, wie diese Orte überall auf der Welt sind. Liz hatte sehr genaue Anweisungen hinterlassen, und Hugh und Celia hatten alles entsprechend arrangiert. Der schmucklose Sarg bestand aus schlichtem Kiefernholz, aber ich legte einen Armvoll duftender weißer Lilien darauf, mein Abschiedsgeschenk.
Als wir den Raum betraten, in dem der Gottesdienst stattfinden sollte, nahm ich durch die Tränen nur ein verschwommenes Meer von Gesichtern wahr. Trotz Liz’ Vorgabe, ihre Trauerfeier solle klein sein, ohne großes Aufhebens, hatten sich ihre Freunde nicht abhalten lassen. Eine bunte Mischung aus Franzosen und Engländern war erschienen, um ihr das letzte Geleit zu geben. Mir fiel Mireille Thibault ins Auge, die etwas abseits geduldig wartend dastand, während ich die Beileidsbekundungen entgegennahm. Schließlich trat sie einen Schritt vor und nahm mich wortlos in die Arme. Zum ersten Mal, seit ich die Nachricht von Liz’ Tod erhalten hatte, fühlte ich mich getröstet. Überwältigt verweilte ich einen Augenblick in ihrer warmen Umarmung, bis sie mir sachte den Rücken tätschelte, sich halb von mir löste und mich mit ihren leuchtenden Augen betrachtete. »Bleiben Sie übers Wochenende?«, fragte sie. »Dann schauen Sie doch vorbei und klopfen an meine Tür. Lafite wird sich freuen, Sie zu sehen.«
Ich holte tief Luft. »Nach dem Gottesdienst gibt es einen Empfang bei den Everetts. Vielleicht möchten Sie auch kommen?«
»Nein, vielen Dank. Ich werde Liz nur hier mein adieu sagen und dann nach Hause gehen. Aber wir sehen uns morgen. Bon courage, Liebes.«
Und Mut war genau das, was ich brauchte, als eine halbe Stunde später der Sarg lautlos durch den Vorhang glitt und meine geliebte Tante fort war …
Völlig vertieft in meine Erinnerungen verpasse ich zwischen den Weinreben beinahe die Abzweigung auf den Zufahrtsweg. Im letzten Moment reiße ich das Steuer herum und schaffe die Kurve gerade so.
Und muss im nächsten Augenblick mit aller Kraft auf die Bremse treten, als vor dem Wagen ein dunkelblauer Pick-up auftaucht, der den schmalen Weg hinab geradewegs auf mich zukommt. Meine Reifen quietschen, rutschen auf dem Schotter, und wie in Zeitlupe gleitet das Heck des Autos anmutig in den Graben. Der Motor säuft ab, und in der plötzlichen Stille zittere ich am ganzen Leib, als mir klar wird, wie knapp das war. So nah und doch so fern – es sind nur noch ein paar Meter bis zur Einfahrt von Liz’ Haus. Aber hier sitze ich nun und stecke fest. Ich wünschte, es wäre ein nur sprichwörtlich ausgetretener Pfad, doch dummerweise ist die tiefe Rinne real.
An meinem Fenster ertönt ein Klopfen. Der Fahrer des Pick-ups ist ausgestiegen und hergerannt. Als er zu mir hereinspäht, nehme ich warme Augen in einem tief gebräunten Gesicht wahr. Ich kurbele das Fenster herunter.
»Excusez-moi, madame«, sagt er besorgt. In seinem Französisch liegt ein Hauch des südwestlichen Dialekts, der in dieser Gegend so häufig ist. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll, so geschockt bin ich – aber wenigstens unverletzt. Beschämt nicke ich. »Ich stecke bloß fest.« Ich öffne die Tür und versuche, auszusteigen, aber mit dem Heck im Graben und der Wagenschnauze in der Luft ist der Winkel ungewohnt, sodass ich danebentrete und beinahe auf dem Hintern lande. Im letzten Moment kann ich mich noch abfangen und lande stattdessen auf den Knien. Jetzt ist meine Jeans gründlich mit Matsch eingesaut. Nicht gerade ein würdevoller Auftritt.
»Oopla!«, sagt der Mann, hält mich mit starker Hand am Oberarm fest und hilft mir zurück auf die Füße. Er grinst breit, offenbar höchst erheitert angesichts meiner misslichen Lage und meines derangierten Zustands. Dann geht er in die Hocke, um einen genaueren Blick auf die Hinterräder zu werfen.
»Keine Sorge, ich hole Sie da raus. Zum Glück ist nichts weiter passiert. Für diese schmalen Sträßchen waren Sie deutlich zu schnell unterwegs.«
Mir schwillt der Kamm. Hör mal, Kumpel, würde ich am liebsten sagen, das Letzte, was ich jetzt brauche, ist ein Vortrag von einem selbstgefälligen, neunmalklugen Franzmann. Ich bin seit vierundzwanzig Stunden unterwegs, habe meine Arbeit, meinen Freund und den Großteil meiner Familie verloren, seit Monaten nicht vernünftig geschlafen, musste meine Zelte abbrechen und mich derart weit aus meiner Wohlfühlzone begeben, dass ich nicht mal mehr weiß, wie sie aussieht, und jetzt bin ich zusammen mit all meinen irdischen Besitztümern in einem matschigen Graben gelandet. Das hier ist also nicht gerade mein Tag, klar?
Doch das sage ich nicht. Einerseits, weil mein Französisch dazu nicht ausreicht. Und andererseits, weil mir gerade noch rechtzeitig einfällt, dass er derjenige mit dem Abschleppseil und dem Allradantrieb ist. Wenn ich mein Auto nicht im Graben lassen und mein gesamtes Hab und Gut Karton für Karton und Müllsack für Müllsack zu meinem neuen Heim hinaufschleppen will, bleibe ich wohl besser höflich.
Ich lächle und bringe ein mattes »Merci, monsieur« heraus, während er das Seil unter meinem Wagen befestigt. Ungelenk krabble ich wieder auf den Fahrersitz, bevor er vorsichtig mit seinem Pick-up zurücksetzt und das Seil spannt. Langsam kommt das Auto wieder in die Waagerechte, bis es schließlich zurück auf der Straße ist.
Der Mann macht das Abschleppseil los und kommt noch einmal herum zu meinem Fenster, während er sich den staubigen grünen Overall abklopft. »Bitte schön. Am derrière ein bisschen schmutzig, aber weiter ist nichts passiert.« Wieder funkeln seine dunklen Augen, und ich bin mir nicht sicher, ob er mich oder meinen Wagen meint. Ich starte den Motor, aber der Fremde lehnt immer noch in meinem Fenster und mustert mich. Trotz all meiner Verwirrung und peinlichen Berührtheit registriere ich, dass er ziemlich gut aussieht. Weshalb ich noch heftiger erröte.
»Ja, also, dann danke.«
»Ist mir ein Vergnügen. Oh, et bienvenue en France!« Er klopft auf das Autodach und tritt zurück, damit ich abfahren kann. Kurz bevor ich in die Einfahrt biege, werfe ich einen Blick in den Rückspiegel und sehe, dass er immer noch auf dem Schotterweg steht und mir nachschaut. Als wollte er sichergehen, dass ich heil zu Hause ankomme. Wobei es wahrscheinlicher ist, dass er sich bloß noch mal über mich kaputtgelacht hat.
Erleichtert fahre ich auf den Hof und stelle den Wagen ab. Ein paar Sekunden sitze ich nur da und lasse die Erkenntnis, dass ich hier bin – endlich! –, sacken. Langsam lässt das Klingeln in meinen Ohren (eine Mischung aus Scham und Motorenlärm) nach.
Es ist Anfang Juni, aber es fühlt sich bereits an wie Hochsommer, und die Blätter der Limettenbäume leuchten in einem satten, dunklen Grün. Als mein Gehör sich anpasst, erkenne ich, dass das Geräusch, das ich wahrnehme, von ihren frisch duftenden hellgelben Blüten kommt, um die in der goldenen Abendwärme ein Heer von Bienen herumsummt. Die Erde in den Töpfen der pinken Geranien bei der Küchentür, die entweder Celia oder Mireille nach ihrer Überwinterung im Haus nach draußen gestellt haben müssen, ist trocken und staubig.
Vorsichtig schäle ich meine steifen Glieder aus dem Fahrersitz, klopfe mir so viel Dreck von der Jeans wie möglich und wühle in meiner Handtasche nach den Schlüsseln. Nachdem ich meinen schweren Koffer und die Reisetasche aus dem Kofferraum gewuchtet habe, schließe ich die Küchentür auf. Und trete in den kühlen Halbschatten meines neuen Zuhauses.