Über das Buch

»Der Spion aus dem Netz«, so wird Eliot Higgins oft genannt. Das von ihm gegründete Investigativnetzwerk Bellingcat hat Indizien, die darauf schließen lassen, dass der Mord in dem Berliner Tiergarten an einem Georgier dem russischen Geheimdienst zuzuschreiben ist. Es hat den Flugzeugabschuss über der Ukraine mit aufgeklärt und war dabei Medien, Ermittlern und sogar Geheimdiensten immer einen Schritt voraus. Wie das gelingt? Mithilfe von OpenSource-Informationen (Google, Facebook und Youtube etc.) klärt Bellingcat weltweit Verbrechen auf und läutet ein neues Zeitalter im Journalismus ein. Das Netzwerk berät zudem den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.

Über den Autor

Eliot Higgins ist ein britischer Blogger und Internetjournalist. Er betreibt die investigative Internetplattform Bellingcat. Eliot Higgins deckte 2012 als erster den Einsatz von Streubomben und Fassbomben in Syrien auf und analysierte den Absturz des Malaysia-Airlines-Fluges 17 über der Ostukraine. Im Juli 2014 gründete er die Internetplattform Bellingcat, die es auch anderen Internetaktivisten ermöglichen sollte, durch Crowdsourcing an Recherchen mitzuwirken. Im Jahre 2015 wies sie einen wahrscheinlich russischen Abschuss des Passagierflugzeuges MH-17 über der Ostukraine nach. Higgins wirkte an mehreren Berichten zum Syrienkrieg und dem Krieg in der Ostukraine unter anderem mit dem Atlantic Council mit.

Für die Recherchen erhielten er und Bellingcat 2015 den Sonderpreis des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises der ARD.

Eliot Higgins

DIGITALE

JÄGER

Ein Insiderbericht aus
dem Recherchenetzwerk

Bellingcat

Übersetzung aus dem Englischen
von Wolfgang Seidel

Quadriga-Logo

EINFÜHRUNG

Hastig eilten Minister und hohe Staatsbeamte zu einem unterirdischen Konferenzsaal mitten im Regierungsviertel von London. Es ging um die aktuelle COBRA-Attacke: Offenbar hatte es auf englischem Territorium einen Chemiewaffenangriff auf bestimmte Personen gegeben. Es sah nach einem Mordversuch mit einem Nervengift aus. Die Betroffenen, Vater und Tochter Skripal, befanden sich im Krankenhaus, wo sie beatmet und mit hohen Dosen von Atropin behandelt wurden. Sie waren sediert und wurden von bewaffneten Einsatzkräften streng bewacht. Großbritannien musste auf diesen Angriff angemessen reagieren. Man vermutete, dass der Kreml diesen Mordangriff in Auftrag gegeben hatte. Eines der beiden Opfer, der Vater, war früher Oberst des russischen Militärgeheimdienstes gewesen. Am 4. März 2018 hatte man ihn und seine Tochter in bewusstlosem Zustand zusammengesunken auf einer Parkbank im idyllischen südenglischen Städtchen Salisbury gefunden. Beide waren bereits dem Tode nahe. Moskau stritt jegliche Verwicklung in den Vorfall ab.

»Mit sehr ernsten Gesichtern und Pathos in der Stimme verkünden unsere englischen Kollegen, dass sie Russland eine Lektion erteilen würden, die es niemals vergessen würde, falls sich herausstellen sollte, dass unser Land tatsächlich hinter dieser Tat steckt«, sagte der russische Außenminister Sergej Lawrow. »Das halten wir für sehr unehrlich. Das ist reine Propaganda. Damit wird lediglich Hysterie angefacht.«

Indes war der Kreml bereits früher in ähnliche Rachegiftmorde an »Abtrünnigen« involviert. Am bekanntesten war der Fall von Alexander Litwinenko, ebenfalls ein ehemaliger russischer Geheimdienstoffizier, der zu den Briten übergelaufen war und sich mit ätzender Kritik am russischen Präsidenten Putin hervortat. Am 1. November hatte sich Litwinenko mit zwei früheren KGB-Agenten im Millennium Hotel in London getroffen. Bereits am gleichen Abend wurde er krank. Innerhalb weniger Wochen war er tot. Todesursache war Kontakt mit radioaktivem Polonium 210.

Zufällig befindet sich die maßgebliche Forschungseinrichtung des britischen Verteidigungsministeriums, die sich mit der Analyse von Kampfgiften und Chemiewaffen aller Art beschäftigt, Porton Down, ganz in der Nähe von Salisbury. Deren Experten analysierten umgehend Blutproben des sechsundsechzig Jahre alten Sergej Skripal und seiner dreiunddreißigjährigen Tochter Julia, um herauszufinden, was den beiden zugestoßen war. Die Resultate lauteten wie folgt: Es handelte sich um Nowitschok A234, ein Nervengift, das in den Siebziger- und Achtzigerjahren in der Sowjetunion entwickelt worden ist; damals war Wladimir Putin noch ein einfacher Geheimdienstoffizier beim KGB. Bereits ein kleiner Auftrag dieses Gifts auf der Haut kann zum Verlust des Sehvermögens – in Verbindung mit massiven Atembeschwerden, ständigem Erbrechen und Krämpfen – und schließlich zum Tod führen. Inzwischen hatten technische Spezialisten der britischen Nachrichtendienste herausgefunden, dass die Russen Telefonate und Nachrichten zwischen Skripal und seiner Tochter abgehört hatten. Die Tochter stand im Begriff, zu einer zweiwöchigen Urlaubsreise nach England aufzubrechen, wo sie ihren Vater besuchen wollte. So hatten die Russen den Aufenthaltsort ihres Vaters in England aufgespürt.

»Entweder handelt es sich um einen bewusst herbeigeführten Angriff auf unser Land«, sagte Premierministerin Theresa May daraufhin im Unterhaus, »oder die russische Regierung hat über ein hochgefährliches, potenziell tödliches Nervengift die Kontrolle verloren, wodurch es in die Hände von Dritten gelangen konnte.« Moskau wurden achtundvierzig Stunden eingeräumt, um zu dem Vorfall Stellung zu nehmen. May fuhr fort: »Falls wir keine glaubwürdige Antwort erhalten, werden wir die Schlussfolgerung ziehen, dass es sich um einen unrechtmäßigen Gewaltakt des russischen Staates gegen das Vereinigte Königreich handelt.«

Über diverse Medienkanäle setzte die russische Regierung Verschwörungstheorien in Form von »Nachrichten« in die Welt, wonach die Skripals angeblich gegen ihren Willen von den Briten festgehalten wurden. Oder wie es sein könne, dass die Opfer nicht zu Tode gekommen seien, wenn es sich doch angeblich um Nervengift für den militärischen Einsatz gehandelt hatte. Das war eine geschickte Behauptung mit einer Zweifachwirkung, indem sie einerseits die britischen Behauptungen in Zweifel zog, andererseits die unterschwellige Drohung beinhaltete, dass der Kreml niemals halbe Sachen machen würde, sondern unfehlbar das erreicht, was er sich vorgenommen hat. Jedenfalls erklärten die Briten dreiundzwanzig russische Diplomaten zu unerwünschten Personen, mit der Begründung, es handele sich in Wahrheit um russische Geheimdienstleute. Einige mit dem Vereinigten Königreich eng verbundene Staaten zeigten ihre Solidarität, indem sie ebenfalls angebliche russische Diplomaten des Landes verwiesen. Das betraf allein in den USA sechzig russische Botschaftsangehörige; dazu verhängten die Amerikaner Exportsanktionen und froren Bankkonten ein. Moskau reagierte darauf, indem es seinerseits viele Diplomaten nach Hause schickte.

Bei Bellingcat haben wir die Vorgänge aufmerksam beobachtet und auf den Moment gewartet, wo wir einhaken können. Auf der ganzen Welt waren unsere Mitarbeiter ständig online. Wir lassen bei der Untersuchung von Kriegsverbrechen nicht locker und hinterfragen im Internet herumschwirrende Desinformationen. Unsere Informationen beruhen auf Hinweisen, die im Netz frei zugänglich sind, sei es in Postings in sozialen Medien, geleakten Datenbanken oder auf frei zugänglichen Satellitenkarten. In einem Zeitalter, in dem so viel Desinformation unterwegs ist wie nie zuvor, erhält man paradoxerweise auch so viel handfeste, nachprüfbare Fakteninformation wie nie zuvor. Bei uns arbeitet eine Kernmannschaft von achtzehn Leuten, die von einer Vielzahl von Freiwilligen in aller Welt unterstützt werden. Unsere Berichte werden von Hunderttausenden von interessierten Nutzern wahrgenommen, dazu gehören auch Regierungsmitarbeiter, einflussreiche Journalisten in allen möglichen Medien und politische Entscheider. Wir haben kein Programm, aber wir haben ein Credo: Es gibt einen Unterschied zwischen Fakten und Faktenbeweisen einerseits und Fake News andererseits, und es gibt Menschen, denen dieser Unterschied wichtig ist.

In den Wochen und Monaten, die folgten, erholten sich die Skripals allmählich. Für Scotland Yard indes war es nicht leicht, den Fall aufzuklären. Sergej Skripals Haus und vor allem die Haustür standen nicht unter Videoüberwachung; sie galt den Ermittlern aber als der wahrscheinlichste Kontaktpunkt der Kontamination mit dem Nervengift. Die Ermittler beugten sich über elftausend Stunden Videomaterial der Überwachungsanlagen aus der näheren Umgebung, werteten Kreditkartenzahlungen und Mobiltelefontracking aus. Während sie damit noch beschäftigt waren, kam es zu weiteren Vergiftungsfällen. Ein drogenabhängiger Mann aus der Gegend von Salisbury hatte beim Durchwühlen von Abfallbehältern einen Flakon Nina Ricci Premier Jour-Parfum gefunden und ihn als Geschenk für seine Freundin mitgenommen. Nachdem sie ein wenig davon auf die Handgelenke gesprüht hatte, wurde sie sofort krank. Erst am 8. Juli konnte sie aus der Intensivstation entlassen werden. Bei der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OVCW) in Den Haag wurde die in dem »Flakon« enthaltene Substanz chemisch analysiert und festgestellt, dass sie Nowitschok enthielt. »Bei diesem Nervengift handelt es sich um eines der seltensten, kaum bekannten chemischen Kampfmittel auf der ganzen Welt. Dass es nun zweimal kurz hintereinander in einem derart begrenzten Gebiet entdeckt wurde, kann kein Zufall sein«, verlautbarte die britische Terrorabwehr. Offensichtlich hatten die Skripal-Attentäter das Glasbehältnis denkbar fahrlässig einfach in einem Müllcontainer »entsorgt«. Der Flakon enthielt noch so viel Flüssigkeit, dass es dazu ausgereicht hätte, Tausende von Menschen umzubringen.

Ein halbes Jahr nach dem Attentat veröffentlichte die Polizei dann endlich Ergebnisse, mit denen wir etwas anfangen konnten: Sie führte Bildmaterial vor, auf dem zwei Russen zu sehen waren, wie sie wenige Tage vor dem Attentat am Flughafen Gatwick, südlich von London, ankamen. Weitere Aufnahmen zeigten, dass sie an mehreren Tagen hintereinander von London aus nach Salisbury in Südengland fuhren und dort das Haus des Überläufers ausspionierten. Die Polizei war nun auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen, um die Verdächtigen anhand von veröffentlichten Fotos identifizieren zu können. Die Männer waren unter den Namen »Alexander Petrow« und »Ruslan Boschirow« eingereist. Scotland Yard hoffte, dass sich jemand an die beiden erinnerte.

Der Kreml tat das auf jeden Fall. »Wir wissen, um wen es sich handelt«, sagte Putin. »Ich kann nur hoffen, dass sie sich bald zu erkennen geben und eine Aussage machen. Das wäre das Beste für alle Beteiligten. An der ganzen Sache ist überhaupt nichts dran, das kann ich Ihnen versichern. Niemand hat eine kriminelle Handlung begangen. Es wird sich bald alles aufklären.«

Wenn der Präsident »bald« sagt, entwickeln sich die Dinge auch wirklich sehr schnell. Schon am Tag nach seiner Ankündigung, am 13. September, gaben die beiden Verdächtigen ein Interview bei Russia Today, dem internationalen Nachrichtensender des Kreml. Auf dem internen Chat-Forum von Bellingcat schwirrten die Kommentare nach dieser überaus verblüffenden Sendung nur so hin und her. Die beiden Männer gaben sich völlig unschuldig als zwei Freunde, die sich kurzentschlossen zu einem Kulturtrip nach England aufgemacht hätten, um die gotische Kathedrale von Salisbury zu besichtigen. »Petrow« starrte feindselig in die Kamera und erweckte den Eindruck, als sei er sehr verärgert, dass man ihn vor die Kamera gezerrt hatte. »Boschirow« wand sich vor Verlegenheit, sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Beide versicherten hoch und heilig, keine Mörder zu sein, sondern Inhaber von Fitnessstudios.

RT-Moderator: »Was haben Sie dort gemacht?«

Petrow: »Freunde von uns haben uns schon vor langer Zeit empfohlen, diese wunderschöne Stadt unbedingt zu besuchen.«

Moderator: »Und? Ist Salisbury tatsächlich so eine wunderschöne Stadt?«

Petrow: »In der Tat.«

Moderator: »Und was konkret macht sie so wunderschön?«

Boschirow: »Na, es handelt sich um einen echten Anziehungspunkt für Touristen. Sie haben eine berühmte Kathedrale. Sie ist in ganz Europa bekannt und von daher auch weltberühmt, nehme ich mal an. Ganz bekannt ist ihr 123 Meter hoher, spitzer Vierungsturm. Außerdem ist die Stadt bekannt für ihre Kathedraluhr. Es ist die älteste noch funktionierende Kirchturmuhr der Welt.«

Am Tag vor dem Giftanschlag waren die beiden erstmals nach Salisbury gefahren, und zwar mit dem Zug, was hin und zurück etwa drei Stunden in Anspruch nimmt. In Salisbury hatten sie sich aber nur eine halbe Stunde aufgehalten; angeblich hatte der Schnee die beiden stämmigen Russen vertrieben. Am nächsten Tag fuhren sie wieder hin. Angeblich hatten sie keine Ahnung von Skripal und wussten nicht, wo er wohnt. Dann fragte der Moderator nach dem Parfumflakon.

Boschirow: »Meinen Sie nicht, dass die Vorstellung, zwei gestandene Männer hätten ein Damenparfum im Rucksack, ziemlich albern klingt? Beim Zoll wurden wir gründlich durchsucht. Wenn wir so etwas Auffälliges und Verdächtiges dabeigehabt hätten, hätte man sicher nachgehakt. Weswegen sollte ein normaler Mann ausgerechnet Damenparfum dabeihaben?«

Moderator: »Arbeiten Sie für die GRU (den russischen militärischen Abwehrdienst)?«

Petrow (an den Moderator gewandt): »Und Sie? Arbeiten Sie für die?«

Moderator: »Wieso ich? Selbstverständlich nicht. Und Sie?«

Petrow: »Ich selbstverständlich auch nicht.«

Boschirow: »Ich genauso wenig.«

In unserem internen Forum waren wir einhellig der Meinung, dass die beiden lügen. »123 Meter hoher Vierungsturm …« Welcher normale Mensch redet denn so im Jargon eines Wikipedia-Eintrags? Wenn die britischen Ermittler nicht in der Lage waren, die wahren Identitäten der beiden herauszufinden, dann würden wir es tun. Aber die Ausgangslage war sehr dürftig. Es gab nur die Fotos und die Namen der beiden, bei denen es sich mit größter Wahrscheinlichkeit um Decknamen handelte.

Wir knackten den Fall innerhalb weniger Tage.

Durch unsere Skripal-Ermittlungen gerieten wir umgehend weltweit in die Schlagzeilen, allerdings wurden auch Zweifel und Fragen laut. Wie konnte es einem Team von autodidaktischen Internet-Ermittlern gelingen, ein russisches Anschlagsduo zu identifizieren? War so etwas überhaupt denkbar? Was für eine Truppe war denn dieses Bellingcat?

Für die Antwort muss man ungefähr ein Jahrzehnt zurückgehen, in die Anfangsphase von Smartphones und Social Media. Social Media steckten damals noch in Kinderschuhen als Plattform für persönlichen Austausch und private Beziehungen, den Austausch von Meinungen und Fotos. Ohne dass dies zunächst beabsichtigt gewesen wäre, gaben Menschen in einem Ausmaß, wie es in der Geschichte ohne Beispiel war, offenherzige, fast verräterisch tiefe Einblicke in ihr Privateben – in aller Naivität. Wer spielerisch und unschuldig mitmachte, dem war nicht klar, wie viel er von sich preisgab. Doch selbst wer absichtsvoll handelte, machte sich keine rechte Vorstellung.

Zu jener Zeit war ich selbst ein begeisterter Computerfreak wie tausend andere, hatte mit Anfang dreißig einen langweiligen Bürojob und ein großes Interesse an Neuigkeiten und Nachrichten. Eines Tages hatte ich eine Erleuchtung. Bei der Internetsuche konnte man auf Informationen stoßen, die weder in der Presse auftauchten noch irgendwelchen Experten bekannt waren. Ein paar versprengte Leute hier und da hatten wohl ähnliche Wahrnehmungen, und so bildete sich ein Online-Community, die sich mit Nachrichten und Ereignissen befasste, die ihre Spuren auf Youtube, Facebook, Twitter und anderen Plattformen hinterlassen haben. Wir bündelten unsere Kräfte und unser Wissen, brachten uns gegenseitig die neuesten investigativen Tricks und Hacks bei. So entstand allmählich ein neuer Bereich, in dem Journalismus, Bürger- und Menschenrechtsengagement und Verbrechensermittlung eine ganz neue Mixtur bildeten.

Wir konnten den Nachweis erbringen, dass der syrische Diktator Bashar al-Assad chemische Waffen gegen seine eigene Bevölkerung einsetzte. Wir ermittelten, wer für den Absturz von Flug MH17 in der Ukraine verantwortlich war. Wir machten IS-Unterstützer in Europa ausfindig. Wir identifizierten die Neonazis, die in Charlottesville randalierten. Wir trugen unseren Teil dazu bei, die Flut an Desinformation im Zusammenhang mit Covid-19 einzudämmen. Wir enttarnten ein vom Kreml gesteuertes Killerkommando.

Dieses Betätigungsfeld ist so neu, dass es dafür noch nicht einmal einen Namen, ein griffiges Wort gibt. International am häufigsten verwendet wird das Kürzel OSINT für »Open Source Intelligence« (etwa: Nachrichtendienst aus offenen Quellen). Aber diese Bezeichnung lehnt sich zu nahe an die konventionellen Nachrichtendienste mit ihren klandestinen Praktiken an. So arbeiten wir nicht bei Bellingcat; das entspricht nicht unserem auf Transparenz und Öffentlichkeitsinformation gerichteten Selbstverständnis. Eine bessere Bezeichnung wäre »Online-Recherchen in offenen Quellen«. Allerdings umfasst unsere Tätigkeit weit mehr als einfache Internetrecherche. Wir kämpfen aktiv gegen die kontrafaktischen Kräfte, die unsere Gesellschaften einlullen wollen. Wir beharren auf Beweisen für Behauptungen. Und wir zeigen den normalen Bürgern, wie man missbräuchliches Handeln enthüllt und die Mächtigen zur Verantwortung zieht.

Der Privatermittler Michael Bazzell – ein Guru der Open-Source-Szene – hatte während seiner Arbeit für das FBI mithilfe von Datenbanken nach Kriminellen gefahndet, Datenbanken, die so teuer waren, dass sie für Amateure unerschwinglich sind. »Aber im Rahmen von OSINT kann ich 98 Prozent aller Informationen, die ich benötige, auch so über eine Person herausfinden, ohne dafür etwas bezahlen zu müssen. Deswegen habe ich mich voll auf die Seite der OSINT-Ermittler geschlagen. Mir wurde klar, dass jedermann damit umgehen kann, wenn er will.«

Als General Michael Flynn die Defense Intelligence Agency DIA, den militärischen Nachrichtendienst der USA, leitete (bevor er sich im Dienst der Trump-Administration lächerlich machte), bemerkte er einmal, dass 90 Prozent der handfesten, verwertbaren Informationen aus geheim ermittelten Informationen stammen. Seit es soziale Medien gibt, ist das Verhältnis genau umgekehrt: 90 Prozent der wirklich relevanten Informationen für die Dienste stammen aus offenen Quellen, die im Prinzip für jedermann zugänglich sind.

Geheimdienste haben sich seit jeher natürlich auch aller verfügbaren offenen und offiziellen Informationsquellen bedient und systematisch Zeitungen ausgewertet und Radiosendungen aufgezeichnet. Aber bei ihnen stand dieses Material nie in hohem Ansehen. Sie verließen sich lieber auf ihr Geheimmaterial, das ihre aufgeblähten Budgets und ihren Einfluss garantierte. Für alle Normalsterblichen besteht die Problematik der Geheimdienste darin, dass wir denjenigen vertrauen sollen, die sie kontrollieren. Doch das Vertrauen der Öffentlichkeit ist spätestens zu dem Zeitpunkt brüchig geworden, als eine Militärkoalition der Willigen unter Führung der USA eine Invasion im Irak unter dem Vorwand durchführte, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen. Was einfach nicht stimmte.

Das heutzutage verbreitete Misstrauen in der Gesellschaft ist ein tiefer verwurzeltes und breiter angelegtes Problem als einfach nur Skepsis der Massen gegenüber der herrschenden Klasse. Bestimmte Gruppen von Bürgern stehen anderen Gruppen mit klaren Vorbehalten, wenn nicht Verdächtigungen gegenüber; jeder politische Indianerstamm bewegt sich nur noch innerhalb seiner eigenen Blase. Es besteht eine Tendenz, dass sich beispielsweise Leser dieses Buches, also Menschen, die sich entschieden gegen jede Art von Desinformation wenden, für eine ganz andere Kategorie Mensch halten als solche, die auf Täuschungen und Verschwörungstheorien hereinfallen. Was jeder von uns glaubt oder für richtig hält, ist immer nur ein Reflex auf etwas, was ein Dritter ihm erzählt hat. Deswegen sind Experten so wichtig. Aber es genügt nicht mehr, ihnen blind zu vertrauen. Eine Vorstellung von Wahrheit allein auf eine Form von Gruppenloyalität zu gründen hat sich als desaströs erwiesen. Heutzutage müssen Behauptungen für alle sichtbar klar dargelegt und begründet werden. Hier setzt unsere Bellingcat-Methode an: Klicken Sie auf entsprechende Links, und ziehen Sie selbst ihre Schlussfolgerungen.

Vor etlichen Jahren wurde das Internet als schöne neue Cyberwelt für jedermann und im besten, wohlwollendsten Sinn gepriesen. Inzwischen ist das Pendel der öffentlichen Meinung darüber genau ins Gegenteil geschwungen: Das digitale Zeitalter wird als Abbruchunternehmen betrachtet, das den traditionellen Journalismus, die Zivilgesellschaft und die Politik zerstört. Bei Bellingcat teilen wir diesen Cyber-Pessimismus nicht. Das Wunderwerk des Internets kann sich immer noch als Segen erweisen. Allerdings sind der Schutz der Gesellschaft und die unbedingte Suche nach Wahrheit nicht mehr das ausschließliche Privileg oder die Aufgabe bestimmter Organe oder Institutionen, sondern sie obliegen uns allen.

Es geht hier nicht um Zugang zu Topsecret-Informationen oder darum, die wichtigsten Informationen einem kleinen Kreis von Eingeweihten vorzubehalten. Bellingcat ist etwas vollkommen Neues, das es bisher nicht gab: ein Nachrichtendienst für jedermann.