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Heinz G. Konsalik

Das goldene Meer

Roman

hockebooks

Europa und die Weltmächte sind in der Lage,

innerhalb kurzer Zeit ganze Armaden und

Armeen, ganze Geschwader und Luftflotten

aufzubauen, aber um einige Schiffe ins

Südchinesische Meer zu entsenden, um dort

dem Massensterben ein Ende zu bereiten –

dazu ist Europa nicht in der Lage.

(André Glucksmann im »L’Express«, Paris)

I.

Neunzehn Nächte und neunzehn Tage waren sie auf dem Meer. Jetzt, in der zwanzigsten Nacht, wussten sie: Wir müssen sterben.

Sie waren dreiundvierzig Menschen auf einem flachen, seeuntüchtigen, halb verrotteten hölzernen Flussboot; zwölf Kinder, vierzehn Frauen und siebzehn Männer. In die Bootsmitte hatten sie einen niedrigen Holzverschlag gebaut. Darin lagen die kleineren Kinder, die schwächeren Frauen und die hochschwangere Thi Trung Linh, deren Mann Cuong am Heck neben dem stummen Motor saß und in die tiefschwarze Nacht starrte.

Bis zu dieser Nacht hatten Lam Van Xuong und die anderen gehofft, von einem der vielen Handelsschiffe, die auf der Schiffahrtsroute Singapur–Hongkong hin- und herfuhren, entdeckt und an Bord genommen zu werden. Aber die Hoffnung, diese verzweifelte Hoffnung, in ein neues Leben flüchten zu können, hatte sich als ein Irrtum erwiesen. Zwar war die Wasserstraße nach Hongkong oder Singapur wirklich eine Straße, auf der Tag und Nacht die großen Schiffe ihre Lasten transportierten. Doch nicht eines stoppte die Maschinen, um die winkenden, schreienden, weinenden Menschen aus dem winzigen Boot aufzunehmen, sie zu retten vor dem Verdursten, dem Verhungern, dem Ausdörren und dem Ertrinken.

Nicht, dass man die Verzweifelten in den Wellenbergen übersah. Man sah sie genau. Oft fuhren die Handelsschiffe in fünfzig oder sogar zwanzig Meter Entfernung an dem kleinen Flussboot vorbei. Die Winkenden und Schreienden konnten sehen, wie man sie von der Reling oder der Brücke aus betrachtete, wie sich die Ferngläser auf sie richteten, wie man auf sie zeigte und über sie sprach. Und dann rauschte das große Schiff an ihnen vorbei, schickte noch einige Wellen, die den Kahn gefährlich schaukeln ließen, und entfernte sich.

Das Leben flüchtete vor den Flüchtlingen. Neunzehn Tage und neunzehn Nächte lang. Xuong zählte zweiundvierzig Handelsschiffe und Tanker, die an ihnen vorbeizogen, ohne sie zu beachten. »Auch darauf sind Menschen«, sagte er einmal, als wieder ein Containerschiff in kaum dreißig Meter Entfernung an ihnen vorbeidröhnte, ohne die Maschinen anzuhalten. »Ich frage mich nur: Was für Menschen? Haben sie ein Herz in der Brust, oder nur noch ein Räderwerk?«

Lam Van Xuong konnte so sprechen – er war ein Lehrer, ein kluger Mann also, und weil er so klug war, hatte man ihn zum »Kommandanten« des Bootes gemacht. Er konnte auch den Kompass lesen, und er war es gewesen, der vorgeschlagen hatte, zur Route Singapur–Hongkong zu fahren, wo man sie bestimmt an Bord nehmen würde. Begeistert hatten alle zugestimmt. Das war wirklich die Rettung von aller Qual und Verfolgung, von Willkür und Zwang. Menschen, die das Leid nachempfanden, würden sie mitnehmen in ein neues, freies Leben.

Und diese Menschen fuhren nun an ihnen vorbei … neunzehn Tage lang.

Vor vierzehn Tagen hatte eine große Welle, die über den Bug des Bootes schwappte, Xuong den lebenswichtigen Kompass aus der Hand geschlagen. Seitdem benutzte Xuong seine Armbanduhr und die Sonne als Kompass. Sie blieben in der Nähe der Seestraße, steckten nachts eine Fackel an, um auf sich aufmerksam zu machen, winkten mit Hemden, Kleidern und Tüchern, wenn ein Schiff an ihnen vorbeifuhr, und kauerten sich dann wieder entmutigt in ihrer Zehn-Meter-Holzschale zusammen.

Jetzt, in der zwanzigsten Nacht, fragte Cuong, der Mechaniker, den klugen Lehrer Xuong: »Wie machen wir es?«

»Was?«

»Das Sterben.«

»Wir haben noch für zwei Tage Wasser.« Xuong kam zum Heck und setzte sich neben Cuong auf den Holzkasten, unter dem der Motor montiert war. »Für jeden dreimal täglich drei Löffel voll Wasser.«

»Und dann? Wir treiben ab. Seit drei Tagen treiben wir ab. Wieder zurück zur Küste. Warum helfen uns diese Menschen nicht? Wenn sie uns nicht an Bord haben wollen, könnten sie uns doch ein Fass Benzin rüberwerfen. Aber sie fahren weiter. Xuong, sollen wir zuerst die Kinder töten, dann die Frauen und dann uns? Du bist ein kluger Mann, gib uns einen letzten Rat.«

»Du könntest Thi töten?«

»Es ist besser, als wenn sie und das Kind in ihrem Leib verdorren. Es gibt nur einen Tod, und wir können ihn uns aussuchen …«

»Hast du mit Thi darüber schon gesprochen?«

»Wer spricht davon? Der Tod sitzt bei uns, das wissen wir.« Cuong stützte sich auf das mit einem Seil festgebundene Steuerruder und starrte in die undurchdringliche Dunkelheit. Das flackernde Licht der Fackel drang nicht einmal bis zum Bug des kleinen Bootes, die Schwärze saugte es auf. Und doch war diese Fackel ein lautloser Schrei: Hier sind Menschen … helft uns, glücklichere Brüder! »Sie schläft und wird nichts merken. Sieh dir die Kinder an. Sie dörren aus. Ihre Haut schrumpft zu Leder wie bei einem Greis.« Er breitete die Arme aus und schüttelte die Hände. »Und die Schiffe fahren vorbei, Xuong, du hast zu viel von den Menschen erwartet.«

»Lass uns noch einen Tag abwarten … oder zwei …« Lam Van Xuong legte die Hände übereinander, lehnte sich an den Motorkasten zurück und blickte in die schwarze Nacht. Mit wie viel Hoffnung waren sie vor zwanzig Tagen aus dem kleinen Hafen Phu-winh im Mekong-Delta ausgelaufen. Wir haben ein Boot, endlich haben wir ein Boot! Nach einem Jahr Warten, bis man den Kaufpreis zusammengespart hatte, ein Jahr, in dem der Bootsbesitzer viermal den Preis erhöhte und freundlich lächelnd sagte: »Ich brauche nicht zu verkaufen, ihr müsst kaufen … dieser Unterschied ist eben teuer.«

Sie waren aus drei benachbarten Dörfern zusammengekommen. Xuong, der Lehrer, aus der Haft der politischen Polizei entlassen und mit Berufsverbot belegt, arbeitete als Holzfäller in einer Kommune, musste die schwersten und dreckigsten Arbeiten übernehmen, vor denen sich die anderen Kommunarden drückten. Aber er blieb der »Lehrer«, wenn er an einem freien Tag die Dörfer besuchte, aus denen die Schüler früher zu ihm in das Schulgebäude von Nha-duc gekommen waren. Mit wehem Herzen sah er die Not seiner Freunde, die von Mal zu Mal größer wurde, hörte die klagenden Frauen an, deren Männer zur Zwangsarbeit abgeholt worden waren, sprach mit dem ehemaligen Bürgermeister Phan Kim Trong, den die Geheimpolizei vier Monate lang gefoltert hatte, nur auf den Verdacht hin, er habe vier Säcke Reis zur Seite geschafft und heimlich verkauft, was nie bewiesen werden konnte, da er es nicht getan hatte. Nun war Trong ein Krüppel, körperlich und seelisch, zerbrochen an einem System, das nur Misstrauen und blinde Unterwürfigkeit kennt. Und bei einem dieser Besuche hatte Xuong beschlossen, ein Boot zu kaufen und über das Meer zu flüchten in eine Welt ohne Verfolgung und Folter, ohne Angst und ohne Schläge. Vielleicht nach Thailand oder nach Singapur, nach Sumatra oder den Philippinen, oder in eine weite Ferne, in einen anderen Teil dieser Erde, wo Menschen lebten, die wussten, was Menschlichkeit bedeutet. Humanität nannte es der kluge Lehrer. Die Frauen und Männer, die ihm zuhörten, hatten dieses Wort noch nie gehört, aber als er es ihnen erklärte, leuchteten ihre Augen.

Gab es das überhaupt? Humanität? Anerkennung der Würde aller Menschen, ganz gleich, welcher Rasse, aus welchem Staat, von welchem Stand? Vorbei mit aller Sklaverei unter einer diktatorischen Regierung? Politische Gleichberechtigung aller Auffassungen und Gedanken? Freie Gedanken? Freie Rede? Ein Mensch mit Menschenrechten … mein Gott, gab es das wirklich?! Keine Tritte und Schläge mehr, kein Arbeiten bis zum Umfallen für eine Schüssel Reis mit Fisch? War das nicht das Paradies, von dem der Pater immer predigte? Und das soll vor der Tür liegen, nur ein paar hundert Meilen weiter, jenseits der Linie, an der auf jeden geschossen wird? So nah, und doch so unerreichbar wie ein Stern …

Aber nein. Hört euch doch Xuong, den klugen Lehrer an. Hört, was er erzählt, was er vorschlägt, welchen Weg es gibt zu dieser sagenhaften Humanität: Über das Meer! Nur ein gutes Boot braucht man und etwas Mut. Und da draußen auf dem freien Meer werden die humanen Menschen die Flüchtlinge auffischen und in die Länder bringen, wo ein Mensch noch das Recht hat zu leben. Auch das hat der Pater gepredigt, und Xuong sagt es jetzt auch: Wir sind alle Brüder! Nur, die einen wissen es, und die anderen wissen es nicht. Lasst uns zu jenen flüchten, die es wissen!

Es waren zwanzig Männer, sechzehn Frauen und vierzehn Kinder, die Xuong die Hand drückten, Stillschweigen schworen und dann begannen, für dieses Paradies zu arbeiten und zu sparen. Ein Jahr lang, bis Xuong das kleine flache Flussboot kaufen konnte. Drei Männer starben in diesem Jahr, zwei Frauen und zwei Kinder. Man verkaufte auf dem Markt von Vinh-long, was sie hinterlassen hatten, und gab das Geld dem Lehrer.

Eines Tages sagte Xuong: »Im nächsten Monat, im Mai, wenn das Meer noch ruhig ist, können wir fahren. Das Boot liegt bereit, mittschiffs habe ich einen Raum aus Holz für die Frauen und Kinder bauen lassen. Nudeln, Fässer mit Frischwasser, Treibstoff, Reis, getrocknetes Obst und Spiritus besorge ich noch. Das Meer wird uns die Fische liefern. Töpfe und Pfannen und alles, was ihr braucht, bringt ihr selbst mit. Wenn wir die Schiffahrtsroute Singapur–Hongkong erreicht haben, sind wir gerettet. Es werden bis dahin nur ein paar Tage und Nächte sein. Beten wir alle, dass das Meer ruhig bleibt. Unser Boot ist flach, aber ein ruhiges Meer können wir bezwingen.«

Noch einen Monat, nur noch einen Monat! Wie sich die Tage dehnten, wie langsam die Nächte vergingen. Cuong, der Mechaniker, der in der Kommune einen Traktor fuhr, strampelte nachts auf einem Rad, das vor Alter quietschte und dessen Räder eierten, heimlich zum Hafen und reparierte den Motor des Bootes mit gestohlenen Schläuchen und Kupferleitungen, klagte mehrmals: »Der Verkäufer betrügt uns, Xuong! Schon bei halber Kraft wird der Motor auseinanderfallen!« Aber alles Protestieren half nicht. Im Gegenteil, der Verkäufer, ein dürrer Flussfischer, schraubte die Forderung noch einmal hoch.

Xuong bezahlte zähneknirschend, aber ohne den Mann zu verfluchen. Im Grunde verstand er ihn. Es ging darum, Geld zu verdienen, und von wem es kam, war von wenigem Interesse. Schließlich gab der Mann sein Boot her, würde es am Morgen nach Abfahrt der Flüchtlinge als gesunken melden, leckgeschlagen und untergegangen beim Fischen im Mekong, von der Strömung dann weggerissen. Das war glaubhaft, und Lap Quang Ky, der arme, lederhäutige Fischer, würde versuchen, von der Kommune der Fischer ein neues Boot zu bekommen, auf Abzahlung natürlich, vom Erlös des Fischens würde ihm gerade so viel übrigbleiben, dass er nicht verhungerte … Wer wusste denn, dass er in Wahrheit ein wohlhabender Mann war, der sich Fleischstückchen in seiner Reissuppe leisten konnte. Ein jeder will ein wenig besser leben, wem kann man das verübeln?

In diesem letzten Monat in der Heimat verkauften die Verschworenen nacheinander alles, was sie besaßen. Sogar nach Ho-Chi-Minh-Stadt fuhren sie mit den überfüllten, mit Menschentrauben behangenen Bussen und boten ihre Habe an; die letzten Tage hausten sie in leeren Zimmern und Hütten, schliefen auf der blanken Erde, arbeiteten aber wie immer, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen.

Dann endlich war die Nacht da, in der sie zum Fluss schlichen und über ein schwankendes Brett auf das Boot gingen. Zwölf Kinder von zwei bis dreizehn Jahren, vierzehn Frauen und sechzehn Männer. Das Boot war viel zu klein für sie alle … eng zusammengepfercht hockten sie auf dem Boden, die Kinder waren in den Holzverschlag gekrochen. Als Xuong das Brett, das sie noch mit der Heimat verband, wegtrat und das Boot lautlos von der Strömung erfasst und weggezogen wurde, falteten sie alle die Hände und beteten, was sie bei Pater Matthias in der Mission gelernt hatten: Vater unser, der Du bist im Himmel …

Erst mitten auf dem Mekong warf Cuong den Motor an und lachte und klatschte in die Hände, als der wirklich gleichmäßig zu rattern begann. Durch das alte Boot ging ein Zittern, als sei es ein müdes Pferd, dem man einen heftigen Schlag versetzt hatte. Cuong musste das Ruderrad fest in beide Fäuste nehmen und begriff plötzlich, was die Fischer immer sagten: Jeder Tag ist ein Kampf mit dem Fluss.

Wie mochte das mit dem Meer sein?

Er blickte Xuong an, der neben ihm stand und stumm zum kaum sichtbaren Ufer starrte. In die Freiheit, dachte er. Jetzt schwimmen wir in die Freiheit. Wir werden dich nie Wiedersehen, wir werden nie wieder zu dir zurückkommen, schöne Heimat Vietnam. Irgendwo auf dieser Welt werden wir einen neuen Platz finden, wo unsere Kinder geboren und unsere Alten sterben werden, wo es keine Unterdrückung und keinen Hass gibt, wo wir die Arbeit unserer Hände behalten können und alle Menschen Brüder sind.

»Zwei schwere Tage kommen noch, Cuong«, sagte er. Mit einem Ruck riss er sich vom Anblick des Ufers los und wandte ihm den Rücken zu.

»Ich weiß, die Küstenwachboote der Marine.« Cuong gab noch etwas mehr Gas. Mit der Strömung machten sie gute Fahrt, der Kahn lag besser im Wasser, als man geglaubt hatte, er glitt fast über den Fluss mit seinem flachen Kiel, als sei er ein großer Schlitten. »Sie werden denken: Da ist ein mutiger Fischer, der sich aus dem Mekong hinauswagt. Vielleicht aber sieht uns auch niemand.«

In der Morgendämmerung verließen sie bei der Halbinsel Cua Cung-hau das Mekong-Delta und fuhren aufs freie Meer hinaus. Das Glück war mit ihnen. Kein Wachboot lief an diesem Tag seine Patrouille vor diesem Küstenstreifen, das Meer lag ruhig und bei den ersten Sonnenstrahlen wie vergoldet vor ihnen, es war ein Anblick, der das Herz jauchzen ließ.

Aus dem Holzverschlag zog der Duft von Tee über das Boot. Kim Thu Mai, ein junges Mädchen von achtzehn Jahren und Tochter von Cuongs Bruder Khoa, den man im Gefängnis zu Tode geprügelt hatte, brachte das Frühstück für Xuong und Cuong zum Ruderplatz. Tee, etwas Brot und einen kleinen Topf mit Ingwerhonig. Mai lachte, als sie den flachen Korb auf den Motorkasten stellte. Im Fahrtwind flatterten ihre schwarzen Haare, sie zeigte auf das Meer und schlug die Hände aneinander. Zum ersten Mal sah sie das grenzenlose Wasser. »Wie schön!« rief sie. »Wie schön! Was sagst du dazu, Cuong?«

»Das Meer ist tückisch wie eine Schlange. Sie liegt da mit schimmernder Haut, du bewunderst sie, und plötzlich schnellt sie vor, beißt dich und du wirst sterben.« Er drosselte den Motor etwas, setzte sich auf die Motorverkleidung und überließ Xuong das Ruder. »Wie geht es Thi?«

»Sie liegt auf ihrer Decke und ist glücklich.«

»Keine Schmerzen im Bauch? Keine Übelkeit?«

»Sie sagt nein.«

»Und die Kinder?«

»Die meisten schlafen noch.«

Aus dem Verschlag krochen jetzt die anderen Frauen, um ihren auf dem Bootsboden hockenden Männern den Tee zu bringen. Das leichte Schwanken und das Balancieren der Teebecher begleiteten sie mit leisen, quietschenden Aufschreien, die Fröhlichkeit verbreiteten. Die Wellen des Meeres, auch wenn es wie glatt dalag, waren doch stärker als die des Mekong.

Xuong trank zwei Schlucke Tee, riss seine Brotscheibe in Streifen und tunkte sie in den Honig. Dieses goldene, glatte Meer gefiel ihm nicht. Man sah das Boot aus weiter Entfernung, es lag wie auf einem Tisch, und das war in dieser Gegend gefährlich. Später, wenn man zur Straße der großen Schiffe kam, konnte man ein ruhiges Meer gebrauchen. Jetzt aber erhöhte es die Gefahr.

Er wartete, bis Kim zurück zum Verschlag ging, und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. »Ich habe euch etwas nicht gesagt. Vielleicht war das ein Fehler, aber ihr solltet es doch wissen«, setzte er an. »Wir werden mit der Angst leben müssen, mindestens 150 Meilen von der Küste entfernt.«

»Der Himmel sieht nicht nach Sturm aus, Xuong.«

»Einem Sturm wäre zu widerstehen. Die Gefahr ist schneller als wir, besser ausgerüstet, grausamer als jeder Taifun, schlimmer als jeder Hai, und sie fährt auf guten, festen Schiffen mit starken Motoren. Wenn man sie sieht, gibt es kein Entrinnen mehr. Vor einem Tiger im Dschungel kann man mit viel Glück flüchten, vor ihr ist man hilflos. Und je ruhiger das Meer ist, umso größer ist diese Gefahr.«

Cuong warf einen Blick zur Seite auf Xuong, hob die Schultern und deutete damit an, dass er dieses Rätsel nicht verstehe. Für ihn war ein kaum bewegtes Meer ein Glücksfall, der gar nicht lange genug anhalten konnte. Schon der Gedanke an eine mäßig bewegte See erzeugte in ihm ein Übelkeitsgefühl. Ein flaches Flussboot auf weit heranrollenden Wellen, das ist nicht mehr als ein auf dem Wasser tanzendes Brett. Nur hockten auf diesem Brett 42 Menschen, die ein neues Leben suchten.

»Ich bin ein dummer Mensch«, sagte er schließlich, als Xuong seinen Blick nicht zu verstehen schien. »Beten wir, dass das Meer so sanftmütig bleibt.«

»Vor der Küste, besonders hier vor dem Mekong-Delta, lauern thailändische Fischerboote.« Xuong stellte seinen Becher Tee zur Seite, nahm seinen Kompass aus der Tasche, klappte den Deckel hoch und kontrollierte die Fahrtrichtung. »Schnelle Schiffe.«

»Ist das wahr?« Cuongs Augen strahlten, über sein Gesicht breitete sich ein Lächeln der Freude. »Sie werden uns den Weg nach Thailand zeigen.«

»Sie sind als Fischerboote getarnt. Sie fischen nicht mit Netzen, sondern mit Enterhaken und Pistolen, Beilen und Eisenstangen, Messern und Würgestricken. Sie fischen Menschen.«

»Seit … seit wann weißt du das?« Cuong starrte den klugen Lehrer Lam Van an, so ungläubig, wie nur ein Ahnungsloser sein kann. Sie fischen Menschen – was bedeutete das? Was will man mit Menschen, wenn die Netze voller Fische sein können? Doch dann durchfuhr ihn ein entsetzlicher Gedanke. »Sie … sie fangen uns und liefern uns der Polizei aus? Bringen uns zurück an Land? Bekommen Geld dafür. Kopfgeld. Das kann nicht wahr sein, Xuong, es sind doch Thailänder!«

»Es sind Piraten, Cuong. Sie werden uns ausplündern, unsere Frauen vergewaltigen, die jungen und hübschen mitnehmen und in Thailand an die Bordelle verkaufen, und wenn wir uns wehren, werden sie uns erschießen, erstechen oder über Bord zu den Haien werfen.«

»Das … das hast du alles gewusst?«

»Seit über einem Jahr.« Xuong klappte den Deckel des Kompasses zu und sah jetzt Cuong voll in die unruhigen Augen. »Ich weiß nicht, wie viele Flüchtlingsboote sie schon überfallen haben, aber es sollen viele sein. Wir müssen um das Glück beten, nicht von ihnen gesehen zu werden. Ein glattes Meer wie heute ist ihr Verbündeter. Bei höheren Wellen sieht man uns nicht so leicht.«

»Wann können wir an der Schifffahrtsstraße sein?« In Cuongs Stimme hörte man deutlich die Angst. Piraten. Sie würden Linh misshandeln. Und alle Frauen im Boot … lauter junge, hübsche Frauen. Die Älteste war Ut, sie hatte ihre drei kleinen Kinder bei sich, und ihr Mann Tue war einer von jenen, die in dem Jahr des Wartens und Sparens gestorben waren. An einem Riesenfurunkel im Nacken, den niemand behandeln konnte. »Da kommt dein ganzes inneres Gift raus!« hatte der Kommunenarzt spöttisch gesagt, als Tue ihm das ungeheure Geschwür zeigte. »Du bist doch einer von denen, die immer unzufrieden sind. Geh und schmier dir deine Parolen in den Nacken.« Tue starb schließlich an Blutvergiftung. Ut, seine Witwe, verkaufte alles, was sie besaß, gab Xuong das Geld und glaubte seitdem, ein besseres Leben in einem anderen Land gewinnen zu können.

»Ich werde den Motor hochtreiben, Xuong!« sagte Cuong mit belegter Stimme. »Schaffen wir es in zwei Tagen?«

»Es können auch drei werden. Belaste den Motor nicht zu stark. Er ist wie ein alter Mann, der keucht, spuckt und nach Atem ringt. Jag ihn nicht in den Tod. Ohne Motor gibt es keine Hoffnung mehr.«

Cuong nickte, ließ den Motor gedrosselt und rang noch immer mit dem Entsetzen, das in ihm war. »Sollen wir es den anderen sagen?« fragte er.

»Nur den Männern. Nicht den Frauen.«

»Aber sie wird es am meisten treffen.«

»Vertrauen wir auf das Glück, das bis heute bei uns war.« Xuong stieß sich von dem Motorkasten ab, bahnte sich einen Weg durch die herumhockenden und essenden Männer und rutschte dann auf Knien in den Holzverschlag. So niedrig war er. Selbst ein kleines Kind konnte darin kaum stehen.

Am dritten Tag, nach Xuongs Berechnungen musste man ganz in der Nähe der großen Schiffahrtsroute sein, sichteten sie ein kleines, treibendes Boot. Es tanzte auf den nun etwas höher gehenden Wellen, fiel in die Wellentäler, ritt auf den Wellenkämmen. Ein leeres Boot, so schien es, von irgendwoher abgetrieben, vielleicht schon Wochen im Südchinesischen Meer.

»Das können wir gut gebrauchen!«, schrie Cuong gegen den Fahrtwind. »Alles, was schwimmt, ist für uns gut! Holen wir es längsseits?«

»Es ist ein schlechtes Zeichen«, sagte Xuong zögernd.

»Das verstehe ich nicht.«

»Ein so kleines Boot schlägt schnell voll Wasser und sinkt. Es ist noch nicht lange hier draußen, und es ist ein vietnamesisches Boot. Was beweist das?«

»Ich weiß es nicht, Xuong.«

Nun standen auch die Frauen und die größeren Kinder an Deck und starrten hinüber zu dem wellenreitenden Kahn.

»Das ist ein Überbleibsel«, sagte Xuong nachdenklich. »Ein Rest …«

»Wovon?«

»Von Menschen, die wie wir die Freiheit suchten. Entweder hat das Meer sie getötet oder die Piraten …«

»Das heißt, dass welche in der Nähe sind?«, rief Cuong entsetzt. »Ändern wir sofort den Kurs!«

»Sie lauern aufgereiht wie eine Perlenschnur vor der Route Singapur–Hongkong. Sie wissen, jedes Flüchtlingsboot wird versuchen, in die Wasserstraße zu kommen. Nur dort ist Hoffnung auf Rettung. Warten wir hier, Cuong. Wirf den Treibanker aus. Versuchen wir in der Nacht, die Route zu erreichen.«

»Die großen Schiffe werden uns überfahren und unter Wasser drücken.«

»Wir werden sie von weitem wahrnehmen, sie sind alle hell beleuchtet. Und wir werden unsere Fackeln anzünden, wenn wir ihre Lampen sehen. Zwischen den großen Schiffen sind wir sicher. Da gibt es keine Piraten mehr.«

Cuong stellte den Motor ab, rief ein paar Worte über Deck, zwei Männer, die nur zerschlissene Hosen und durchnässte, kurzärmelige blaue Hemden trugen, warfen den kleinen Treibanker über Bord und hielten dann das Tau fest. Das fremde, leere Boot tanzte näher, kam genau auf sie zu. Die Frauen klatschten in die Hände, als zwei andere Männer mit langen Stangen, an deren Enden sich Widerhaken befanden, den Rand des Bootes packten und es heranzogen.

Es war nicht leer. Auf dem Boden lag ein junger Mann, besinnungslos, mit nacktem Oberkörper. Seine linke Schulter war blutverschmiert. Erbärmlich sah er aus, verhungert, ausgezehrt, dem Tode näher als dem Leben. Zusammengekrümmt hing er halb im Wasser, das die Wellen ins Boot geworfen hatten. Zu viert hoben sie den Ohnmächtigen über die Bordwand und betteten ihn auf eine Strohmatte, mit dem Kopf auf eine flache Kiste, die Fackeln enthielt. Xuong untersuchte sofort die blutige Schulter. Kim Thu Mai half ihm dabei. Sie hatte in der Kommune einen Lehrgang in Erster Hilfe mitgemacht. Sie wusch das Blut mit Meerwasser ab, was höllisch brennen musste wegen des Salzgehaltes, aber der Verletzte spürte in seiner tiefen Bewusstlosigkeit ja nichts.

»Messerstiche!«, sagte Xuong langsam, als die Wunden freilagen. »Einwandfrei Messerstiche. Er ist einer der Unglücklichen, die sich gewehrt haben.« Er richtete sich auf und warf einen Blick auf Cuong. »Jetzt wissen wir, was uns erwarten kann. Kann, sage ich! Wir müssen listiger sein als unsere Feinde.«

Kim Thu Mai hatte unterdessen dem Ohnmächtigen ein klein wenig Reisschnaps zwischen die Lippen geträufelt. Zwei kleine Korbflaschen hatten sie davon an Bord. Nicht um sich einen Rausch anzutrinken, sondern als Medizin, als eine Art Trost, wenn ihn jemand nötig hatte. Xuong hatte die beiden Korbflaschen mitgebracht … er kannte seine Mitmenschen besser als jeder andere. Er war ja ein Lehrer.

Man weiß, dass Reisschnaps das Gemüt anregt und einen fröhlichen Sinn schafft. Aber nun zeigte es sich, dass er auch einen entflohenen Geist zurückholen konnte. Der Verletzte stieß einen langen Seufzer aus, schlug dann die Augen auf und warf einen Blick voller Entsetzen auf die ihn umringenden Männer. Doch dann erkannte er, dass es keine neuen Piraten waren, dass er lebte und im Augenblick in Sicherheit war. Vor Freude begann er zu weinen und schämte sich nicht. Bei solchen Tränen verliert niemand sein Gesicht. Er hob den Kopf, es schmerzte ihn, das sah man an seinem sich verzerrenden Mund, aber dann blickte er Kim an und lächelte schwach.

Xuong beugte sich über ihn. »Wo haben sie euch überfallen?«, fragte er ohne Umschweife.

»Sie haben unser Schiff versenkt … den Boden aufgehackt. Alle sind ertrunken. Vorher haben sie alle Frauen und sogar die kleinen Mädchen …« Er schluckte, sah Kim an und schloss dann die Augen. »Sie haben uns gezwungen zuzusehen. Als es vorbei war, gingen sie von einem zum anderen und stachen uns nieder. Die anderen hackten den Boden auf … Sie hielten mich für tot. Ich habe mich tot gestellt.« Seine Stimme klang heiser. Jetzt spürte er auch seine Wunden und knirschte mit den Zähnen.

»Und wie bist du in das Boot gekommen?«, fragte Xuong.

»Das Tau des Beibootes hatten sie gekappt. Es schwamm nebenher. Sie warfen mich mit den Toten über Bord, ich tauchte unter und schwamm unter dem Boot durch auf die andere Seite, klammerte mich dort fest und wartete, bis unser Schiff mit den Frauen und Kindern unterging. Wie haben sie geschrien … ich werde es nie vergessen. Mit Musik aus einem Lautsprecher fuhren die Piraten weiter, ich hing an dem Boot, bis sie außer Sichtweite waren, um mich herum trieben die Leichen meiner Freunde, der Frauen und die Kinder, ein kleines Mädchen umklammerte noch seine Mutter. Da zog ich mich hoch, fiel in den Kahn … und weiß dann gar nichts mehr …«

Erschöpft von der langen Rede schloss der Verwundete wieder die Augen, begann stoßweise zu atmen und schien in erneute Bewusstlosigkeit zu fallen. Xuong holte ihn mit einem Schluck Reisschnaps wieder in die Gegenwart zurück.

»Wann war das?«

»Heute, gestern, vor drei Tagen … ich weiß es nicht. Ich habe das Zeitgefühl verloren.« Er sah wieder Kim an, mit einem langen Blick, als fließe von ihr neues Leben in ihn hinein. »Ich heiße Vu Xuan Le …«

»Du solltest noch nicht so viel sprechen, Le«, sagte Kim. »Gleich werden wir Reis bringen.«

»Ich kann nicht schlucken.« Er versuchte es, aber sein Gesicht verzog sich wieder. »Alles ist wie verbrannt …«

»Das Salzwasser.« Xuong richtete sich auf. »Wir kochen dir eine Suppe aus Hühnerfleisch. Die kannst du langsam trinken.«

Er überließ Le der Fürsorge von Kim. Sie umwickelte die Stichwunden mit einem gebleichten Baumwolllappen und zog dem Verletzten ein Hemd über, das einer der Männer ihr gab. Le ergriff ihre Hand, drückte sie dankbar und legte sie auf sein Herz. Dann schien er einzuschlafen. Er atmete regelmäßig und tief und hatte die Augen geschlossen.

Am Heck saßen Cuong und Xuong wieder beisammen und suchten mit scharfen Augen den Horizont ab. Plötzlich konnte es auftauchen, das Piratenschiff, hochschießen aus einem Wellental. Dann gab es nur noch die Flucht mit voller Motorkraft, auch auf das Risiko hin, dass die Zylinder explodierten oder die Kurbelwelle brach.

»Er ist nicht lange getrieben«, sagte Xuong. Sein Gesicht lag in Falten, jetzt sah man ihm seine fünfundvierzig harten Jahre an. »Er sieht zu gut aus für einen Menschen, der schutzlos unter der Sonne auf dem Meer treibt. Hat er Verbrennungen? Nein. Sind seine Lider rot und geschwollen? Nein. Ist er mit getrocknetem Meersalz bedeckt? Nein. Ist seine Zunge dick und aufgequollen vor Durst? Nein. Tränen seine Augen unter dem Feuer der Sonne? Nein. Was folgerst du daraus, Cuong?«

»Du bist der Lehrer, Xuong. Ich bin nur ein Mechaniker.«

»Der Überfall hat erst gestern stattgefunden. Länger als eine Nacht und diesen halben Tag hat Vu Xuan Le nicht in dem Boot gelegen.«

»Du willst sagen, die Piraten sind in unserer Nähe?« In Cuongs Stimme schwang deutlich Angst mit.

»Sie liegen, wie ich geahnt habe, wie eine Kette vor der Schifffahrtsstraße. Sie warten auf die Flüchtlingsboote.«

»Und wir schwimmen genau in ihre Netze …«

»Eben das müssen wir vermeiden.« Xuong musterte wieder den Horizont. Wenn dort etwas auftauchte, und sei es nur ein nicht zu bestimmender Punkt, gab es nur die Flucht zurück zur Küste. Das Gefängnis in Vinh-long konnte man überleben, die Revolver, Beile und Dolche der Piraten nicht. »Es bleibt dabei. Wir fahren nur in der Nacht. Ohne Licht. Wir werden zur Wasserstraße kommen, Cuong, ich fühle es. Und mein Gefühl hat mich noch nie betrogen.«

»Wir werden beten«, sagte Cuong. Er war, wie sie alle im Boot, ein gläubiger Christ und deswegen schon oft von den kommunistischen Funktionären geschlagen und verhöhnt worden. Am schlimmsten war es vor fünf Monaten gewesen. Da hatten ihn drei Funktionäre in ihr Dienstzimmer geführt und mit Fußtritten und Faustschlägen vor eine große hölzerne Marienstatue getrieben, die sie aus irgendeiner Kirche entführt hatten. Unten in die Figur hatten sie ein großes Loch gebohrt. Nun stellten sie Cuong davor, lachten, spuckten ihm ins Gesicht und befahlen hämisch: »Hol deinen Schwanz raus! Los, los, hol ihn heraus! Fick deine Gottesmutter! Willst du wohl die Hose öffnen!« Und als Cuong stehenblieb, rissen sie ihm die Hose herunter und schlugen mit der flachen Hand gegen sein Geschlecht. »Fick sie, sofort, oder wir schlagen dich tot! Zeig, wie’s ein guter Affe macht!«

»Schlagt mich tot!«, hatte Cuong tapfer geantwortet. »Genossen, schlagt mich tot.«

Das Wort Genosse rettete Cuong. Sie traten ihn nur in den Hintern, hieben mit biegsamen Stöckchen gegen seinen Unterleib, steckten dann die Stöcke in das Loch der Marienstatue und grölten wüste, säuische Verse. Aber Cuong hatte überlebt …

Jetzt, an diesem gefährlichen Tag, knieten sie alle nieder, falteten die Hände und beteten um die Gnade der Rettung. Auch die Kinder beteten, die ganz Kleinen ohne zu wissen, was das bedeutete. Sie sprachen einfach die Worte ihrer Mütter nach. Vu Xuan Le lag auf dem Hinterdeck und beteiligte sich nicht an den Gebeten. Man nahm es ihm nicht übel. Er hatte wohl zu viel Grauenhaftes erlebt, um jetzt auch noch einen Gott anrufen zu können, der seinem Wesen völlig fremd war. Ein Gott, der den Menschen Liebe und Vergebung predigte … für Le mochte der Gedanke an Rache und Vergeltung näher und stärker sein.

Bis die Nacht hereinbrach, trieben sie am Anker auf dem Meer. Die Wellen wurden höher, ein warmer Wind blies von Land her. Das Boot begann zu schwanken und zu knarren, wurde empor- und wieder hinabgeworfen, es knirschte an allen Enden, als lösten sich Schrauben und Nägel. Voll Angst krochen die Frauen eng zusammen und pressten die Kinder an sich, einige würgten, umklammerten die Bordwand und spuckten in das Meer. Aber Xuong war zufrieden und sagte: »So ist es gut. Cuong, sobald es völlig dunkel ist, wirf den Motor wieder an.«

Die Nacht hindurch fuhren sie mit voller Kraft. Cuong und drei andere Männer lösten sich am Steuer ab. Nur Xuang schien keinen Schlaf zu brauchen. Er saß neben der Motorverkleidung auf dem Boden, hatte den aufgeklappten Kompass zwischen seine Knie geklemmt und korrigierte ab und zu den Kurs. Le, das Piratenopfer, schlief an der Wand des Verschlages, zusammengerollt wie ein Hund. Man hatte ihm Tee und Reis, gebratenen Fisch und Sojasoße gegeben, vor allem aber – Kim kümmerte sich um ihn, verband zweimal seine Wunden, und obwohl das weh tat, verzog er keinen Muskel seines Gesichtes, sondern lächelte sie an. Ein winziger Held ist immer noch besser als ein Schwächling, der Mitleid sammelt.

»Wo kommst du her?«, fragte er, als sie den dritten Verband anlegte.

»Aus Dien Ban Nam …«

»Und ich aus Muong-hanh.«

»Das ist ja gar nicht weit von uns!«

»Welch ein Zufall! Warum haben wir uns nicht früher gesehen?«

»Es gibt so viele Menschen. Man kann nicht alle anschauen.«

»An dir wäre ich nicht vorbeigegangen, Kim. Nur ein einziger Blick … ich wäre wie vom Blitz getroffen.«

Sie antwortete nicht, drehte den Kopf verlegen zur Seite und schob Les Hand weg, die über ihren Schenkel tastete. Im Holzverschlag weinten die Kinder; das raue Meer machte ihnen Angst, ließ sie über den Boden und gegen die Wände rutschen, sie klammerten sich an die noch nicht seekranken Frauen fest und waren nicht zu beruhigen. Das flache Flussboot konnte mit seinem Kiel nicht die Wellen durchschneiden, es ritt auf ihnen, und der armselige, alte Motor kämpfte schwer um jeden Meter.

»Wir werden auch heute noch nicht die Route erreichen«, sagte Xuong beim Heraufdämmern des Morgens. Er hatte nicht mehr als zwei Stunden geschlafen, sitzend und an den rappelnden Motorkasten gelehnt. Jetzt hielt er den Kompass wieder auf den Knien und stellte fest, dass sie in der Nacht, während er geschlafen hatte, nach Westen abgetrieben worden waren. Man musste scharf nach Süden drehen. In dieser Position waren sie den thailändischen Piraten näher als zuvor. Aber das sagte Xuong nicht.

Und wieder war es ein Morgen, dessen Sonne das Meer golden schimmern ließ, jetzt, bei bewegter See, mit weißen Schaumkronen, wie ein Goldhelm mit glitzernden Perlen nach dem anderen, ein Wogen aus flüssigem Metall.

Wieder warf Cuong den Treibanker aus, der bei diesem Seegang wenig nützte, aber die anderen Bootsinsassen beruhigte. Der morgendliche Tee wurde verteilt, die Seekranken lagen matt und mit grauen Gesichtern herum, tranken tapfer ihre Ration und erbrachen sie sofort wieder. Die Männer hockten im Vorschiff zusammen und hielten eine Beratung ab. Das Ergebnis überbrachten zwei jüngere Männer. Ehrfürchtig verneigten sie sich vor Xuong. Dann sagte der eine: »Wir haben eine Versammlung abgehalten, Lam Van Xuong, und mich haben sie zum Sprecher gewählt.« Es war ein stämmiger Bursche, der in der Kommune als Schmied gearbeitet und zwei Jahre im Gefängnis gesessen hatte, weil er den Vorarbeiter aufs linke Ohr geschlagen hatte, das danach taub blieb.

»Und was hat die Versammlung beschlossen?«, fragte Xuong höflich zurück.

»Wir möchten auch am Tage fahren. Warum auf der Stelle liegen? Le sagt auch: Die Piraten sind weit weg.«

»Und wer von euch übernimmt die Schuld, wenn wir von ihnen verfolgt werden? Du als Sprecher? Da hinten an der Wand sitzt deine Frau Hoa. Sie ist schön genug, um in einem Bordell von Phuket die Touristen zu begeistern.«

»Eben darum sollten wir fahren, so schnell wir können.«

»Das ist nicht schnell genug. Ein lahmer Hase wird immer die Beute des Fuchses. Und wir sind lahm. Hast du gesehen, wie viel Benzin der Motor säuft? Bei voller Fahrt ist unser Vorrat bald verbraucht. Ohne Benzin aber …« Xuong hob die Schultern.

Der Sprecher der Versammlung verstand, was das bedeutete. »Wir warten also wieder … den ganzen Tag?«, fragte er bedrückt.

»Was bedeutet ein Tag, wenn wir in Kürze frei und sicher sein können?«

Mit dieser Botschaft kehrte die Delegation zu den anderen Männern zurück. Sie begriffen es und fügten sich. Nur Vu Xuan Le sprach dagegen, behauptete, die Piraten könnten nicht überall sein, er habe gehört, dass sie näher zum Mekong-Delta fahren wollten, um dort den Flüchtlingsbooten erfolgreicher auflauern zu können. »Und wir sind weit weg vom Mekong!«, rief Le und machte eine weite Handbewegung. »Alle Feinde sind hinter uns … vor uns ist das Meer offen und frei!«

Aber die meisten hörten nicht auf ihn, vertrauten Xuong mehr und richteten sich ein, einen weiteren langen, heißen Tag durchzustehen. Sie spannten eine Plane vom Verschlag bis zum Motorkasten, hockten sich darunter und spielten mit Karten, Dominosteinen oder dösten einfach vor sich hin. Die Frauen wuschen im Meer die Wäsche und hängten sie an Leinen auf. Wie bunte Wimpel flatterte die Wäsche fröhlich im Wind.

Gegen Mittag schrie Cuong plötzlich auf, sprang auf den Motorkasten und fuchtelte mit beiden Armen durch die Luft. »Ein Schiff!« brüllte er. »Da ist ein Schiff! Ein großes Schiff. Es kommt auf uns zu! Seht doch, seht doch … ein richtiges Schiff!«

Ein wildes Gedränge entstand. Alles stürzte zur Backbordseite, das Boot begann, gefährlich zu schaukeln und sich auf die Seite zu legen. Xuong schrie: »Zurück! Zurück! Wir kippen doch um! Seid ihr verrückt geworden?! Jeder auf seinen Platz! Verteilt euch!« Aber es dauerte eine Weile, bis sie die Gefahr begriffen. Erst als ein paar Wellen ins Boot schlugen, wurden sie vernünftig und kehrten auf ihre Plätze zurück. Nach einem wilden Schaukeln lag das Boot wieder flach auf dem Wasser.

Cuong starrte noch immer auf das Schiff. Für ihn war es, als schwimme das Paradies auf ihn zu. Sie waren gerettet, es gab keine Nachtfahrt mehr, keine Ungewissheit, keine Angst vor den Piraten … das Leben kam ihnen entgegen.

»Es ist ein Containerschiff«, sagte Xuong zufrieden.

Es kam schnell näher, man konnte schon deutlich die Aufbauten sehen, den langen Rumpf mit den gestapelten Containern, den weiß lackierten Block mit den Kabinen, die Brücke, die großen Kräne und das Radar. Aus dem Schornstein quoll der Rauch der Dieselmaschinen.

»Macht die Raketen fertig!«, rief Xuong und löste die wasserdichte Plane von dem Raketenwerfer neben dem Motorkasten. Er hatte viel Geld gekostet, genau 300 Dong. Aber Xuong hatte gesagt, dass eine einfache Pistolenrakete nicht weit zu sehen sei. Doch so eine dicke Rakete, sogar mit einem Fallschirm, konnte nicht übersehen werden. Eine rote, strahlende Leuchtkugel, die am Himmel hing und langsam herabsank. Die 300 Dong waren gut angelegt!

Die Kiste mit den Raketen wanderte von Hand zu Hand vom Verschlag bis zu Xuong. Er öffnete den Kippverschluss, steckte eine der Raketen ins Rohr und drückte auf den Auslöser.

Es geschah nichts. Kein Knall, kein emporzischen, kein rotes Licht, kein sich entfaltender Fallschirm … die dicke Hülse blieb im Abschussrohr sitzen. Xuong griff hinein, holte die Rakete heraus und sah, dass sie nass war. Mit zitternden Händen hob er eine Rakete nach der anderen aus der Kiste, warf sie mit Flüchen auf den Boden und fand endlich eine Hülse, die aussah, als könne sie gezündet werden.

Das Schiff war jetzt lang vor ihnen, ein Riesenschiff. »Das sind 20 000 Tonnen und mehr!«, schrie Cuong und begann mit beiden Armen zu winken. »Sie müssen uns schon sehen. Winken! Alle winken! Die Wäsche von den Leinen und winken! Xuong, was ist mit deinen verdammten Raketen?«

»Jemand hat Wasser über die Kiste geschüttet!«, schrie Xuong zurück. »Aber jetzt habe ich eine, die zünden wird.« Es gab einen dumpfen Knall. Die Rakete fuhr aus dem Abschussrohr und stieg zischend in den Himmel. Dann platzte sie, eine weithin leuchtende rote Kugel wurde frei und schwebte an einem Fallschirm träge zum Meer zurück.

»Das sehen sie!«, brüllte Cuong und schlug sich mit beiden Fäusten vor Freude an die Brust. »Das sehen sie! Wir sind gerettet! Wir sind gerettet!«

Alle auf dem Boot begannen zu schreien, zu winken, schwenkten Tücher und Wäschestücke, einige Frauen weinten vor Freude, hielten ihre kleinen Kinder hoch und zeigten ihnen das große, herrliche Schiff.

Xuong lehnte am Motorkasten und wartete auf ein Zeichen. Nach einem roten Notsignal muss eine Antwort kommen. Entweder eine weiße Rakete oder das Heulen der Schiffssirene. Gleichzeitig würden die Maschinen gestoppt werden, und wenn solch ein Riesenschiff mit seinen Tausenden Tonnen Gewicht auch zunächst weiterglitt, ehe es anhielt – man würde sehen, dass dort alles für die Rettungsaktion vorbereitet wurde.

»Den Anker einholen!«, schrie Cuong und warf die Maschine an. »In einer halben Stunde sind wir dort drüben an Bord! Wir haben es geschafft!« Kaum war der Treibanker eingeholt, ließ er den Motor aufheulen und fuhr auf den Containerfrachter zu.

Das Schiff aber stoppte nicht. Mit unverminderter Geschwindigkeit durchpflügte es das Meer, ja, es änderte sogar den Kurs und fuhr in einem Bogen von dem kleinen Boot davon.

Xuong stand neben seinem Raketenwerfer und starrte fassungslos auf dieses Manöver. »Das gibt es doch nicht«, stammelte er. »Das ist nicht wahr! Sie sehen uns und drehen ab! Sie fahren einfach vorbei … sie fahren weg! Sie … sie flüchten vor den Flüchtlingen!«

»Was ist das, Xuong?«, schrie Cuong. Er begriff nicht sofort, wozu Menschen fähig sind. »Sie haben uns nicht gesehen! Noch eine Rakete … noch eine Rakete!«

Der alte Motor gab her, was er konnte. Das flache Boot hüpfte über die Wellen, bei jedem Eintauchen spritzte Wasser über die Insassen, durchnässt schrien und winkten sie, schwenkten ihre Wäsche und konnten einfach nicht begreifen, was sie sahen. Im Verschlag klammerten sich die Kinder fest, bei jedem Wellenstoß durchgerüttelt, aber sie weinten nicht mehr. Nur noch eine kurze Zeit, und alles war vorbei.

»Sie haben uns gesehen«, sagte Xuong mit tonloser Stimme und stellte den Gashebel zurück auf halbe Fahrt. Den Blick von Cuongs Augen würde er nie vergessen, so entsetzlich war er.

»Noch … noch … eine Rakete …« stammelte Cuong. Sein Gesicht zuckte wie unter Krämpfen. »Sie können uns nicht übersehen …«

»Sie wollen uns nicht sehen, Cuong! Das ist alles.«

»So etwas gibt es nicht! Das ist doch Mord!«

»Nein, das ist Feigheit. Weiter nichts als Feigheit. Der Mensch, Cuong, ist das feigste Wesen auf dieser Erde. Wo er fliehen kann, flieht er. Und er findet immer schöne Worte, um seine Feigheit zu verkleiden.«

»Aber wir sind doch auch Menschen!«, schrie Cuong. Er starrte dem Containerfrachter nach, der sich schnell entfernte. Einer nach dem anderen ließ die Arme sinken, presste die Tücher und die Wäsche unter den Arm und blickte stumm auf das entschwindende Schiff. Lautlos, mit weiten, fassungslosen Augen, fügten sie sich der Wahrheit: Wir sind Ausgestoßene. Niemand will uns. Treibholz ist wertvoller als wir. Wir sind ein Nichts.

Mit schweren Händen, als hinge Blei an ihnen, zog Xuong die Plane wieder über das Raketenabschussrohr und setzte sich dann auf den Motorkasten. Weit am Horizont verschwand das Containerschiff. Cuong stellte den Motor ab. Ohne Aufforderung warfen zwei Männer wieder den Treibanker über Bord. Dann gingen sie zurück zu den anderen, hockten sich nieder und stierten wie alle stumm vor sich hin. Nach der Freude über die gelungene Flucht aufs Meer hatten sie zum ersten Mal die Verachtung derer erfahren, von denen sie Rettung erhofften. Rettung vor Verfolgung, vor Hunger und Durst, vor dem Ertrinken, wenn der Wind noch stärker wurde und die Wellen das flache Boot zerschlugen.

Doch eine Hoffnung blieb noch: Die Begegnung mit dem Frachtschiff bewies, dass sie nahe an der großen Route trieben. Waren sie erst mitten auf der Wasserstraße, würde von den vielen Schiffen eines anhalten. Wohin es dann fuhr, war ihnen gleich. Nur weg von Vietnam! Die Welt war doch groß und reich genug, um 43 arme Menschen aufzunehmen …

»Wie kommt das Wasser in die Kiste?«, fragte Xuong. Er hatte die Raketen herausgenommen und zum Trocknen aufs Deck in die Sonne gelegt.

»Jemand wird Wasser verschüttet haben.« Cuong blickte noch immer auf den nun leeren Horizont, an dem der Container verschwunden war. »Bei diesen Wellen …«

»Es ist Seewasser, Cuong.« Xuong nahm eine Raketenhülse hoch und leckte daran. »Salz! Wie kommt Salzwasser in den Schlafraum?«

»Mindestens zehnmal sind Wellen ins Boot geschlagen.«

»Aber nicht in den Aufbau.«

»In den Bretterwänden sind breite Lücken. Einige Kinder sind nass geworden, warum nicht auch die Kiste? Sie stand doch an einer Wand.«

»Ich glaube das nicht.« Xuong drehte die Raketenhülsen um, damit sie gleichmäßig trockneten. Ob sie hinterher wieder zu gebrauchen waren, wusste er nicht. Er hoffte es. Auf der Wasserstraße der großen Schiffe hing ihr Leben an den roten Kugeln, vor allem nachts, wenn man von weitem die Retter auf sich aufmerksam machen musste. Dass Fackelschein allein genügte, bezweifelte Xuong. Man musste dann schon nahe an eines der Schiffe herankommen. Die tiefe Schwärze der Nacht schluckte jedes kleine Licht. Die Raketen aber durchdrangen jede Finsternis.

»Ein paar Tropfen durchnässen nicht alle Hülsen.«

»Sabotage?« Cuong schüttelte den Kopf. »Hier auf dem Boot? Das müsste ein Verrückter sein. Wir wollen doch alle in die Freiheit. Und einen Verrückten gibt es nicht unter uns. Wir sind doch alle Freunde, wir kennen uns seit Jahren. Wo hast du die Raketen gekauft?«

»In einem Geschäft für Schiffsausrüstungen in Vinh-long.«

»Dann haben sie dich dort betrogen. Sie haben dir alte, nasse Raketen verkauft.«

»Nein.« Xuong schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich genau an den Kauf. Zehn rote und zehn weiße Raketen hatte er verlangt, und der Verkäufer hatte ihn noch mit einem Lachen gefragt: »Willst du ein Feuerwerk abbrennen? Was feierst du? Ist deine Schwiegermutter gestorben?« Und dann hatte er vor seinen Augen die Raketen in eine Kiste gepackt, sie waren einwandfrei und trocken gewesen. »Man hat sie hier auf dem Boot mit Wasser übergossen. Cuong, wir müssen die Augen offenhalten.«

An diesem Tag kam kein Schiff mehr in Sicht. In der Nacht fuhren sie wieder mit halber Motorkraft nach Südosten, die Männer wechselten sich in den Wachen ab, auch der verwundete Vu Xuan Le bot sich an, das Ruder zu übernehmen und zeigte Cuong, dass er etwas davon verstand. Er hatte sich sehr schnell von seinen Verletzungen und der Schwäche erholt, saß den ganzen Tag über am Heck, hatte vier Schnüre mit Angelhaken ausgeworfen und zog eine Menge Fische aus der See. Als Köder benutzte er zuerst kleine Stückchen Brot. Nachdem er den vierten Fisch damit gefangen hatte, zerhackte er die Fische in größere Stücke und presste sie unter seine Achseln, um sie mit seinem Schweiß zu tränken. Das musste die Fische verrückt machen … sie bissen an, sobald der Haken ins Wasser gefallen war.

»So was habe ich noch nie gesehen!«, sagte Cuong anerkennend. »Woher kennst du diesen Trick?«

»Mein Vater fischte so. Woher er es wusste, weiß ich nicht. Andere, Freunde und Nachbarn, haben es auch versucht … nicht ein Fisch biss an. Aber bei Vater und mir sammelten sich ganze Schwärme. Wir haben einen besonderen Schweiß.«

In dieser Nacht erreichten sie die Route Singapur—Hongkong. Gleich fünf große Schiffe sahen sie hintereinander fahren, hell erleuchtet, ein Anblick, der ihre Herzen vor Freude fast zerspringen ließ. Sie fielen einander in die Arme, und Cuong kroch in den Verschlag, umarmte Thi, seine hochschwangere Frau, küsste ihre rau gewordenen, aufgesprungenen Lippen und sagte zärtlich: »Unser Kind wird in der Freiheit geboren werden. Es wird nie erdulden müssen, was wir erlitten haben. Sein Leben wird schön sein.« Und Thi antwortete: »Ich danke dir, Cuong. Du bist ein tapferer Mann.«

Auf dem Motorkasten hatte Xuong das Raketenschussgerät aufgebaut und die inzwischen getrockneten Raketen daneben gelegt. Vier Fackeln erhellten das kleine Boot – eine gute Nachtwache auf den Handelsschiffen hätte diesen flackernden Lichtschein sehen müssen. Aber nichts deutete darauf hin, dass man sie bemerkte. Kein Leuchtzeichen, keine Suchscheinwerfer, kein Sirenensignal.

»Hoffen wir, dass die Raketen keinen Schaden gelitten haben«, sagte Xuong und steckte eine Patrone in den Abschusslauf. Die erste versagte nicht. Sie zischte in den schwarzen Himmel, gab die Leuchtkugel frei, und langsam schwebte der rote, grell leuchtende Ball an seinem Fallschirm aufs Wasser zurück. Alle im Boot starrten hinüber zu den hellerleuchteten großen Schiffen.

Keine Antwort. Unbeirrt zogen die Frachter dahin. Nicht ein einziges Blinken beantwortete die rote Notrakete.

Mit einem Gesicht wie aus Stein gehauen schoss Xuong die nächste Rakete ab. Auch sie versagte nicht, stieg in den Himmel und gab die rote Leuchtkugel frei. Rettet uns! Hilfe! Hier sind Menschen in Not! Hier kämpfen Menschen um ihr Leben! Hier suchen 17 Männer, 14 Frauen und 12 Kinder ein neues Leben. Hilfe – – –

Aber auch die zweite Rakete blieb ohne Wirkung. Wie zuvor das Containerschiff fuhren die Schiffe an ihnen vorbei … eins hinter dem anderen. Und jedes wurde ein Ungeheuer, das ein Stück Hoffnung auffraß.

»Ihr Teufel!« schrie Cuong in die Nacht hinaus. »Verflucht seid ihr! Habt ihr kein Herz?! Was habt ihr denn in der Brust?!«

»Wir sind nur Dreck«, sagte Xuong verbittert. »Dreck, der auf dem Meer schwimmt. Abfall. Daran müssen wir uns gewöhnen. Wir werden immer und überall Abfall sein, aber wenn wir in Freiheit und Frieden leben dürfen, lässt es sich auch als Dreck aushalten.« Er holte tief Atem und schrie dann über das Boot: »Hoffen wir weiter! Irgendwann wird man selbst Treibholz wie uns auffischen.«