Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autorin
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Widmung
  7. Prolog
  8. Track 1: Grünschnäbel
  9. Track 2: Hallo, ich mag dich
  10. Track 3: Frag mich
  11. Track 4: Cheers, Baby
  12. Track 5: Religion
  13. Track 6: Das begreifst du doch, oder?
  14. Track 7: Was würde J. C. tun?
  15. Track 8: Hoffnungen und Träume
  16. Track 9: Mystische Alchemie
  17. Track 10: TGIF – Thank God it’s Friday
  18. Track 11: Segnung
  19. Track 12: Gelöbnisse
  20. Track 13: Der Klang seiner Seele
  21. Track 14: Moment mal, was?
  22. Track 15: Halleluja
  23. Track 16: Lügen, Lügen, Lügen
  24. Track 17: Engelsflügel
  25. Track 18: Eine Geige
  26. Track 19: Eine lehrreiche Geschichte
  27. Track 20: Der Klang ihrer Seele
  28. Epilog
  29. Danksagung
  30. Nun noch zwei Bonuskapitelaus Wills Perspektive …
    1. Track X: Fliegen lernen
    2. Track Y: Ein Gebet für uns

Über dieses Buch

Mia hat ihre Zukunft bis ins kleinste Detail geplant: Karriere, Familie, Sicherheit. Als ihr Vater, ein Musiker und Träumer, stirbt, fliegt sie nach New York, um dort sein altmodisches Café zu verkaufen, das Herz des Viertels und eine wahre Institution. Dort trifft Mia Will, einen charmanten Gitarristen und unverbesserlichen Optimisten, der eine Bleibe sucht. Sie ziehen zusammen – vorübergehend und als Freunde. Doch bald muss Mia sich fragen, ob sie sich wirklich zwischen Verstand und Herz entscheiden will …

Über die Autorin

Renée Carlino ist Drehbuchautorin und lebt mit ihrem Mann, den beiden Söhnen und einem niedlichen Hund namens John Snow Cash im sonnigen Süden Kaliforniens. Sie ist eine Leseratte, liebt Livemusik und ist ganz versessen auf dunkle Schokolade.

Renée Carlino

ZWISCHEN

UNS

NUR EIN

WORT

Roman

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von
Frauke Meier

Für Jackson, den besten Hund der Welt.
Ruhe in Frieden, Buddy.

Prolog

Lauren

Flughäfen sind riesige Umschlaganlagen für Menschen, und die Leute dort zu beobachten kann einem Autor unendlich viele Möglichkeiten liefern. In jeder Sekunde bieten sich dort neue Schnappschüsse menschlichen Daseins; der Nachschub an Futter für die Fantasie versiegt nie.

Tatsächlich steht in der Schlange vor der Sicherheitskontrolle gerade in diesem Moment ein tibetischer Mönch neben mir, absolut regungslos und mit einer duldsamen Miene, die wie eine Maske über seinen Zügen liegt; eine Mutter stillt unauffällig ihr Baby; und dann ist da noch ein elegant und stolz aussehender Marinesoldat in seiner besten blauen Ausgehuniform.

Ich frage mich, wo ihr Weg diese Leute heute und für den Rest ihres Lebens hinführen wird. Ich frage mich, ob ich vielleicht etwas Einzigartiges finden kann, etwas, das des Schreibens würdig ist, wenn ich sie einfach in der Schlange beobachte.

Während ich ihnen zuschaue, denke ich über den Roman nach, den ich schreiben werde, das Bild, das ich zeichnen möchte. Ich stelle mir die schillernden Worte vor, die über die Seite tanzen. Meine Hand zuckt vor Verlangen, die Details zu notieren, die sich in meinem Kopf ansammeln.

»Brauchen Sie Hilfe?«

Ruckartig werde ich aus meiner Trance gerissen und stelle fest, dass meine Kinder wild herumspringen, der Sicherheitsbedienstete schimpft, ich den Verkehr aufhalte und wir alle immer noch unsere Schuhe tragen. Mist.

Das Gesicht, das zu der Stimme gehört, scheint das einer Frau Mitte zwanzig zu sein, die ihr langes dunkles Haar zu einem perfekten Pferdeschwanz zurückgebunden hat. Sie trägt das, was ich als langweilige Collegekleidung bezeichnen würde; im Grunde sieht sie aus, als wäre sie einer GAP-Werbung entsprungen, und sie hält eine kleine graue Plastikwanne in Händen, in der sich ihre Schuhe vollendet an ihre übrige Habe schmiegen. Die dunklen Brauen, die ihre großen haselnussbraunen Augen überwölben, sind in Erwartung meiner Antwort fragend hochgezogen.

»Ja, bitte. Könnten Sie sich seine Schuhe schnappen?« Ich zeige auf meinen dreijährigen Sohn. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihn für mich da durchzutragen?«

»Kein Problem.«

Auf der anderen Seite der Metalldetektoren angelangt, mustere ich das Mädchen, während wir den Jungs ihre Schuhe wieder anziehen.

»Wie heißt du, Kleiner?« Ihre Stimme klingt feenhaft, ihre Wortwahl nicht.

»Cash.«

»Cooler Name«, sagt sie und scheint es tatsächlich auch so zu meinen. »Ich bin Mia – nett, dich kennenzulernen.«

»Ich bin Hayden!«, brüllt mein Vierjähriger dazwischen.

»Dein Name gefällt mir auch.«

Ich richte mich auf, um mich vorzustellen. »Hi, Mia. Ich bin Lauren. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Mit Kindern am Flughafen kann es manchmal ganz schön anstrengend sein.«

Ich mustere sie und finde sie ungewöhnlich sympathisch. Sie ist schlank, sieht sportlich aus, ihre Haut ist strahlend, das Gesicht entspannt. Ich sehe etwas in ihr, das meinem Ich von vor zehn Jahren ähnelt. Sie ist so zurechtgemacht, wie ich es in ihrem Alter war; das sind diese wenigen Jahre, ehe die reale Welt einem zügig in den Hintern tritt.

Ich würde gern meine Erfahrungen mit ihr teilen, damit sie all das überspringen könnte, dem sie sich, wie ich genau wusste, bald würde stellen müssen. Doch das Problem ist, dass Weisheit nicht das Gleiche ist wie Information; es ist etwas gänzlich anderes. Oft wird irrtümlich versucht, sie mit einem guten Rat zu vermitteln, doch Weisheit lässt sich nicht einfach weitergeben. Weisheit kann man nur erwerben. Sie ist ein Nebenprodukt der Erfahrung, nicht zwangsweise des Wissens, anderenfalls würde ich jetzt Oprah Winfrey stalken und um eine Weitergabe ihrer Erkenntnisse betteln.

Vielleicht dreht sich dein Leben in den frühen Zwanzigern um extrem kurze Hotpants, die Wahl von Collegekursen, fünfmaligen Hauptfachwechsel, One-Night-Stands, Alkoholvergiftungen, Sex mit dem Nachbarn, während seine Freundin zusieht, intime Beziehungen mit einem entfernten Cousin, Kokain, mangelnde Kreditwürdigkeit oder billigen Lidschatten.

Mit fünfundzwanzig beginnen dann die meisten von uns, über andere Dinge nachzudenken. Vornehmlich lauten die großen Fragen: Was willst du mit dem Rest deines Lebens anfangen? Wen wirst du heiraten, falls du überhaupt heiratest? Welchen Beruf wirst du ausüben? Willst du Kinder?

Mir ist, als hätte sich alles, was ich mit fünfundzwanzig zu wissen glaubte, ein Jahr später in all das verwandelt, was ich nicht gewusst hatte. Und plötzlich hatte mich die Erkenntnis getroffen, dass viele der Entscheidungen, die wir in den Zwanzigern treffen, dauerhafte Auswirkungen haben.

Manchen fielen diese Entscheidungen leicht, und, klar, man könnte einfach sagen, diese Leute seien oberflächlich, ich aber würde sagen, dass diese Menschen Glück haben, denn gerade jetzt, als ich diese Frau – mein Ich der Vergangenheit – betrachte, die auf eine heitere Art selbstbeherrscht wirkt, weiß ich, dass sie am Rande eines tiefen Abgrunds steht. Ihr bloßer Anblick verrät mir, dass sie ein stilles, tiefes Wasser ist, über das man allenfalls Steine hüpfen lässt. Doch die Welt, wie sie sie kennt, ist im Begriff, sich auf den Kopf zu stellen, und wenn sie nicht zu schwimmen lernt, wird sie in ihrer eigenen Tiefe ertrinken.

Ich verspüre das starke Bedürfnis, »gib auf« zu flüstern, aber das tue ich nicht. Wie jeder an diesem Flughafen ist auch sie auf dem Weg irgendwohin, möglicherweise zur ersten Station auf dieser schonungslosen Reise der Selbsterkenntnis. Wie wir alle wird sie auf die harte Tour lernen müssen, dass wir nicht immer alles unter Kontrolle haben. Manchmal braucht es die Liebe anderer, um uns zu zeigen, wer wir wirklich sind.

Mit zwei kleinen Kindern durch einen Flughafen zu laufen, ist keine einfache Aufgabe, zudem überlege ich, ehe wir ins Flugzeug steigen, ob ich genug Snacks eingepackt habe, ob der DVD-Player ausreichend aufgeladen ist und ob ich genug Energie habe, mein knapp dreißig Pfund schweres Kleinkind durch die schmale Lücke zwischen der stinkenden Toilette und der Bordküche zu tragen.

Während ich hinter meinen Kindern herhetze, denke ich darüber nach, ob die Entscheidungen, die ich in meinen Zwanzigern getroffen hatte, gut für mich waren.

Wird meine Ehe sich auf Dauer bewähren? Bin ich eine gute Mutter, Ehefrau, Autorin, Nachbarin, Hundebesitzerin? Dann erinnere ich mich an die Reise, die mich zu diesen Entscheidungen geführt hat, und diese Erinnerung ist tröstlich, denn sie ruft mir ins Gedächtnis, wer ich in all dem Chaos, das wir Leben nennen, wirklich bin.

Bevor ich zum Gate gehe, sehe ich mich zu Mia um und frage mich, was sie wohl über mich denkt, von dieser entnervten, zerzausten Frau mit den Essensflecken auf den Klamotten.

Ob sie wohl weiß, dass wir uns manchmal über Dinge klarwerden, nur damit sich gleich darauf das Leben verändert und wir wieder von vorn anfangen können? Ich bin überzeugt, das wird sie schnell genug lernen, und ich bin sicher, dass sie ihre eigene Geschichte zu erzählen haben wird …

Track 1:
Grünschnäbel

Mia

Der Sicherheitsbedienstete des Flughafens war im Begriff, die Geduld zu verlieren. »Ma’am, ich sagte, Sie müssen Ihre Schuhe ausziehen und in die Wannen legen.«

Sie ignorierte ihn nicht absichtlich; sie war einfach beschäftigt – na ja, eigentlich starrte sie nur ins Nirgendwo.

Würde man uns danach beurteilen, wie effizient wir unsere Habe ablegen, um sie in den kleinen grauen Wannen zu verstauen, hätte ich gerade eine Eins plus bekommen.

Die Frau vor mir jedoch versagte kläglich. Ihre beiden Kinder rannten herum und heulten wie Sirenen, während sie vor sich hin zu träumen schien.

Ich tippte ihr sanft auf die Schulter, aber sie reagierte nicht. Schließlich räusperte ich mich und sagte: »Brauchen Sie Hilfe?« Ich dachte mir, warum nicht, denn wir würden sowieso nicht weiterkommen, solange sie alles blockierte.

Sie murmelte tonlos das Wort Mist und sagte dann: »Ja, bitte! Könnten Sie sich seine Schuhe schnappen?« Sie zeigte auf ein kleines blondes, blauäugiges Engelchen. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihn für mich da durchzutragen?«

»Kein Problem.«

Ich ging zu dem kleinen Jungen, der sich sofort beruhigte. Ich schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, ehe ich ihm die Schuhe von den Füßen zog und sie in die Wanne warf, die rasch das Förderband hinuntersauste. »Startklar, Kleiner?«

Er nickte, und ich hob ihn hoch und trug ihn zum Metalldetektor. Die Wärme seiner kleinen Arme an meinem Hals breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Ich lächelte ihn an, schielte und zog ein dummes Gesicht. Sein Kichern klang wie Musik in meinen Ohren. Dann nahm ich seine klammernden Arme und Beine von mir und stellte ihn auf den Boden.

Wir führten die kleinen Jungs durch den Metalldetektor und sammelten dann auf der anderen Seite unsere Sachen wieder ein. Ich folgte ihr zu den Sitzbänken, um ihr dabei zu helfen, den Jungs ihre Schuhe wieder anzuziehen.

»Wie heißt du, Kleiner?«

»Cash«, sagte er schüchtern mit seiner zarten, weichen Stimme.

»Cooler Name.« Tatsächlich ist das mein Lieblingsname. »Ich bin Mia – nett, dich kennenzulernen.«

»Ich bin Hayden!«, brüllte sein dunkelhaariger Bruder dazwischen. Sie waren beinahe gleich groß, aber Hayden hatte dunkles Haar und dunkle Augen.

»Dein Name gefällt mir auch«, erklärte ich lächelnd.

Seine Mom stand auf und stellte sich vor. »Hi, Mia. Ich bin Lauren. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Mit Kindern am Flughafen kann es manchmal ganz schön anstrengend sein.« Sie seufzte tief.

Mir fiel auf, dass wir einander ähnlich sahen. Wir hatten beide glattes dunkles Haar, einen hellen Teint und haselnussbraune Augen. Das war geradezu unheimlich. Sie hätte meine Schwester sein können. Vielleicht war sie ja ich in zehn Jahren?

Aber etwas war anders an ihr. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, und sie sah erschöpft aus. In diesem Moment fragte ich mich, ob ich je Mutter sein würde und ob ich das überhaupt wollte. Ich dachte, es wäre vielleicht vorstellbar, wenn ich den perfekten Ehemann fände – ausgeglichen, wohlhabend, geschäftstüchtig –, aber bestimmt nicht in der nahen Zukunft. Nebenbei kam ich zu dem Schluss, ich würde, sollte ich tatsächlich irgendwann Kinder haben, mein Leben besser auf die Reihe kriegen als diese Dame.

Dafür, dass ich gerade mal fünfundzwanzig war, war ich, das musste ich zugeben, schon ein kleiner Kontrollfreak. Doch es fiel mir leicht, diese Facette meiner Persönlichkeit zu akzeptieren. Ich fand, eine unabhängige Frau zu sein, die selbst über ihr Leben bestimmte und ihre Entscheidungen mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen traf, war ein Zeichen von Reife. Die richtigen Entscheidungen zu treffen kam in meiner Vorstellung einer Erfolgsgarantie gleich. Natürlich wusste ich damals noch nicht, dass sich meine Definition von Erfolg noch vollkommen verändern sollte.

Mein Blick wanderte über den Monitor auf der Suche nach Flug 25, DTW in Detroit zum JFK in New York City. Ich ärgerte mich, mir nicht gemerkt zu haben, welches Gate mir der Angestellte am Schalter genannt hatte. Wenn ich eines war, dann pünktlich.

Okay, 35B. Forschen Schritts marschierte ich los, vorbei an Lauren, die vor dem Duty-free-Shop hinter ihren Kindern herhastete. Fliegen musste echt nervig für sie sein. Für einen kurzen Moment hoffte ich, dass wir nicht im selben Flugzeug sitzen würden. Prompt bekam ich ein schlechtes Gewissen und beschloss, ich würde ihr meine Hilfe anbieten, sollten wir es doch tun und ihr Platz irgendwo in meiner Nähe sein, auch wenn ich viel lieber geschlafen hätte.

Ich liebe Fliegen. Für mich ist das wie eine kleine Flucht. An Bord geht es nirgendwo mehr hin. Das ist ein bisschen, als gäbe man sich seinem Schicksal hin. Schicksal war von jeher ein Konzept, das ich nur schwer begreifen konnte, aber ich ließ mich darauf ein, wenn es notwendig war, beispielsweise in einem Flugzeug oder der U-Bahn.

Wenn ich fliege, gestatte ich mir, an das Schicksal zu glauben, ganz einfach weil es zu beunruhigend ist, mir Gedanken darüber zu machen, ob der Pilot seinen Kaffee mit Whiskey verfeinert. Wenn ich fliege, lasse ich einfach los, genau wie beim Klavierspielen. Das ist für mich das, was einer Religion am nächsten kommt; das, was einem Glauben am nächsten kommt.

Für ein paar Stunden würde ich niemandem Rede und Antwort stehen müssen, und darauf freute ich mich. Ich gelobte mir selbst, an nichts zu denken. Ich würde mir keine Sorgen darüber machen, was ich mit der Wohnung meines Vaters machen sollte, mit seinem Besitz, dem Café oder so ziemlich allem anderen, was meinem Vater in New York gehörte. Ich würde einfach hingehen und sein Leben weiterleben, bis ich herausfände, was ich mit meinem eigenen anfangen wollte.

Als mein Vater vor einem Monat so plötzlich einem Herzinfarkt erlegen war, war ich am Boden zerstört. Zwar war ich in Ann Arbor aufgewachsen, hauptsächlich von meiner Mutter Liz und meinem Stiefvater David, den ich Dad nannte, großgezogen worden, dennoch hatte ich meinem Vater Alan Kelly sehr nahegestanden.

Ich hatte die Sommer in New York verbracht, in seinem Café ausgeholfen und mit den damals recht exzentrischen Leuten aus dem East Village herumgehangen. Mein Vater war das einzige Kind irischer Immigranten gewesen. Seine Eltern hatten ihm ihren letzten Penny überlassen, damit er im East Village 1977 ein Café namens Ave eröffnen konnte, ’82 umbenannt in Kelly’s Café und schließlich ’89 erneut umbenannt in Kell’s.

In den Siebzigern war es der Treffpunkt für jeden Songwriter. Es war und blieb ein Ort mit einem liberalen, künstlerischen Ambiente, etwas, das meinem Vater sozusagen aus jeder Pore gedrungen war. Die Rückkehr an diesen Ort stimmte mich zugleich wehmütig und freudig.

Ich schaffte es rechtzeitig zum Gate. Von Lauren war weit und breit nichts zu sehen. Ich seufzte erleichtert auf und schickte eine Bitte an das Universum, dass ein müder, ungeselliger Mensch sich neben mich setzen möge.

Ich ging an Bord und hatte meinen Platz schnell gefunden. Rasch verstaute ich meine Tasche in dem Fach über den Sitzen und begann mit meinem Vorflugritual: flauschige Socken anziehen, Ohrhörer rein, Damien Rice auf dem iPod aufrufen, Reisekissen um den Hals. Ich war bereit.

Der Fensterplatz blieb leer, als die letzten paar Passagiere an Bord gingen. Ich lächelte und dankte dem Universum vorzeitig dafür, dass es den Sitz neben mir freigelassen hatte – bis ich aufblickte und einen Kerl auf mich zukommen sah. Ich muss zugeben, er sah ziemlich gut aus, aber als ich seinen Gitarrenkoffer entdeckte, hatte ich schon genug.

Oh, nein, bitte, lass diesen von sich selbst eingenommenen Musiker, der vermutlich riecht, nicht neben mir sitzen.

»Hey!«, sagte er beim Näherkommen. Dann stutzte er, sah mir in die Augen und fragte: »Willst du den Fensterplatz? Wenn ja, kannst du ihn haben.«

»Äh, nein, danke.« Was soll das?

»Ich hasse fliegen«, gestand er zögernd. »Es tut mir leid, aber ich muss einfach am Gang sitzen. Macht es dir was aus? Ich bin übrigens Will.«

Ich rutschte auf den Fensterplatz und murmelte: »Ja, schon gut, du kannst den Platz haben. Ich bin Mia.« Ich reckte die Hand zu einem Gruß und ging absichtsvoll einem Händeschütteln aus dem Weg.

Versteh mich nicht falsch, ich liebe Musik; ich lebe sogar dafür. Ich habe eine klassische Ausbildung am Klavier genossen und kann an beinahe jedem Instrument bestehen. Wenn man seine Kindheit und Jugend in Ann Arbor verbringt, scheint es, als würde jedes Kind Klavier oder auch Cello spielen, aber ich hatte eine musikalische Begabung, was ich zum größten Teil meinem Vater verdankte.

In den Sommern in New York hatte er mich in die Welt der Musik eingeführt, Rock ’n’ Roll, Blues, Jazz, alles Mögliche. Anschließend bin ich nach Hause gekommen und habe den ganzen Winter Rachmaninows Opus 23 geübt. Klavier zu spielen, wie ich es gelernt hatte, hatte in Kombination mit der lockeren Herangehensweise, zu der mich mein Vater in diesen Sommern ermuntert hatte, eine Mischung aus Disziplin und Revolution in meinem Stil hervorgebracht. Ich bemühte mich, mich damit anzufreunden, aber manchmal empfand ich meine Spielweise auch als in sich unvereinbar.

Ich glaube, meine Mutter fühlte sich angezogen von der Liebe, die mein Vater der Musik entgegenbrachte, seinem Nonkonformismus, seinem Beatnik-Auftreten, auch wenn sie das nie zugeben würde. Das, was sie mit ihm gehabt hatte, bezeichnete sie als eine wilde Woche im Leben einer sehr naiven Neunzehnjährigen.

Es war im Sommer 1982, und sie war mit ihrer Familie im Urlaub auf Cape Cod, als sie und ein paar Freunde beschlossen, einen Tagesausflug nach New York zu unternehmen. Aus einem Tag wurden fünf, und meine Mutter kehrte schwanger nach Cape Cod zurück.

Mein Vater war von Anfang an bereit, sich den Folgen zu stellen, aber meine Großeltern wollten ihrer Teenagertochter nicht erlauben, unverheiratet und schwanger nach New York zu ziehen.

Als ich älter wurde, fragte ich mich oft, warum mein Vater meiner Mutter nicht nach Ann Arbor gefolgt war. Ich wusste, er hatte Verantwortung für mich übernehmen wollen und mochte meine Mutter, aber ich glaube nicht, dass er je ein Mann für nur eine Frau gewesen war. Sein Lebensstil war so weit von allem entfernt, was traditionellem Familienleben auch nur ähnelte.

Nach meiner Geburt lebten wir bei meinen Großeltern, und meine Mutter besuchte die University of Michigan, wo sie Jura studierte. Da lernte sie auch David kennen, und seither sind die beiden unzertrennlich und arbeiten sogar in derselben Kanzlei. Ich glaube, mein Stiefvater hat meiner Mutter ein Gefühl von Beständigkeit vermittelt, das mein Vater ihr nicht geben konnte. Oder wollte.

Dafür schätzte ich David ganz besonders. Er behandelte mich, als wäre ich sein leibliches Kind, und auch wenn ich manchmal mit ihm stritt, besonders als Teenager, fühlte ich mich immer von ihm geliebt.

Anfangs kam mein Vater dann und wann, um mich während eines langen Wochenendes zu besuchen, bis ich alt genug war, um im Sommer nach New York zu reisen. Er und David begegneten einander mit großem Respekt, obwohl sie kaum unterschiedlicher hätten sein können. Was sie jedoch gemeinsam hatten, das war die bedingungslose Liebe, die sie meiner Mutter und mir entgegenbrachten.

Als mein Vater mitbekam, dass ich David »Dad« nannte, sagte er nur: »Er ist dein Dad, Liebes, genau wie ich, aber damit wir das besser auseinanderhalten können, wie wäre es, wenn du mich Pops nennst?« Und das tat ich.

Der pseudointellektuelle Freundeskreis meiner Mutter hätte in mir wohl lediglich das Ergebnis eines Fehltritts gesehen, wären da nicht mein musikalisches Talent und die Tatsache, dass ich Jahrgangsbeste an der Highschool und nun eine Ivy-League-Absolventin war.

Dass ich mich an der Brown für Betriebswirtschaft anstelle eines künstlerischen Fachs einschrieb, überraschte jeden, aber ich wollte Musik nicht länger geistig durchdringen. Ich wollte keine Minute mehr damit zubringen, mich durch ein Werk von Bach zu quälen, während ich von einem Metronom hypnotisiert wurde. Ich wollte einen Abschluss, mit dem ich was anfangen konnte, und ich wollte Musik als Hobby. Allerdings fragte ich mich nach wie vor, was ich denn mit diesem Abschluss anfangen sollte …

Ich hatte die Blende am Fenster geschlossen, meine Augen ebenfalls und meine Wahrnehmung von der Welt abgewandt, als mich das Gewicht meines eigenen Gepäcks durchrüttelte, das unerwartet auf den Sitz neben mir donnerte. Ich riss meine Augen auf und blickte zu Will hinauf, der energisch daran arbeitete, den Inhalt in dem Gepäckfach neu anzuordnen.

»Sorry, Baby, muss Platz für die Süße schaffen«, sagte er, griff zu seiner Gitarre und hob sie hoch.

Ich verdrehte die Augen angesichts der Erkenntnis, dass er seine Gitarre personifizierte.

Derweil schnappte er sich meine Tasche, schob sie zurück in das Gepäckfach und ließ sich auf seinen Sitz fallen.

Ich warf ihm einen leicht verärgerten Blick zu. »Warum hast du nicht um einen Sitz am Gang gebeten?«, fragte ich.

»Na ja, ich sitze gern direkt hinter dem Notausgang. Dann kann ich einfach über den Sitz vor mir springen, zur Tür rausrennen und bin in einem Sekundenbruchteil draußen«, erklärte er mit einem selbstzufriedenen Grinsen.

»Und warum hast du dann nicht um den Platz am Ausgang gebeten?«

»Glaub mir, für den Job bin ich nicht der richtige Typ.«

»Schade, es gibt wirklich keine Kavaliere mehr. Aber das ist sowieso egal; unser Leben liegt in den Händen dieser hoffentlich nüchternen Piloten und einem gut vierhunderttausend Kilo schweren Brocken Metall, also …«

»Können wir aufhören, darüber zu reden? Ich glaube nicht, dass du das Problem verstehst.« Er zog einen Rosenkranz aus der Tasche und legte ihn um den Hals.

»Etwas sagt mir, dass du keine Ahnung hast, wofür der ist«, bemerkte ich kichernd. »Bist du katholisch?« Er bemühte sich verzweifelt, ein winziges Preisschild von einer der Perlen abzuziehen. »O mein Gott, du hast das Ding in dem Geschenkartikelladen im Flughafen gekauft, richtig?«

Er legte einen Finger an die Lippen. »Pssst! Also, bitte!« Er sah sich um, als fürchtete er, erwischt zu werden. »Natürlich bin ich katholisch.«

Ich lachte leise. »Na ja, Gott dürfte wissen, was du tust, und wenn du das Ding um den Hals trägst, statt das Ave-Maria runterzubeten, wird er womöglich sauer, und das wäre für uns alle nicht gut.«

Er stieß ein nervöses Gelächter hervor und flüsterte dann: »Hey, es macht dir wohl Spaß, mich aufzuziehen, was?« Während er auf meine Reaktion wartete, sah er mir mit einem süßen Lächeln direkt in die Augen.

Plötzlich war ich verlegen und schüttelte nervös den Kopf. »Tut mir leid.«

Immer noch lächelnd, kniff er die Augen ein wenig zusammen und zwinkerte, ehe er den Blick abwandte und einige Broschüren aus der Sitztasche vor ihm nahm.

Während er die Sicherheitsanweisungen las, rollten wir in Richtung Startbahn, und in diesem Moment fielen mir ein paar Dinge auf. Erstens: Will war außergewöhnlich attraktiv. Auch wenn er recht unkonventionell gekleidet war und seine Zähne nicht ganz perfekt, hätte er Model sein können. Er war ungefähr eins fünfundachtzig und sehr schlank, hatte aber muskulöse Arme, vielleicht eine Folge jahrelangen Gitarrenspiels. Er hatte braunes, zerzaustes Haar und dunkle Augen, ein markantes Kinn, hohe Wangenknochen und volle Lippen, die beim Lesen die Worte formten, so wie es Kinder taten, wenn sie still lesen sollten.

Zweitens: Er roch gar nicht schlecht – um genau zu sein, er duftete himmlisch. Eine Mischung aus Duschgel, Sandelholz und einem Hauch Zigarettenrauch, den ich normalerweise als abstoßend empfunden hätte, der ihm aber aus irgendeinem Grund gut stand.

Er trug eine Hose, die locker auf den schmalen Hüften saß, einen Gürtel mit silbernen Nieten und einer Geldbörsenkette und ein rotes T-Shirt mit dem Aufdruck »Booyah!« über einem Siebdruckbild von Hillary und Bill Clinton beim Pingpongspiel. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte.

Drittens: Er hatte wirklich Angst vorm Fliegen und würde die ganze Zeit bibbern. Ich beschloss, ich würde versuchen, seine Nerven zu besänftigen, indem ich freundlich war, plauderte und vielleicht ein bisschen flirtete.

Der Pilot meldete sich und informierte uns, dass wir startbereit seien. »O mein Gott! Hat er sich für dich betrunken angehört?«, platzte Will heraus.

»Überhaupt nicht. Entspann dich, alles wird gut, aber mit Gott solltest du etwas zurückhaltender umgehen, zumindest, solange du dieses Ding trägst.« Ich zeigte auf den Rosenkranz an seinem Hals.

Er starrte die Perlen an, als wären sie im Begriff, eine Zirkusnummer aufzuführen.

Nervös sagte er: »Hey, äh, kannst du die Blende aufmachen? Ich muss sehen, wie wir abheben.«

Ich tat ihm den Gefallen, und er blickte über mich hinweg aus dem Fenster.

»Du bist schon komisch, Will. Du willst am Gang sitzen, und trotzdem beugst dich jetzt über mich, um aus dem Fenster zu gucken.«

Ohne auf meine Bemerkung einzugehen, atmete er tief durch die Nase ein, neigte den Kopf zur Seite und flüsterte mit einem schiefen Lächeln: »Du riechst gut; wie Regen.«

Mit so einem Spruch hatte ich nicht gerechnet; ein Schauer raste durch meinen Körper.

»Was für eine Gitarre hast du?«, fragte ich abrupt, um das Thema zu wechseln.

»Äh, eine elektrische?« Die Antwort klang wie eine Frage.

»Nein, das ist mir klar. Welche Marke.«

»Oh, eine Fender.« Er kniff die Augen zusammen und lächelte. Wie es schien, war er leicht fasziniert und vermutlich auch dankbar, dass wir über Gitarren sprachen, während das Flugzeug mit Höchstgeschwindigkeit die Startbahn hinunterjagte. Dennoch umklammerte er immer noch nicht so ganz beruhigt die Armlehne.

»Eine Telecaster, Stratocaster …?«

»Um genau zu sein, es ist eine Telecaster in Blond. Ich habe auch noch eine Gibson Akustik und eine Vintage Harmony zu Hause.«

»Ich liebe die alten Harmony-Gitarren. An meinem fünften Geburtstag hat mein Vater mir seine H78 geschenkt. Das war die erste Gitarre, die er von seinem eigenen Geld gekauft hat. Er hat sie neunzehnhundertsiebzig aus einem Sears-Katalog bestellt.«

Überrascht riss er die Augen auf. »Das ist ja Wahnsinn! Dein Vater muss ein cooler Typ sein.«

»Er ist vor einem Monat gestorben.«

»Scheiße … das tut mir leid«, sagte er mit ehrlichem Mitgefühl.

»Schon gut, aber ich würde jetzt lieber nicht darüber sprechen. Lass uns lieber über Gitarren reden«, sagte ich und stellte fest, dass das uns beiden zugutekäme.

Als wir die Reiseflughöhe erreicht hatten, entspannte er sich ein wenig und fing an, die märchenhaften Pickups an der Harmony zu beschreiben und die Modifikationen, die er an der Telecaster vorgenommen hatte. Er wusste eindeutig ganz genau, wovon er sprach, und seine Begeisterung war wirklich süß.

Wir unterhielten uns über unsere Lieblingsmusiker und stimmten von Led Zeppelin bis Bette Midler in allem überein. Wir sprachen über Miles Davis, Joni Mitchell, Debussy, die Niazi Brothers und Edith Piaf. Nie zuvor hatte ich mich mit irgendjemandem so eingehend und intensiv über Musik unterhalten. Und so ging es während des ganzen Fluges ununterbrochen weiter.

Ich erzählte ihm von meinem musikalischen Hintergrund und auch, dass ich mit meinem gelben Labrador Jackson in die Wohnung meines Vaters ziehen, sein Café betreiben und vielleicht nebenbei Klavierunterricht geben würde.

Er berichtete, dass er als Barkeeper in der Lounge eines schicken Boutique-Hotels in SoHo arbeitete. Momentan lebte er in einer kleinen Abstellkammer in Chinatown, so lange, bis er sich eine Wohnung leisten konnte. Er spielte Gitarre in einer Band, war damit aber nicht so richtig glücklich. Die Proben, sein Job und die wenigen Gigs, die sie im Monat spielten, sorgten dafür, dass er nie zu Hause war.

Für eine Sekunde dachte ich an das Gästezimmer in der Wohnung meines Vaters, schob den Gedanken aber rasch beiseite, als mir wieder einfiel, dass Will ein völlig Fremder für mich war. Auch wenn ich seine neurotischen Anwandlungen eher liebenswert als beängstigend fand, kam ich zu dem Schluss, dass es wohl nicht die beste Idee wäre, einen am Hungertuch nagenden Musiker einzuladen, bei mir zu wohnen.

Als das Flugzeug in den Sinkflug ging, klammerte sich Will wieder an den Armlehnen fest. »Wir stürzen ab, Mia. Ich muss sofort alles über dich erfahren! Wie alt bist du? Wie lautet dein Nachname? In welcher Straße lebst du? Übrigens finde ich, wir sollten mal zusammen Musik machen, wenn wir das hier überleben, ein bisschen improvisieren, musikalisch oder wie auch immer.«

Er war wirklich hinreißend. Mein ganzer Körper kribbelte unter seinem warmen Blick, und ich rutschte unruhig auf meinem Sitz herum, ehe ich antwortete: »Mein Nachname lautet Kelly, ich werde an den meisten Tagen im Café meines Vaters sein – Kell’s an der Avenue A. Komm einfach mal vorbei, und trink einen Kaffee mit mir, dann können wir uns über Musik unterhalten. Oh, und ich bin fünfundzwanzig.«

Als wir wieder sicher am Boden waren, lächelte er mich an und sagte mit leiser Stimme: »Also haben wir beide zwei Vornamen. Ich bin Will Ryan, neunundzwanzig. Ich lebe in einer Abstellkammer in der Mott Street, Nummer zweiundzwanzig und arbeite im Montosh. Ich habe Blutgruppe Null-negativ, du weißt schon, ich bin Universalspender, und ich spiele in einer Band, die sich The Ivans nennt. Ach, und ich liebe Kaffee. Es war nett, dich kennenzulernen, Mia.«

»Ich fand es auch nett, dich kennenzulernen.« Das war mein voller Ernst.

»Wir haben es überlebt«, sagte er und zeigte zum Fenster hinaus, während wir zum Gate rollten. »Weißt du, man sagt, Menschen, die dem Tod gemeinsam ins Angesicht geblickt haben, sind für ihr ganzes Leben miteinander verbunden.«

Ich lachte. »Du bist richtig süß, Will.«

»Ich war eigentlich auf unwiderstehlich aus«, sagte er mit einem frechen Grinsen.

Dann reichte er mir meine Tasche und ließ mich vorangehen. Sein warmer Atem in meinem Nacken sorgte dafür, dass ich erschauernd den Gang hinunterstolperte.

Er lachte. »Du bist süß.«

Als ein anderer Passagier von seinem Sitz schoss und mich anrempelte, rief Will: »Hey! Pass doch auf, Mann!«

Ich drehte mich zu seinem anziehenden Lächeln um, als er die Lippen kurz zusammenpresste, die Augen zu schmalen Schlitzen verengte und flüsterte: »Siehst du, Baby. Es gibt doch noch Kavaliere.«

Als ich hinaus in die kühle New Yorker Märzluft trat, spürte ich ihn hinter mir, drehte mich aber nicht zu ihm um. Glücklicherweise war am Taxistand nicht viel los, sodass ich sofort einen Wagen erwischte.

Ich sprang hinein und rief: »Alphabet City, Manhattan!«

Der Wagen fuhr los, und ich sah mich zu Will um. Er blies eine Lunge voll Rauch in die Luft, und in seinen Augen funkelte Neugier, als würde er Gottes Worten lauschen. Unsere Blicke trafen sich, und er formte mit einem demonstrativen Winken die Worte Ciao, Mia mit den Lippen. Ich glaubte, auch noch »Süße« auf seinen Lippen zu lesen, ehe er aus meinem Blickfeld verschwand.

Während sich das Taxi durch den Verkehr schlängelte, bekam ich ihn nicht aus dem Kopf. Den ganzen Flug über hatte ich nicht einmal über meine Zukunft, die Wohnung meines Vaters oder das Café nachgedacht, und ich glaube nicht, dass Will sich große Sorgen über einen möglichen Absturz gemacht hatte.

Irgendwie hatten wir uns auf Anhieb verstanden. Genauer gesagt, hatten wir uns sogar sehr gut verstanden. Er hatte etwas Kindliches, Ehrliches an sich. Als ich über unser Gespräch nachdachte, fiel mir ein, wie er Pete, den Leadsänger von The Ivans, das größte Arschloch auf Erden genannt hatte.

Für mich war völlig klar, dass Will um der Musik willen in einer Band war, nicht weil er auf Ruhm oder Sex aus gewesen wäre; außerdem war ich überzeugt, dass er in dem Punkt so oder so gut genug zurechtkam. Natürlich wusste ich, dass etwas an ihm anziehend auf mich wirkte, doch zu diesem Zeitpunkt redete ich mir ein, er wäre als potenzieller Partner ungeeignet – zumindest für mich. Ich dachte, wir könnten vielleicht Freunde sein; immerhin hatte ich in meiner neuen Stadt nicht gerade viele davon.

Das letzte Mal war ich vor einem Monat anlässlich der Beerdigung meines Vaters in New York gewesen. Mir war bewusst, dass eine Menge Arbeit auf mich zukam, was mich in Angst und Schrecken versetzte. Ich musste Pops’ Sachen aussortieren und Platz für meine eigenen schaffen.

Zwischen Haustür und Treppe hielt ich bei den Briefkästen inne. Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und war kaum imstande, ihn zu drehen, weil der kleine Kasten so vollgestopft war. Irgendwie schaffte ich es, mir die Post unter den Arm zu klemmen und zusammen mit dem Rest meines Zeugs die Stufen hinaufzutragen.

Oben angelangt probierte ich fünf Schlüssel aus, bis ich endlich den passenden hatte, um die Tür zu öffnen. Mir kam in den Sinn, dass dieser riesige Schlüsselbund eine von einer Handvoll neuer Erkenntnisse darstellte, die ich wohl in nächster Zeit über meinen Vater gewinnen würde.

Als ich die Wohnung betrat, fiel mir als Erstes auf, dass sie unglaublich sauber war. Jemand war hier gewesen, vermutlich eine der beiden Frauen, die zum Leben meines Vaters gehört hatten. Entweder Martha, die wie eine Schwester für ihn gewesen war und die derzeit das Kell’s führte, oder Sheil, die Frau, mit der er eine On-Off-Beziehung hatte.

Beide gehörten seit Jahrzehnten zu seinem Leben und waren auch für mich so etwas wie Familie. Wenn ich mich in den nächsten Monaten durch die Habe und die Geschichte meines Vaters wühlte, würden sie mein rettender Anker sein.

Nachdem ich einen Haufen Werbung aussortiert hatte, sichtete ich einige Kontoauszüge und Rechnungen, ehe ich zu einem Brief des Nachlassverwalters vorstieß. Ich lehnte mich über den Küchentisch, schloss die Augen und holte tief Luft, ehe ich ihn öffnete.

Irgendwie schwebte immer noch der Geruch meines Vaters in der stillen Luft in der Wohnung, als wollten verweilende Spuren des Lebens mich daran erinnern, dass zumindest sein Geist noch lebendig war. Mir stiegen die Tränen in die Augen, und mein Herz schmerzte vor Kummer über den Verlust.

Ich prägte mir den Geruch ein, eine Mischung aus Espresso, Tagetesöl und selbst gedrehten Zigaretten, der jedes einzelne Kleidungsstück, das er besessen hatte, mit einer süßen, erdigen Würze parfümierte. Die Erinnerung entlockte mir ein wehmütiges Lächeln, ehe ich mich der vor mir liegenden Aufgabe zuwandte.

In den Tagen nach dem Herzinfarkt meines Vaters hatten meine Mutter und David alles stehen und liegen lassen, um mir nach New York zu folgen und dabei zu helfen, die notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Diese Woche war mir nur diffus im Gedächtnis geblieben, eine Erinnerung, angefüllt mit Entsetzen und Schmerz, aber die Ruhe, die Zuwendung und Vertrautheit, die meine Mutter bei all dem ausstrahlte, war beeindruckend und überraschend zugleich.

Ich wusste nicht recht, ob ihr Verhalten auf der Liebe beruhte, die sie für mich hegte, und dem Bedürfnis, mir zu helfen, wenn sie wusste, dass ich litt, oder ob sie meinem Vater tiefere Gefühle entgegenbrachte, als ich geahnt hatte.

So zerrissen meine Familie mir in meiner Jugend erschienen war, Pops’ Tod brachte uns doch alle wieder zusammen. Ist das nicht immer so? Es war, als wären meine Mutter und Martha Schwestern, die eine gemeinsame unausgesprochene Geschichte hatten. Sie teilten sich die Arbeit in der Wohnung und im Kell’s so harmonisch untereinander auf, als hätten sie nie etwas anderes getan.

Am Tag vor der Beerdigung hatten wir im Café gearbeitet, und ich beobachtete, wie meine Mutter einigermaßen routiniert mit der Espressomaschine hantierte. »Warst du in einem anderen Leben Barista?«, hatte ich sie gefragt.

»Das ist keine Zauberei, Liebling.« Sie bewies bei fast allem, was sie tat, eine natürliche Begabung, eine Eigenschaft, die ich bewunderte und die geerbt zu haben ich keineswegs überzeugt war.

Meine Mutter und Martha hatten Vorkehrungen für die Bestattung getroffen, während David sich um die rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Erbschaft meines Vaters gekümmert hatte.

Ich wusste, ich hatte Entscheidungen zu treffen, fühlte mich aber zu dem Zeitpunkt überfordert, also beschloss ich, nach der Beerdigung nach Ann Arbor zurückzukehren, meine eigenen Angelegenheiten zu regeln und dann für einige Monate nach New York zu ziehen, bis ich imstande wäre, einen Entschluss zu fassen, wie es weitergehen sollte. Bevor Pops gestorben war, hatte ein Umzug nach New York für mich nie zur Debatte gestanden, aber genau dort fand ich mich nun wieder.

Bezüglich seines Nachlasses gab es keine offenen Fragen. Ich war die einzige Erbin seines ganzen Besitzes. Allerdings wusste ich auch, dass es ein paar Dinge geben musste, die er Sheil und Martha zukommen lassen wollte, und dass er noch einige Wünsche in Bezug auf das Kell’s hinterlassen haben mochte.

Als ich den Brief öffnete, erkannte ich an dem formellen Stil, dass es hier um etwas ging, was Pops dem Anwalt diktiert und dann unterschrieben hatte. Er hatte es offiziell machen wollen. Alle finanziellen Angelegenheiten waren bereits anderweitig in seinem Testament geregelt worden, und so war mir klar, dass es in dem Brief um persönliche Gegenstände und seine Hoffnungen und Träume in Bezug auf das Kell’s gehen musste. Ich überflog einige logistische Punkte am Anfang des Schreibens, die offensichtlich der Anwalt hinzugefügt hatte, ehe ich zu den Einzelheiten vorstieß.

Ich wappnete mich innerlich für das, was ich zu lesen bekommen sollte.

Sheil Haryana und Martha Jones erhalten Zutritt zu meiner Wohnung, damit sie ihre persönlichen Dinge und jegliche sie betreffenden Musikstücke, Briefe und Fotografien abholen können.

Mehrere Augenblicke zogen dahin, als ich das dürftige Dokument studierte. Mit dem Zeigefinger fuhr ich Wort für Wort über die Zeilen und suchte bedächtig nach einer verborgenen Nachricht, aber da war nichts mehr.

Jetzt liegt alles bei mir. Er hat alles mir überlassen.

Die Last dieser Erkenntnis erschreckte mich; er hatte mir alles anvertraut, was er in seinem ganzen Leben aufgebaut hatte. Als ich das begriff, vermisste ich ihn sogar noch mehr.

Die Türklingel riss mich aus meiner Benommenheit.

Ich ging zur Gegensprechanlage. »Ja?«

»Martha hier.« Sofort drückte ich auf den Türöffner, und gleich darauf hörte ich sie zusammen mit meinem vierbeinigen Freund die Treppe heraufspringen.

Ich öffnete die Tür und fiel zu Boden, als Jackson mich mit seinem vollen Gewicht mit den Vorderpfoten rammte.

»Ich hab dich vermisst, Kumpel!«

Er leckte mir das Gesicht ab und trat von einem Bein auf das andere, als ich ihn hinter den Ohren kraulte.

Ich rappelte mich auf und sank in Marthas Arme. »Danke, dass du dich um ihn und das Kell’s gekümmert hast.«

»Ach, meine Mia! Es tut so gut, dich zu sehen, mein Schatz.« Sie drückte meine Schultern zurück, um mein Gesicht zu studieren, sah mir direkt in die Augen und sagte: »Wir haben einiges zu tun, nicht wahr?«

Die Untertreibung des Jahrhunderts.