Celestial City – Akademie der Engel. Jahr 1
Celestial City – Akademie der Engel. Jahr 2
Leia Stone ist eine USA TODAY Bestseller-Autorin, die schon zahlreiche Bücher veröffentlicht hat. Wenn sie nicht gerade mit ihren zwei Kindern durchs Haus tobt, schreibt sie neue Geschichten oder vergräbt ihre Nase in einem Buch. Zusammen mit ihrem Mann, den Zwillingen und dem Hund der Familie lebt sie in Arizona.
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch
von Michael Krug
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»Fallen Academy: Year Three«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2018 by Leia Stone
Published by arrangement with Bookcase Literary Agency.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright ©2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Elena Bruns, Lingen
Covergestaltung: Sandra Taufer, München, unter Verwendung von Motiven von © faestock / shutterstock; Sergey Nivens / shutterstock; run4it / shutterstock; Kawin K / shutterstock; Chones / shutterstock; HS_PHOTOGRAPHY / shutterstock; YummyBuum / shutterstock; Ihnatovich Maryia /shutterstock;
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7517-0438-0
www.one-verlag.de
www.luebbe.de
Für euch.
Ich stöhnte, rollte mich im Bett herum und wartete, dass sich meine Augen an die Umgebung anpassten. Seit einem Monat lief für mich jeder Morgen gleich ab: Ich wachte in der Hölle in meinem kleinen Zimmer aus Stein auf, vollgepumpt mit Drogen und verwirrt, sah doppelt und fühlte mich elend.
»Morgen. Zeit für deine Medikamente«, riss Rakshas Stimme mich aus meiner Benommenheit.
Finster sah ich die Dunkelmagierin an. Wir hatten eine Art Hassliebe entwickelt. Sie misshandelte mich nicht und war nicht übertrieben unhöflich. Im Grunde tat sie nur, was der Fürst der Finsternis ihr auftrug. Dennoch war sie meine Kerkermeisterin.
»Bitte keine Drogen mehr«, flehte ich.
Durch die Medikamente fühlte ich mich träge, depressiv und krank.
Als sie meine Haferflocken mischte, fiel ihr das dunkle Haar ins Gesicht, wodurch sie beinahe hübsch aussah. Sie war eine Frau indischer Abstammung, ungefähr Mitte dreißig und erschreckend mächtig. An meinem ersten Tag hier hatte ich versucht, ihr mit meiner Magie eins zu verpassen. Prompt hatte sie mich quer durch den Raum geschleudert, wodurch die Wunde an meinem Hals wieder aufgerissen war.
Sie gab einen tadelnden Laut von sich. »Du kennst die Regeln, Kind. Erst nimmst du die Medikamente, dann kannst du zum Fürsten der Finsternis.«
»Ich will nicht zu ihm, verdammt!«, herrschte ich sie an. Jäh schaute sie zu mir auf, und ein roter Schleier legte sich über ihre Augen. Als sie aufstand und mit den Haferflocken in der Hand zu mir herüberkam, hatte sie einen entschlossenen Blick aufgesetzt.
»Ich verrate dir ein kleines Geheimnis. Willst du hier unten überleben? Dann tu, was er sagt. Verstanden?« Etwas in ihrer Stimme und ihrem Gesicht veränderte sich, sodass sie mir beinahe wie ein anständiger Mensch vorkam. Dieser Moment endete jedoch abrupt, als sie mir den ersten Löffel Haferbrei in den Mund schob und mir die Lippen zuhielt.
»Runterschlucken«, verlangte sie knurrend.
Ich blickte auf meine linke Hand und den Ring an meinem Finger. Sie hatte mir erlaubt, ihn zu behalten. Der Fürst der Finsternis hatte gedacht, er könnte verzaubert sein, aber sie hatte ihn überprüft, für nutzlos erklärt und gemeint, es könnte mich motivieren, wenn ich ihn tragen dürfte. Den Anhänger von Mr Claymore hingegen hatte man mir abgenommen.
Ich schluckte das mit Drogen versetzte Frühstück und ließ es meine Kehle hinabgleiten.
Lincoln.
Gott, dieser Name. Allein der Gedanke an ihn trieb mir Tränen in die Augen, während sich in meiner Brust ein körperlicher Schmerz ausbreitete. Hielt er mich für tot? Wie ging es Shea? Meiner Mutter? Mikey?
Tränen kullerten mir über die Wangen, und Raksha versetzte mir einen Klaps auf die Hand.
»Zeig hier keine solche Schwäche. Schluck's runter. Überlebe«, fauchte sie.
In flüchtigen Augenblicken wie diesen hatte ich tatsächlich den Eindruck, sie wollte mir helfen.
»Warum immer noch die Drogen? Ich hab seit Tagen nicht mehr versucht, Luzifer anzugreifen«, appellierte ich an ihre Vernunft, als sie mir einen weiteren Löffel in den Mund schob.
Raksha bedachte mich mit einem mürrischen Blick. »Seit Tagen? Warten wir, bis es Wochen sind. Dann darf ich die Drogen vielleicht absetzen.«
Noch Wochen hier unten? Oh Gott, das wollte ich mir nicht vorstellen. Ich würde den Verstand verlieren.
Die Drogen bewirkten, dass ich keine Lichtmagie heraufbeschwören, nicht fliegen und nicht mit Sera sprechen konnte. Letzteres traf mich am härtesten – das Wissen, dass sie sich hier unten in meiner Nähe befand, unsere Verbindung aber unterdrückt wurde, war unerträglich.
»Na schön, ich werde nicht mehr gegen ihn kämpfen. Inzwischen sehe ich ein, dass es sinnlos ist.« Ich würde einen anderen Weg finden müssen, um aus der Hölle zu verschwinden. Dafür würde ich so tun, als wäre ich auf Rakshas Seite.
Sie nickte und schaufelte mir mehr von dem körnigen, bitteren Haferbrei in den Mund. »Braves Mädchen. Tu, was man dir sagt.«
Die nächste Stunde verging in der Monotonie der täglich gleichen Routine. Raksha sah mir beim Baden zu – ein Rasierer wurde mir nicht gestattet, ganz gleich, wie sehr ich darum bat. Danach half sie mir beim Anziehen, bevor sie mich in meinen Rollstuhl setzte. Durch die Medikamente und meinen kaum vorhandenen Appetit war ich zu geschwächt, um längere Strecken zu Fuß zu bewältigen.
»Wollen wir los zum Fürsten der Finsternis?«, fragte Raksha und rollte meinen Stuhl den langen Flur aus Stein hinunter.
Ich brummte nur.
Wo in der Hölle wir uns befanden, wusste ich nicht mal ansatzweise. Nachdem der Heiler-Dämon meinen Hals in Ordnung gebracht hatte, war ich durch den Blutverlust ohnmächtig geworden und hier aufgewacht. Wir konnten uns entweder Hunderte Kilometer von Angel City entfernt befinden oder sogar direkt darunter. Raksha gab nie irgendetwas preis. Wenn ich ihr Fragen stellte, gab sie mir nur einen Klaps auf die Hand und schüttelte den Kopf.
Nachdem wir uns den Weg durch ein Labyrinth von Gängen gebahnt hatten, gelangten wir zur Doppeltür von Luzifers Arbeitszimmer.
Zweimal klopfte Raksha an das harte Holz, dann trat sie steif wie eine Soldatin an meine Seite.
»Herein!«, hallte die dröhnende Stimme heraus.
Ich hatte mir einen Spitznamen für den Fürsten der Finsternis ausgedacht.
Lucy.
Luzifer, Lucy. Klar? Als ich ihn vor ein paar Tagen so genannt hatte, schlug er mich so hart, dass mein Auge zugeschwollen war. Seither benutzte ich den Spitznamen nur noch in Gedanken. Wenn Sera mich hören könnte, würde sie ihn auch verwenden. Dann wäre ich vielleicht in der Lage, diese buchstäbliche Hölle mental zu überleben.
Raksha trat vor, öffnete die Türflügel und schob mich in die Gemächer dieses Oberarsches. Sein Arbeitszimmer erfüllte alle Erwartungen eines Ortes aus einem Albtraum. Transportliegen aus Metall standen überall im Raum, übersät mit Gläsern undefinierbaren Inhalts. Um sie herum türmten sich Krüge mit allerlei Gebräuen und Stapel von Knochen. Lucy hatte mir einmal erzählt, dass hier seine Dämonen entstanden. Er schuf die Monster selbst – mit bloßen Händen.
Sein Arbeitszimmer verursachte bei mir eine Gänsehaut, aber ich stand zu sehr unter Drogen, um besonders darauf zu achten.
»Bist du bereit, artig zu sein?«, säuselte Luzifer.
Jeden Tag die gleiche Frage. Jeden Tag erhielt er von mir eine andere Antwort: Ich spuckte ihm ins Gesicht, zeigte ihm den Mittelfinger, bewarf ihn mit etwas und so weiter. Nichts davon funktionierte. Ich musste meine Taktik ändern und in den nächsten fünf Minuten zur preisgekrönten Schauspielerin mutieren. Sonst würde ich vielleicht hier unten sterben und Lincoln und meine Lieben nie wiedersehen.
Als ich aufschaute, begegnete ich dem kalten Blick der schwarzen Augen in Luzifers übertrieben attraktiven Gesicht.
»Ja«, antwortete ich mit verhaltener Verachtung. Die Darbietung musste glaubwürdig sein. Sich übertrieben fröhlich zu geben, würde nicht klappen.
Er grinste und klatschte in die Hände. »Ja! Wie ich sehe, kommst du zur Vernunft. Gut.«
Raksha bedachte mich mit einem fragenden Blick samt hochgezogener Augenbraue, sagte aber kein Wort.
Lucy sah sie an und scheuchte sie mit den Händen davon. »Du kannst gehen, meine Liebe.«
Mein Kindermädchen nickte und verließ den Raum. Ich blieb allein zurück, allein mit dem Teufel höchstpersönlich. Unwillkürlich sank ich tiefer in meinen Rollstuhl.
»Die Medikamente sind schrecklich, nicht wahr?«, fragte er mit einem Schimmer in den Augen, der erkennen ließ, wie sehr ihm das gefiel.
Ich zog die Brauen zusammen. »Kann man wohl sagen.« Es erschien mir am besten, so ehrlich wie möglich zu sein. Ich hatte Verschiedenes ausprobiert, um zu ergründen, ob der Fürst der Finsternis wie die anderen Erzengel Gedanken lesen konnte. Obwohl ich zu dem Schluss gekommen war, dass er es nicht konnte, wollte ich auf der sicheren Seite bleiben.
Luzifer nickte, ging zu einer leeren Transportliege und platzierte einige Knochen darauf. »Natürlich ist es nicht so, dass ich dich fürchte. Aber im Vollbesitz deiner Kräfte könntest du mir tatsächlich lästig werden. Und eine solche Ablenkung kann ich nicht gebrauchen. Das verstehst du doch, oder?«
Er ordnete die Knochen in Form eines Körpers an, was meine geballte Aufmerksamkeit erregte. Ich nickte nur, ich war zu konzentriert auf das, was er tat, um etwas zu erwidern.
Sein Blick schwenkte zu mir herüber. »Willst du mir helfen? Weißt du, deshalb habe ich dich hergeholt. Damit du von mir lernst. Gewissermaßen mein Protegé wirst.«
Würg. Leck mich, Lucy!
»Warum nicht?«, erwiderte ich nur.
Seine Augen schimmerten, was ihn noch attraktiver erscheinen ließ. Einfach nur ekelerregend. Niemand, der so bösartig war, sollte so gut aussehen. »Ich wusste, dass du zur Vernunft kommen würdest. Schade, dass es auf die harte Tour sein musste. Aber dir ist inzwischen klar, dass du hier nie rauskommen wirst, oder? Selbst wenn es dir irgendwie gelänge, mich zu überwältigen, wärst du in diesem Reich verloren.«
Wenn das nicht der niederschmetterndste Realitätscheck aller Zeiten war, dann wusste ich auch nicht.
Seufzend sah ich an meinem gebrechlichen Körper hinab. Auf meinen Gliedmaßen lastete das Gewicht von Schwermut und Müdigkeit. »Das sehe ich inzwischen ein, ja.«
Ich musste nicht einmal mehr schauspielern.
Er nickte, dann deutete er auf den Knochenhaufen. »Das ist meine Lieblingsaufgabe in der Unterwelt. Dämonen erschaffen.«
Meine Augen wurden groß. Ich meine, ich wusste, dass er sie erschuf, und ich sah ihn ständig an ihnen herumbasteln. Aber zu hören, wie er es aussprach, und zu beobachten, wie er die Knochen anordnete, fand ich ziemlich verstörend, um es harmlos auszudrücken. Zugleich jedoch war es auch ein klitzekleines bisschen faszinierend.
»Was ... was für einen machst du denn heute?« Die Angst in meiner Stimme brauchte ich nicht vorzutäuschen.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich dachte an etwas Neues. Die aktuelle Auswahl langweilt mich.«
Wow. Er konnte einfach so etwas Böses kreieren und auf die Welt loslassen. Das war schon eine mächtige Form von Magie.
Er streckte die Hand aus, tauchte die Finger in ein Glas mit der Aufschrift Bösartigkeit und bestäubte den vor ihm liegenden Schädel mit einer Handvoll schwarzem Pulver. Ich rollte mich näher an die Liege heran, fasziniert und abgestoßen zugleich.
Luzifer schien meine Reaktion zu genießen. Seine Augen funkelten vergnügt.
»Flügel oder keine Flügel? Hm. Was meinst du?«, fragte er.
Ich wollte ihm nicht helfen, wollte nichts Böses erschaffen.
»Keine Flügel. Sind überbewertet«, sagte ich.
Er grinste mich nur an, bevor er zum nächsten Glas weiterging, etikettiert mit Mitgefühl. Luzifer fasste hinein, tauchte den kleinen Finger leicht in das rosa Pulver, rieb es zwischen den Fingern und sprenkelte es dann über den Schädel.
»Mitgefühl bei einem Dämon? Soll das ein Scherz sein?« Ich rollte noch näher heran, um mich zu vergewissern, dass ich die Beschriftung richtig gelesen hatte.
Er schmunzelte. »Am Anfang habe ich Dämonen ohne Mitgefühl erschaffen. Aber die haben nie auf mich gehört und konnten nicht als Team zusammenarbeiten. War die totale Anarchie. Jetzt gebe ich ihnen gerade genug, dass ihnen etwas daran liegt, was ich von ihnen halte.«
Arsch.
»Cool.« Wenn ich hier fertig wäre, würde ich einen Oscar bekommen.
Ein ganzer Haufen dieser Gläser stand hier herum. Von Säure über Feuer bis hin zu Zwang bot sich dem Teufel eine endlose Auswahl. Mein Verstand taumelte angesichts der Möglichkeiten.
»Was könnte den hier wirklich einmalig machen?«, fragte der Fürst der Finsternis und rieb sich dabei das Kinn. Es klang beinahe so, als wollte er mich auf die Probe stellen.
Das war meine Gelegenheit, ihm zu beweisen, dass ich auf seiner Seite war, auch wenn ich es nur heuchelte. Ich beugte mich vor und zeigte erst auf das mit Säure beschriftete Glas, dann auf das mit Zwang. »Die zwei zusammen sollten eine mörderische Kombination ergeben.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin beeindruckt. Allmählich findest du dich zurecht.«
Ich schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln, als er die Pülverchen aus den Gläsern holte und über die Knochen streute.
Gott, bitte verzeih mir.
»Und weißt du was? Ich hab's mir anders überlegt. Gib ihm doch Flügel«, fügte ich als Draufgabe hinzu.
Der Fürst der Finsternis grinste.
Ich musste von diesen Drogen runter, mir Sera holen und schleunigst weg von hier. Das einzige Problem war, dass ich bis dahin die Böse spielen musste.
Ich hoffte nur, ich würde mich in meiner neuen Rolle nicht verlieren. Denn bisher erfüllte sich James' Prophezeiung ...
Wie sich schnell herausstellte, beherrschte der Fürst der Finsternis Totenmagie. Was mich natürlich nicht überraschen sollte. Immerhin war die Magie von Nekromanten dämonischen Ursprungs. Die rötlichen Zauber flogen von seinen Händen und durchtränkten den Haufen aus Pulvern und Knochen. Anschließend brachte Luzifer selbst ein Blutopfer dar und ließ kleine Rinnsale seines eigenen Blutes über die gesamte Kreatur träufeln. Ich saß nur da und beobachtete zugleich fasziniert und angewidert, wie diese ... Kreatur zu wachsen anfing.
Es dauerte mehrere Stunden, bis der Prozess abgeschlossen war. Zuerst bildete sich die Struktur der Blutgefäße, gefolgt von den Muskeln. Als Raksha mich nach dem Abendessen wieder in Luzifers Räume brachte, entstand bereits die Haut des Dämons.
Der Fürst der Finsternis redete dabei nicht viel, saß nur an seinem großen Schreibtisch, schmökerte in alten Büchern und erteilte Abrus-Dämonen, die kamen und gingen, barsche Befehle.
Ich saß halb betäubt in meinem Rollstuhl und beobachtete. Ich beobachtete, wie das Geschöpf, an dessen Geburt ich mitgewirkt hatte, zum Leben erwachte. Ich beobachtete Luzifer. Ich beobachtete alles.
»Das war ein guter erster Ausbildungstag, findest du nicht?«, riss Luzifer mich aus meiner Benommenheit.
Die Kreatur auf dem Tisch war fast ausgewachsen. Voll morbider Faszination sah ich zu, wie sich ihr Brustkorb beim Atmen hob und senkte. Ich musste es richtig angehen, um Luzifer dazu zu bringen, mir genug zu vertrauen, damit er die Drogen absetzte. Nur so konnte ich hoffen, je von hier fliehen zu können.
»War ganz okay.« Ich zuckte mit den Schultern.
Seine Lippen verzogen sich zu einem gehässigen Grinsen. »Was ist denn los? Vermisst du deine Freunde?«
Ich funkelte ihn an. »Ja. Tue ich.«
Er nickte. »Dann wollen wir mal sehen, was sie so treiben, ja?« Luzifer klatschte in die Hände. Die Laternen an der Wand erloschen, und wir blieben in völliger Dunkelheit zurück. Als wäre es nicht schlimm genug, sich mit dem Teufel persönlich in einem stockfinsteren Raum aufzuhalten, hörte ich unmittelbar neben mir ein rhythmisches Atmen. Als mir klar wurde, dass es von der Kreatur ausging, rollte ich panisch von der Liege weg. Allerdings hielt ich abrupt inne, als eine Projektion an der gegenüberliegenden Steinwand auftauchte.
Ein Schluchzen stieg in mir auf, als ich Lincoln sah. Er trug einen schwarzen Anzug und starrte mit ausdruckslosem Blick in die Ferne. Die Szene schwenkte, und ich sah meine Mutter, die über einem Grabstein weinte. Meinem Grabstein. Unmittelbar neben dem meines Vaters.
Oh Gott.
Mikey, Shea, Raphael, alle waren sie da.
»Ich bin nicht tot!«, brüllte ich mit Tränen in den Augen.
Luzifers Stimme ertönte neben mir. »Es ist schon ein paar Monate her. Sie erschaffen Portale, sie bezahlen Dämonen für Informationen, aber sie erreichen damit nichts. Sie müssen dich aufgeben.«
Nein. Meine Brust hob und senkte sich heftig, als ich gegen die Panik ankämpfte, die mich zu überwältigen, zu verschlingen drohte.
»Aber ich bin doch erst seit ein paar Wochen hier«, argumentierte ich wie betäubt.
»Hier unten verstreicht die Zeit anders«, antwortete er schlicht.
Lincoln hatte ein Dutzend rote Rosen in der Hand, aber sie hingen schlaff herab, die Köpfe dem Boden zugewandt. Ich wollte ihm so sehr sagen, dass ich lebte, wollte ihn berühren – irgendetwas. Raphael näherte sich ihm. Die beiden wechselten murmelnd einige Worte, die ich nicht hören konnte. Lincoln gefiel offenbar nicht, was der Erzengel sagte, denn er warf die Blumen auf den Boden, stieß Raphael aus dem Weg, breitete blitzschnell die Flügel aus und flog davon.
Ihn Raphael so schubsen zu sehen, erschütterte mich. Die Liebe meines Lebens hatte mich aufgegeben. Mir wurde speiübel.
»Aufhören!«, rief ich schließlich, und das Bild löste sich auf. Die Lichter gingen wieder an, und Luzifer betrachtete mich mit ausdrucksloser Miene.
»So sieht's aus. Sie schauen nach vorn, und du kommst hier nie wieder weg. Wir können uns also genauso gut zusammentun, hm?«
In dem Moment hätte ich ihm am liebsten den Kopf abgerissen und ihm tief in den eigenen Hintern geschoben. Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben, und atmete mehrmals tief durch, bevor ich nickte. »Wie du meinst. Ich will zurück in mein Zimmer. Bin müde«, murmelte ich schließlich, was nicht ganz gelogen war.
Zwei Minuten später erschien Raksha, um mich in mein Zimmer zu rollen.
»Rak, du kannst ihre Dosis morgen halbieren«, ordnete Luzifer an, als sie die Hände auf die Griffe an der Lehne meines Rollstuhls legte.
Ich versuchte, mir die Aufregung nicht anmerken zu lassen, als meine verblüffte Aufpasserin nickte.
Als wir den Gang erreichten, beugte sie sich dicht zu mir. »Gut gemacht«, flüsterte sie.
Da war ich überzeugt davon, dass sie genauso eine Gefangene war wie ich.
Als ich in jener Nacht im Bett lag, weinte ich mich in den Schlaf und konnte nur daran denken, wie Lincoln verzweifelt davongeflogen war, nachdem er Raphael gestoßen hatte.
* * *
Am nächsten Tag bekam ich nur die halbe Dosis Drogen verpasst und konnte mithilfe eines Stocks aus eigener Kraft gehen. Zwar war ich immer noch wackelig und schwach und nicht annähernd in der Lage, mich mit Luzifer anzulegen, aber zumindest konnte ich meine Beinmuskeln ein wenig kräftigen.
»Heute darfst du zu den anderen«, verriet Raksha mir nach meinem grässlichen Bad, bei dem sie mich beaufsichtigte, um sicherzugehen, dass ich mich nicht ertränkte. Bei ein paar Gelegenheiten hatte ich tatsächlich schon mit dem Gedanken gespielt.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich die Dunkelmagierin an. »Zu den anderen?«
Sie nickte knapp. »Ja. Der Fürst der Finsternis lässt nur seine kostbarsten Wesen bei sich zu Hause wohnen. Heute lernst du die anderen kennen, danach beginnt dein Gruppentraining.«
Ich schluckte schwer. Ich würde auch bei Raksha zur Schauspielerin des Jahres mutieren müssen. »Gruppentraining?«
Sie nickte nur, bot mir aber keine weitere Erklärung.
Na toll. Ich stand total auf Überraschungen, vor allem auf solche, die einen in der Hölle ereilten.
Ich straffte den Rücken, stützte mich auf meinen Stock und folgte ihr aus dem Raum. Meine Kleidung bestand aus dickem, strapazierfähigem Segeltuch, war allerdings laienhaft genäht. Aus einem Geschäft schien nur eine Packung Baumwollunterwäsche zu stammen, die Raksha mir gebracht hatte. Sie war in einer Plastiktüte von Walmart gewesen, was unzählige Fragen aufwarf. Aber ich hielt den Mund.
War Raksha nach oben auf die Erde gereist und hatte die Unterwäsche dort bei Walmart besorgt? Oder gab es womöglich einen Walmart in der Hölle?
Erschien mir durchaus vorstellbar.
Langsam gingen wir durch das Gewirr der Korridore, bis ich offiziell orientierungslos und außer Atem war. Raksha wartete geduldig, während ich mich an die Wand lehnte, um zu verschnaufen. Nur etwas länger als eine Woche im Bett, und schon fühlten sich meine Beine wie Gelee an, schwach und zittrig.
Als wir schließlich eine schlichte Doppeltür erreichten, hörte ich hastig sprechende Stimmen.
Meine Mitgefangene drehte sich mir zu. Mir fiel auf, dass ihre braunen, mandelförmigen Augen wunderschön waren, wenn sie mich nicht gerade bösartig anstarrten. Auf der Stirn hatte sie die rote halbmondförmige Tätowierung einer Dämonensklavin, die einen harschen Kontrast zu ihrem Teint bildete.
»Hör gut zu, Brielle. Du bist mein Schützling. Ich bin für dich verantwortlich. Wenn du irgendetwas anstellst, das mich in Verlegenheit oder in Verruf bringt, prügle ich dich windelweich. Ist das klar?« Ihre Worte fuhren mir wie kalter Stahl in die kaum verheilte Wunde am Hals.
Ich hatte tatsächlich angefangen, Raksha zu mögen. Ein Psychologe hätte darüber wahrscheinlich Einiges zu sagen. Vielleicht schmerzten mich ihre Worte deshalb so sehr. Sie würde nicht zögern, mich fertigzumachen, und sie wollte, dass ich es wusste.
Ich nickte knapp, als mir klar wurde, dass ich hier doch keinerlei Verbündete haben würde. Sie mochte auch eine Gefangene sein, aber anscheinend eine recht bereitwillige.
Mit meinem zackigen Nicken schien sie zufrieden zu sein. »Ab sofort darfst du deine Mahlzeiten hier mit den anderen einnehmen. Außerdem sind dir Trainingseinheiten mit einigen der anderen gestattet. Sie wissen alle, wer du bist und für wie wichtig dich der Fürst der Finsternis hält. Aber sie wissen auch, dass Engelsblut durch deine Adern fließt.«
Na toll. Also würden mich im Wesentlichen alle hassen. Und wenn schon. Daran hatte ich mich inzwischen gewöhnt. Es war, als würde ich erneut an der Fallen Academy beginnen. Irgendwo da drin würde mich zweifellos eine Tiffany erwarten.
Raksha fuhr fort. »Betrachte mich als deinen täglichen Schatten. Einen Schatten, den du nicht abschütteln kannst.«
Keine Fluchtversuche. Schon kapiert.
Wieder nickte ich stumm. Zu sprechen traute ich mich nicht, weil ich fürchtete, ich könnte weinen. Der Anblick all meiner Lieben bei meiner Beerdigung hatte mich die ganze Nacht lang beschäftigt und spukte mir noch immer im Kopf herum.
Dann öffnete meine Aufpasserin die Türen, und über hundert Augenpaare richteten sich abwägend auf mich. Stimmen verstummten. Ich betrachtete eine Tischreihe nach der anderen voll Dämonen. Rittersporn, Abrus, Schlangenwurz, Grimlock, Schwefel – alle waren vertreten. Als sich mein Blick auf eine Sukkubus-Dämonin im hinteren Bereich heftete, hätte ich beinahe die Flucht ergriffen.
Raksha drückte mir den Daumen ins Kreuz und schob mich in den Raum. Zum ersten Mal seit meiner Entführung in die Hölle betete ich.
Gott, lass mich das überleben. Lass mich Lincoln und meine Familie wiedersehen.
Ich wusste aus meinen frühen Tagen an der Fallen Academy, dass es nicht gut war, Schwäche zu zeigen. Also umklammerte ich den Griff meines Stocks und betrat den Raum mit hoch erhobenem Haupt.
Wenn sie sich auf mich stürzen wollten, könnten sie es. Ich war hoffnungslos in der Unterzahl, nach wie vor schwach und obendrein zugedröhnt – keine vielversprechende Kombination. Als ich den ersten Tisch passierte, spannte ich jeden Muskel im Körper an und rechnete damit, dass mich jemand angreifen würde.
Niemand rührte sich. Alle starrten mich nur finster an.
Als ich es nach hinten zum Buffet geschafft hatte, dachte ich tatsächlich, ich könnte den Tag vielleicht überleben.
Raksha nahm einen Teller für mich und schaufelte Eier, Speck und Obst darauf, ohne mich zu fragen, was ich eigentlich wollte. Mittlerweile war sie für mich so etwas wie eine böse Stiefmutter geworden.
Sie steuerte auf einen Tisch zu, der mir bis dahin nicht aufgefallen war, einen von Menschen besetzten Tisch. Na ja, zumindest Menschen mit Dämonengaben. Ein kurzer Blick über die Arme der dort Versammelten verriet mir, dass es sich um eine Mischung aus Dunkelmagiern, Nekromanten, Gestaltwandlern und Nachtblütern handelte. Allerdings nicht um Kids von der Tainted Academy. Hier saßen erwachsene, von Narben gezeichnete, hartgesottene Verbrecher.
Im Raum herrschte Stille. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Wie sollte ich mit drogenverseuchtem Haferbrei im Magen und all diesen bösartigen, auf mich gehefteten Blicken essen?
Raksha half mir, mich ans Ende des Tischs zu setzen, dann ließ sie den Blick durch den stillen Raum wandern. »Weitermachen!«, rief sie barsch.
Heilige Scheiße, die Frau hat Eierstöcke aus Stahl.
Es drangen zwar ein paar knurrende Laute zu uns, und jemand murmelte etwas, das nach »Leck mich, Prinzessin« klang, aber es funktionierte. Die anderen wandten die Blicke ab und setzten ihre Unterhaltungen fort.
Nachdem sich Raksha neben mich gesetzt hatte, beugte sie sich dicht zu mir. »Alle, die beim Fürsten der Finsternis wohnen, haben die Anordnung, dich abseits des Trainings nicht anzurühren und meinen Befehlen so zu gehorchen, als hätte er sie erteilt.«
Mit einem Grinsen im Gesicht zog sie sich zurück. Ich merkte ihr an, dass ihr die Macht gefiel, die ihr Luzifer verliehen hatte. Verdammt, ich würde sie auch nutzen. Ich würde diese Penner herumkommandieren und den ganzen Tag lang wüst beschimpfen.
Aber ich war schlau genug, nichts zu erwidern. Stattdessen nickte ich nur, griff mir eine Scheibe Speck und kaute langsam, während meine Tischgenossen mich anglotzten.
Wäre Shea hier, würde sie das Kinn vorrecken und diese Mistkerle in Grund und Boden starren. Ich hingegen ließ den Blick nur auf meinen Teller gerichtet. Ich wusste, dass ich mit der Situation hoffnungslos überfordert war. Mein Geist war gebrochen, und mir war unangenehm bewusst, dass sich James' Version der Prophezeiung gegen meinen Willen erfüllte.
Eine Dunkelmagierin mit rabenschwarzem Haar starrte mich über ihren Teller hinweg finster an und fragte Raksha: »Also vertraut ihr der Fürst der Finsternis wirklich genug, dass er sie bei unserer Mission mitmachen lässt?«
Raksha nickte knapp. »Ja, tut er.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Mission?«
Rakshas Hand schlängelte sich unter dem Tisch zu meinem Oberschenkel und quetschte ihn so kräftig, dass ich ihr beinahe reflexartig die Handkante in den Hals gerammt hätte.
Die Magierin mit dem rabenschwarzen Haar grinste. »Logisch, dass er dir noch nichts davon gesagt hat. Er wird bis zum letzten Moment damit warten. Bis es unbedingt sein muss. Das ist ganz sein Stil.«
Raksha schnaubte. »Als ob du seinen Stil kennst. Du bist ihm erst zweimal begegnet.«
Darüber wurde am Tisch prompt gekichert und gescherzt, ich jedoch bewahrte eine ausdruckslose Miene. Ich wollte nichts tun, was mir später eine Tracht Prügel einbringen würde.
Rabenhaar verdrehte die Augen, bevor sie den Kopf schief legte und mich ansah. »Stimmt es, dass du mit dem Erzengel Michael trainiert hast?«
Oh Gott. Was sollte ich darauf erwidern?
Ich zuckte mit den Schultern. »Ein paarmal.«
Alle Köpfe am Tisch schwenkten in meine Richtung und musterten mich abwägend.
Rabenhaar grinste. »Ich kann's kaum erwarten zu sehen, was du dabei gelernt hast.«
Miststück.
Ich starrte weiter auf meinen Teller und schaufelte mir einen Löffel voll triefender Eier in den Mund.
Raksha tätschelte mir den Unterarm. »Sie ist vorerst nicht zum Training bereit. Sie ist noch auf Medikamenten.«
Die Dunkelmagierin mit dem rabenschwarzen Haar nickte, als wüsste sie Bescheid. »An manchen Tagen nach einem harten Training vermisse ich die Medikamente fast.«
Was hat sie gerade gesagt?
Ich runzelte die Stirn und wusste nicht recht, ob ich die Frage stellen sollte, die mir förmlich ein Loch in die Zunge brannte.
Ein scharfer Blick von Raksha warnte mich davor, etwas zu sagen. Also schwirrte die Frage stattdessen in Endlosschleife in meinem Kopf umher.
Sind wir hier alle Gefangene?
Nach dem Frühstück gingen die anderen zum Training, was immer das bedeuten mochte. Ich brach mit Raksha zu einer Besorgung auf. Was für eine Besorgung, wusste ich nicht. Darüber wurde mir nichts gesagt, und ich hatte längst gelernt, keine Fragen zu stellen.
Als wir durch die Korridore gingen, bedachte Raksha mich mit einem Seitenblick. »Es ist ein Kilometer hin und einer zurück. Das reicht für dich als Training, während wir dich von den Medikamenten entwöhnen. Danach darfst du ein kurzes Nickerchen machen. Und im Anschluss daran isst du heute mit dem Fürsten der Finsternis zu Abend.«
Der letzte Teil erschütterte mich dermaßen, dass ich beinahe über meinen Stock stolperte.
»Esse ich jeden Abend mit ihm?« Ich bemühte mich, meiner Stimme einen ruhigen Klang zu verleihen.
Gott, bitte sag nein.
Sie warf mir einen belustigten Seitenblick zu. »Das bezweifle ich. Er ist sehr beschäftigt. Das ist eine besondere Gelegenheit, um dich in der Gruppe willkommen zu heißen.«
Na toll. Ich werde im bösartigen Höllenkader aufgenommen.
»Verstehe.«
Wir gingen langsam. Wenn mich die Erschöpfung überwältigte, hielten wir an, damit ich mich an die Wand lehnen und ausruhen konnte. Raksha beschwerte sich darüber nie, schnauzte mich deswegen nicht an. Sie stand nur da und wartete still auf mich. Ich wusste, dass es wahrscheinlich unvernünftig war, aber ich mochte sie dafür. Irgendwie spürte ich, dass mehr hinter ihrer knallharten Fassade steckte. Ja, sie drohte mir mit Prügel, wenn ich sie in Verlegenheit brächte, und sie hatte mich schon quer durch den Raum geworfen. Aber sie half mir auch. Sie fütterte mich, sorgte dafür, dass ich mich waschen konnte und dass ich meine Kraft zurückerlangte.
Vielleicht fühlte ich mich so verloren und allein, dass ich dringend eine Freundin brauchte, selbst wenn es keine echte wäre.
»Hast du Familie?«, fragte ich beiläufig und überlegte, ob wir uns vielleicht näherkommen könnten.
Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, und ihr Rücken versteifte sich. »Komm weiter, die werden nicht den ganzen Tag warten«, sagte sie barsch und stapfte durch das Labyrinth der Gänge davon.
Ist ja toll gelaufen.
Gäbe es Zensuren dafür, Raksha zu beleidigen, wäre mir eine glatte Eins sicher.
Ich hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Mein Herz hämmerte wild in der Brust, meine schwachen Beine zitterten, als ich endlich Sonnenlicht durch die Fenster vor uns fallen sah. Raksha stand mit verschränkten Armen vor einem davon, während sie auf mich wartete.
Sonnenlicht? In der Hölle?
Als ich schließlich zu ihr aufschloss, blickte ich durch das Fenster und stellte fest, dass nicht Sonnenlicht hereindrang, sondern Feuerschein. Mittlerweile erkannte ich, dass wir langsam im Kreis gelaufen waren. Dabei waren wir allmählich höher und höher gestiegen, bis wir die oberste Ebene erreicht hatten, die sich auf Bodenniveau befand. Was bedeutete, dass wir unter der Erde lebten. Ein erschreckender Gedanke.
Um das riesige, burgähnliche Bauwerk aus Stein herum erstreckte sich, was wohl nur Höllenfeuer sein konnte. Jenseits des Flammenkreises befanden sich Horden von Dämonen und Geistern, die ziellos durch die trostlose Umgebung irrten und verloren wirkten.
Offensichtlich mochte Raksha keine persönlichen Fragen. Aber vielleicht würde sie sich nicht an einer allgemeinen Frage stören.
»Also bleiben böse Seelen für immer hier?« Ich beobachtete, wie ein junger Mann mit einem Dämon um Essen kämpfte.
Raksha folgte meinem Blick. »Falsch. Seelen kommen für eine Zeitspanne her, die angemessen dafür erscheint, der Seele eine Lektion zu erteilen. Dann wird sie wiedergeboren und erhält eine neue Chance auf der Erde.«
Mein Mund klappte auf. Reinkarnation. Raphael hatte davon etwas erwähnt. Allerdings hätte ich nicht gedacht, dass Seelen aus der Hölle wiedergeboren werden konnten. Das gab mir für das Gesamtbild ein wenig Hoffnung. Vielleicht war Gott doch nicht so grausam, wie ich dachte.
»Und obwohl sie Seelen sind, brauchen sie Nahrung?« Ich beobachtete, wie der durchscheinende Geist um einen Apfel kämpfte.
Argwöhnisch musterte sie mich. Wahrscheinlich überlegte sie, wie viel sie preisgeben sollte. »Die Dämonen brauchen Nahrung, die Seelen nicht. Luzifer gaukelt es ihnen nur vor, damit sie Hunger verspüren und um das bisschen Essen kämpfen, das es hier gibt. Aber sie brauchen es nicht zum Überleben.«
Ich schnaubte. »Ist ja echt reizend von Luzifer.«
Ist das ein Grinsen, das um ihre Mundwinkel spielt?
»Komm weiter, nur noch hier durch. Lass den Kopf unten und stell keine Fragen«, forderte sie mich auf, bevor wir uns wieder in Bewegung setzten.
Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, meine Hand war wund davon, mein Gewicht auf dem Stock abzustützen. Aber ich kämpfte mich durch die Schmerzen, weil mich die Neugier gepackt hatte, wohin wir gehen würden. Wir passierten einen düsteren Flur und gelangten zu einer roten Tür. Sie war derart glänzend lackiert, dass sie an dem finsteren Ort völlig fehl am Platz wirkte.
Raksha sah auf die Armbanduhr. Eine geschlagene Minute stand sie schweigend da. Dann erst streckte sie die Hand aus und öffnete die Tür.
»Kopf runter«, zischte sie.
Ich zog das Kinn ein, senkte den Blick zu Boden und versuchte, mich so unterwürfig wie möglich zu geben. Keine einfache Aufgabe für jemanden mit meinem Temperament. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie jemand hinter der Tür ein Portal öffnete, während Raksha und ich warteten.
Plötzlich trat eine dunkle Gestalt ins Licht. Ein Mann, soweit ich es beurteilen konnte.
»Sei gegrüßt, Raksha.« Er sprach in abgehacktem Ton.
»Mathias«, gab Raksha kurz angebunden zurück.
Er streckte die Hand aus und überreichte ihr irgendein Päckchen.
»Und von meiner Familie?«, fragte sie, als sie das Paket entgegennahm.
Einen Herzschlag lang herrschte Stille. »Oh, hast du mit einem Brief gerechnet?«
An seinem Tonfall erkannte ich, dass er mit ihr spielte. Zu gern hätte ich aufgeschaut, aber ich war schlau genug, es nicht zu tun. Mitspielen. Am Leben bleiben.
»Verarsch mich nicht!«, stieß Raksha grollend hervor, und er brach in Gelächter aus.
»Du bist richtig sexy, wenn du sauer bist«, ließ der Mann sie wissen und überreichte ihr einen Umschlag, den sie schnell in die Tasche steckte.
»Morgen um die gleiche Zeit«, erwiderte sie mürrisch, bevor sie sich zackig abwandte.
»Ich freu mich schon darauf!«, rief er ihr nach und schloss die rote Tür.
War es ein Abrus-Dämon gewesen oder ein Mensch? Ich vermochte es nicht zu sagen. Und da hier unten alles nach Dämon roch, bot mir meine Nase keine Hilfe.
Schweigend humpelte ich hinter Raksha her und versuchte zu verarbeiten, was sich gerade abgespielt hatte.
Das Portal muss zur Erde führen.
Hat so ausgesehen, als hätte der Mann das Portal kontrolliert, nicht Raksha.
Außerdem ist der Mann böse.
Was ist in dem Päckchen?
Raksha hat tatsächlich eine Familie.
All das wirbelte mir durchs Hirn. Und zum ersten Mal, seit ich in diesem Höllenloch gelandet war, verspürte ich wenigstens einen Funken Hoffnung, dass ich es hier rausschaffen könnte.
Mit jedem Schritt zurück zu meinem Zimmer fühlte ich mich stärker.
Ich werde hier rauskommen. Ich muss.
Als wir mein Zimmer erreichten, war ich erschöpft. Raksha öffnete meine Tür, riet mir zu einem Nickerchen und schloss mich ohne ein weiteres Wort ein. Ich streifte mir die Stiefel von den Füßen und ließ mich auf meinem kleinen Doppelbett mit der zerknitterten roten Baumwolldecke nieder.
Eine Weile lag ich da, starrte an die Steindecke und ließ den Tag Revue passieren. Ob ich Raksha dazu bringen könnte, Lincoln in einem Brief mitzuteilen, dass ich noch lebte? Das würde wesentlich mehr Vertrauen und Nähe erfordern, als wir derzeit hatten, aber ich schwor mir, daran zu arbeiten. Raksha schien die Einzige zu sein, der ich nicht komplett egal war. Wenn meine Familie wüsste, dass ich lebte, hätte ich etwas, woran ich mich bis zu meiner Flucht festklammern könnte.
Ich war gerade dabei einzuschlafen, als ich etwas Vertrautes spürte. Ein Ziehen an meinem Geist. Ich kam nicht darauf, worum es sich handelte oder was mir daran bekannt vorkam, bis ich sie hörte.
Brielle!, rief Sera in meinen Kopf.
Ersticktes Wimmern entrang sich meiner Kehle. Jäh setzte ich mich auf. Meine Hände zitterten, als Adrenalin durch meine Adern schoss.
Sera! Oh mein Gott. Tränen liefen mir über die Wangen, als ich spürte, wie ihre Energie in mich strömte. Das riesige, klaffende Loch in meinem Herzen füllte sich schlagartig ein klein wenig.
Geht's dir gut? Du kannst mich hören?, fragte sie ungläubig.
Ein Schluchzen schüttelte meinen Körper, als ich, die Hände an die Brust gepresst, dalag. Ich kann dich hören. Ich kann dich hören.
ö