Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über die Autoren
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Einleitung: Transformative Parteien
    1. Der Schrei nach Politik
    2. Warum wir neue Parteien brauchen
  7. Teil I: Das Fundament
    1. Leidenschaft und Purpose: Warum Parteien einen Nordstern brauchen
    2. Ideologie und strategische Verortung: Die Landkarte des 21. Jahrhunderts
    3. Ein Ort, der guttut: Hebel für die transformative Parteikultur
  8. Teil II: Das Betriebssystem
    1. Mehr als nur Mitglieder: Die Kraft der Vielen
    2. Die Europäische Partei: In Vielfalt geeint
    3. Im Sinn der Sache: Ein Plädoyer für Führung
    4. Gut entscheiden: Demokratie ja, aber welche?
    5. Transparenz und Vertrauen: Sauerstoff für die Demokratie
    6. Agile politische Arbeit: Die Verbindung zur Gesellschaft
    7. Vielfalt: Komplexität statt Autopilot
  9. Teil III: Der Start
    1. Team: Vom Gründungsteam zur Partei der Vielen
    2. Geld: Warum Ehrenamtliche keine erfolgreiche Partei aufbauen können
    3. Selbstführung: Von der Kunst des Dauerlaufs
    4. Momentum: Über Mut, Wumms und die Erlaubnis zu scheitern
  10. Liebeserklärung
    1. Liebeserklärung an eine Partei, die es (noch) nicht gibt
  11. Quellen

Über dieses Buch

Unsere Zeit schreit nach politischer Veränderung. Ob Klimakrise oder das absurde Ausmaß globaler und nationaler Ungleichheit: wir stehen vor existenziellen Herausforderungen, denen wir nur mit mutiger, grundsätzlicher Politik begegnen können. Doch obwohl sich die politischen Rahmenbedingungen in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert haben, verharren Parteien in den Strukturen der Nachkriegszeit. Deshalb ist klar: wir brauchen radikal andere Parteien.

Über die Autoren

Clemens Holtmann hat vor einigen Jahren die Partei Demokratie in Bewegung (DiB) mitgegründet. Eine Zeitung hat die Partei mal »die ehrgeizigste Partei seit den Piraten« genannt. Hier hat er viel über politische Parteien gelernt. Darüber hinaus hat er im Bundestag gearbeitet, den griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis für die Europawahl nach Deutschland geholt und als Co-Geschäftsführer der Generation Stiftung junge politische Talente gefördert.

Hanno Burmeister ist Fellow der Berliner Denkfabrik Das Progressive Zentrum und beschäftigt sich seit Jahren mit der Zukunft der Demokratie. Er ist Gastgeber der jährlichen Konferenz Innocracy sowie Co-Autor der Studie »Die Partei 2025 – Impulse für zukunftsfähige politische Parteien«. Auch er kennt das politische System von innen – als Mitarbeiter für eine Bundestagsfraktion, mehreren Bundestagsabgeordneten und des SPD-Parteivorstands.

HANNO BURMESTER
CLEMENS HOLTMANN

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Warum wir Politik
radikal neu denken müssen

Einleitung
Transformative Parteien

Der Schrei nach Politik

Unsere Zeit schreit nach Politik. Ob Klimakrise oder das absurde Ausmaß globaler und nationaler Ungleichheit: Vor diesen existenziellen Herausforderungen stehen wir, weil politische Entscheider:innen und Institutionen sich ihrer Kernaufgabe verweigern. Seit Jahrzehnten ist die Politik viel zu häufig Sachwalterin kurzfristiger, meist einseitiger ökonomischer Interessen. Sie schützt die Interessen der wenigen zum Schaden der vielen. Diese Art von Politik verweist routiniert auf angebliche Sachzwänge und Alternativlosigkeiten und hat sich eingeruckelt als Lobbyistin eines Status quo, der eigentlich keiner sein dürfte.

Dabei ruft alles nach etwas ganz anderem. Nämlich nach einer Politik, die grundsätzlich darüber streitet, welche neuen Spielregeln wir brauchen, um der Menschheit und anderen Spezies langfristig ein gutes Leben zu ermöglichen. Politik, die bereit ist, auf die durch uns veränderten ökologischen Rahmenbedingungen mit einem grundlegenden Wandel der weltweiten ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen zu reagieren. Politik, die gestaltet, was gestaltet gehört.

Kann sie gar nicht? Doch, kann sie. Die Finanzkrise in den Jahren ab 2008 und die Coronakrise haben gezeigt: Wenn Politik will, kann sie schnell Grundlegendes entscheiden. Und sei es nur, Hunderte Milliarden für den Erhalt des Status quo auszugeben. Wo es vorher unmöglich war, sich auf nennenswerte Investitionen für ökologische und soziale Verbesserungen und dazu passende Strukturreformen zu einigen, wurden in Krisenzeiten plötzlich Billionen Euro lockergemacht, um den Status quo zu stützen. Entscheidungen, die im Normalmodus undenkbar gewesen wären, wurden quasi über Nacht gefällt.

In beiden Krisen schien es, als sei die Politik wachgerüttelt worden. Für kurze Zeit war nichts zu hören von ihrer angeblichen Machtlosigkeit, von angeblichen und tatsächlichen Sachzwängen. Stattdessen erlebten wir hellwache politische Entscheidungsträger:innen, die von jetzt auf gleich im Hyper-Gestaltungsmodus unterwegs waren. Und das in ebendem Handlungsrahmen, der ansonsten immer als Grund angeführt wird, warum echte, wirkmächtige Politik angeblich unmöglich sei.

Wo sind die politischen Kräfte für die Transformation?

Wenn ein kollabierendes Spekulationssystem und eine Pandemie solche Musterbrüche möglich machen – wieso geschieht das nicht in Reaktion auf die ökologischen und sozialen Krisen unserer Zeit? Wieso ist die Armut und Perspektivlosigkeit von Hunderten Millionen Menschen, nur ein paar Flugstunden entfernt, kein Anlass zu solch entschlossenem Handeln? Und das durch uns verursachte Massensterben anderer Lebewesen, der enthemmte Verbrauch von Luft, Wasser und Boden und die nicht umkehrbare Veränderung des Klimas – wieso hat all das nicht schon längst vergleichbare Panikbeschlüsse ermöglicht?

Die Antwort ist einfach: Weil es an politischen Kräften fehlt, die es als ihre Aufgabe sehen, sich für einen radikalen und grundsätzlichen Wandel einzusetzen. Weil den etablierten Kräften der Wille und der Mut fehlen, die Wurzel der Probleme unserer Zeit zu benennen und anzupacken. Weil an entscheidender Stelle die politischen Akteur:innen mit transformativen Ideen fehlen; Ideen, die einen echten Beitrag für eine lebenswerte Zukunft leisten könnten. Und es mangelt an Persönlichkeiten, die als Gesicht für die Forderung nach fundamentalem Wandel dienen können und wollen. Es fehlen, kurz gesagt, die Organisationen, Ideen und Köpfe, die wir für echte Veränderung brauchen.

Nun kann man einwenden: »Aber es gibt doch Bewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion. Die wollen doch genau das.« Ja klar, die gibt es. Und sie setzen wertvolle Impulse. Mit ihren Protesten treiben sie die Debatte an und zwingen die politisch Mächtigen, sich zu positionieren. Aber genau das ist auch das Problem. Gerade weil Bewegungen sich als Gegengewicht zur Macht verstehen, fällt es ihnen so schwer, selbst nach der Macht zu greifen. Sie sind also auf den guten Willen, die Einsicht oder das Nachgeben derjenigen angewiesen, gegen die sie auf die Straße gehen. Ohne solide Verankerung und Machtbasis in politischen Institutionen fehlt ihnen die politische Firepower, um selber etwas zu verändern. Ohne klare Führungsstrukturen und ohne Agenda über ihr Fokusthema hinaus schaffen sie es nicht, eine kritische Masse zu mobilisieren, um Parteien zum Umlenken zu zwingen. Mit ihren Forderungen stoßen Bewegungen immer und immer wieder an eine gläserne Decke, die sie nicht durchbrechen können. Und selbst wenn sie einmal einen kleinen Sieg erringen, verändern sie nicht die Machtverhältnisse und grundlegenden Logiken der Politik.

Bewegungen geben also wertvolle Impulse und eröffnen Raum für neue politische Forderungen. Aber da endet in den meisten Fällen ihr Einfluss. Wir glauben deshalb, dass es zusätzlich etwas anderes braucht. Nämlich politische Parteien, die eine grundsätzliche Veränderungsagenda haben – und diese Agenda auch mittel- und langfristig im politischen Raum repräsentieren und durchsetzen. Parteien, die sich als Wegbereiterinnen einer Zukunft verstehen, die nicht nur für die jetzt lebenden Generationen innerhalb der deutschen Grenzen lebensfähig ist. Parteien, die nicht die Augen verschließen vor der von uns in den letzten Jahrzehnten geschaffenen Realität – sondern die Verantwortung akzeptieren, die mit dieser Realität einhergeht, und grundsätzlich umlenken. Und, vielleicht am wichtigsten: Parteien, die von der Bevölkerung den politischen Auftrag erhalten, grundlegende Veränderungen zu beschließen und umzusetzen.

Diesen Auftrag können Bewegungen nicht bekommen. Einfach weil sie Bewegungen sind und keine Parteien. Sie stehen nicht zur Wahl, können also nicht in Parlamente einziehen, können keine Gesetze verabschieden und keine Verordnungen erlassen. Für all das braucht es Parteien. Deshalb müssen wir, wenn wir über grundlegende Veränderungen sprechen, über politische Parteien sprechen. Ohne sie geht es in einer parlamentarischen Demokratie nicht.

Transformative Politik braucht neue Parteien

Mit ihnen zurzeit aber auch nicht. Und damit wären wir auch schon beim Thema dieses Buches. Wir glauben nämlich, dass Parteien, wie wir sie heute kennen, nicht in der Lage sind, Grundlegendes zu verändern. Warum? Weil sie befallen sind vom Inkrementalismus. Sie verstehen Politik als Kunst der Trippelschritte, als scheibchenweise Veränderung innerhalb der bestehenden Rahmenbedingungen. Den Rahmen selbst – den stellen sie hingegen nicht infrage. Das kommt auch daher, dass sie sich vor allem mit sich selbst beschäftigen, nicht mit unserer Zukunft. Sie organisieren vor allem das Gespräch Gleichdenkender statt echten gesellschaftlichen Dialog. Sie führen nicht, sie inspirieren nicht, sie begeistern nicht. Ihr Modus des Miteinanders macht echte, kreative Zusammenarbeit und das Entwickeln neuer Ideen fast unmöglich. Vor allem, weil ihre Organisationen für ein vergangenes Zeitalter gebaut sind.

Das ist unsere Erfahrung und Ausgangsthese: Das Selbst- und Politikverständnis sowie die Führungs-, Organisations-, Gesprächs- und Entscheidungsstrukturen klassischer Parteien machen es ihnen unmöglich, die Ideen, Persönlichkeiten und Entscheidungen hervorzubringen, die unsere Gesellschaft dringend braucht. Die Art und Weise, wie Parteien funktionieren, hält diejenigen, die sich dort engagieren, unter Potenzial. Das Ganze ist nicht mehr als die Summe seiner Teile, sondern weniger. Das mag hart klingen. Und es tut uns auch weh, das so zu schreiben. Schließlich haben wir in den letzten Jahren viele engagierte, tolle Parteiaktive kennengelernt, die für ihre Arbeit nichts als Zuspruch verdienen. Ihre Arbeit wollen wir nicht abwerten. Gleichzeitig sind wir davon überzeugt, dass diese Menschen nicht die Organisationen haben, die sie – und die Herausforderungen unserer Zeit – verdienen.

Trotzdem glauben wir an das Gestaltungspotenzial politischer Parteien. Ihre Kernidee ist weiterhin zeitgemäß: ein wirkmächtiger Zusammenschluss von Menschen, die eine gemeinsame Veränderungsidee verfolgen und politisch durchsetzen. Eine Organisation, die als Scharnier zwischen Zivilgesellschaft und Staat funktioniert und gesellschaftliche Bedürfnisse in politische Veränderung übersetzt. All das brauchen wir, vielleicht mehr denn je. Aber es braucht eine Interpretation dieser Idee, die zu unserer Zeit passt. Im Wissen um die großen Themen unserer Zeit müssen Parteien aus unserer Sicht dringend neue Visionen mit der und für die Gesellschaft entwickeln. Sie müssen Ideen für grundlegende Reformen ausarbeiten, auf den Weg bringen und die Strukturen, Institutionen und Prozesse unserer Gesellschaft verändern. Sie müssen erklären, Orientierung und Halt bieten, aber auch führen und mit Mut vorangehen.

Bei aller Kritik am beklagenswerten politischen Status quo: Wir haben bislang keine tragfähige Idee kennengelernt, die politische Parteien langfristig ersetzen könnte. Deshalb halten wir es für umso wichtiger, eine zeitgemäße Partei zu bauen, die das politische und organisatorische Zeug dazu hat, sich der Herausforderungen unserer Zeit grundsätzlich anzunehmen. Wie das gehen kann – das beschreibt dieses Buch. Wir skizzieren eine Partei, die es (noch) nicht gibt. Eine neue politische Kraft, die die Herausforderungen an den Wurzeln packt und sich beherzt den gigantischen ökologischen und gesellschaftlichen Problemen stellt. Eine Partei, die im Inneren das vorlebt, was sie im Außen befördern möchte. Mit hartnäckigem Fokus auf gesellschaftliche Wirksamkeit und grundsätzliche Veränderungen. Mit Mut, permanent Neues zu lernen, offen zuzuhören und gleichzeitig im Kern eindeutig verortet zu sein. Mit Kultur und Struktur, die Zusammenarbeit befördern statt Wettbewerb. Virtuell und analog. Aktiv und hochgradig dezentral. Eine Partei, die tief idealistisch ist und gleichzeitig die Realität akzeptiert, die sie verändern möchte.

Die folgenden Kapitel sollen vor allem an eins erinnern: Wir sind keine Geiseln des Status quo. Wir sind nicht bereit, die Idee von Politik zu verwerfen, nur weil Politik aktuell so massiv unter Potenzial fährt. Wir sind nicht bereit, Parteien auf den Müllhaufen der Geschichte zu verweisen, nur weil die klassische Parteienlandschaft versäumt hat, mit der Zeit zu gehen. Dieses Buch soll also Mut machen. Eine andere Politik ist möglich, und eine andere Gesellschaft ist es auch. Aber dazu müssen wir bereit sein, daran zu glauben, dass der Status quo nicht in Stein gemeißelt ist, sondern grundlegend veränderbar.

Dass wir Parteien als Ausgangspunkt genommen haben, hat einen einfachen Grund. Wir halten Parteien für einen ungeheuer machtvollen, wirksamen Hebel, wenn es darum geht, die Wirklichkeit zu verändern. Sie haben nicht nur die Möglichkeit, Mehrheiten zu gewinnen und ihre Vorstellung von Gesellschaft in konkrete Veränderungsschritte zu übersetzen. Parteien haben auch, ganz unabhängig von einer Regierungsbeteiligung, das Potenzial, der Gesellschaft ihre möglichen Zukünfte aufzuzeigen. Sie können begeistern, inspirieren, ermutigen; das gesellschaftliche Bewusstsein verändern und damit auch die Art und Weise, wie die Gesellschaft auf sich, die Gegenwart und ihre mögliche Zukunft schaut. All das braucht es, und zwar dringend, wenn wir als Gesellschaft umsteuern wollen.

Von alldem sind wir aktuell ziemlich weit entfernt. Und es ist auch klar, dass Parteien auch im besten Fall nicht die Lösung aller Probleme sind. Sie sind nur einer von vielen Faktoren, die es braucht, um diese Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Aber: Wenn wir auf Parteien ganz verzichten und weiterhin darauf setzen, dass positiver gesellschaftlicher Wandel irgendwie anders entstehen wird – dann werden nur diejenigen gewinnen, die den Status quo erhalten wollen, oder aber diejenigen, die die Demokratie systematisch destabilisieren.

Dieses Plädoyer für die Idee der politischen Partei bedeutet auch: Wir glauben an die Macht des Politischen. Wir halten es für eine der Krankheiten unserer Zeit, dass immer mehr Bürger:innen Politik pauschal das Potenzial absprechen, die Welt zum grundlegend Besseren zu verändern. Dass sie das, was Politik heute ist, mit dem Politischen selbst verwechseln. Bei vielen entsteht dadurch Apathie – eine Haltung, die den »Weiter so«-Autopiloten der klassischen Parteien überhaupt erst möglich macht. Bei anderen entstehen Frust und Aggression. Das endet dann mit der Wahl illiberaler Rechtsnationalist:innen, die die demokratische Abwärtsspirale immer weiter beschleunigen. Beides ist fatal. Wir müssen an Politik glauben – und aus diesem Glauben heraus massiven Veränderungsdruck aufbauen, damit sich etwas zum Besseren bewegen kann.

Wer wir sind

Aber … Verzeihung! Jetzt sind wir schon voll im Thema, ohne uns vorgestellt zu haben. Dabei willst du vermutlich erst einmal wissen, wer wir sind. Und warum wir etwas zu diesem Thema zu sagen haben.

Seit unserem allerersten Kennenlernen – 2018 war das – tauschen wir uns über politische Parteien aus, und das seitdem bei jeder unserer Begegnungen. Das ist zugegebenermaßen etwas nerdy. Schließlich interessiert sich der Löwenanteil unserer Mitbürger:innen entweder gar nicht für Parteien – oder nur insofern, als dass Parteien als nützlicher Sündenbock herhalten müssen für den Zustand unseres Landes. Nur den schlechten Zustand, versteht sich. Für gute Zustände braucht man ja keine Sündenböcke. In Zahlen ausgedrückt: 1,8 Prozent der Deutschen waren 2017 Mitglied einer Partei. Etwas über eine Million Menschen. Nicht wenig, aber eben auch nicht so richtig viel, wenn wir an die sonstigen rund 82 Millionen Einwohner:innen dieses Landes denken.

Im Unterschied zu diesen eine Million Parteimitgliedern interessieren wir beide uns nicht in erster Linie für eine Ideologie, ein Politikfeld oder Spitzenpersönlichkeiten, wenn wir über Parteien sprechen. Uns interessiert das an politischen Parteien, was sie heute nicht oder ungenügend leisten. Ihr Potenzial, dieses Land grundlegend und in eine richtige Richtung zu entwickeln. Ihr Potenzial, dieser Gesellschaft den Glauben an die positive Gestaltbarkeit unserer Welt wiederzugeben. Ihre Fähigkeit, die Perspektive derjenigen einzunehmen, für die sie Politik machen wollen – und mit ebendiesen Menschen Ideen zu entwickeln, um Welt und Lebenswelt zu verbessern.

Wir interessieren uns also gar nicht so sehr für politische Parteien, wie sie heute sind. Sondern für das, was sie sein könnten. Parteien radikal neu zu denken, halten wir für den wichtigsten Hebel, um dieses ungehobene Potenzial freizulegen. Das ist das, was uns interessiert. Und obwohl unsere Geschichten und die Erfahrungen, die wir in den letzten Jahren gemacht haben, sehr unterschiedlich sind, haben sie uns beide zu diesem Buch geführt.

Clemens hat vor einigen Jahren eine neue Partei mitgegründet. Demokratie in Bewegung (DiB) war das. Eine Zeitung hat diese Partei mal »die ehrgeizigste Partei seit den Piraten genannt«. Gestorben ist sie dann trotzdem, wie die Piraten auch. Aber Clemens hat in den vielen Stunden, die er für DiB gearbeitet hat, eine Menge über politische Parteien gelernt. Einige dieser Erkenntnisse teilt er in diesem Buch, hier und da verbunden mit Geschichten aus den Jahren der Neugründung. Aber Clemens’ Geschichte beginnt noch vor der Erfahrung bei DiB. Sie beginnt mit Begegnungen mit Menschen, die auf der Suche nach Sicherheit und Zukunft ihre Heimat verlassen mussten.

In Erstaufnahmeeinrichtungen in Berlin, aber auch auf Reisen treffe ich, Clemens, Menschen, deren Hab und Gut meist in einen Rucksack passt. Ich erinnere mich an einen alten Mann in meinem Sprachkurs, der Syrien verlassen musste und von dem jetzt erwartet wird, dass er Deutsch lernt und sich eingliedert, obwohl klar ist, dass er an nichts außer an den Krieg in seinem Land und die Dagebliebenen denken kann. Oder an einen Jungen aus Mali, den ich am Rande der Westsahara kennenlernte, verloren, ausgeraubt, ohne Geld und ohne Papiere. Solche Geschichten bewegen mich tief. Dazu die Berichte über die Zehntausende Menschen, die beim Versuch, nach Europa zu gelangen, ertrinken, verdursten, vergewaltigt und ausgeraubt werden und deren Menschenrechte von den europäischen Staaten mit Füßen getreten werden. Ich fühle mich wütend und hilflos. Und ich beschließe, aktiv zu werden. Ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingshilfe reicht mir nicht mehr. Ich will die Ursachen ändern.

Nach kurzem Abwägen – Zivilgesellschaft oder Parteien – entscheide ich mich für Parteien. Sie scheinen mir der Schlüssel zur Veränderung. All die Macht und all das Geld, das Regierungen und Parlamente mobilisieren können … Wie viel Gutes wir tun könnten. Wie viele Menschenleben wir retten, wie viel Leid wir ersparen könnten, wenn Politik, ergo Parteien, nur etwas mutiger wären. Mir gefallen die Grundwerte der SPD – Freiheit, Gleichheit, Solidarität –, und ich beginne, für einen Bundestagsabgeordneten der Sozialdemokraten zu arbeiten. Vielleicht, so denke ich, kann ich hier einen kleinen Teil dazu beitragen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Bald merke ich, dass das ein Irrglaube war. Viele der über siebenhundert Bundestagsabgeordneten, so scheint es mir, geben ihr Gewissen und ihre Haltung an der Garderobe ab. Aber auch die, die wirklich etwas verändern möchten, sind in den Logiken und Zwängen ihrer jeweiligen Partei gefangen. Ich begreife langsam, dass es diese internen Logiken und Zwänge sind, die verhindern, dass Parteien ihre Gestaltungsmacht wirklich nutzen. Und so bin ich begeistert, als ich Demokratie in Bewegung mitgründen kann – eine neue Partei, die ein »Neuanfang für Demokratie und Gerechtigkeit« sein will und die versucht, Parteien auch strukturell und kulturell neu zu denken.

Wir versuchen viel – Teilnahme an der Bundestagswahl 2017, neue Entscheidungswege und Organisationsformen, Bündnisse, Teilnahme an der Europawahl 2019 – und scheitern grandios. Zu viele Fehler in Konzeption und Ausführung. Demokratie in Bewegung bleibt klein und unbedeutend, und ich und die anderen Gründungsmitglieder verlassen die Partei. Für ein Jahr arbeite ich in der Zivilgesellschaft, habe genug von Parteien. Und doch lassen sie mich nicht los. So viel Gestaltungsmacht, so viele Möglichkeiten, Gutes zu tun – in der Theorie. Und so viel Mutlosigkeit, Betriebsblindheit und Egal-Mentalität in der Praxis. Es ist diese Diskrepanz, die mich nicht loslässt. Und die mich zu diesem Buch geführt hat.

Hanno beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit der Zukunft der Demokratie und der Rolle von politischen Parteien. Als Fellow der Berliner Denkfabrik Das Progressive Zentrum, als Autor und Berater sucht er nach Antworten auf die Frage, wie Menschen, Organisationen und Gesellschaften grundlegende Veränderung – Transformation – gelingt:

Fünf Jahre arbeite ich nach meinem Studium im politischen Betrieb: bei der SPD-Fraktion im Bundestag, bei mehreren Bundestagsabgeordneten und für den Parteivorstand der SPD. In diesen Jahren lerne ich, wie wenig die brave Lehre von der Politik mit der politischen Praxis zu tun hat. Wie sehr der politische Betrieb sich um sich selbst dreht, beinahe rund um die Uhr, und wie wenig Grundlegendes er gleichzeitig bewegt. Die großen Themen unserer Zeit – Ungleichheit, Öko- und Klimakrise, die Zukunft der Demokratie – werden im politischen Alltag weggedrückt vom tagesaktuellen, soundbitetauglichen Klein-Klein. Taktik geht immer vor Strategie, der schnelle Punktgewinn verdrängt das Bohren dicker Bretter.

Je länger ich dabei bin, desto mehr stelle ich mir die Sinnfrage. Und denke mehr und mehr darüber nach, wie Politik aussehen müsste, damit Wandel in größerem Ausmaß gelingen kann. Ich verlasse den Bundestag und werde kurz darauf Policy Fellow im Progressiven Zentrum, einer Berliner Denkfabrik. Dort leite ich ein Projekt, das sich um die Frage dreht, wie Parteien sich zeitgemäß organisieren können, um schlussendlich bessere Politik zu machen. Ich gehe davon aus, dass die klassischen Parteien ein Interesse daran haben, sich im Sinne des gesellschaftlichen Bedarfs zu organisieren. In den Monaten und Jahren nach diesem Projekt merke ich, dass ich mich geirrt habe. Zwar stimmen mir fast alle Gesprächspartner:innen – auch Parteivorsitzende, Geschäftsführer:innen auf Bundes- und Landesebene, Engagierte im ganzen Land – zu, dass es so wie bislang nicht weitergehen kann. Aber an kaum einer Stelle gibt es die Bereitschaft, wirklich mutig voranzugehen und in größerem Rahmen etwas zu verändern.

Parallel erlebe ich in meiner Arbeit als Organisationsentwickler, wie viel offener und experimentierfreudiger Unternehmen in der Wirtschaft sind. Meine Kunden haben im Kleinen mit denselben Herausforderungen zu kämpfen wie die Gesellschaft im Großen: Die bisherigen Strukturen funktionieren nicht mehr, Komplexität und Veränderungstempo werden zu groß, und so weiter. Anders als Organisationen in der Politik halten sie aber nicht krampfhaft am Bestehenden fest, sondern setzen grundlegend andere Organisations- und Führungsmodelle um. Über die Jahre helfe ich immer mehr Organisationen dabei, die Kräfte von Selbstorganisation, Zusammenarbeit und Eigenverantwortung zu stärken – und folglich mit hierarchischen Flaschenhalsstrukturen, Sinnlosigkeit und Konkurrenzdenken zu brechen. Und sehe, wie viel Positives dadurch möglich wird, menschlich, organisatorisch, mittelbar auch gesellschaftlich.

All das prägt mich. Mein Blick auf Politik und Parteien verändert sich. Ich sehe immer klarer, dass die Zeit für grundsätzlich andere Politik und politische Strukturen überreif ist. Wir müssen die wirtschaftlichen und politischen Grundregeln neu verhandeln, um den großen Herausforderungen unserer Zeit begegnen zu können: Öko- und Klimakrise, die krasse Ungleichheit, die Krise der Demokratie. Innovation im bestehenden Rahmen reicht nicht. Für uns als Gesellschaft nicht, und eben auch nicht für Parteien. Wir müssen den Rahmen neu bauen. Und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt.

Damit die Politik das kann, braucht sie ein radikal anderes organisatorisches Fundament als das, was bislang da ist. Andere Strukturen, Haltungen, Arbeitsweisen. Deshalb entschließe ich mich Anfang 2020, mit Clemens dieses Buch zu schreiben. Weil ich nicht bereit bin, mich mit dem abzufinden, was heute ist. Und weil ich weiß, dass es besser geht.

Wir beide haben also unterschiedliche Geschichten mit politischen Parteien. Clemens ist eher Aktivist und Parteineugründer, Hanno kommt eher aus der klassischen Politikwelt. So unterschiedlich unsere Biografien sind – uns eint die Überzeugung, dass wir schnellere und grundlegendere politische Reformen brauchen, um als Gesellschaft zukunftsfähig zu sein. Deshalb haben wir uns hingesetzt und dieses Buch geschrieben. Um andere zu ermutigen, sich nicht vom politischen Betrieb abzuwenden. Und um zu sagen: Schau her, so könnte es auch gehen. Parteien müssen keine männerdominierten Ego-Shows sein. Im Gegenteil, sie können die entschlossenen Treiber der grundlegenden Veränderung sein, die wir so dringend brauchen.

Wir verbinden eine große Hoffnung mit diesem Buch. Wir hoffen, dass Menschen nach dem Lesen sagen: Ja, wir müssen Politik und Parteien anders denken. Und ja, wir sind bereit, neuen Parteien eine Chance zu geben – oder sie sogar mitzugründen. Nicht in einem Zustand naiver Euphorie. Sondern in dem Wissen, dass wir als Gesellschaft existenziell darauf angewiesen sind, in den kommenden Jahren grundsätzlicher und grundsätzlich anders zu denken und zu handeln als in den vergangenen Jahrzehnten.