Die 16-jährige Lori verkleidet sich für ein historisches Festival wie ein Mädchen aus der Zeit von Napoleon. Während eines Gewitters verliert sie die Besinnung. Als sie wieder zu sich kommt, begegnet sie dem jungen Engländer Thomas, der ebenfalls historisch kostümiert ist. Wegen seiner altmodischen Ausdruckweise hält Lori ihn für ziemlich verwirrt. Schnell stellt sich jedoch heraus, dass Thomas wirklich aus dem Jahr 1813 stammt. Lori will ihm bei der Rückkehr in seine Zeit helfen, aber dann ist da auf einmal dieses Knistern zwischen ihnen beiden …
Eva Völler hat als Richterin und Rechtssanwältin gearbeitet, bevor sie die Juristerei an den Nagel hängte und sich ganz fürs Schreiben entschied. Bis heute schreibt sie belletristische Romane und Jugendbücher. Die Bestseller-Reihen »Zeitenzauber« und »Time School« haben bis heute zahlreiche Fans.
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Anna Hahn, Trier
Umschlaggestaltung: Sandra Taufer,München unter Verwendung von Motiven von © Rudchenko Liliia / shutterstock; motion_dmitriy / shutterstock; Bokeh Blur Background / shutterstock; Allgusak / shutterstock; Anastasiia Veretennikova / shutterstock; Karma3 / shutterstock; lisima / shutterstock; Abstractor / shutterstock; © Lee Avison / Trevillion Images
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-0432-8
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Für Heiner
Bläuliche Blitze zuckten über meine Unterarme und sammelten sich rund um meine Fingerspitzen wie Elmsfeuer, doch die Hitze verbrannte meine Haut nicht. Weitere Blitze durchstießen die Dunkelheit und schlugen dicht um mich herum ein, begleitet von ohrenbetäubendem Donner. Die fremdartige Magie durchströmte mich mit solcher Intensität, dass ich laut aufschrie und die Hände unwillkürlich zum Himmel ausstreckte.
Brausender Wind erhob sich und wehte mir das Haar um den Kopf. Der nächste Blitz traf mich voll. Umgeben von sprühenden, zischenden Funken und blendenden Lichtzungen stand ich da, beide Arme weit hinaufgereckt und das Gesicht zum Himmel gewandt. Ich konnte nichts denken in diesem Augenblick, denn eine alles umschließende Macht erfüllte mich ganz und gar mit magischem, wildem Feuer. Die Luft, die ich einatmete, loderte in meinen Lungen, aber es tat nicht weh. Im Gegenteil, es war wie ein verrücktes Aufputschmittel, das mich mit einer nie gekannten Energie durchflutete. Meine Haare wirbelten im Wind, mein Körper erzitterte unter der archaischen Urgewalt der Blitze, doch mir geschah kein Leid dabei. Unbezähmbare Emotionen durchströmten mich, ein Gemisch aus Furcht, Verzückung und dem berauschenden Gefühl von Unbesiegbarkeit. Diese Kraft war mein, sie gehörte mir! Ich konnte sie beherrschen!
Genauso spürte ich die Gegenwart der mächtigen Ulme mit dem gespaltenen Stamm. Das verwitterte Holz des Baums bildete das Gegenstück zum unvergänglichen Stein des Felsens. Der Baum hatte über die Jahrhunderte hinweg seine Wurzeln bis zum Felsen ausgestreckt, bis beide durch Raum und Zeit miteinander verbunden waren.
Es war ein uralter, sagenumwobener Baum, der nur dann sichtbar wurde, wenn die Macht des Himmelsfeuers groß genug war, um den Schleier der Normalität zu zerreißen. Manchmal, in Gewitternächten, zeigte er sich den Menschen. Und ganz selten, wenn magische Kräfte zwischen Baum und Felsen einen Bogen aus dem Himmelsfeuer bildeten, lösten sich dort die Grenzen der Zeit auf.
Ich hatte keine Ahnung, woher mein plötzliches Wissen über den Baum und den Felsen stammte. Es war auf einmal da, genau wie die nicht enden wollenden Blitze, die mich einhüllten wie ein Umhang aus tanzendem weißem Feuer.
Der Wind wurde zum Sturm. Das Heulen der Böen wurde nur noch vom Krachen des Donners übertönt.
Der Moment war gekommen.
*
Einen Tag zuvor
»Na, vielen Dank auch«, sagte ich zu meiner Freundin Kathy, die mir am Telefon ausgiebig von der Party vorschwärmte, auf die sie ohne mich gegangen war. »Jetzt habe ich direkt noch viel mehr Lust auf das öde Wochenende hier.«
»Frag mich mal«, sagte meine Schwester Mia, mit der ich mir in der Pension ein Zimmer teilte. »Da müssen wir jetzt beide durch.« Sie stand vor dem Spiegel und drehte sich hin und her. Genau wie ich trug sie ein historisches Gewand im Empirestil aus hellem Musselin und dazu einen mit Rüschen verzierten Schutenhut, der unterm Kinn mit einer Seidenschleife zugebunden war. »Wir sollten langsam mal runtergehen. Mama hat eben schon wieder geschrieben, wo wir bleiben.«
»War das gerade deine Schwester?«, fragte Kathy. Sie wartete meine Antwort nicht ab. »Echt schade, dass du nicht mit auf der Party warst«, fuhr sie fort. »Die Jungs waren total süß. Der eine hätte super zu dir gepasst. Hast du den Snap gesehen, den ich dir geschickt habe?«
»Du hast mindestens zwanzig geschickt.«
»Ich meine das Bild, wo wir alle mit Strohhalmen aus dem Eimer trinken. Zusammen mit dem Typ, der sich die Strohhalme in die Nasenlöcher gesteckt hat. Der ohne T-Shirt.«
Jungs, die mit Strohhalmen Alkohol durch die Nase tranken (ging das überhaupt?), waren eigentlich nicht so mein Fall. Trotzdem wäre ich gern mit auf die Party gegangen. Dann hätte ich vielleicht letzte Nacht nicht diesen schlimmen Albtraum gehabt, der mir immer noch nachhing.
Nachdem Kathy und ich das Gespräch beendet hatten, rief ich auf meinem Handy wieder das Video auf, das ich vorhin im Internet rausgesucht hatte. Eine Szene aus einem älteren Film namens Der Highlander, den ich vor ein paar Jahren mal gesehen hatte. Darin ging es um einen mit übernatürlichen Kräften begabten Schotten, der herabschießende Blitze irgendwie mit seinen Händen absorbieren konnte. Fast so wie ich in meinem Albtraum.
»Ziehst du dir da gerade ein Video rein?« Mia schaute mir über die Schulter. »Echt jetzt? Halloo-ho! Mama und Papa warten auf uns!«
»Ich komm ja schon.« Ich drückte das Video weg. Es war bloß ein Film und hatte nichts mit meinem Traum zu tun.
In diesem Moment ging die Tür auf, und meine Mutter kam herein, ebenfalls in historischer Aufmachung – schulterfreie weiße Bluse, wallender dunkelblauer Kattunrock, eine mit Bändern verzierte Haube. Ihr langes helles Lockenhaar war zu zwei dicken Zöpfen geflochten.
»Wo bleibt ihr denn? Gleich geht das Böllerschießen los!« Ihre Wangen waren gerötet, und in ihren Augen leuchtete die Vorfreude. Sie zupfte an Mias Gewand herum, dann warf sie einen anerkennenden Blick auf mein Kleid. »Papa ist schon unten. Kommt ihr auch mit raus?«
»Das ist ja wohl der Sinn der ganzen Sache«, meinte Mia. Es klang nicht sehr begeistert.
»Oh, an deinem Kleid ist der Saum aufgegangen«, sagte meine Mutter zu ihr. »Das richte ich schnell. Dauert nur eine Minute!« An mich gewandt, fügte sie hinzu: »Gehst du schon vor und sagst Papa Bescheid, dass wir gleich nachkommen?«
»Ja, mach ich.« Es war mir sehr recht, den Raum so schnell verlassen zu können. Das Zimmer in der Pension erschien mir auf einmal zu eng. Ich hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Ständig musste ich an den blöden Traum denken. Die Blitze, die heißen Flammen an meinen Händen … Die Bilder schoben sich immer wieder vor mein geistiges Auge. Es ging mir einfach nicht aus dem Kopf.
Im Erdgeschoss lief ich zu allem Überfluss Herrn Binsenbrech über den Weg. Er hatte Geheimratsecken bis zum Hinterkopf und war ungefähr so alt wie meine Eltern, schien sich aber Jahrzehnte jünger zu fühlen. Diese Selbsteinschätzung teilte er seiner Umwelt mit, indem er modisch zerrissene Jeans trug und in Jugendslang redete – oder was er dafür hielt.
Er ordnete irgendwelche Papiere an der Rezeption und hörte sofort damit auf, als er mich sah. »Krassikowski, in diesem Kleid bist du aber echt ein Hottie, Lori! Du hast bestimmt irre viele Follower, mit deinem Gesicht und diesen großen blauen Augen!«
»Sie sind grün«, sagte ich im Vorbeigehen.
»Hast du schon über meinen Vorschlag nachgedacht?«, rief er. »Ich meine, die Sache mit dem Ferienjob? Du hättest dabei auch jede Menge Zeit zum Chillen!«
Ich lief weiter und tat so, als hätte ich seine Frage nicht mehr gehört. Draußen herrschte bereits der reinste Volksauflauf. In der näheren Umgebung hatten sich Mitwirkende und Besucher des Historienspektakels versammelt und warteten auf die offizielle Eröffnung. Inmitten all dieser altertümlich kostümierten Menschen kam man sich vor wie in eine vergangene Zeit versetzt – an den Buden konnte man Handwerkern bei der Arbeit über die Schulter schauen und alle möglichen Dinge kaufen, die es auch auf einem rheinischen Markt im Jahr 1813 gegeben hätte. An einem Stand saß eine Frau an einem Spinnrad, an einem anderen wurden Körbe aus Weidenruten geflochten, an einem dritten Seile gedreht. Es gab Imbissbuden, fliegende Händler und Musikanten, alles wie vor über zweihundert Jahren. Aus unerfindlichen Gründen verursachte der Anblick mir tiefes Unbehagen. Schlimmer noch – auf einmal wirkte die ganze Umgebung bedrohlich auf mich. Eine Stimme in mir schien zu flüstern: Du solltest nicht hier sein!
Dabei sah alles völlig harmlos aus. Das Wetter an diesem Pfingstwochenende hätte gar nicht besser sein können. Der Himmel war strahlend blau. Keine Wolke trübte die Festtagsstimmung. Alle waren super drauf. Nur ich nicht. Am liebsten wäre ich weggelaufen – und zwar so weit wie möglich.
Ich schob mich durch die Menschenmenge und lief an der nächsten Ecke beinahe meinem Vater in die Arme. Seine große, kräftige Gestalt war auch im Gedränge nicht zu übersehen. Passend zu der Veranstaltung war er als preußischer Offizier verkleidet.
»Lori!« Lächelnd legte er mir den Arm um die Schultern. »Du siehst toll aus in diesem Kleid!«
Ich nickte bloß schweigend.
»Die Eröffnung fängt gleich an. Wo sind deine Mutter und deine Schwester?«
»So gut wie auf dem Weg. An Mias Kleid war der Saum lose, aber dafür braucht Mama nicht lange.«
Mein Vater ließ mich los und musterte mich forschend. »Alles okay?«
»Alles bestens.«
Doch das Gefühl, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte, wurde von Sekunde zu Sekunde stärker.
»Ich lauf hier noch ein bisschen rum«, sagte ich. »Der Stand mit den bunten Umhängen da vorn sieht interessant aus.«
»Geh nicht mehr so weit weg«, sagte mein Vater. »Das Böllerschießen fängt gleich an.«
»Ich weiß«, rief ich über die Schulter zurück. Doch ohne auf seine Bitte zu hören, ging ich mit großen Schritten an einigen Ständen vorbei und ließ nach und nach das Menschengetümmel hinter mir. Mein Weg führte mich aus dem Ort hinaus in das angrenzende Gelände – teils mit Weinreben bewachsene, teils bewaldete Hänge. Ich hatte nichts dabei außer meinem Smartphone, das in dem kleinen Samtbeutel verstaut war, den ich am Handgelenk trug (ein historisches Accessoire namens Pompadour). So hatte ich beide Hände frei, um beim Gehen den Saum meines Kleides ein Stück hochzuheben.
Ich wusste selbst nicht, wieso ich diese Richtung wählte, geschweige denn, wieso ich ausgerechnet jetzt diesen Spaziergang machte – ich lief einfach immer weiter bergauf, bis ich von lauter Bäumen umgeben war. Während ich den dicht bewaldeten Hügel hochstieg, hörte ich von ferne die Böllerschüsse, mit denen die Historientage gerade offiziell eröffnet wurden, im festlichen Gedenken an die Rheinüberquerung Blüchers, eines berühmten Feldherrn, der entscheidend zu Napoleons späterer Niederlage bei Waterloo beigetragen hatte. In der Neujahrsnacht 1813/14 hatte dieser Blücher, tatkräftig unterstützt durch die Bewohner des Örtchens, mit seinen Truppen den Rhein überquert und war in Frankreich einmarschiert.
Irgendein wichtiger Politiker würde gleich als Schirmherr der Veranstaltung eine Rede halten, danach würde es Theater- und Tanzvorführungen geben, alles natürlich mit Teilnehmern in historischen Gewändern, und nebenher konnte man wie schon vor über zweihundert Jahren Deftiges aus der Feldküche essen und dazu Feuerwein trinken, eine uralte Spezialität aus dieser Gegend.
Eigentlich hätte ich dabei sein müssen, um mir alles gemeinsam mit meinen Eltern und meiner Schwester anzusehen. Schon meiner Mutter zuliebe.
»Es würde mir viel bedeuten, Lori! Du weißt doch, wie wichtig das für Papa und mich ist!«
Unzählige Male hatte sie mir schon erzählt, dass sie und mein Vater sich damals hier in der Gegend kennengelernt und auf Anhieb unsterblich ineinander verliebt hatten. Genau genommen hatten sie mich sogar gleich in ihrer ersten gemeinsamen Nacht an Ort und Stelle gezeugt. Natürlich nicht absichtlich, aber nachdem es nun einmal passiert war, hatten sie sich wie verrückt auf mich gefreut und mich nach der Loreley benannt, dem sagenumwobenen Felsen hoch oben über dem Rhein, der sich ganz in der Nähe befand.
Ein Teil von mir war jedes Mal gerührt, wenn meine Mutter darüber sprach – ich konnte nichts dagegen tun.
Kein Mensch konnte übersehen, wie sehr sich meine Eltern liebten. Obwohl sie schon so viele Jahre ein Paar waren, hielten sie beim Spazierengehen immer noch Händchen und suchten ständig Körperkontakt. Dabei blickten sie einander auf eine Weise an, die einem als Tochter oft peinlich war, vor allem in der Öffentlichkeit. Natürlich zofften sie sich auch ab und zu, aber meist lachten sie schon eine Minute später darüber und gaben sich zur Versöhnung einen Kuss.
Während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen, verspürte ich nach diesem steilen Aufstieg auf einmal das Bedürfnis, eine Pause zu machen und mich auszuruhen. Ich machte es mir auf einem breiten, von der Sonne erwärmten Felsvorsprung bequem, von dem aus man eine gute Aussicht hatte. Mein Hut war verrutscht, ich nahm ihn kurzerhand ab und löste auch mein Haar, das Mia mir vor ein paar Stunden zu einer kunstvollen Empirefrisur geflochten und hochgesteckt hatte. Die Strähnen kringelten sich wild um mein Gesicht und fielen in Wellen über meinen Rücken, ähnlich lockig wie bei meiner Schwester, nur eine Spur dunkler. Sie hatte rötlich blondes Haar, meines war eher honigfarben. Dafür hatten wir beide die gleiche Augenfarbe – eine seltene Mischung aus Grün und Bernstein. Hexenaugen hatte Kathy sie mal genannt.
Nachdem ich es mir auf dem Felsen bequem gemacht hatte, checkte ich gewohnheitsmäßig mein Handy. Blöderweise war der Akku fast leer. Klasse. Aber zum Lesen von ein paar Nachrichten reichte es gerade noch.
Meine Mutter hatte geschrieben: Alles in Ordnung bei dir? Melde dich bitte kurz, ich mache mir Sorgen.
Mia: Voll mies, dass du abgehauen bist. Glaubst du etwa, ICH hab Spaß an diesem Schnarch-Event?
Meine Mutter: Sollen wir mit dem Essen auf dich warten oder dir ein Stück Spießbraten aufheben? Es schmeckt auch kalt sehr gut.
Ich schrieb eine kurze Nachricht an meine Mutter. Alles ok. Bin spazieren. Esst ruhig ohne mich.
Anschließend verstaute ich das Handy wieder in meinem Pompadour und sah mir ausgiebig die Gegend an. Der Ausblick von hier oben war wirklich spektakulär. Die grünen Hänge auf beiden Seiten des Rheins, eine alte Burg ein Stück unterhalb von mir, eine andere Burg auf einer kleinen Flussinsel in Ufernähe, das beschauliche Örtchen mit dem Kirchturm – das reinste Postkartenidyll.
Beim Anblick des Flusses stieg von einem Moment auf den nächsten eine eigentümliche Sehnsucht in mir auf. Es war wie ein Wunsch, die Hände nach etwas auszustrecken, das mir vertraut und doch fremd war. Das Herz strömte mir auf einmal über von diesem bittersüßen Gefühl zwischen Traurigkeit und Hoffnung.
Doch wenig später war es damit vorbei. Während ich ins Tal schaute, überlief mich aus heiterem Himmel eine Gänsehaut. Dunkle Schatten legten sich über mich. Wie aus dem Nichts waren schwarze Wolken aufgezogen und verhüllten die Sonne. In der Nähe fuhr ein Blitz nieder, und der aufbrüllende Donner traf mit solcher Wucht auf meine Ohren, dass ich entsetzt aufschrie. Einen derartig unerwartet einsetzenden Wetterumschwung hatte ich noch nie erlebt.
Schlagartig explodierte die Angst in mir. Jene namenlose, grauenvolle Angst, mit der ich in der vergangenen Nacht aus dem Albtraum hochgeschreckt war. Ich schrie vor Panik laut auf, umschlang mit beiden Armen meine Knie und kauerte mich zusammen. Weitere Blitze zuckten vom Himmel herab und schlugen dicht neben mir ein, gefolgt von Donnerschlägen, die so gewaltig waren, dass die Erde um mich herum erzitterte.
Doch bei alledem fiel kein einziger Regentropfen vom Himmel.
Meine Hände wurden urplötzlich von einem Gefühl brennender Hitze erfasst. Entsetzt starrte ich sie an. Es war genau wie in meinem Traum! Ein blauweißes Flimmern zuckte um meine Fingerspitzen, begleitet von einem elektrisch klingenden Knistern und Summen.
Schluchzend ballte ich die Hände zu Fäusten. Was war das? Was passierte da mit mir? Es sollte endlich aufhören!
Im Wald war es merklich dunkler geworden, es herrschte eine urzeitlich wirkende Dämmerung. Der Wind hatte sich zum Sturm erhoben und brauste heulend durch das Geäst über mir. Ich sprang auf, um wegzurennen. Aber ich konnte den Blitzen nicht entkommen. Der nächste erwischte mich voll. Gleißend helles Licht hüllte mich von Kopf bis Fuß ein und verband sich mit dem bläulichen Feuer um meine Fingerspitzen. Die Hitze brannte sich tief in mein Inneres und durchströmte mich bis in den letzten Winkel meines Seins. Im nächsten Moment wurde alles um mich herum schwarz.
*
Als ich wieder zu mir kam, war es immer noch dunkel. Erst mit einiger Zeitverzögerung erkannte ich, dass es jetzt richtig dunkel war – über den Baumwipfeln spannte sich ein sternenübersäter Nachthimmel. Nachdem ich meine Gedanken sortiert hatte, begriff ich, was passiert sein musste: Ich war in der warmen Sonne eingenickt und hatte stundenlang geschlafen. Und dabei schon wieder diesen seltsamen, unglaublich realistischen Albtraum gehabt. Der jetzt zum Glück vorbei war. Erleichtert atmete ich durch und tastete meine Hände ab. Nichts versengt oder verbrannt. Alles völlig normal.
Abgesehen davon, dass ich anscheinend den Rest des Tages komplett verpennt hatte. Ich wusste nicht, wie spät es war, aber die Sonne musste schon vor einer Weile untergegangen sein. Ein zunehmender Mond verbreitete blasses Licht, doch allzu viel konnte ich von meiner Umgebung nicht erkennen.
Ich holte mein Handy aus dem Samtbeutel und stöhnte vor Frust laut auf. Es war ausgegangen. Na toll. Ich saß allein mitten im Wald, es war stockdunkel, und mein Akku war leer.
Meine Eltern machten sich bestimmt schon Sorgen. Ob sie bereits nach mir suchten? Hastig rappelte ich mich auf und ging zurück zum Waldweg. Dummerweise war er in dieser Finsternis kaum zu erkennen. Meine Versuche weiterzugehen endeten alle paar Meter vor einem Baum. Zweimal kam ich vom Weg ab und wäre um ein Haar einen Abhang hinuntergestürzt. Irgendwann blieb ich entnervt stehen. Denk nach, Lori! Es musste doch irgendeine bessere und schnellere Möglichkeit geben, aus diesem blöden Wald hinauszufinden!
Aber welche? Mir wollte keine einfallen. Nur eins war klar, ich musste ins Tal, denn von dort war ich schließlich gekommen. Und sobald ich das erste bewohnte Haus erreichte, konnte ich kurz mein Handy aufladen und meine Eltern anrufen. Während ich noch dastand und nachdachte, wurde es auf einmal etwas heller. An der Wegbiegung tauchte eine hochgewachsene Gestalt auf, die sich beim Näherkommen als junger Mann mit einem altmodischen Windlicht entpuppte. Er war schätzungsweise zwei oder drei Jahre älter als ich und hatte sich ebenfalls für die Historienspiele verkleidet – als englischer Soldat. Gleichzeitig erschrocken und erleichtert über sein plötzliches Auftauchen im Wald eilte ich ihm entgegen.
»Gott sei Dank!« Atemlos blieb ich vor ihm stehen. Verlegen strich ich mein Empirekleid glatt und schob mir ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren. »Ich dachte schon, ich müsste hier im Dunkeln übernachten!«
Er starrte mich mit offenem Mund an wie einen Geist. »Wer bist du?«, fragte er. Er sprach mit hörbarem englischem Akzent. Offenbar ein echter Wellington-Fan. Im Ort hatte ich schon ein paar von ihnen gesehen. Zu den diversen Reenactment-Veranstaltungen, die regelmäßig in ganz Europa verstreut stattfanden, kamen Teilnehmer aus aller Herren Länder und traten für die Bataillone früherer Feldherren zu Schaukämpfen an. Franzosen, Schweden, Deutsche, Engländer – alle hatten ihren Spaß dabei. Manche tourten sogar pausenlos von einem Event zum nächsten.
»Ich heiße Lori«, sagte ich. »Ich glaube, ich habe mich verlaufen.«
Er ließ mich nicht aus den Augen. »Woher stammst du?«
»Eigentlich aus Frankfurt. Ich bin mit meinen Eltern und meiner Schwester zu Besuch hier.« Ich betrachtete meinen Retter genauer, und was ich im flackernden Schein des Windlichts erkennen konnte, war nicht übel. Er war groß, bestimmt eins fünfundachtzig, und seine Gestalt wirkte in dem roten Waffenrock drahtig und muskulös. Betont heiter setzte ich hinzu: »Mein Vater ist übrigens momentan auch in Uniform unterwegs. Allerdings tritt er für die Preußen an.«
»Wie kommt es, dass er dich mitten in der Nacht allein in den Wald gehen lässt?«
»Na ja, er war nicht wirklich damit einverstanden. Ich bin einfach losgezogen, weil ich keine Lust auf die Veranstaltung hatte. Irgendwann habe ich mich hingesetzt und ausgeruht. Dabei bin ich eingeschlafen und erst vorhin wieder aufgewacht.«
Sein Blick war seltsam eindringlich. »Hast du keine Angst vor den Franzosen? Hier im Wald streifen feindliche Soldaten umher.«
Autsch, jetzt übertrieb er es aber. Er schien zu diesen Historienfreaks zu gehören, die sogar außerhalb der offiziellen Darbietungen authentisch rüberkommen wollten. Das erklärte auch, wieso er im Dunkeln mit einem Windlicht herumlief statt mit einer Taschenlampe. Eindeutig ein Freak.
Leichtes Unbehagen machte sich in mir breit.
Ich schleimte mich trotzdem bei ihm ein, denn er schien nicht nur den Weg zu kennen, sondern besaß auch die einzige Lichtquelle weit und breit. »Jetzt ist ja zum Glück ein Engländer hier, um mich vor den Franzosen zu beschützen«, sagte ich fröhlich. »Wie heißt du eigentlich? Und könnte ich vielleicht mal kurz dein Handy benutzen?«
Er deutete eine Verbeugung an. »Thomas Wakefield. Lieutenant Thomas Wakefield.« Ich verdrehte genervt die Augen, was er in dem spärlichen Licht nicht sehen konnte. Ein wenig steif fuhr er fort: »Ich bin des Deutschen nicht vollständig mächtig und fürchte, ich weiß nicht, was ein Handy ist.«
»Sorry, in England heißt es mobile, das hatte ich ganz vergessen. Du sprichst übrigens prima Deutsch. In der Schule gelernt?«
»Nein, ich erlernte deine Sprache nicht in der Schule. Meine Großmutter stammt aus Hannover. Sie lehrte es mich.«
Aha, das erklärte wohl auch, wieso er sich so merkwürdig altertümlich ausdrückte. Und dass er sein Handy nicht eingesteckt hatte, wunderte mich auch kein bisschen. Wer mit so einer vorsintflutlichen Leuchte durch den Wald spazierte (war das eine Öllampe?), legte Wert auf Althergebrachtes. Das erkannte man auch an dem übrigen antiquierten Kram, den er dabeihatte. Als er sich halb von mir wegdrehte, um den Wegrand auszuleuchten, bemerkte ich den ledernen Tornister auf seinem Rücken. Daran festgeschnallt waren weitere Utensilien: ein meterlanges Gewehr, eine zerbeulte Feldflasche und mehrere kleinere und größere Beutel und Behältnisse, denen man auf den ersten Blick nicht ansah, was drinsteckte. Am Gürtel trug er einen Säbel und ein Jagdmesser. Über der Brust kreuzten sich zwei breite Patronengurte. Dieser Thomas Wakefield schien wirklich alles im Gepäck zu haben, was ein waschechter Soldat auf einem Feldzug brauchte. Und jedes Teil wirkte hundertprozentig echt.
»Du machst das wohl öfters.« Ein bisschen nette Konversation konnte nicht schaden. Wie gesagt, er war derjenige mit der Lampe.
»Was genau mache ich deiner Meinung nach öfters?«, erkundigte Thomas sich.
»An solchen Militärevents teilnehmen.«
Er zog befremdet die Brauen zusammen. »Militärevents? Nennt man das bei euch Deutschen so? Der Begriff ist mir nicht geläufig. Ich kenne nur das Wort Schlacht.«
»Ja, klar, das passt genauso.«
»Nun, ich habe schon in mehreren Schlachten gegen die Truppen des Franzosenkaisers gekämpft, zuletzt im Oktober bei Leipzig.«
Ich heuchelte Interesse. »War es ein großes Event?«
Thomas starrte mich an. »Es war die größte Schlacht aller Zeiten. Mehr als eine halbe Million Soldaten haben dort gekämpft, und nahezu hunderttausend von ihnen haben dabei ihr Leben gelassen.«
Mit einem Mal war ich auf der Hut. Der Typ war wirklich ein Freak.
»Verstehe«, sagte ich verbindlich. »Du meinst die große Völkerschlacht von Leipzig. Im Rahmen von Napoleons Rückzug nach dem Russlandfeldzug. Mein Vater hat mir alles Mögliche darüber erzählt. Könnten wir jetzt bitte wieder in die Stadt zurückgehen? Du willst doch in die Stadt, oder?«
Thomas ignorierte meine Frage. »Hat dein Vater auch bei Leipzig gekämpft?«, wollte er wissen. »Welchen Rang bekleidet er in der preußischen Armee?«
»Major«, behauptete ich aufs Geratewohl. Nach meiner Kenntnis war das ziemlich hochstehend, auf alle Fälle mehr als ein Leutnant. Vielleicht förderte das die Hilfsbereitschaft dieses Engländers.
Er sah mich die ganze Zeit unverwandt an.
Allmählich wurde ich richtig nervös. Schlagartig gingen alle möglichen inneren Alarmsirenen bei mir an. »Gibt es ein Problem?«
»Sag du es mir, Lori, oder wie auch immer dein wirklicher Name lautet.«
Ich machte mich bereit, so schnell wie möglich abzuhauen, ganz egal, wie dunkel es war. »Lori ist nur eine Abkürzung. Ich heiße Loreley. Aber nicht nach der Hauptfigur in Gilmore Girls, sondern nach dem berühmten Rheinfelsen.«
Er machte einen Schritt auf mich zu, worauf ich sofort vor ihm zurückwich. »Vergiss es einfach«, sagte ich hastig. »Ich finde schon allein zurück.«
»Dir sollte klar sein, dass ich dich nicht einfach so gehen lassen kann. Sag mir die volle Wahrheit, Lori, dann verschone ich dein Leben. Bist du eine Spionin der Franzosen?«
Jetzt drehte er komplett durch. Ich gab jeden Versuch auf, die Konversation auf einer vernünftigen Basis fortzusetzen. »Komm nicht näher, sonst schreie ich.«
Das schien ihn nicht zu interessieren. Er tat einen weiteren Schritt in meine Richtung, und diesmal gab es nur eine richtige Entscheidung. Ich schrie aus Leibeskräften um Hilfe. Und dann rannte ich weg.
*