Foto: © Sheila Burnett
Deborah Levy, geboren 1959 in der Südafrikanischen Union, ist eine britische Theater- und Romanautorin sowie Lyrikerin. Ihre Stücke werden u.a. von der Royal Shakespeare Company aufgeführt. Ihre Romane Heim schwimmen (2011) und Heiße Milch (2016) standen auf der Man Booker Prize Shortlist. Deborah Levy lebt und arbeitet in London. Bei Hoffmann und Campe erschien von ihr bisher Was das Leben kostet (2019), der zweite Teil ihrer »living autobiography«, für die sie 2020 mit dem Prix Fémina étranger
Die Übersetzerin
Barbara Schaden hat in Wien und München Romanistik und Turkologie studiert und etliche Jahre als Verlagslektorin gearbeitet. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen gehören u.a. Nadine Gordimer, Kazuo Ishiguro, Siddhartha Mukherjee, Umberto Eco und Fleur Jaeggi.
»Das Erscheinen dieser Gesichter in der Menge:/Blütenblätter auf einem nassen, schwarzen Ast.«
Vor dieser weiblichen Landschaft bin ich
Wie ein lodernder Zweig.
Paul Éluard, Entzückung
Im Januar 2018, mitten im Winter, kaufte ich am Blumenstand vor dem Bahnhof Shoreditch High Street ein Bananenbäumchen. Es verführte mich mit seinen ausladenden grünen, zart bebenden Blättern, aber auch mit dem hellgrünen Nachwuchs, der, noch eingerollt, bereit war, sich der Welt entgegenzustrecken. Die Frau, der ich es abkaufte, hatte lange falsche Wimpern, blauschwarz und sinnlich. Im Geist sah ich ihre Wimpern sich von den Bagel Shops und grauen Pflastersteinen in East London bis zu den Wüsten und Bergen New Mexicos erstrecken. Die zarten Winterblüten an ihrem Stand ließen mich an Georgia O’Keeffe und ihre Blumenbilder denken: Sie hatte sie gemalt, als stellte sie uns jede einzelne Blüte zum allerersten Mal vor. In O’Keeffes Händen wurden Blumen zu etwas Sonderbarem, Sexuellem, Unheimlichem. Manche Blüten sahen aus, als hätten sie unter ihrem prüfenden Blick das Atmen eingestellt.
Wenn Sie eine Blume in die Hand nehmen und ganz genau betrachten, ist sie für den Augenblick Ihre ganze Welt. Diese Welt will ich verschenken.
Georgia O’Keeffe,
zitiert in der New York Post, 16. Mai 1946
Ihr letztes Haus hatte sie in New Mexico gefunden, es war ein Ort, an dem sie ganz in ihrem Rhythmus leben konnte. Es war etwas, das sie haben musste, das betonte sie mehrfach. Jahrelang hatte sie dieses Wüstenhaus, einen ebenerdigen Lehmziegelbau, instand gesetzt, bis sie endlich einziehen konnte. Vor einer Weile reiste ich nach Santa Fe in New Mexico, unter anderem deshalb, weil ich O’Keeffes Haus sehen wollte, und ich erinnere mich deutlich an meine Benommenheit, als ich in Albuquerque aus dem Flugzeug stieg. Das liege an der Höhe, wir befänden uns zweitausend Meter über dem Meer, erwiderte der Taxifahrer. Im Speisesaal des Hotels, das einer Familie amerikanischer Ureinwohner gehört, gab es einen offenen Kamin in Form eines Straußeneis; er war aus Lehm modelliert und in die Wand gebaut. Nie hatte ich einen ovalen Kamin gesehen. Es war Oktober, draußen schneite es, und ich zog mir einen Stuhl vor die Glut und nippte an einem Becher mit klarem, rauchigem Mezcal, der anscheinend gut gegen Höhenkrankheit ist. Die gerundete Kamineinfassung vermittelte Wohlbehagen und Ruhe. Sie zog mich in ihre Mitte. Ja, dieses brennende Ei war bezaubernd. Etwas, das ich haben musste.
Ich suchte ebenfalls nach einem Haus, in dem ich leben und arbeiten und mir eine Welt nach meinem Rhythmus erschaffen konnte, aber sogar in meiner Phantasie war dieses Haus verschwommen, unbestimmt, nicht real oder realistisch oder es fehlte ihm an Realismus. Ich sehnte mich nach einem stattlichen alten Haus (seit Neuestem auch mit ovalem Kamin ausgestattet) mit einem Granatapfelbaum im Garten. Es hatte Fontänen und Brunnen, bemerkenswerte Wendeltreppen, Mosaikfußböden, Spuren der Rituale aller früheren Bewohner. Soll heißen: Das Haus war lebendig, es hatte ein Leben gehabt. Es war ein liebendes Haus.
Der Wunsch nach so einem Zuhause war intensiv, aber ich hatte keinen geographischen Ort dafür, und überhaupt hätte ich nicht sagen können, wie ich mir mit meinem prekären Einkommen ein derart spektakuläres Haus leisten sollte. Dennoch fügte ich es dem Portfolio meiner imaginären Besitztümer hinzu, in dem sich schon ein paar kleinere Requisiten befanden. Das Haus mit dem Granatapfelbaum war meine bedeutendste Anschaffung und in diesem imaginären Sinn keine Im-, sondern eine Mobilie im Geist. Eine Im(aginär)mobilie. Sonderbar daran war, dass mich, jedes Mal wenn ich versuchte, mich in diesem stattlichen alten Haus zu sehen, eine gewisse Traurigkeit befiel. Als sei es um die Suche nach dem Zuhause gegangen, und jetzt, wo es gefunden war und die Jagd vorbei, waren keine Zweige mehr da, um das Feuer zu füttern.
Unterdessen musste ich mein neues Bananenbäumchen mit Bus und Zug von Shoreditch nach Hause, in meinen heruntergekommenen Wohnblock auf dem Hügel schaffen. Die Banane wuchs in einem Blumentopf und war etwa dreißig Zentimeter hoch. Nach Meinung der Blumenhändlerin mit den langen, falschen sinnlichen Wimpern legte die Banane Wert auf ein schwüleres Leben. Wir waren uns einig, dass auch wir uns angesichts des bis dato recht kalten englischen Winters nach einem schwüleren Leben sehnten.
Im Zug nach Highbury und Islington fügte ich meiner Imaginärmobilie weitere Details hinzu. Ungeachtet des eiförmigen Kamins stand mein stattliches Haus natürlich in einer warmen Klimazone und in Meeres- oder Seenähe. Ein Leben ohne tägliches Schwimmen war für mich nicht erstrebenswert. Es zuzugeben fiel mir schwer, aber Meer und See waren mir tatsächlich wichtiger als das Haus. Mir wäre sogar eine bescheidene Holzhütte recht gewesen, solange sie am Ufer eines Sees oder Meeres stand, jedoch verachtete ich mich im Grunde meines Herzens dafür, dass ich keinen größeren Traum hatte.
Der Erwerb eines Hauses schien mir nicht dasselbe wie der Erwerb eines Zuhauses. Mit Letzterem ging eine Frage einher, die ich, jedes Mal wenn sie sich in unangenehmer Nähe zu mir niederließ, mit der Fliegenklatsche erschlug. Lebte jemand mit mir in dem stattlichen alten Haus mit dem Granatapfelbaum? Oder war ich allein und hatte nur den melancholischen Springbrunnen als Gesellschaft? Nein. Es war eindeutig noch jemand da, eine Person, die sich womöglich die Füße im Brunnenbecken kühlte. Wer?
Ein Phantom.
Das Bananenbäumchen plante ich dem Garten einzuverleiben, den ich auf den drei Regalbrettern meines Badezimmers angelegt hatte. Von den Sukkulenten, die sich ihres Daseins im Nordlondoner Exil erfreuten, wusste ich, dass auch der Banane der warme Wasserdampf der Dusche behagen würde. Das Gebäude, in dem ich wohnte, war in den sieben Jahren seit meinem Einzug noch immer nicht saniert worden, und die grauen Gemeinschaftsflure waren in schlimmerem Zustand denn je. Wie die Liebe bedurften sie dringend der Reparatur. Der Bananenpflanze war die Verfassung des Wohnblocks allerdings gleichgültig, oder besser: Sie schien geradezu begeistert, bei mir einzuziehen, und begann sich mit ihren entrollten geäderten Riesenblättern zu brüsten.
Meinen Töchtern entging nicht, wie viel Zuwendung ich dieser Pflanze schenkte, und sie waren sich einig: Es konnte nur einen Grund haben, weshalb ich derart von dem Bananenbäumchen besessen war, nämlich dass jetzt auch die Zweite bald zum Studium das Haus verlassen würde. Dieses Bäumchen, erklärte mir die Jüngere (18), sei mein drittes Kind. Sein Job sei es, sie zu ersetzen, wenn sie ausgezogen sei. In den Monaten seines Heranwachsens fragte sie mich immer wieder, auf das Bäumchen zeigend: »Wie geht’s dem neuen Kind?«
Bald würde ich also allein leben. Wenn ich schon nach der Trennung von ihrem Vater ein neues Leben angefangen hatte, so musste ich anscheinend bald noch einmal alles anders machen, mit neunundfünfzig. Weil ich darüber nicht nachdenken wollte, begann ich ein paar Sachen zu packen, die ich in meine neue Schreibwerkstatt mitnehmen wollte.
Es war eine Oase, im wahrsten Sinn des Wortes, errichtet zwischen Palmen, Farnen und hohem Bambus. Ich traute meinen Augen nicht – oder meinem Glück. Der Garten rings um meine neue Schreibwerkstatt, die auf einer Holzterrasse stand, ähnelte einem tropischen Regenwald. Eigentlich hätte ich mein Bananenbäumchen diesem Garten vermachen sollen, aber es gehörte inzwischen zur Familie, da hatten meine Töchter schon recht. Mein Vermieter händigte mir den Schlüssel zum Seiteneingang aus, damit ich ihn nicht im Haupthaus stören musste. Als ich ankam, hatte er mir eine Hyazinthe in den Schuppen gestellt, deren Duft zu gleichen Teilen überwältigend und einladend war. Vielleicht sogar brutal. Ich packte aus: drei russische Kaffeegläser mit Henkel, eine Pressstempelkanne, ein Einweckglas Kaffee (100 % Arabica), zwei Mandarinen, eine Flasche rubinroten Portwein aus Porto (Überbleibsel von Weihnachten), zwei Flaschen Mineralwasser, italienisches Mandelgebäck, drei Teelöffel, meinen Laptop und zwei Bücher. Und einen Netzadapter natürlich, diesmal in Form eines Kabels mit Vierfachsteckdose. Mein Vermieter, der in Neuseeland geboren war, hatte den Garten rings um meinen neuen Schuppen mit Fingerspitzengefühl, Phantasie und vielleicht auch Nostalgie angelegt; ein Stück Neuseeland in London NW8, dachte ich. Anders ausgedrückt, seine Heimat geisterte durch seinen Londoner Garten, weil sie auch noch durch ihn geisterte.
Auf einem österreichischen Literaturfestival hatte ich einmal eine rumänische Schriftstellerin kennengelernt, die 1987 in die Schweiz geflüchtet war. In einer Züricher Straße, die, dachte sie, ihrer Straße in Bukarest ähnelte, hatte sie ein Zimmer gemietet. Und dann hatte sie ihr Züricher Zimmer ganz ähnlich eingerichtet wie ihr Zimmer in Bukarest. Sie erinnerte mich daran, dass ich mit neunundzwanzig unter dem Titel Swallowing Geography ein Buch mit lauter einzelnen, aber miteinander verknüpften Geschichten veröffentlicht hatte. Das hatte ich natürlich nicht vergessen, aber es freute mich, dass es ihr neu vorkam. Sie gestand mir, dass sie ein Zitat daraus, Worte der Erzählerin, an die Wand neben ihrem Bett geheftet hatte:
Jede neue Reise ist ein Trauern um das, was zurückgelassen wurde. Manchmal versucht der Wanderer, Zurückgelassenes an anderem Ort neu erstehen zu lassen.
Anscheinend war ich jetzt eifrig dabei, die neue Schreibwerkstatt meiner früheren möglichst ähnlich zu machen.
Ich entrollte das Kabel mit den Steckdosen und machte mir eine Kanne Kaffee. Dann hob ich mein Kaffeeglas und trank auf die Schriftstellerin aus Bukarest. »Wie geht’s dir?«, fragte ich sie im Geist. »Hoffentlich läuft es gut für dich.« Damals in Österreich hatten wir miteinander gelacht, nachdem sie mir erzählt hatte, dass sich im Publikum jemand mit einer Frage nach ihrer rumänischen Heimat gemeldet habe. Sie hatte unter einem der repressivsten kommunistischen Regime weltweit gelebt und war auf Gewichtiges gefasst – zum Beispiel die Frage, wie man als Schriftstellerin mit Sprache arbeiten könne, wenn einem sämtliche Freiheiten genommen seien, oder wie schwer es sei, sich zu erinnern und zu vergessen und sich neu zusammenzusetzen –, und sie fürchtete, sie sei womöglich nicht in der Lage, darauf zu antworten. Tatsächlich aber lautete die Frage: »Könnten Sie mir vielleicht sagen, ob man das Leitungswasser dort bedenkenlos trinken kann?« Im Nachgang ergänzten wir beide: »Und könnten Sie mir vielleicht das WLAN-Passwort geben, und gibt es dort Mücken?«
Meine neue Schreibwerkstatt war dem Leben, das ich mir wünschte, sehr nahe, auch wenn es nur ein vorläufiges Arrangement war. Das heißt, es war nicht meine Immobilie, sie gehörte mir nicht, ich war nur die Mieterin; aber die Stimmung gehörte mir. Sogar die englischen Vögel, die in London NW8 zwitscherten und riefen, kamen mir tropisch vor. Aus meinem alten Schreibschuppen war ich noch nicht ganz ausgezogen, aber Celia, meine alte Schuppenvermieterin, hatte ihr Haus zum Verkauf ausgeschrieben, und es war klar, dass ich mich anderweitig umsehen musste.
Der neue Schuppen war nicht weit von der Abbey Road, wo ich meinen Roman Der Mann, der alles sah ansiedeln wollte. Ich geisterte durch die Abbey Road, und sie geisterte durch mich. »Home is where the haunt is«, schrieb der vor einigen Jahren verstorbene Hauntologe und Kulturwissenschaftler Mark Fisher: »Zu Hause ist, wo die Gespenster sind« – eine Aussage, mit der ich mich unbedingt identifizierte. Ich war ja sozusagen immer noch eine geisterhafte Bewohnerin meines alten Schuppens, wo noch viele meiner Bücher in den Regalen schmachteten. Auch mein PC wohnte noch dort auf dem Schreibtisch, jetzt unter einem weißen Tuch, und der provenzalische Ofen, den ich einquartiert hatte, um im Winter heizen zu können, war Obdach für kleine Spinnen und ihre riesigen geometrischen Netze geworden.
Unterdessen lauerte hier im neuen Schuppen ein Gespenst, es saß auf der ersten Seite eines der Bücher, die ich mitgebracht hatte, und war eine handgeschriebene Widmung vom Vater meiner Kinder aus dem Jahr 1999; damals war ich verheiratet, und wir lebten als Familie in unserem gemeinsamen Haus.
Meiner Herzliebsten zum letzten Weihnachten des Jahrhunderts mit 1000 Jahren Hingabe
Es war ein Schock. Ich musste das Buch aus der Hand legen und mich vom Hyazinthenduft benebeln lassen wie von Morphium. Nach einer Weile nahm ich das Buch wieder auf und starrte auf die Widmung. Und fragte mich, wer diese geisterhafte Frau war, zwanzig Jahre früher, der dieses Buch mit seiner liebevollen Widmung zum Geschenk gemacht worden war.
Ich versuchte mit ihr (meinem jüngeren Ich) Verbindung aufzunehmen, versuchte mich zu erinnern, wie sie damals auf das Geschenk reagiert hatte. Allzu deutlich wollte ich sie nicht sehen. Aber zuwinken wollte ich ihr. Mir war klar, dass auch sie mich nicht würde sehen wollen (ach, da bist du, fast sechzig und allein), und ich sie ebenso wenig (ach, da bist du, vierzig Jahre alt, versteckst deine Fähigkeiten und versuchst, deine Familie zusammenzuhalten), aber sie und ich suchten einander heim, Geister durch die Zeit.
Hallo. Hallo. Hallo.
Mein jüngeres Ich (grimmig, traurig) wusste, dass ich sie nicht verurteilte. In den zwanzig Jahren, die uns von dem Zeitpunkt trennten, zu dem ich dieses Geschenk mit seiner Liebeswidmung erhalten hatte, hatten wir beide Verschiedenes verloren und gewonnen. Hin und wieder hatte ich Flashbacks von unserem Familienhaus. Auch dort spukte es, das Gespenst war mein Unglücklichsein, und ich bemühte mich vergeblich, die Stimmung zu verändern und auch Gutes daran zu finden, aber dem Haus fiel es nicht ein, meinem Wunsch zu entsprechen und aus der Stimmung eine neue Erinnerung zu machen. Im Vergleich zu unserem Familienhaus war der heruntergekommene Wohnblock auf dem Hügel weitaus bescheidener, seine Stimmung aber war fröhlich, heiter, freundlicher und nicht hoffnungslos – eher erwartungsvoll.
Ich warf noch einmal einen Blick auf die Widmung.
Meiner Herzliebsten zum letzten Weihnachten des Jahrhunderts
Das Sonderbare war, dass das Buch selbst (berühmter Autor) von einem Mann handelte, der sich von seiner Familie getrennt hat und sich daranmacht, ein neues Leben mit verschiedenen Frauen zu führen. Eine dieser jungen Frauen betet ihn derart an, dass sie die Hand ausstreckt, um ihm den Rotz aus der Nase zu klauben. Sie hat ihn zum Zweck ihres Lebens gemacht; ob sie etwa noch einen eigenen Lebenssinn hat, wissen wir nicht. Die beiden haben viel Sex, aber wir haben keine Ahnung, ob sie es ebenso genießt wie er. Alle Gedanken und Gefühle der weiblichen Figur, die sich dieser Autor ausgedacht hat, richten sich, sofern vorhanden, ausschließlich auf den Mann.
Wahrscheinlich hatte ich mir dieses Buch damals gewünscht. Es kann also sein, dass ich entweder beide Augen davor verschloss, wie man so schön sagt, oder aber ich wollte irgendetwas herausfinden. Immerhin hatte ich das Buch in meinen neuen Schuppen mitgenommen. Ja, so viele Jahre später hatte ich immer noch eine unbefriedigte Neugier, was die Gestaltung literarischer Charaktere, besonders weiblicher Charaktere, betraf. Letztlich geht es im Leben doch darum, immer freier zu denken, zu fühlen, zu leben, zu lieben: Eine weibliche Figur zu konstruieren, die kein eigenes Leben hat, ist also ein durchaus interessantes Projekt. Die Frau aus der Geschichte ist eine, die ihr Leben einem Mann geschenkt hat. Derlei zu Hause auszuprobieren ist nicht empfehlenswert, aber in der Regel passiert es dort.
Wie geht ein Schriftsteller an die gewaltige Aufgabe heran, eine weibliche Figur zu erfinden, die kein Bewusstsein hat, ja nicht einmal ein Unterbewusstsein, als wäre es das Normalste der Welt? Vielleicht war es in seiner Welt normal. Dabei ist es eine Heidenarbeit, überhaupt einen fiktiven Charakter zu konstruieren, egal, wie er beschaffen ist. Die Drehbuchautorin und Regisseurin Céline Sciamma schrieb, die Frauenfigur im Film bekomme ihre Sehnsüchte und Wünsche zurück, wenn ihr eine Subjektivität zugestanden werde. Aber, kam mir in den Sinn, vielleicht war es für einen Autor seiner Generation schlicht nicht vorstellbar, eine Frauenfigur mit Bedürfnissen auszustatten, die nicht einfach seine sind. Die Frau in seiner Geschichte war eine defizitäre Figur: Was fehlte, waren eben ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte, und damit war sie gewissermaßen selbst eine fehlende Figur. Das war der Grund, weshalb ich das Buch dieses Autors hilfreich gefunden hatte. Die mangelnde Bewusstheit war ein Haus, das ich in meinem eigenen Leben und Arbeiten zu demontieren versucht hatte. Immobilien sind eine heikle Sache. Wir mieten und kaufen und verkaufen und erben sie, aber wir reißen sie auch ein.
Um dieselbe Zeit ging mir der Schluss der Geschichte des verlorenen Kindes von Elena Ferrante nicht mehr aus dem Kopf. Von Kindheit an waren die Leben von Lila und Lenù unzertrennlich ineinander verflochten, aber Lila, jetzt Ende sechzig, ist auf einmal spurlos verschwunden, und das reißt die zwei Frauen am Ende doch auseinander. »Ich liebte Lila«, schreibt Lenù. »Wollte, dass sie fortdauerte. Aber ich wollte es sein, die sie fortdauern ließ.« Am Ende des Buchs ist aus Lila eine fehlende weibliche Figur geworden.
Ich saß am Fenster meiner neuen Schreibwerkstatt und fragte mich, warum ich mich derart für fehlende weibliche Figuren interessierte. Vielleicht ging es gar nicht um Frauen, die im eigentlichen Sinn fehlten, also verschollen waren (wie Lila), sondern die verfehlten, nämlich die eigenen Bedürfnisse.
Und wie stand es um die Frauen, die zwar ihren Bedürfnissen gefolgt waren, irgendwann aber gestutzt, vielleicht gefällt worden waren, um ihre Macht zu verwässern und ihre Autorität zu untergraben, deren Leben umgeschrieben, deren Dasein neu erzählt worden war? Vielleicht suchte ich nach einer Göttin, die in der patriarchalen Neufassung ihres Daseins verlorengegangen und verschollen war?
Ich dachte an Hekate an der Wegkreuzung mit ihren brennenden Fackeln und ihren Schlüsseln, an Medusa mit ihrem Schlangenhaar und tödlichen Blick, an Artemis mit ihren Jagdhunden und Hirschen, Aphrodite mit ihren Tauben, Demeter mit ihren Stuten, Athene mit ihrer Eule. Immer wenn ich exzentrische, bisweilen geistig fragile ältere Frauen in irgendeiner Stadt irgendwo auf der Welt auf dem Gehweg Tauben füttern sah, dachte ich: Ja, das ist sie, das ist eine dieser gefällten Göttinnen, die am Leben wahnsinnig geworden ist.
Waren die Göttinnen Grundeigentum im Besitz des Patriarchats?
Sind Frauen Grundeigentum im Besitz des Patriarchats?
Und was ist mit Frauen, die von Männern für Sex gemietet werden?
Wer sind bei dieser Transaktion die Grundeigentümer?
Auf Literaturveranstaltungen wurden die meisten verheirateten heterosexuellen Schriftsteller in meinem Alter von ihren Gattinnen umsorgt. Einer erzählte mir auf einem Bücherfestival, es werde immer ein behagliches, am Kamin vorgewärmtes Paar Pantoffeln für ihn bereitstehen, solange er in seiner Ehe nicht allzu viele Grenzen überschreite. Zum Glück schaffte es seine Frau, zwischendurch kurz zu entwischen, um draußen auf der Feuerleiter eine zu rauchen.
Die erfrischende Unterhaltung mit ihr empfand ich als wesentlich interessanter als jede einzelne Veranstaltung, die ich auf diesem Festival besucht hatte. Ihre Gedanken über fragile Tyrannen, die Veränderungen, die physische Untreue der Liebe zufügt, und ihren Traum, in dem sie Brüste aus Glas hatte, hätte bestimmt ein großer Teil des Publikums zu schätzen gewusst.
Würde jemals ein behagliches, am eiförmigen Kamin gewärmtes Paar Pantoffeln (rosa, mit Federn besetzt) für mich bereitstehen? Nur wenn ich eine weibliche Figur in einem altmodischen Hollywood-Film würde und dafür eine Haushälterin engagierte. Nein: ein Haushält nicht definierten Geschlechts. »Mx Klimowski«, würde ich sagen, »ich glaube, meine arthritischen Ellenbogen brauchen morgens eine Massage mit Arnikaöl.« Wie Sie wünschen, Madame. Mein Haushält wäre eine Figur mit zahlreichen eigenen Wünschen, denn das Drehbuch hätte schließlich ich verfasst. Ich sah es vor mir, das Haushält, wie es an der altrosa gestrichenen Rigipswand meiner Immobilie lehnte, an der Brust eine Brosche in Gestalt einer Biene. Ihre Suppe ist bereit. Ich habe Ihre Wölfe gefüttert und die Tabakspfeife mit der von Ihnen gewünschten Tabaksorte gestopft. Übrigens, Madame (mein Haushält hätte nach den zu Mittag verschlungenen Himbeeren immer noch verfärbte Lippen), ist mir aufgefallen, dass Sie über Immobilien nachdenken. Real Estate, wie man heutzutage gern sagt. Auf Spanisch bedeutet »real« »königlich«, weil den Königen alles Land in ihrem Königreich gehörte. Für Lacan wiederum ist das Reale alles, was nicht gesagt werden kann. Mit Realität hat das nichts zu tun. Benötigen Sie noch etwas, bevor ich mir ein Bad einlaufen lasse und dazu Lana Del Rey höre?
»Ja, Mx Klimowski«, würde ich antworten, »wenn Sie so freundlich wären, mir meinen Teller mit Lokum herzurichten – das Rosen- und das Mandarinenaroma sind exquisit.«
Wir haben kein Lokum mehr, Madame. Ich erlaube mir vorzuschlagen, dass Sie sich Ihre Drecksconfiserie selber besorgen.
Daraufhin zöge es sich zurück, das Haushält, um Gin zu trinken und sich mystischen Visionen hinzugeben, aber auch einigen pragmatischen Gedanken darüber, wie sein Einkommen zu verbessern wäre, damit es zu einem eigenen Haus käme. Unterdessen säße ich am eiförmigen Kamin und läse Gedichte von Sappho und Baudelaire, während das Phantom der Liebe in der Nähe säße und behutsam eine Orange schälte.
Wenn man uns unter diesen Voraussetzungen nach der wertvollsten Annehmlichkeit des Hauses fragte, würden wir sagen: Das Haus beschützt die Träumerei, das Haus umhegt den Träumer, das Haus erlaubt uns, in Frieden zu träumen.
Gaston Bachelard, Poetik des Raumes (1957)
Ich begann mich zu fragen, was wir, ich und alle Frauen, die ihre ureigenen Bedürfnisse verfehlen, und alle umgeschriebenen Frauen (etwa die Göttinnen), am Ende unseres Lebens im Portfolio unserer Besitztümer hätten. Eingeschlossen mein imaginäres Haushält, das sich in diesem Moment sein Bad einlaufen lässt (ein Spritzer Rosengeranienöl) und dazu Lana Del Rey hört. Was schätzen wir wert (auch wenn es vielleicht nicht von der Gesellschaft wertgeschätzt wird), was könnten wir besitzen, aussortieren, vererben? Wie offenbarte sich unsere unterdrückte Macht und Stärke an einem Montag, wenn wir, wie die großen ringenden Göttinnen, den Vätern und Brüdern des Patriarchats zu mächtig waren? Und überhaupt – wenn ich schon von Anfang bis Ende das Drehbuch schrieb, mussten meine weiblichen Figuren mir gehorchen: Was sollten sie also wertschätzen, besitzen, aussortieren und vererben? Vielleicht channelte ich Jane Austen – nur dass die Aussicht auf eine Ehe keine Lösung war.
Es entging mir nicht, dass nicht wenige Bildungsbürger meines Alters ihre Hypotheken abgezahlt hatten und woanders mindestens ein Haus besaßen. Auf praktisch jeder Dinnerparty, zu der ich eingeladen war, verkündete jemand, man werde anderntags abreisen, auf den Landsitz in Frankreich oder Italien – oder, und das tat besonders weh, aufs englische Land, um sich in einem eigens zu diesem Zweck erbauten magischen Jugendstilpavillon dem Schreiben zu widmen. Während ich in die düsteren, noch immer unrenovierten Korridore-der-Liebe zurückkehrte. Ein paar kleine Verbesserungen hatte mein Leben aber erfahren. Ich besaß jetzt nicht ein E-Bike, sondern eine Flotte von E-Bikes. So gesehen hatte ich gewisse Gemeinsamkeiten mit einem mir persönlich bekannten Rockstar, der eine Flotte von Flugzeugen unterhielt. Ja, ich besaß drei Elektrofahrräder, eines war an den Baum gekettet und zwei weitere standen in der Tiefgarage. Es kamen Freunde aus aller Welt zu Besuch, und ich konnte dann mit ihnen kreuz und quer durch London radeln – ein erster Schritt in Richtung des Lebens, das ich mir wünschte: statt Kernfamilie eine erweiterte, eine Großfamilie von Freunden und deren Kindern, die mir in dieser Phase meines Lebens eine glücklichere Daseinsform schien. Ein eigenes Gästezimmer für jede/n Freund*in, wie ich es mir auch gewünscht hätte, gab meine Wohnung nicht her. Einen offenen Kamin in jedem Zimmer gab sie ebenfalls nicht her – in meiner Wohnung gab es nicht einmal einen einzigen. Was tun mit all diesen Wünschen?
Ich starrte hinaus in den riesigen Garten, in dem sich mein neuer Schuppen befand. Statt mir eine Immobilie zuzulegen, was außerhalb meiner Möglichkeiten war, konnte ich ja vielleicht meinen Vermieter überreden, hier auf seinem Grundstück ein Schwimmbecken zu bauen, das ich bezahlte. Dann könnte ich schreiben und schwimmen, und mein ersehnter Lebensstil wäre verwirklicht. Nichts davon wäre meines, aber ich könnte es nutzen, solange unsere Freundschaft währte. Meine Töchter würden bei jedem Wetter schwimmen. Was für eine Geste ihrer Mutter. Was für ein Geschenk von der befreundeten Schriftstellerin an den Vermieter.
Zwischen Libellen würden wir durchs Wasser tollen, und ich würde entlang dem Beckenrand wilde Minze pflanzen. Ich googelte nach Preisen und stieß auf die Seite eines Herstellers, der Naturpools und Schwimmteiche anbot. Es verging eine Stunde. Schwimmteiche sind teuer. Mir kam der Gedanke, dass mein Vermieter vielleicht etwas dagegen hätte, wenn ich seinen Garten aufgraben ließ. Vorläufig musste ich meinen imaginären Spaten niederlegen und mit der Arbeit weitermachen.
Das zweite Buch, das ich in meine neue Schreibwerkstatt mitgebracht hatte, war eine Sammlung von Essays verschiedener Autoren – Psychoanalytiker, Kulturwissenschaftler und Künstler – über einen meiner Lieblingsregisseure, Pedro Almodóvar.
In einem Kapitel erläutert Almodóvar die Bedeutung der spanischen Redewendung Andar como vaca sin cencerro. Er erklärt: »Wie eine Kuh ohne Glocke herumlaufen heißt nicht mehr weiterwissen, verloren sein, von niemandem beachtet werden.« Ich kam mir selber ein bisschen vor wie eine Kuh ohne Glocke, aber verloren war ich nicht. Vielleicht ist es Kühen sogar lieber, glockenlos zu sein, damit sie sich von der Herde und der Gefahr, geschlachtet zu werden, entfernen können. Die umherwandernden heiligen Kühe, denen ich in den Straßen von Ahmadabad in Indien begegnet war, sprachen mich sehr an. Ich tätschelte ihnen den Rücken und sah Staubwolken aus ihrem Fell aufsteigen.
In der hinduistischen Tradition sind Kühe heilige Tiere. Die Mutter ist lebenserhaltend, weil sie Milch spendet, und dafür wird sie geehrt und bekränzt.
Ende Mai 2018 war ich in New York, West Side Manhattan, wo ich mithalf, das Apartment meiner verstorbenen amerikanischen Stiefmutter zu räumen.
Mein bester Freund, der zufällig zur selben Zeit in New York war, bot seine Hilfe an. Wir mussten herausfinden, wo die nächsten Secondhandläden waren, und dann auf die Straße hinausgehen, einem gelben Taxi winken und den Fahrer bitten, sechzehn Tüten mit Kleidern zur West 79th Street zu bringen. Dass ich hier ein fremdes Leben abwickelte (meine Stiefmutter war eine angesehene Wissenschaftlerin gewesen), brachte mich auf den Gedanken, dass ich vielleicht lieber meine alten Tagebücher zerreißen und alle in Jahrzehnten gehorteten Briefe entsorgen sollte. Es war unsäglich traurig, die Blusen, Schals und Hosen meiner Stiefmutter ordentlich gefaltet in den Schubladen zu sehen. Ich hatte angeboten, ihren Wandschrank zu räumen, weil ich meinem betagten Vater wenigstens diesen Schmerz ersparen wollte. Ihr Tod hatte ihn ins Mark getroffen, und als er mich aus Kapstadt (wo sie gestorben war) anrief, um mich zu informieren, hatte ich ihn zum ersten Mal in meinem Leben weinen hören.
Es gab zwei kleine Glasgefäße mit Knöpfen, die sie von verschiedenen Kleidungsstücken abgetrennt und für eine etwaige Wiederverwendung aufbewahrt hatte. Diese Knöpfe waren das Einzige, was ich von ihr mitnahm. Drei hatten die Gestalt eines Schimmels mit flatternder Mähne.
1930