Der Mensch ist keine Insel, nichts ist eine Insel.
Alles steht in Beziehung zueinander,
alles hängt miteinander zusammen.
Unabhängigkeit? – schon das Wort ist falsch,
das gleiche gilt für Abhängigkeit.
Die Wirklichkeit ist Zusammenhängigkeit.
Books on Demand
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek:
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© 2006 – Norbert Giesow
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Umschlag-Gestaltung: Martin Giesow
ISBN-10: 3-8334-6719-3
ISBN-13: 978-3-7322-5146-9
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstiger Kommunikationsmittel sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.
Als ich sie das erste Mal sah, spielte ich gerade Fussball. Freunde von mir spielten manchmal am Sonnabend Nachmittag auf einem nahe gelegenen Sportplatz. In den inzwischen voll gebauten Großstädten muss man manchmal auf die Sportplätze ausweichen, auch wenn unsere Stadt den eigenen Anspruch vertrat, eine sehr grüne Großstadt zu sein. Inzwischen waren wir auch in einem Alter, in dem ein wenig sportliche Ertüchtigung nicht schaden konnte. Auch die vielen Jahre, in denen ich geraucht hatte, hatten ihre Wirkung hinterlassen. Das merkte ich daran, dass ich schon nach ein paar Spurts keine Luft mehr bekam und mich auf den Rasen setzen musste. Da passierte es. Sie lief am Rand des von uns nur provisorisch abgetrennten Spielfeldes vorbei. Und sie konnte nicht anders als mich dabei anzusehen. Sie sah einen mittelgroßen, durchschnittlich gut aussehenden Typen mit eher dunklen Haaren, die in diesem Moment allerdings verschwitzt waren. Oft habe ich in der Zukunft darüber nachgedacht, was ihr Blick wohl zu bedeuten gehabt hat. Letztlich war es wohl mehr Mitleid mit jemanden, der nicht mehr konnte und auf dem Rasen sitzen musste.
Später habe ich erfahren, dass ihr Name Lana war. Lana hatte eine starke Ausstrahlung. Und diese hatte sie eigentlich immer. Sie wurde damit geboren. Na klar, sie war auch sehr hübsch, hatte eine gute Figur und schöne Haare, so dass sie schon die Blicke auf sich zog. Aber was es wirklich ausmachte, war ihre Ausstrahlung. Diese machte sie unverwechselbar und sorgte dafür, dass man sie nicht so schnell wieder vergessen konnte.
Wie konnte ich damals ahnen, dass Lana schon bald ein bedeutender Teil meines Lebens sein würde. Aber allzu schnell ging sie vorbei und ward nicht mehr gesehen. Meine Freunde zogen mich dann auch auf. »Wohl hingefallen, als du sie gesehen hast« »Mehr glotz man nicht« Und andere Sprüche mehr.
Na ja wir waren noch jünger in dieser Zeit und hübsche Mädchen gab es zwar viele in unserer Stadt, aber liefen diese nicht gerade über den Sportplatz, auf dem wir uns abmühten. So konzentrierte ich mich wieder mehr auf das Spiel. Es gelangen mir auch einige gute Spielzüge. Dabei geriet ich ganz schön aus der Puste. Damit wurde mir auch klar, dass es sehr gut und weise gewesen war, mit dem Rauchen aufzuhören.
Einige Tage vergingen. Es war Spätsommer und das Wetter war schön. Es war nicht mehr allzu heiß, so dass es richtig schön war, draußen zu sein. Ich hatte mich mit meinem Freund Rüdiger verabredet. Mit ihm machte es richtig Spaß etwas zu unternehmen, da er nicht so nervte wie viele andere. Rüdiger war groß, kräftig und etwas untersetzt. Für Rüdiger galt es vor allem da hinzugehen, wo er Frauen treffen konnte. Mir war das sehr recht, doch ging es mir auch darum, wieder einige interessante Geschichten von ihm zu hören. Wir gingen in unsere Stammkneipe, wo das Bier lecker und der Umgang leger war. Rüdiger wollte Lehrer werden, aber kein normaler Lehrer, sondern ein anthroposophischer. An diesem Abend erzählte er mir von seinem Seminar, bei dem das platonische Jahr behandelt worden war. Grob angedeutet, ging es darum, dass die Erdachse eine Pendelbewegung ausführt, die dafür sorgt, dass die Ausrichtung dieser Achse sich um ca. 1 Grad in 72 Jahren rückwärts verschiebt. Wenn man den Tierkreis als Basis nimmt, dann durchläuft die Achse diesen in rückläufiger Bewegung dann in ca. 25000 Jahren. Und einen solchen Umlauf nennt man ein platonisches Jahr. Mir war dabei ganz schwindelig geworden und ich trank schnell mein Bier aus, um genauso schnell ein neues zu ordern.
»Tierkreis, hat wohl dann auch mit Astrologie zu tun?«
»Im weitesten Sinne ja, Steiner selber hat viel Astrologie genutzt.« Rudolf Steiner war der Begründer und geistige Vater der Anthroposophie und so eine Art von Guru für Rüdiger. Mich interessierten diese Dinge auch irgendwie. Mein Vater hatte sich in seiner Jugend mit Mystik, Magie und eben Astrologie beschäftigt. Und wie das so mit Söhnen ist, es fasziniert uns, was der Vater macht, aber wir wollen uns auch davon abgrenzen. Und nun, wo er schon einige Jahre tot war, war die Abgrenzung nicht mehr so wichtig für mich. Wichtiger wurde es allmählich, ihm näher zu kommen. Wenn man einem Menschen näher kommen möchte, dann ist es wichtig zu verstehen, womit sich dieser Mensch geistig beschäftigt hat. Und wenn mein Vater diese mystischen Dinge interessant gefunden hatte, dann war zumindest meine Neugier geweckt und das schon länger. Deswegen hörte ich Rüdiger gerne zu, wenn er über die inhaltlichen Dinge seiner Ausbildung erzählte.
Nach drei Bieren drehte sich nicht mehr nur die Erdachse, oder irgendwelche Planeten, sondern auch meine Gedanken. Deswegen hätte ich den Moment beinahe verpasst, als wir das erste Mal zusammenkamen. Rüdiger griff meinen Arm – das war so seine Art, er packte einen gerne an.
»Hast du die gesehen?« Das war nun wieder nichts Besonderes, weil er diesen Satz bereits mehrfach zu mir gesagt hatte und mein Arm wurde auch langsam blau, dort, wo er ihn immer packte. Und natürlich schaute ich hin.
»Die dort drüben, die hat Ausstrahlung« Es war das Mädchen vom Sportplatz. Sie schaute gar nicht zu uns rüber, sondern hetzte an den Thresen, um hektisch mit der Bedienung zu sprechen. Sie sprach dabei mit Armen und Händen und ihre Haare machten jede ihrer Bewegungen mit.
Für einen Moment war es so, als wenn die Zeit anhalten würde. Die Bewegungen aller Leute verlangsamten sich und die Worte, die Rüdiger zu mir sprach kamen in unverständlichen Silben zu mir. Ein fast mystischer Moment. Und dann drehte sie sich um und schaute zu uns hin. Ihre Haare schienen dabei in der Luft zu stehen und dann passierte es wirklich – die Welt hielt an. Um sofort darauf wieder in normaler Geschwindigkeit weiter zu laufen. Sie erkannte mich nicht, Rüdigers Worte erreichten mich aber dann doch noch.
»Willst du noch ein Bier?«. Sie dagegen blickte Rüdiger an und war offensichtlich angetan von ihm.
»Ja, gerne«
»O.K. Ich hole sie«. Auf dem Weg zum Thresen musste er an ihr vorbei und wieder begegneten sich ihre Blicke.
Ganz im Gegensatz zu mir hatte Rüdiger keine Probleme mit fremden Mädchen zu reden. Und das tat er auch jetzt. So als würden sie sich kennen, redeten sie am Thresen, während er auf die Bedienung wartete und – auf die Biere. Ich starrte auf meine Hände. Das tat ich immer, wenn ich nervös war und nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Das war verrückt, weil da ja außer mir niemand war, zu dem ich mich hätte verhalten können. Als ich wieder aufsah, blickte ich ihr genau in die Augen. Braun, nein grün, doch braun, grünbraun. Sie kam einfach mit Rüdiger an unseren Tisch und das erste, was sie zu mir sagte, war:
»Hier dein Bier.«
»Setz dich doch.«
»Das ist Lana.«
»Wir kennen uns« Sie strich sich die Haare zurück, beugte sich leicht vor, schaute mich intensiv an und sagte: »Ja, vom Sportplatz.«
Schnell übernahm Rüdiger das Gespräch wieder: »Da wirst du ihn aber nicht so oft treffen können, und was machst du so?«
»Ich habe angefangen zu studieren.«
»Was denn?«
»Dann bist du neu hier bei uns?«
»Das ist ja wie im Verhör hier« sagte sie, schüttelte dabei den Kopf, so dass ihre Harre sich von einer zur anderen Seite bewegten. Eine Bewegung, die sowohl natürlich wie auch verführerisch wirkte, zumindest auf mich. In diesem Moment musste ich es mir eingestehen, ich hatte mich verknallt. Dieser teenager-artige Begriff beschrieb recht gut dieses nun einsetzende Gefühl von Lähmung und Uncoolness, die es für mich unmöglich machten, dieses Gespräch locker weiterzuführen, so dass Rüdiger ganz klar ins Vordertreffen geriet.
Und die beiden unterhielten sich gut, über ihre Studien. Dabei erfuhr ich, dass sie irgendetwas auf Magister studierte, nur erstmal so, um zu sehen, was läuft. In dieser Zeit war es einfach so. Man wusste nicht genau, was man wollte, also studierte man einfach etwas, um zu sehen, was sich ergeben würde. Und es ist ja interessant, dass es im Leben eine gewisse Kraft gibt, die dafür sorgt, dass sich dann tatsächlich etwas ergibt.
Plötzlich stand Lana auf und sagte, dass sie los müsste und dass es nett gewesen war, uns kennen gelernt zu haben. Dabei schaute sie allerdings Rüdiger an. Und weg war sie und wir waren wieder allein zu zweit. Ja klar, Rüdiger war mein guter Freund und wir kannten uns nun schon länger und ich wusste um seine Art, aber nun hätte ich ihn auch hassen können. Denn natürlich fing er an von ihr zu schwärmen. Dabei hatte ich sie doch entdeckt.
»Die Chemie stimmt echt zwischen uns« »Ich treff mich mal mit ihr« »Hast du gesehen, wie sie mich angesehen hat?« Und so weiter und so weiter. Ich wollte dann los. An der Ecke trennten wir uns und für mich wurde es ein echt deprimierender Nachhauseweg. Seit der Trennung von Anne vor fast zwei Jahren war da nicht viel gelaufen mit mir und den Frauen. Und es lag auch daran, dass mich viele gar nicht wirklich erreichten. Doch genau das war nun passiert und ausgerechnet Rüdiger muss mir dazwischen funken. Da sieht man mal wieder wie das menschliche Gehirn funktioniert. Kaum kennen gelernt – schon Geschichten gesponnen. Wer weiß, vielleicht hat sie auch einen Freund. Solche Frauen haben doch immer einen Freund.
Das waren echt negative Gedanken. Es fing auch leicht zu nieseln an. Hellsichtige Menschen hätten jetzt bestimmt eine dunkle Wolke um mich herum wahrnehmen können.
Na ja, auch dieser Abend ging vorüber. In den nächsten Tagen dachte ich öfter an sie und mit Rüdiger hatte ich keinen Kontakt. Allmählich beruhigten sich meine Gedanken wieder. So funktioniert das menschliche Gehirn. Zuerst ist etwas unermesslich wichtig, so dass wir kaum an etwas anderes denken können und mit der Zeit verschwimmt dies immer mehr und etwas anderes wird wichtiger. So war es dann auch bei mir. Ich war in einer Art Umbruchzeit. Zum Herbst hin galt es, Lebensentscheidungen zu treffen. Konkret ging es darum, ob ich mein Studium der Volkswirtschaftslehre weiterführen sollte oder nicht. Im Grunde stand die Entscheidung für mich natürlich schon fest, weil ich nicht wirklich eine Alternative hatte, obwohl mir ein Gefühl in meinem Bauch schon einige Semester lang sagte, dass dieses Studium nicht mein Lebensinhalt sein könnte.
Um mir aber noch sicherer zu werden, machte ich das, was ich in solchen Situationen immer machte, ich rief Rüdiger an, um mir seine Bestätigung für meine Entscheidung zu holen. Er freute sich aufrichtig von mir zu hören und wir verabredeten uns für den Abend bei ihm.
Rüdiger wohnte im dritten Stock und und er hatte damit begonnen, seine Wohnung anthroposophisch einzurichten. Es gab diese Pastellfarben und es lagen Tücher über dem Tisch und der Kommode. Als ich seine Einrichtung betrachtete, fiel mir auf, welch ein seltsames Wort „Kommode“ doch ist. Ich habe keine und ich hatte nie eine und ich bin mir sehr sicher, dass ich nie eine Kommode haben möchte. Als ich viele Jahre zuvor Rüdiger kennen gelernt hatte, da wohnte er ohne Möbel, nur mit einer Matratze auf dem Boden und einem Radiorekorder in der Ecke. Nun, die Dinge ändern sich. Nicht geändert hatte sich die joviale Begrüßung, die ich durch ihn erfuhr. Er umarmte mich und schlug mir zusätzlich auf die Schulter.
»Haut ihr immer alle Leute ihr Anthros?«
»Nur gute Freunde, haha«
»Ich habe sie wiedergesehen, die Süße«
»Wen?«
»Tu doch nicht so bescheuert, na die Flamme von Superboy natürlich«
»Wen??«
»Na Lana, du bist ja beschränkt heute, Mann!«
Er hatte sie im Cafe an der Uni getroffen. Dort kam er immer vorbei, wenn er von seinen anthroposophischen Kursen kam und trank dort gern einen Kaffee. Wegen dem guten Kaffee dort, sagte er, meinte aber die Studentinnen. Eh klar. Sie saß allein am Tisch und las. Er hatte sich einfach dazu gesetzt und sie gefragt, ob sie noch mit Superboy zusammen sei. Huch, das ist der Typ aus der Kneipe, hatte sie gesagt, und von der Comicleidenschaft ihres Vaters erzählt und wie er ihre Mutter bequatscht hatte, sie Lana zu nennen. Er meinte, Lana sei die weibliche Heldin vor Lois Lane gewesen und hätte die Entwicklung von Superboy zum Mann gefördert. Rüdiger hatte sie dann gefragt, was denn ihr Vater gemacht habe, um ihre Mutter zu überzeugen. Und Lana hätte ihm erzählt, dass sie gewettet hatten. Es ging um die Siegerin in einem Schwimmwettbewerb bei den olympischen Spielen, als ihre Mutter bereits schwanger mit ihr gewesen war. Ihr Vater hatte gewonnen und konnte den Namen bestimmen. Ja, so sei das gewesen.
Ja und dann habe sie ihn so merkwürdig durchdringend angesehen und gefragt: »Dein Kumpel, wie heißt der noch gleich?«
»Der hört auf den Namen Jens.«
»Und wie ist der denn so drauf?«
»Wieso?«
»Nur so, der hat so wenig gesagt neulich.« Und bevor er etwas darauf erwidern konnte, wollte sie dann ganz schnell los. Man sieht sich, sagte sie noch, und so weiter und weg war sie.
»Was sagst du nun?« Baff war ich, froh, erhitzt, verlegen, euphorisch,
ängstlich, plötzlich voller Erwartungen, aber auch ganz leer irgendwie.
»Wie findest du die Lana denn eigentlich, Rüdiger?«
»Na spitzenmäßig, tierische Ausstrahlung, schöne Augen – sind die eigentlich grün oder braun – gute Figur, toll, ganz klar«
»Und sie ist in meinen besten Freund verknallt.«
»Hör doch auf.«
»Ist doch wahr!«
An diesem Abend konnte ich mich kaum auf was anderes konzentrieren, immer wieder kam ich auf sie zu sprechen und darauf, was jetzt wohl zu tun sei. Rüdiger hatte da auch so eine Idee.
Für Rüdiger war es sofort klar, dass wir uns mit Lana treffen sollten. Für mich war das gar nicht so klar. Nur weil sie ihn nach mir gefragt hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie sich mit mir auch treffen wollte. Und wie sollte ich überhaupt mit ihr in Kontakt treten? Diese Fragen sprangen mir im Kopf herum, aber ich wusste genau, dass das alles nur Ausflüchte waren. Ich hatte Angst vor der Situation. Ich hatte Angst davor, dass sich etwas ergeben könnte und ich hatte Angst davor, dass sich nichts ergeben könnte. Ich hatte Angst vor meinen Gefühlen und vor allem davor, abgelehnt zu werden. Am besten wäre es, es gar nicht erst zu versuchen, dann könnte es auch nicht daneben gehen.
Rüdigers Idee war es, in der Kneipe Im Kreis die Kellnerin nach ihrer Nummer zu fragen und sie dann anzurufen. Zwei Biere weiter war ich dann endlich dazu bereit. Rüdiger kam mit, er meinte, vielleicht sei ja auch für ihn etwas dabei. Wie so oft regnete es in unserer Stadt und so kamen wir doch recht feucht in der Kneipe an. Im Kreis hatte sich in den letzten Monaten zur Szenekneipe entwickelt und so war es recht voll und verqualmt. Das kam nicht nur von den vielen Zigaretten, die geraucht wurden, sondern auch von den Jacken, die ihre Feuchtigkeit ausschwitzten. So konnte man kaum etwas erkennen. Rüdiger bemerkte aber schnell, dass die Kellnerin von neulich da war. Da sie uns als Stammgäste kannte, war es kein Problem, sie anzusprechen. Sie hatte tatsächlich die Nummer von Lana und gab sie mir mit der Warnung, damit keinen Unsinn zu treiben. Rüdiger saß am Tresen und meinte, ruf sie doch von hier aus gleich mal an.
Das tat ich nicht. Ich wollte noch ein wenig darüber nachsinnen. Kurz danach ging ich zu mir und die Gedanken kreisten in meinem Kopf. Ich dachte so lange darüber nach, ob ich sie anrufen sollte, dass es dann zu spät war, es wirklich zu tun. Ich ärgerte mich darüber, dass ich mich so ins Bockshorn jagen ließ und mich nicht traute eine Frau anzurufen, dass ich mir vorm Einschlafen selber das Versprechen abnahm, am nächsten Tag ganz bestimmt dort anzurufen.
Am nächsten Abend nahm ich allen Mut zusammen und wählte ihre Nummer. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und dann war nur ihr AB dran. Ihre leicht rauchige Stimme, obwohl sie nicht rauchte, meinte, dass man doch ruhig eine Nachricht hinterlassen sollte. Das tat ich dann auch. »Hallo, hier ist Jens, ich wollte mich mal bei dir melden und fragen, ob wir mal was trinken gehen wollen.« Ich hinterließ noch meine Nummer und legte auf.
Während ich in einem sehr öden Wirtschaftsfachbuch las, klingelte das
Telefon. Es war Lana.
»Hi, ich wollte mich bei dir zurück melden«
»Das finde ich echt nett von dir.«
»Was machst du denn gerade?«
»Ich lese fürs Studium.«
»So aufregend?«
»Kann man sagen, und du?«
»Ich telefoniere...«
»Haha!«
Lana hatte eine Art, dass es meistens anregend und lustig mit ihr war. Schon dieses erste Telefonat mit ihr machte Spaß und ich wurde immer lockerer und offener. Und so fragte ich sie auch bald, ob wir uns treffen wollen? Schlicht und einfach sagte sie ja und schlug gleich eine Party am Wochenende vor, zu der wir gemeinsam hingehen könnten.
»Rüdiger kann auch mitkommen.«
»O.K., ich werde ihn fragen. Ich oder wir holen dich dann ab, wenn du willst.«
»Nee, wir können uns Im Kreis treffen, liegt ohnehin auf dem Weg.«
Musste sie nun auch Rüdiger mit ins Spiel bringen. Aber anstatt mich zu freuen, dass sie mich Fremden mit auf eine Party nehmen will, musste ich gleich wieder unken. Zwei Tage bis zum Freitag, dem Party Tag. Ich konnte es kaum erwarten.
In den beiden Tagen vor der Party konnte ich mich wenig bis gar nicht auf mein Studium konzentrieren, immer wieder musste ich an den großen Tag denken. Ich dachte sogar darüber nach, was ich wohl anziehen sollte. Auch besprach ich mich mehrfach mit Rüdiger. Ich gab ihm klare Anweisungen, uns allein zu lassen, sich nicht einzumischen usw…
Dann war es endlich soweit. Es war Freitag Abend. Ich trug meine „beste“ Jeans, mein coolstes Hemd und war nervös, wie man es nur beim ersten Rendevous sein kann. Im Grunde war es ja auch mein erstes Rendevous seit mindestens zwei Jahren. Rüdiger und ich hatten uns vorher bei ihm getroffen, wir hatten einen Kleinen geraucht und waren etwas früher ins Im Kreis gegangen, um in Ruhe noch ein Bierchen zu trinken. Immer wieder schaute ich auf die Uhr, so dass mir Rüdiger auf die Schulter schlug und meinte, dass ich ihn ganz nervös machen würde. Gerade als ich ihm sagen wollte, dass er sein Maul halten sollte, ging die Tür auf und da war sie. Ich erinnere mich an diesen Moment, als wäre er gerade eben passiert. Es gibt Momente im Leben, die brennen sich dermaßen ein, dass man sie nie wieder vergisst. Dieser war ein solcher Moment. Lana sah atemberaubend aus. Obwohl sie schon eher dunkelbraune Haare hatte, trug sie zu der Zeit gern dunkle Kleidung. Sie hatte eine schwarze Jeans und ein dunkles Hemd an. Sie trug ihre Haare offen, und um es auf einen Punkt zu bringen: Sie leuchtete. Man kann es gar nicht anders sagen.
Sie kam direkt an unseren Tisch, begrüßte Rüdiger und mich mit einer Umarmung. Sie roch auch sehr gut. Sie strahlte mich an, so dass Rüdiger mir unter dem Tisch einen Tritt gab und mich angrinste.
»Ich hoffe, es wird eine nette Party.«
»Mit Dir, Lana, ganz bestimmt.«
»Hey, nett von dir Jens. Sag mal Rüdiger, ist er immer so ein Charmeur?«
»Also, ich erkenne ihn auch kaum wieder.«
Nachdem wir noch ein wenig über alles mögliche gesprochen hatten, sind wir los zur Party.
Diese war noch nicht richtig im Gang, da wir tatsächlich relativ früh da waren. Trotzdem lief laute und schnelle Musik. Rüdiger verschwand sofort in der Küche. Lana und ich setzten uns in eine relativ ruhige Ecke, tranken ein Bier und redeten miteinander. Sie wandte sich mir zu und sagte: »Dass man so schnell jemanden kennen lernen kann…«
»Wieso, wir kennen uns doch noch gar nicht!«
»Kommt mir aber doch so vor, als würden wir uns schon länger kennen, irgendwie…« meinte sie und ihr Augenaufschlag ging mir durch und durch. Ich murmelte: »Ja, geht mir auch so.« Und dann – und ich weiß wirklich nicht, welcher Teufel mich gerade geritten hat – sagte ich: »Sag mal, Lana, hast du eigentlich einen Freund?« Weiß der Kuckuck, ob es wirklich der Teufel war, der mich geritten hatte, sie so direkt danach zu fragen, aber das passiert mir immer irgendwann einmal, dass ich meinen Mund nicht halten kann und einfach sage, was ich denke. Aber sie reagierte nicht so, wie ich es gedacht hätte. Sie schaute mich wieder so irritierend direkt an, schüttelte leicht den Kopf, so dass sich ihre Haare nach rechts und nach links bewegten, kam mit dem Kopf leicht in meine Richtung und gab mir einen Kuss auf den Mund. Da war ich platt. Diese Plattheit schien sich auch in meinem Gesicht wieder zu spiegeln und als ich erst einmal gar nichts sagte, meinte sie: »Ich geh mal für kleine Mädchen.« Und weg war sie. Stattdessen stand Rüdiger plötzlich neben mir, boxte mich auf die Schulter und sagte »Hab ich gesehen, mach was draus.«
»Was hast du gesehen?« Aber während ich ihn das fragte, musste ich auch schon grinsen wie ein Idiot.
Später haben wir viel getanzt und getrunken. Ja, und wir haben uns auch geküsst. Es war schön. Wenn man glücklich ist, ist man wie von selbst im Moment. Man will nichts anderes, man wartet auf nichts, nichts muss anders werden oder sein. Der Moment ist sich selber genug. Doch wie selten sind diese Momente des unbeschwerten Glücks.
Wir tanzten nach einem Stück von Prince, da legte sie ihre Arme um mich und ich konnte gar nicht anders als sie zu küssen. Wie füreinander gemacht, verbanden sich unsere Lippen. Es war der perfekte Moment, den nichts und niemand besser machen kann. Sie schmeckte so gut, fühlte sich in meinen Armen so richtig an, als hätte sie dort schon immer hingehört. Doch unerbittlich ist die Zeit. Auch in diesen Momenten fließt sie weiter und so kam es, dass diese Party für uns endete und damit auch der erste Abend, an dem wir uns küssten. Der Abend, an dem wir begannen, ein Liebespaar zu werden. Niemals wieder erleben zwei Menschen die gleiche Unschuld wie an dem ersten Abend.
Nein, es kam nicht zum Sex an diesem Abend. Ich hatte es nie besonders eilig damit. Es war ein tief verborgenes Wissen in mir, dass mir wortlos sagte, lass dir Zeit und genieße, was du hast.
Das Leben ist ein langer Fluss und wenn man den Worten von Herakles, dem Philosophen folgt, dann kann man nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen. Warum? Weil das Wasser weiter fließt. Und auch unser Leben fließt, unerbittlich angetrieben von der Zeit fliegt es dahin und oft wissen wir gar nicht, wie es sein kann, dass schon wieder ein Tag, eine Woche, ein Monat oder sogar ein Jahr vergangen sind.
Ja und so erging es auch mir mit der Zeit von dem ersten Kuss bis dahin, dass wir zusammen waren. Zeit ist wirklich ein absonderliches Ding. Wenn wir glücklich sind, dann rennt sie uns davon und wenn man verliebt ist, dann ist man besonders glücklich. Ich brachte Lana an dem Abend unseres ersten Kusses nach Hause und unterwegs hatten wir ausgiebig Zeit, dem ersten weitere intensive Küsse folgen zu lassen. Lana wohnte bei ihren Eltern in einem schönen Haus in einer eher vornehmen Gegend in unserer großen Stadt. Es wurde allmählich Sommer und es war auch tief in der Nacht noch warm. Mir war ohnehin warm, denn meine Haut glühte von den Berührungen der für mich schönsten Frau dieser Stadt.
Diesem ersten Tag folgten weitere Tage, an denen wir uns sahen. Mit jedem gemeinsam verbrachten Tag fühlten wir uns wohler, freier und besser in der Gegenwart des anderen. An einem Freitag Abend, als ihre Eltern im Theater waren, schliefen wir das erste Mal miteinander und es war sehr schön. Nein, es war weder für Lana noch für mich das erste Mal, aber es war zumindest für mich das erste Mal mit einem Mädchen, in das ich so tief verliebt war. Wir waren nun zusammen und es begann die vielleicht schönste Phase in meinem Leben. Wenn wir mit einem Menschen zusammen sind und dieser Mensch will genauso mit uns zusammen sein, wie wir mit ihm, dann ist das eine glückliche Fügung. Der Buddha hat gesagt, es ist großes Glück und überaus selten, als Mensch geboren zu sein. Wie viel seltener und glücklicher ist es, als Mensch mit einem anderen Menschen glücklich zu sein. In unserem Viertel wurden wir ein häufig, und wie ich meinte, gern gesehenes Liebespaar. Lana und Jens. Jens und Lana. Von ihrer Ausstrahlung hatte ich ja bereits gesprochen, aber die Liebe und das Glück machten Lana schön. Jeder schaute sich nach ihr um, Männer sowieso, aber auch Frauen.
Und wie es so ist im Leben, wenn es läuft, dann läuft es. Mir ging alles leicht von der Hand. Ich fand sogar einen Job in einer Buchhandlung. Ware auspacken und verstauen, und meine Bücher bekam ich auch noch billiger. In diesem Sommer kam Lana oft in den Keller der Buchhandlung, wo ich arbeitete, und wir küssten uns dort unten. Sie war dann ganz warm von der Sonne und oft trug sie ein buntes Tuch in ihrem dunklen Haar, auch, weil sie wusste, dass ich das so mochte.
Es schien, dass dieser Sommer endlos war. Jeder Tag war sonnendurchflutet und die Abende waren mild und warm. Es war die Zeit der Liebe und wir lebten sie in vollen Zügen. Oft saßen wir abends mit Rüdiger im Biergarten und redeten, tranken und lachten. Manchmal brachte er eine Freundin mit, selten die gleiche mehrmals.
Klingt das wie ein Kitschroman? Ja, war es auch in dieser Zeit. Ich erinnere mich gut daran, dass wir eines Abends bei Lana im Zimmer lagen. Wir hatten miteinander geschlafen, und in der Zeit danach fällt es oft leichter über emotional schwierige Themen zu reden. Die Intimität hat Vertrauen erzeugt, man ist entspannt und die Gefühle fließen leichter. Lana fragte mich unvermittelt:
»Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?«
»Weiß nicht, aber es ist schon merkwürdig. Wir wissen ja auch nicht, wo wir herkommen. In einem gewissen Alter als Kind merken wir, dass wir da sind und irgendwann sind wir wieder weg. Doch, ich glaube schon, dass es da noch etwas gibt. Wieso fragst du?«
Sie wusste das auch nicht recht zu benennen. Lana hatte auch in diesen Tagen schon die Eigenschaft, tiefer bohren zu wollen. Existenzielle Fragen spielten eine immer größere Rolle in ihrem Leben. Oft besuchte sie Vorlesungen aus dem theologischen Seminar, nur so, aus Interesse. Insbesondere die fernöstlichen Religionen hatten es ihr angetan. Es war die Zeit, in der auch in den Buchhandlungen die Esoterik boomte. Bei Lana war es keine Modeerscheinung, sondern wirkliches Interesse. Sie war nie aufgesetzt, sondern immer echt. Das machte wohl auch einen Gutteil ihrer Ausstrahlung aus. Später würde ich mich fragen, ob es in ihrem Fall vielleicht auch eine Form des intuitiven Vorauswissens gewesen war?
Häufig trafen wir uns nicht mehr im Keller der Buchhandlung, sondern im Verkaufsraum vor den Regalen, nach meiner Arbeit. Gerne kaufte sie dann ein Buch und wir gingen ins nahe gelegene Cafe, um darüber zu sprechen. Ich hatte auch Interesse an diesen Themen, aber vor allem hatte ich Interesse an ihr. Wenn Lana sich für Reinkarnation begeisterte, dann interessierte mich das auch. Ich war in gewisser Weise ja immer schon von Rüdiger angefixt worden, denn auch in der Anthroposophie wurden diese Fragen aufgegriffen. Rudolf Steiner hatte eine Menge über den Tod und das Leben danach zu sagen, aber letztlich gab es kaum ein Thema, über das Rudolf Steiner nicht referiert hatte. Es kam mir zumindest so vor.
Eines Nachmittags hatte Lana intuitiv ein Buch von Krishnamurti gekauft und war in „unser“ Cafe vorausgegangen, um schon mal darin zu lesen. Als ich auch dort hinkam, saß Rüdiger bei ihr am Tisch und zuerst bemerkten mich beide nicht, da sie so intensiv diskutierten. Es ging irgendwie um das Ich.
»Hey, worüber redet ihr denn so intensiv?« so sprach ich die beiden an. Lana sprang auf, umarmte und küsste mich. Ich konnte mich darüber freuen, dass andere, meist männliche Besucher dieses Cafes, neidisch zu mir rüber schauten und sich wohl fragten, warum diese toll aussehende Frau ausgerechnet mich küssen musste.
»Hast du früher Schluss gemacht?« fragte Lana mich. Ich nickte.
»Macht doch weiter. Worum ging es nun?«
Rüdiger grinste mich an, boxte mich leicht auf die Schulter und meinte: »Um das Ego?«
»Hä?«
Er holte dann etwas weiter aus. Zwischendrin bestellte ich uns noch eine Runde Milchcafes, als die Kellnerin kam.
»Also Jens, was meinst du. Geht es darum, das Ich zu entwickeln oder geht es darum, es zu überwinden?«
»Was meint denn dein Meister dazu?«
»Steiner sagt, dass die Evolution es genau da hingeführt hat, dass wir Individuen ein Ich, ein eigenständiges Ego entwickelt haben.«
Nun mischte sich Lana ein. Sie wendete sich Rüdiger zu und sagte:
»Und wenn die Weisen – wie Krishnamurti – Recht haben, und das Ego beruht auf einer Illusion?«
Ich scherzte: »Dann sitzen wir ganz schön in der Scheiße.«
»Jens!!!« riefen Lana und Rüdiger synchron.
»Was heißt schon Illusion?«
»Ja, unsere Sinneseindrücke, also das, was wir sehen, das ist auch nicht die Wirklichkeit, sondern eine Interpretation derselben. Es sind doch nur Lichtimpulse, die das Auge aufnimmt und welche vom Gehirn interpretiert werden. Auch das ist irgendwie eine Illusion.«
»Ja, aber unser Ich? Ich bin doch da. Wie kann ich da eine Illusion sein?«
»Ja, es ist uns so lange eingeredet worden, dass wir ein Ich haben, dass wir ein Ich sind, dass wir es jetzt nicht nur glauben, sondern es sogar für unmöglich halten, dass dem nicht so ist.«
Ja der Rüdiger war ein schlauer Fuchs. Lana und ich schauten ihn stauend an.
Das war eine glückliche Zeit damals. Diese Art von Gesprächen haben wir noch oft geführt. Unser Verhältniswurde mit der Zeit immer besser und intensiver. Häufig bezogen wir Rüdiger mit ein. Ich bekam große Lust, mit Lana wegzufahren. Als ich ihr das vorschlug, war sie sofort begeistert und hatte auch eine Idee, wer uns ein Auto leihen würde. Schon ein paar Tage später hatten wir Zelt, Matratzen, Kocher und was man so braucht in das Auto verladen und sind früh am Morgen aufgebrochen in Richtung Westen. Am ersten Abend gönnten wir uns ein Hotel in Strassburg. Lana sprach leidlich französisch und ich hatte mich nur allzu leicht überreden lassen, dort mit hin zu fahren. Abends gingen wir im Zentrum spazieren. Der Dom war beeindruckend, wie er in den Himmel hinein ragte. Er inspirierte uns wieder einmal dazu, dass unser Gespräch einen gewissermaßen religiösen Charakter erhielt. Lana fragte mich nach meiner Meinung zum Sinn des Lebens.
»Mit einer schönen Frau wie dir in Frankreich Urlaub machen.«
»Nein, Jens mal im Ernst.«
»Du meinst, ob es einen Sinn des Daseins über das individuelle Leben hinaus gibt?« Ich liebte das Denken in Bildern und Analogien.
»Vielleicht sind wir alle nur Teile eines größeren Wesens, so wir unsere Körperzellen Teile unseres Körpers sind. Vielleicht lebt jede Zelle ihr kleines Zellenleben und denkt sich nichts dabei und erfüllt auf dem Wege dann doch ihre Aufgabe. Wir Menschen allein haben unter allen Wesen die Fähigkeit, über uns selber nachzudenken. Und das größere Wesen, von dem wir ein Teil sind, das nennen wir Gott.«
Auf diesen kleinen, aber durchaus gescheiten Vortrag von mir, umarmte mich Lana heftigst und sagte:» Dafür liebe ich Dich. Du nimmst mich ernst und denkst nach.«
»Wo andere nur Fussball spielen, meinst du!« Daraufhin boxte sie mich, hatte ich doch mit dieser scherzhaften Bemerkung an unser erstes Zusammentreffen erinnert. Inzwischen hatte sich der Himmel über dem Dom verdunkelt und es fing an zu regnen.
»Toll, und das an unserem ersten Ferientag!«
»Ich wüsste schon, womit wir uns beschäftigen könnten...«
»Aha, du willst also das Wetter gleich wieder für deine Zwecke ausnutzen.«
»Nicht nur für meine Zwecke…«
Dieser Abend endete im Hotel. Am nächsten Tag – es blieb bewölkt – fuhren wir quer durch das Land in Richtung Atlantik. Über Dijon und Clermont–Ferrand erreichten wir am späten Abend Bordeaux. Hier war so richtig was los. Die Südfranzosen wussten das Leben zu leben und die Straßen waren voller Menschen, die spazieren gingen oder in den vielen Cafes saßen. Lana konnte eine gute Ernte an interessierten Blicken dunkeläugiger Franzosen einfahren. Aber auch ich brauchte mich nicht beschweren, denn diese Gegend Frankreichs ist bekannt für seine hübschen Mädchen und seinen guten Wein.
Obwohl wir noch kein Quartier hatten, kehrten wir in eines der Cafes ein und bestellten uns einen Salat und eine Flasche Rotwein. Lana schaute mich beim Trinken an und meinte: »Jetzt sind deine kleinen Zellen betrunken und können ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen.«
»Nicht alle meine Zellen können ihre Aufgaben nicht mehr bewältigen.«
»Du Schuft!«
Inzwischen war es dunkel geworden und ich war tatsächlich nach einer halben Flasche Wein etwas angetrunken. Wir liefen Arm in Arm durch die Straßen von Bordeaux und suchten ein billiges Hotel. Aber es waren Sommerferien in Frankreich und es war absolut kein Hotel zu finden. Allmählich ließ die Wirkung des Weines nach und wir wurden müde. In einem Hotel hatten sie dann tatsächlich ein Zimmer frei. Lana wollte es gerne nehmen, mir war es zu teuer und ich nörgelte rum. Zuerst nahm sie es auf nette und witzige Weise, aber ich hatte mich inzwischen hineingesteigert. Hatte ich bereits erwähnt, dass ich ein ziemlicher Sturkopf sein kann. Es kam, wie es kommen musste. Wir hatten unseren ersten richtigen Streit.
»Du bist stur und geizig.«
»Ich muss ja nicht unser ganzes Urlaubsgeld am ersten Abend ausgeben.«
»Ich dachte, wir wären dir das wert.«
»Und dafür habe ich wochenlang in der Buchhandlung geschuftet.«
Lana konnte auch stur sein, und sie war sehr selbstbestimmt. Also ließ sie mich vor dem Hotel stehen und buchte sich das Zimmer allein. Ich war verstimmt und blieb vor dem Hotel zurück. Sie kam dann nach einer Weile sogar noch einmal raus zu mir, aber ich schaute sie so böse an, dass sie sich umdrehte und hinein ging. Und ich war dort draußen. Allein mit meinem Stolz. Die Hände tief in den Taschen vergraben lief ich durch die Straßen und ärgerte mich über mich selber. Selbstquälerische Gedanken mischten sich mit Visionen davon, wie schön es jetzt mit Lana im Hotelzimmer sein könnte. Mein Blick ging nach oben in den Himmel. Es war sehr klar geworden und viele Sterne waren zu sehen. Kristallklar erkannte ich mich allein stehend unter einem Sternenhimmel in Bordeaux und wusste, was zu tun war.
Ich holte das Gepäck vom Auto und ging zum Hotel. Reumütig klopfte ich an die Zimmertür.
»Hast ja lange gebraucht« schallte es mir von drinnen entgegen. Sie machte die Tür auf. Sie hatte ihr Haar zurückgebunden und ich sah sofort, dass sie geweint hatte. »Du kannst das Gepäck dort abstellen, Trinkgeld gibt es heute nicht.«
»Aber vielleicht eine Umarmung und eine Versöhnung?«
»Ja, vielleicht…«
»Entschuldigung. Ich bin ein Idiot.«
»Ja und ich bin ein Idiot, dass ich einen solchen Idioten so lieb habe.«
Die Tasche noch in der Hand, die Hoteltür offen, standen zwei Menschen mit Tränen in den Augen , umarmten und küssten sich. Übrigens, die Tür machte ich dann noch zu.
Am nächsten Morgen sind wir in der Nähe der spanischen Grenze ans Meer gefahren. Es ist immer wieder ein Erlebnis, den Atlantik in all seiner Kraft zu erleben. Wir hatten ein kleines Zelt dabei und fanden auch einen netten Platz, wo wir uns wohnlich einrichteten. Die nächsten Tage hatten immer den gleichen Ablauf. Ich holte Brot, Lana machte das Frühstück. Dann gingen wir an den Strand. Über Mittag schliefen wir im Zelt, oder machten was anderes. Abends gingen wir Salat essen und Wein trinken in einer der nahe gelegenen Bars. Dort lernten wir auch Rene und Ivonne kennen, ein Pärchen aus der Schweiz. Schon bald saßen wir abends zu viert zusammen und diskutierten über Gott und die Welt. Meistens aber mehr über Gott, denn Rene und Ivonne waren schon lange auf ihrer spirituellen Suche und von daher natürlich absolut willkommene Gesprächspartner für Lana – und für mich. Zuletzt waren beide in der Schweiz bei einem bekannten Schamanen gewesen.
»Alles in der Natur ist beseelt, wusstet ihr das?« meine Ivonne.
»Jede Begegnung mit einem Tier oder einer Pflanze kann ein Hinweis für euch sein.«
»Woher weiß denn das Kaninchen, dass es eine Botschaft für mich hat?« scherzte ich, worauf ich einen schmerzhaften Stoß mit dem Ellenbogen von Lana bekam.
»Sei doch mal ernst Jens!«
»Ihr meint, dass alle Dinge in der Welt miteinander verbunden sind und alles eine Botschaft für alles andere sein kann?«
»Ja, so kann man das sehen… Der Schamane wies uns darauf hin, dass wir, um so mehr wir im Kontakt mit unserer Seele sind, auch die Botschaften der Natur deutlicher für uns werden. Diese Kontakte können natürlich auch über Menschen hergestellt werden.«
»Vielleicht seid ihr ja auch Botschafter für uns«, meinte Lana. »Oder wir für euch!«
An diesem Abend floss einiges an Wein in uns hinein. Das Schöne am Urlaub mit einem Menschen, den man liebt ist ja, dass jeder Moment etwas Besonderes ist. Diese Tage am Atlantik mit Lana gehören zu den schönsten Tagen meines Lebens. Oft trafen wir uns abends zum Wein mit Rene und Ivonne. Unsere Gespräche waren nicht immer so tiefgründig, hatten aber häufig einen spirituellen Hintergrund. Das Gespräch am ersten Abend sollte sich in der Folge als durchaus prophetisch erweisen.
Eines Abends kamen wir wieder einmal aus der Kneipe. Als Lana und ich uns zum Zelt aufmachten, war es einer der klarsten Sternenhimmel, die ich überhaupt je gesehen hatte. Staunend blieben wir stehen. Ein inneres Frösteln überkam mich, obwohl es nicht kalt war. Wie eine Art von innerer Vorahnung spürte ich, dass da etwas auf mich, auf uns zukam und ich war dann – im Gegensatz zu Lana – überhaupt nicht erstaunt, als plötzlich eine große Eule nahezu lautlos über uns hinweg flog. Im Zelt spekulierte Lana, eng an mich gekuschelt, was wohl die Bedeutung der Eule für uns sein könnte.
»Vielleicht ist es eine Einweihung aus einer anderen Dimension?«
»Lana, ich denke, dass werden wir noch früh genug erfahren.« Mit diesem Satz sollte ich mich dann wirklich als Prophet erweisen.
Der nächste Morgen begann schön und strahlend wie die Tage zuvor. Wie jeden Tag wollte ich Brot holen, aber Lana meinte, sie wolle gern ihre Eltern anrufen und dann könne sie ja das Brot mitbringen.
»Soll ich mitkommen?«
»Nee, du Faultier, mach man schön das Frühstück und bitte genauso lecker, wie ich sonst!«
»Sehr wohl, Madam.«
Es dauerte dann eine ganze Weile, bis Lana wiederkam und ich begann schon mir Sorgen zu machen. Schon an ihrem Gang erkannte ich, dass etwas nicht stimmen konnte. Als sie näher kam, sah ich, dass sie hemmungslos weinte. Ich stand auf, ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. Sie schluchzte und ich konnte kein Wort aus ihr herausbekommen. Nach einer Weile hörte ich dann nur ein einziges Wort: »Mami!!!«
Es dauerte eine ganze Weile, bis Lana so weit war, mir das zu erzählen, was sie selber gerade gehört hatte. Die Sache ist schnell beschrieben. Am Tag zuvor war ihre Mutter, wie eigentlich immer, mit dem Fahrrad zum Einkaufen gefahren. Dort ist sie von einem unaufmerksamen Autofahrer so unglücklich angefahren worden, dass sie innere Verletzungen erlitten hatte und noch am Unfallort verstarb. Da Lana ein Einzelkind war, stand sie nun mit ihremVater ganz allein da.
Natürlich sind wir dann direkt umgekehrt und zurück gefahren. Es war eine lange und einsame Fahrt, da Lana meistens weinte und nicht wirklich ansprechbar war. Abends hielt ich an einer Raststätte an und ging einen Kaffee trinken, Lana blieb im Auto. Beim Kaffee grübelte ich über das Schicksal nach. Hatte eine übergeordnete Macht uns durch Rene und Ivonne warnen wollen. Eben noch waren bestimmte Dinge so wichtig für mich gewesen und nun waren sie dermaßen unwesentlich, überblendet von diesem Schock. Ich hatte Lanas Mutter nur kurz kennen gelernt, mir war aber aufgefallen, dass sich beide Frauen doch recht ähnlich waren und sich gut zu verstehen schienen. Wie konnte ich Lana helfen? Konnte unsere junge Beziehung diesen Bruch verkraften? Und war Lana stark genug, den Tod ihrer Mutter verarbeiten zu können? Und wie lange würde das dauern? Viele Fragen, auf die ich keinerlei Antwort hatte. Bald schon fuhren wir weiter.
Mitten in der Nacht kamen wir an. Auch ich war sehr schweigsam gewesen und hatte Lana den Raum gegeben, den sie meiner Meinung nach brauchte.
»Willst du mit zu mir, und ich fahre dich morgen zu deinem Vater?«
»Nett von dir, Jens, aber ich möchte direkt zu ihm.«
»Soll ich vielleicht mitkommen?«
»Nee, lass man, ich rufe dich morgen an.«
Ich setzte sie vor dem Haus ihrer Eltern ab. Tatsächlich brannte noch ein Licht und kaum hatte ich den Wagen auf der Einfahrt geparkt, kam auch schon ihr Vater heraus. Beide umarmten sich lange, dann löste er sich von ihr und gab mir die Hand. Auch Lana umarmte mich kurz, dann gingen beide hinein und ich fuhr zu mir.
Am nächsten Morgen rief sie mich kurz an, um mir zu sagen, dass ihr Vater sie bräuchte und sie sich wieder bei mir melden würde. Daraufhin rief ich Rüdiger an, um ihn auf den neusten Stand zu bringen.
Auch er war geschockt, wollte sich gleich mit mir treffen.
Abends saßen wir bei ihm und redeten. Ich war ganz durcheinander und wusste gar nichts mehr.
»Die arme Lana. Sie tut mir so leid.«
»Mensch, die Mutter so unerwartet zu verlieren, das ist echt hart!«
»Ich würde so gern etwas für sie tun, aber sie hat mich heute morgen nur kurz angerufen und seit dem gar nicht mehr.«
»Mensch Jens, sie ist durcheinander und meint für ihren Vater da sein zu müssen.«
»Ja und ich will für sie da sein.«
»Vielleicht seid ihr dafür noch nicht lange genug zusammen?«
»Was soll ich denn bloß tun?«
»Lass sie, sie wird sich schon bei dir melden, wenn es für sie richtig ist.«
Rüdiger wollte mich überreden, noch etwas mit ihm trinken zu gehen.
»Komm schon Jens, bringt dich auf andere Gedanken.«
Ich hatte keine rechte Meinung. Ich wollte zu mir. Insgeheim hoffte ich auch darauf, dass Lana anrufen würde und ich wollte da sein, wenn sie sich melden würde. Aber das passierte nicht. Ich saß den späteren Abend bei mir rum, starrte auf das Telefon, schaltete den Fernseher ein und schaltete den Fernseher wieder aus. Ich ging zum Kühlschrank, machte ihn auf und machte ihn wieder zu, schaute auf das Telefon. Ich nahm ein Buch in die Hand, verlor mich aber in Gedanken. Dann schaute ich zum Telefon, ging zum Kühlschrank. Meine Laune wurde immer schlechter, so dass mir nichts anderes mehr einfiel, als zu Bett zu gehen. Ich wusste gar nicht genau, ob mir nun Lana leid tat, weil sie ihre Mutter verloren hatte oder ob ich mir selber leid tat, weil nun meine tolle Liebesbeziehung unterbrochen wurde. Für diesen Gedanken konnte ich mich selber hassen. Na, so war an Schlaf nicht zu denken.