Die fahrradverrückte Familie

Geradelt wurde im Sommer 1980
Teilnehmer: Fam. Altmann
(Mabel, Aron, Ado, Peter und Mon-Chi-Chi)
Geradelte Strecke: 1146 km
Radelzeit: ca. 5 Wochen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < www.dnb.de > abrufbar.

Neuauflage 2020

© 2007 Peter Altmann

Cover und Layout Peter Altmann

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7526-7574-0

INHALT

  1. Kurz & Bündig
  2. PROLOG
  3. FAHRRADENTSCHEID
  4. RÜCKBLENDE
  5. MITWIRKENDE
  6. DIE REISE
  7. EPILOG

1 Kurz & Bündig

Erinnerungen an ein Fahrradabenteuer von Dachau bei München über Innsbruck in Österreich, Venedig in Italien, Görz und Kranj in Jugoslawien, Graz in Österreich und schlussendlich wieder nach Dachau bei München.

Diese authentische Erzählung konnte ich dank eines kleinen, auf dieser Reise mitgeführten Tagebuches und unserer bruchstückhaften Erinnerung verfassen.

Weil ich ein hoffnungsloser Romantiker und Naturliebhaber bin, enthält die Geschichte neben trockenen geografischen und zeitlichen Angaben so manche ausschweifende Naturbetrachtung und allerlei Aberwitz. Um den Zeitgeist zu treffen, habe ich auch versucht, autobiografische Exkursionen und aktuelle Gesellschaftskritik einzuflechten. Meine Kommentare mögen nicht immer astrein und manchmal vielleicht dilettantisch sein, aber ich konnte mir gewisse Bemerkungen einfach nicht verkneifen.

Deshalb bitte ich den geneigten Leser im Voraus um Nachsicht und Verständnis und wünsche bei der Lektüre nichtsdestotrotz viel Spaß.

Es würde mich freuen, wenn ich mit dieser Erzählung manchen Leser zu einer ähnlichen Reise animieren könnte.

2 PROLOG

In seinen Italienischen Reisetagebüchern zitierte einst Johann Wolfgang von Goethe die bekannten geflügelten Worte: „Neapel sehen und dann sterben.“

Angeblich soll dieser wenig erheiternde Sinnspruch seinen Ursprung schon in der Antike bei Homer haben. In Wirklichkeit ist es wahrscheinlich viel harmloser, denn auf Italienisch heißt es: „Vedi Napoli e poi muori.“

Das Wort „muori“ bedeutet als italienische Verbform „du stirbst“, aber gleichzeitig könnte damit der kleine Vorort „Muori“ gemeint sein, der hinter Neapel liegt, und die Bedeutung des Sprichworts wäre somit auf die Tatsache reduziert, dass man zuerst Neapel sähe und dann das dahinterliegende Örtchen Muori.

Die stolzen Neapolitaner betrachten ihre Stadt hingegen aus einem ganz anderen Blickwinkel, denn ein weiteres eingeborenes Sprichwort dieser erstaunlichen Metropole, in der angeblich die Pizza erfunden wurde, behauptet, dass Neapel „ein auf die Erde gefallenes Stück Himmel“ sei. Basta!

Ich hatte als Kind das Glück, mit meinen Eltern Neapel auf meine Weise kennenlernen zu dürfen. Ich bin damals nicht gestorben, aber ich wurde sehr nachdrücklich und widersprüchlich beeindruckt.

Auf der einen Seite die Hitze, der Durst, die Sehnsucht nach Gelato Motta oder nach saftigen Weintrauben, der Graus vor dem Genuss von Miesmuscheln, die obendrein auch noch cozze genannt und von Experten lebend verspeist werden. Dazu die Müdigkeit, verursacht durch das stundenlange Gelatsche in den flimmernden Ruinen von Pompeji, wo mich die, zum Teil lasziven, Wandmalereien damals noch nicht interessierten.

Auf der anderen Seite die wunderschönen Smaragdeidechsen, dort in den Mauerritzen, die ich mit Geduld und Geschick mit den Händen fangen konnte.

Oder das Meer, die Gerüche, das Licht und die Menschen mit ihrem Palaver in den engen, kopfsteingepflasterten Gassen, in denen der Blick zum Azurhimmel durch bunte Wäsche teilweise versperrt war. Auch die Schiffsreise nach Capri mit der wackligen Umsteige in kleine Ruderboote, um mit eingezogenen Köpfen in den niederen Spalt in die Blaue Grotte einfahren zu können. Dort drinnen schwebten wir dann, von unten beleuchtet, in den Booten auf einem atemberaubenden durchsichtigen Hellblau. Jeder Ruderschlag verursachte perlende Kaskaden, und ich war hin und mit und dachte mir damals, dass es so ähnlich im Himmel aussehen müsste. (Vielleicht doch ein Stück, das vom Himmel gefallen war?)

Für diese Urlaubsfahrt hatte mein Vater sein BSA-Motorrad, extra für mich, als drittes Rad am Wagen, mit einem Beiwagen vergrößert. Das Einzylinder-500-ccm-Motorrad hatte er billigst aus alten Militärbeständen erstanden. Ich durfte in der schiffsartigen Gondel auf den gestapelten Campingklamotten obenauf sitzen, wie die Prinzessin auf der Erbse. Um für die alte Zeiss-Kamera meines Vaters einen besonders schönen Blick auf die Bucht von Neapel und den Vesuv zu ergattern, fuhren wir steil, auf engen, verwinkelten Wegen in das Labyrinth der oberen Stadt. Auf dieser Route passierte an unserem Dreirad eine technische Panne. Die hintere Federaufhängung des überlasteten Beiwagens war durch das Schaukeln müde geworden und brach ab. Das Beiboot krachte mit dem Hinterteil auf das Pflaster. Zum Glück waren wir in dem Getümmel nicht schnell unterwegs, und so schlitterte die Kiste Funken sprühend, an der vorderen Federung hängend, bis zum Stillstand des Gespanns über die Kopfsteine.

Nachdem wir knieweich, aber unverletzt abgestiegen und ausgestiegen waren, umringte uns im Nu eine juchzende und schnatternde Kindermeute, die uns bleiche Langnasen aus dem Norden bestaunte und begrüßte. Gleich dahinter kamen einige Männer, die den Defekt begutachteten und unter großem Gestikulieren lautstark über Abhilfe diskutierten. In der Zwischenzeit räumten wir den Beiwagen zur Entlastung vollkommen leer, und unter tatkräftiger Hilfe wurde die leere Gondel hinten mit dem ledernen Hosenriemen meines Vaters und mit einem Gepäckriemen wieder hochgebunden. Wenige Augenblicke später war das Motorradgespann mit meinem Vater aus meinen Augen verschwunden, und meine Mutter stand mit mir allein neben dem aufgestapelten Berg Gepäck.

Jetzt kamen die Frauen ins Spiel, sie scheuchten das Kindergewusel zur Seite und umringten uns. Helme gab es damals noch nicht, und meine Mutter nahm ihre mückenverkleisterte Motorradbrille und ihr Kopftuch ab. Ihre langen, hochgesteckten, tizianroten Haare wurden sogleich von den Frauen bewundert, und sie zupften an den Kämmen, um die Machart zu ergründen.

Sie erkundigten sich auch grapschend und fuchtelnd über die sonderbaren Dinge, die wir für das Campen in unserem Gepäckhaufen hatten. Wir konnten zwar kaum Italienisch, aber mit Händen und Füßen war schnell für Verständigung gesorgt. Meine Mutter war auf diesem semantischen Fachgebiet hervorragend. Für die Frauen war natürlich die höchste Attraktion, dass ein Kind einen derartig gefährlichen Unfall und überhaupt eine so beschwerliche Reise mitgemacht hatte.

Maaama miiia, Bambino hin und Bambino her, ich wurde prompt in einen Hauseingang gezerrt und mit Getränk und Leckereien versorgt. Da meine Mutter, trotz Tohuwabohu, keine Anzeichen von Stress erkennen ließ, legte sich meine anfängliche Befangenheit. Die Menschen erschienen mir damals wie entfernt verwandte Onkel und Tanten, die etwas närrisch waren und sich riesig freuten, uns, nach langer Zeit, wiederzusehen.

Das Motorrad, erfuhren wir mit Händen und Füßen, sei bei dem Hafenschmied, der sonst die Ketten und die Anker für die Schiffe ausbesserte. Durch einen Kinderkurier wurde uns alsbald aufgeregt berichtet, dass die Reparatur so gut wie fertig sei. Nachdem mein Vater dann tatsächlich mit dem instand gesetzten Gespann und mit seinem Hosenriemen um die Hüfte zurückkam, wurde unter allgemeiner großer Freude wieder gepackt. Zahlreiche Bewohner der Straße verabschiedeten uns winkend mit den besten Reisewünschen: „Buon viaggio, arrivederci!“ Was mich dabei besonders erstaunte, waren ihre Handbewegungen. Bei uns winkt man mit den Handflächen nach außen gedreht und wachelt entweder hin und her oder auf und nieder. Bei den Neapolitanern waren die Handflächen nach innen gedreht und sie öffneten und schlossen die Hände in schneller Folge. Für mich schien es, als wollten sie uns zurücklocken oder zumindest damit bewirken, dass wir bald wiederkommen sollten. Der Hafenschmied hatte ordentliche Arbeit geleistet, die Reparatur hielt einwandfrei. Er hatte sich obendrein die Arbeit nicht bezahlen lassen, selbst ein Trinkgeld hätte seine Ehre verletzt.

Von dem Gepäckhaufen, der ja zeitweise unbewacht in der Wartezeit auf der Straße gelegen hatte, fehlte kein Fitzelchen.

Die Schilderung dieser Erlebnisse, die annähernd ein halbes Jahrhundert zurückliegen, ist vielleicht durch meine kindliche Erinnerung etwas verfälscht, aber allein an Gefühle, glaube ich, kann man sich gut erinnern, und diese habe ich versucht authentisch rüberzubringen.

So habe ich „Bella Italia“ als Kind kennengelernt. Dieses Italien, damals noch ohne ehemaligen Silvio Berlusconi, wollte ich auch unseren Kindern nahebringen. Bei all der Fremdenfeindlichkeit heute zu erfahren, was Toleranz, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit bedeuten, ist sicherlich eine Bereicherung der persönlichen Lebensphilosophie, besonders für Kinder.

FAHRRADENTSCHEID

Die Entscheidung von uns vier HeldInnen eine ähnliche Reise gerade nach Venedig zu planen, hatte mehrere Gründe. Die gigantische Strecke bis nach Neapolis (griechisch: neue Stadt) wäre Größenwahn gleichgekommen, und mit der näheren Lage von Venedig konnten wir uns gerade noch so anfreunden, natürlich mit dem entsprechenden Respekt. Die Lagunenstadt Venezia war und ist durch ihr Flair auch bei Hochzeitsreisenden als Ziel beliebt, und da unsere eigenen Flitterwochen schlichtweg ein Desaster waren (auf einer Berghütte eingeschneit, ohne Strom, ohne Heizung, Seilbahn ausgefallen), gedachten wir unsere „voyage de mariage“ sehr verspätet auf Fahrrädern nachzuholen.

Im Vergleich zu den zeitgemäßen Transportmitteln wie Flugzeug, Auto, Bus, Bahn hat das Radfahren aus unserer Sicht zahlreiche Vorteile. Es bietet ungeahnte Möglichkeiten, Land und Leute intensiv kennenzulernen, besser ginge dies nur noch zu Fuß. Man bewegt sich relativ leise und langsam und kann somit die vorüberziehende Landschaft mit ihrem Licht, ihren Gerüchen und Geräuschen auf sich wirken lassen. Auch der zwischenmenschliche Kontakt ist leicht zu knüpfen, insbesondere wenn Kinder auf kleinen, voll bepackten Fahrrädern mit in der Radelfamilie strampeln.

Ein anderer Aspekt war auch der unerreicht geringe Energieaufwand. Mit einer Tafel Schokolade kann man bis zu sechzig Kilometer weit radeln, vorausgesetzt es gäbe weder Steigung noch Gegenwind. Selbst Goethes Kutschpferd (mochte keine Schokolade) verbrauchte mehr, und jedes Drei-Liter-Auto sähe dagegen alt aus. Wenn man dann noch bis zu zwanzig Kilometer weit ohne einen einzigen Strampler von einer Passhöhe juchzend hinuntersausen kann, mit fliegenden Haaren und völlig der Schwerkraft anvertraut, ist das Glück auf zwei Rädern perfekt.

Unsere Abenteuerlust spielte natürlich auch mit, denn ein Urlaub, weitab von den großen Touristenströmen, mit Übernachtungen in der Wildnis im Zelt und der geplanten Überquerung von mehreren Alpenpässen, bringt schon einige Endorphine in Bewegung. Normale Mitmenschen belächelten unser Vorhaben und griffen sich wahrscheinlich hinter unserem Rücken an den Kopf. Sie nahmen auch sicher an, dass wir nach dem ersten Regenguss entnervt in das nächstbeste Hotel einzögen und dann per Eisenbahn heimreisten. In der Planungsphase hatten wir uns diese Option auch immer offengehalten. Es kam aber nicht ansatzweise dazu, wie wir noch sehen werden.

Nebenbei bemerkt ist die Erfindung des Fahrrads, soweit man der Geschichtsschreibung glauben kann, auf einen Vulkanausbruch zurückzuführen. Im April des Jahres 1815 schleuderte in Indonesien der Vulkan Tambora bei seiner Eruption erhebliche Mengen an Asche in die Atmosphäre. Die Folge war eine über Jahre andauernde, weltumspannende Klimaveränderung. 1816 wird als das Jahr ohne Sommer bezeichnet und war seit Beginn der Wetteraufzeichnung bis heute das kälteste Jahr. Durch katastrophale Missernten entstanden Hungersnöte und Pferdesterben. Als sinnvollen Pferdeersatz erdachte Karl Drais von Sauerbronn eine zweirädrige Laufmaschine und konstruierte sie mit lenkbarem Vorderrad ganz aus Holz. Sein Gefährt wurde Draisine genannt und erfreute sich alsbald derart großer Beliebtheit, dass das Laufrad auf den Gehwegen verboten werden musste (kommt uns irgendwie bekannt vor).

Die für die Reise eingeplanten Drahtesel stammten alle aus unserem familieneigenen Fuhrpark. Sie wurden vor der Tour gewissenhaft ausgewählt, getunt und in ausgedehnten Trainingsfahrten auf Herz und Niete getestet. Nichtbastler und Nichtradler werden der Tatsache, dass alle Strampelgeräte ausschließlich vom Sperrmüll stammten, mit Unverständnis begegnen und mich in die Ecke der Spinner bugsieren. Vielleicht haben sie nicht unrecht, aber man möge bedenken, dass zu dieser Zeit das Fahrrad völlig out of fashion war, das Mountainbike noch nicht erfunden und der Bike-Boom noch nicht eingesetzt hatte. Dies führte dazu, dass die Besitzer ihre teilweise guten Fahrräder einfach, um Platz zu bekommen, zum Sperrmüll vor die Häuser stellten. Wir mussten sie dann nur mit einem geschulten Qualitätsauge einsammeln. Durch handwerkliches Geschick und liebevolle Zuwendung verwandelten sich diese stiefmütterlich weggeworfenen Trauergestelle in nützliche und zuverlässige Arbeitsgeräte. Ado und ich, wir fahren heute noch (nach 27 Jahren) beide mit diesen legendären Venedigveteranen vom Sperrmüll.

Diese Sperrmüll Aktionen gibt es heute leider nicht mehr. In den Recycling Höfen darf man aus den Alteisencontainern nichts entnehmen. Auf eigenen Tafeln steht, für mich völlig unverständlich, dass die Entnahme verboten sei und als Diebstahl geahndet werden würde. Ja sind wir noch zu retten?

Ein weiterer Grund für die Fahrradwahl war auch der Umstand, dass unsere Sprösslinge bei den gemeinsamen Bergwanderungen eine seltsame synchrone Abneigung gegenüber Fußmärschen entwickelten. Die Ursache konnten wir bis heute nicht ergründen, sie liegt aber wahrscheinlich in unserer, speziell in meiner Familiengeschichte.

4 RÜCKBLENDE

Um meinen sonderbaren Hang zum Fahrrad und meine, manchmal vielleicht ungewöhnliche Einstellung zu gewissen Lebensfragen, meine Bastelwut, meine Naturverbundenheit und meinen romantischen Anspruch näher zu beleuchten, muss ich weiter ausholen.

Mein Urgroßvater mütterlicherseits, Benedict Albl, besaß um 1888 in Österreich in Graz am Lendplatz 14 eine Fahrradfabrik. Das Unternehmen wurde „Graziosa-Fahrradwerke“ genannt.

Von England war die Mode für Hochräder herübergeschwappt, und mein Urgroßvater entschied sich für die Entwicklung von Niedrigrädern, deren Bauform annähernd den heutigen Fahrrädern entsprach. In der Fabrik beschäftigte er einen tüchtigen Mechaniker, der aus dem heutigen Slowenien stammte.

Der begabte Mechanikus machte sich selbstständig und überflügelte meinen Urgroßvater alsbald. Mit seinem „Styriarad“, das erste vollgummibereifte, kettengetriebene Fahrrad, wurde der abtrünnige Mechaniker berühmt. Sein Name war Johann Puch. Das von ihm gegründete Puch-Werk erlangte später, mit einer Spitzenproduktion von 310.000 Fahrrädern pro Jahr, auf dem Zweiradsektor Weltruhm. Heute hat leider ein steirischer Strohsack (Stronach) aus Kanada alles aufgekauft und in Magna umgetauft und baut dort in erster Linie Autos.

Mein Urgroßvater hatte offiziell zwei Töchter, die auf dem Foto auf der rechten Seite zu sehen sind. Sie waren Mitbegründerinnen des ersten Damen-Radfahrvereins der österreichischen Monarchie, dem

„Grazer Damen-Bicycle-Club“ (1893–1898).

Die Damen mussten kurioserweise in Mieder geschnürt, mit Hüten und mit züchtig bedeckten Waden radeln, und Schwitzen galt obendrein als unschicklich.

Eine weitere (uneheliche) Tochter war meine Großmutter mütterlicherseits, Friederike. Ihr Mann war Dirigent und Gesangslehrer und folglich hatte sie mit Fahrrädern nichts am Hut und wurde Opernsängerin. Leider habe ich sie nicht mehr kennengelernt, sie war auf einer Tournee in Istanbul tragischerweise gestorben und liegt dort begraben.

V äterlicherseits bekam ich auch ein gehöriges Quantum an Radlerblut vererbt. Mein Vater war in jungen Jahren aktiver Radrennsportler, und ein mit Pokalen teilweise gefüllter Schrank erzählt von erfolgreichen Zeiten. Er radelte auch manchmal schon von Graz nach Wien (hin und zurück an die 500 Kilometer), nur um dort einen Satz Bereifung für sein Rennrad billiger einkaufen zu können.

Auf dem Foto ist im Vordergrund mein eichenlaubbekränzter Vater und im Hintergrund mein Großvater zu sehen. (Man beachte auch den verwegenen Sattel.)

Mein Großvater, von mir nur „Odati“ genannt, war ebenfalls in der Fahrradpionierzeit ein engagierter Klubrennradler. Ich durfte als Pimpf auf meinem Minifahrrad mit ihm an offenen Radrennen mitstrampeln. Wir wurden auch einmal gemeinsam, er als der älteste und ich als der jüngste Teilnehmer, bei einer Siegerehrung auf die Tribüne gerufen und prämiert.

Odati nahm mich auf Ausflügen mit, und die Touren führten uns durch unberührte Natur und Wälder und hatten obligatorisch ein Gasthaus als Endpunkt. Dort wurde regelmäßig eine Belohnungszeremonie abgehalten. Weil die Odati-Pension beschränkt war und es so Sitte war, hatten wir die Jause selbst dabei.

Er bekam immer ein Bier und ich ein Kracherl. Das Kracherl war irgendeine Zuckerplörre mit Kohlensäure versetzt und in seiner Flasche mit Kugelverschluss eingesperrt. Wenn man die Kugel nach innen drückte, dann krachte es, deshalb Kracherl. Es wurde kellerkalt serviert und schmeckte prickelnd-himmlisch.

Unterwegs wurden auch lehrreiche Pausen eingelegt, wie zum Beispiel bei einer wassergetriebenen Mühle oder einem Sägewerk. Manchmal setzten wir uns einfach in den Wald auf Baumstümpfe, und Odati paffte an seiner Pfeife, während er mir die Natur, das Leben und die Welt erklärte. Das Erstaunliche war damals für mich, dass er meine unzähligen Fragen immer erschöpfend beantworten konnte. Als Erwachsener fand ich später heraus, dass dafür zwei Dinge notwendig sind. Das Erste ist Geduld, und zum Zweiten bezog er seine naturwissenschaftlichen Kenntnisse aus abonnierten KOSMOS-Büchern. Diese Sammlung halten wir heute noch in unserer Familie in Ehren.

Er zeigte mir auch den scheuen Eichelhäher und erklärte mir, dass dieser als Wächter des Waldes bei Annäherung von Feinden die übrigen Waldbewohner warne. Ganz beiläufig hob er dann eine kleine, schillernde, blau-schwarz gestreifte Feder auf, meinte, der Häher habe sie für uns fallen gelassen, und steckte sie sich an den Hut.

Eine der lustigsten Odati-Aktionen war das „Malerika“-Spiel. Wir schnitzten, wie es für Großväter mit Enkeln üblich ist, ein kleines Boot aus Rinde, bastelten einen Mast mit einem Blatt als Segel, und ich durfte es dann in dem nächsten kleinen Bach aussetzen. Er erklärte mir dann, dass das kleine Schiff über diesen Bach in einen Fluss gelangt, anschließend in dieses kleine und jenes große Meer schaukelt, um schließlich irgendwann über den großen, sturmumtosten Atlantik bis nach Amerika zu segeln. Ich rannte dann freudig neben dem wackelnden Schinakel einher und segnete es mit meinem Ruf: „Malerika, Malerika!“ Das Wort Amerika hatte ich noch nicht richtig drauf. Wahrscheinlich wird es keine unserer zahlreichen Galeonen so weit geschafft haben, aber wer weiß, wo sie noch heute überall herumdümpeln.

Auf diesen Fahrradausflügen passierten hin und wieder Defekte oder Reifenpannen. Ich durfte dann bei der Reparatur assistieren und bekam jeden Handgriff erklärt. Ein Drahtesel war zu dieser Zeit so kostbar, dass Odati einmal jährlich sein Fahrrad bis auf die letzte Kugel zerlegte und sozusagen den großen Wartungsdienst durchführte. Ich war oft dabei und lernte auf diese Weise die gesamte damalige Fahrradtechnik von innen heraus kennen.

Auch bei anderen Bastelarbeiten in seiner Wohnstube durfte ich mitwirken. Er baute kunstfertige Puppenstuben aus Kirschen- und Lindenholz, Holzeisenbahnen, Weihnachtskrippen, bunte Flugdrachen und andere Spielzeuge. Ich kann mich an ein Wetterhäuschen erinnern, in dem eine lustige Magd das Schönwetter und ein griesgrämiger Bauernbursch mit Schirm das Schlechtwetter anzeigen sollten. Die Figuren, die auf einem Pferdehaar aufgehängt waren, schaukelten aber nur selten zur verlässlichen Wettervorhersage aus dem bunt bemalten und mit echter Rinde gedeckten Häuschen.

Ich durfte mit diesen Kostbarkeiten vorsichtigst spielen. Auch Mabel und Aron haben damit gespielt und die Schätze für die nächste Generation pfleglich behandelt.

Das zweifellos beeindruckendste Erlebnis bei der Bastelei mit Odati war der gemeinsame Bau einer Montgolfiere. Die Brüder Montgolfier hatten bereits 1783 den ersten Heißluftballon steigen lassen und fuhren damals in Paris 10 Kilometer weit. Wir versuchten uns natürlich nur an einem Modell, aber immerhin mit einer Gesamthöhe von annähernd einem Meter. Es war aus Streifen von Seidenpapier geklebt, ähnlich den Spalten einer Orange und hatte eine verzierte Konservendose als Gondel. In der Gondel wurde ein Wattebausch befestigt und zum Start mit Spiritus getränkt und entzündet. Der Stapellauf fand im Hinterhof statt, und der erste Flug, besser die erste Fahrt war auch die letzte.

Erst hob die Montgolfiere zaghaft vom Boden ab und stieg einige Meter einwandfrei, dann jedoch entzündete der flackernde Antrieb die Unterkante des Papierballons und die beiden trennten sich. Die Gondel fiel Funken sprühend zu Boden, und der dadurch unbelastete, brennende Ballon stieg und stieg, bis seine lodernden Restfetzen über die Hausdächer davonsegelten. Ich war begeistert und nahm an, dass dieses Spektakel so gedacht gewesen wäre. Aber Odati ließ die Ohren hängen, und so begriff ich, dass dies einer unserer seltenen Fehlschläge war.

Beim gemeinsamen Arbeiten gab es eigene strikte Regeln. Es durfte zum Beispiel möglichst nichts auf den Boden fallen. Wir hatten ausgemacht, dass der Fußboden ein Gitter wäre und sich darunter ein Fluss befände. Wenn ein Gegenstand hinunterfiele, trüge ihn der Fluss nach Amerika. Das führte dazu, dass wir immer dann, wenn tatsächlich etwas auf den Boden fiel, wir zugleich „Malerika“ ausriefen.

Für die Leimarbeiten an filigranen Holzteilen verwendete Odati Knochenleim, der bei Tischlern damals noch das einzige Klebemittel war. Er bestand aus braunen glänzenden Perlen, die man mit Wasser auf dem Ofen aufkochen musste. Wenn dann eine Konstruktion bereit war für die Verleimung, rief er laut: „Sepp Loam hoaß!“ Ich musste dann mit dem Töpfchen frisch aufgekochten und umgerührten Leim vom Ofen zum Werktisch eilen, damit man mit einem Pinsel die zu verbindenden Teile beidseitig einstreichen konnte. Die Teile wurden dann im heißen Zustand geschwind zusammengefügt und bis zur Erkaltung exakt festgehalten.

Odati hieß mit Vornamen Josef, und das „Sepp Loam hoaß“ kam daher, weil er in seiner Lehrzeit als Tischler genau wie ich für den heißen Leim sorgen musste. (In Kempten erlernte er bei seinem Vater einen Zweitberuf als Müller.) Das heiße Leimzeug stank erbärmlich, und ich verbrannte mir oft fast die Finger, erinnere mich aber gern an diese unbeschwerte, lehrreiche Zeit.

Lehrreich waren auch seine etwas verqueren Lebensphilosophien, an denen er mich teilhaben ließ. Er war klassisch konservativ und verabscheute jegliche Modeströmung. Wenn wir in der Stadt einem aufgebrezelten Fräulein begegneten, die eine Sonnenbrille trug, dann äußerte er so deutlich, dass die Betroffene es sicher hören konnte: „Mei, schau Peter, a oarme Blinde.“ Wenn diese Dame auch noch außerordentlich hübsch war, dann kam leise der Nachsatz: „De muaß a gackerln.“ Gemeint war damit der Umstand, dass sie, wie jeder gewöhnliche Mensch, ihrer leiblichen Verrichtung auch nachkommen musste und dabei ihre Entrücktheit verlor. Auch Reiter hoch zu Ross bekamen ihr Fett weg. Bei Begegnungen meinte er lautstark, dass diese Tierquäler behindert seien und nicht auf eigenen Füßen gehen könnten.

Die anfänglich von Pferden gezogene Straßenbahn, auch Tramway genannt, die später elektrifiziert und in „Elektrische“ umbenannt wurde, verabscheute Odati zutiefst. Das war etwas für Weicheier, denn er fuhr, auch im Winter oder bei Regen, nur mit dem Fahrrad.

Andauerndes lautes Radiogedudel störte ihn besonders. Unter seiner Wohnstube hauste eine Schneiderei, und ein Röhrenempfänger orgelte dort den ganzen lieben Arbeitstag. Auf gütliches Ansuchen, die Kiste doch bitte auf Zimmerlautstärke zu stellen, reagierte der Nadelmeister mit Unverständnis. Also griff Odati, um den Rundfunkkrach zu beenden, zur Notwehr. Er demonstrierte mir das Patent, indem er eine eingeschaltete elektrische Glühbirne vorsichtig so weit aus der Fassung drehte, bis die Kontakte nur mehr schlecht geschlossen waren, worauf die Glühbirne flackerte und ein leichtes Knistern zu hören war. Die auf diese Weise erzeugten Funken bewirkten, dass der Empfang des untergeschossigen Radios empfindlich gestört wurde und von unten nur mehr ein Knattern zu uns heraufklang. Der entnervte Schneidermeister drehte dann hilflos an den Knöpfen, drosch auf seinen Volksempfänger, verfluchte den Radiohändler und schaltete schließlich ab. Odati knipste die Glühbirne aus und strahlte zufrieden. Sogar die Vögel im Hinterhof konnte man wieder singen hören.

Er konnte hervorragend pfeifen und spottete gern die Vögel, die auch manchmal reagierten, und dann lieferte er ihnen ein Pfeifduell. Wenn ich mit ihm in der Stadt oder gar auf der Herbstmesse zwischen Menschenmassen, mit einer Portion Türkischem Honig in der Hand, unterwegs war, musste ich nie an seiner Hand gehen. Ich konnte nicht verloren gehen, denn Odati hatte einen Spezialpfiff, etwa in der Art „Suiiisuit“, der auch in lärmender Umgebung über weite Entfernungen zu hören war. Er fabrizierte diesen Pfiff durch die Zähne, und sobald ich ihn hörte, eilte ich wie ein folgsamer Hund flugs an die Seite von Herrchen. Gebellt habe ich nicht.

D en musischen und elektrischen Teil meiner Ausbildung übernahm der Bruder von Odati, mein Großonkel, einfach Onkel Adi genannt. In den Ferien durfte ich manchmal bei ihm wohnen. Am Anfang war ich etwas befangen und ängstlich, aber später bereiteten mir die Aufenthalte dort allergrößten Spaß. Er war nämlich, wie man heute sagen würde, ein Punk und abgedrehter Künstler.

Das Wohnzimmer war in Schwarz gehalten, mit einem schwarzen Flügel, einer mannsgroßen schwarzen Standuhr, die laut und behäbig tickte und die Viertelstunden mit hellem und die vollen Stunden mit sonorem, tiefen Gebommel einläutete. Die Fenster waren mit dicken, dunklen Vorhängen bedeckt, und an den Wänden hingen einige große Fotos und Ölschinken mit schwermütigen, geheimnisvollen Motiven.

Der Kronleuchter und einzelne Fotos waren mit schwarzen Tüchern verhangen, und ich durfte diese Bilder, den Flügel und diverse, für mich unverständliche, technische Einrichtungen, die überall in der Wohnung verstreut waren, nicht berühren. Anfänglich war das für mich als neugierigen Bub eine Qual, aber sehr bald verstand ich diese Notwendigkeit.

Onkel Adi hatte allzu früh seine sehr geliebte Frau Poldi (Leopoldine) durch Krankheit verloren, und sein Dasein war dadurch zutiefst getrübt. Es blieb ihm die Hinwendung zu seinen zwei Hobbys, zur Fotografie und zur Musik. Er hatte schon zur Anfangszeit der Fotografie mit Experimenten begonnen und die Entwicklung und Vergrößerung der Bilder selbst perfektioniert. Viele der großformatigen Kunststücke hatte er seiner Frau geschenkt und mit persönlicher Widmung versehen. Diese Bilder hingen in dem besagten Wohnzimmer und waren, verständlicherweise, mit Trauerflor behangen. Auch die selbst verfassten liebevollen Gedichte, Briefe und Ansichtskarten, die er seiner Frau gewidmet hatte, waren gut weggesperrt. Ich erinnere mich an eine Vergrößerung, die ich oft betrachtete und deren schwermütige Düsternis mich sehr beeindruckte. Es war, wie ich später erfuhr, die Toteninsel von Arnold Böcklin, die er von einem Gemälde abfotografiert und nachbearbeitet hatte.

Die Qualität seiner Fotoarbeiten war für die Zeit relativ hoch, und auf zahlreichen Negativ-Glasplatten sind seine Arbeiten bis heute verewigt. Auch dem künstlerischen Anspruch hatte er immer versucht gerecht zu werden, was man an den Arrangements und der Sujetauswahl erkennen kann. Ein Familienfoto war bei ihm kein Familienfoto, sondern eine wohldurchdachte, ausgewogene Komposition. Für normale Zeitgenossen war er somit ein Vollspinner.

Die Entwicklungskammer für die Fotos hatte er in der großräumigen Toilette eingerichtet. Da drinnen sah es aus wie im Labor von Dr. Frankensteen. Ich durfte dann auch, unter strengen Auflagen, mit einer überdimensionalen Schutzbrille auf der Nase, an manchem Experiment teilnehmen. Was sich dabei in meine Erinnerung eingebrannt hat, war eine grobschlächtige Uhr an der Wand mit einem gebastelten Perpendikel von exakt einem Meter Länge. Die Uhr ging völlig falsch, aber Onkel Adi erklärte mir, dass dieses Pendel dafür sorge, dass das Ticktack der Uhr genau im Sekundentakt erfolge. Also einmal hin und her ergaben 2 Sekunden. Die genaue Zeitmessung benötigte er für das Auszählen der Entwicklungszeiten. Ich durfte dann, da ich des Zählens ja schon mächtig war, laut und verständlich die Sekunden synchron zu dem Geticke vorzählen. Das Ganze geschah, zum Teil, bei absoluter Dunkelheit, und er hat sich sicher amüsiert, wenn meine Stimme in der Aufregung etwas zitterig klang. Für die Tür der Toilette hatte Onkel Adi eine geistreiche Vorrichtung erdacht. Da die Toilette zur Dunkelkammer umfunktioniert war und die Fenster total abgedichtet sein mussten, war die Beleuchtung nur elektrisch. Es gab aber keinen Lichtschalter, und man musste die Tür öffnen und wieder schließen, damit das Licht anging. Anschließend konnte man das Licht durch Öffnen und Schließen der Tür wieder ausschalten. Wenn das Dunkellabor ruhte, ging ich dort gern und oft auf die Toilette.

Dass ich das Klavier nicht berühren durfte, war einzusehen, und ich hielt mich streng daran. Onkel Adis Frau hatte zu Lebzeiten häufig darauf gespielt und dort auch mit einer Freundin, bei besonderen Anlässen, vierhändige Konzerte gegeben. Sie war mit Onkel Adi damals auch selbst häufig Konzertgast. Ihre gemeinsame Vorliebe galt der Kammermusik, aber auch für schwerere Klänge, wie von Wagner oder Beethoven, konnten sie sich begeistern.

Der einsame Onkel Adi fand nun seinen Trost in Musikkonserven in Form von Schellackplatten oder in Rundfunkkonzerten. Wenn er dann mal eine Scheibe bei voller Lautstärke abspielte, dirigierte er mit geschlossenen Augen mit. Auf seine Anregung dirigierte ich ebenfalls, getraute mich aber nie, die Augenlider ganz zu schließen, denn ich musste ja blinzelnd gucken, wie er es vormachte. Am Ende applaudierten wir uns gegenseitig, und ich verstand damals nicht, warum er manchmal feuchte Augen hatte.

An seinem Grammophon waren nur drei Lautstärken möglich. Erste Stufe war die Nadel mit der kleinen Membrane allein, zweite Stufe war ein kurzes, angebautes Verstärkerrohr, und lauteste Stufe war dann mit dem richtigen monströsen Trichter. Dem Onkel Adi war aber selbst die große Tröte zu leise. (Er war also in dieser Beziehung genau das Gegenteil von Odati.)

Deshalb bastelte er über Jahre an der Möglichkeit, anfangs noch mechanisch und später elektrisch, die Musik besser und lauter zu bekommen. Er beschaffte sich einige gebrauchte Röhrengeräte und schlachtete die Innereien für seine Zwecke aus. Das passierte einfach auf und neben dem Wohnzimmertisch. Die Unterseite des Tisches war verdrahtet, und es gab an jeder Seite Stöpsel für Kopfhörer. Wenn dann mehrere Leute zu Besuch waren, konnte sich jeder rund um den Tisch mit vorsintflutlichen Kopfhörern einklinken, um somit den perfekten Konzertsound zu genießen, ich auch.

Auf der schwarzen Anrichte, wo normale Bürger ihre Nippes stehen hatten, war bei ihm ein wahres Arsenal von fein säuberlich aufgehängten und geschlichteten Spezialwerkzeugen deponiert. Obwohl diese Gerätschaften für mich magischen Magnetismus entwickelten, hielt ich mich an das Berührungsverbot, wusste ich doch, dass wir bald wieder Krach machen würden. Das meistverwendete Baumaterial war Kupferdraht, Glimmerpapier und Holz. Der Lötkolben war ein kupfernes Monstrum, das ständig über einer Spiritusflamme heiß gehalten werden musste. Um die Oberfläche des Kolbens für das Lötzinn zu entzundern, (Entfernung der Kupferoxydschicht) wetzte mein Onkel vor dem Gebrauch die Vorderkante in einem Brocken Kolophonium. Das qualmte, und es entstand ein eigentümlicher Geruch, eher Gestank, der für mich wie eine elektrische Offenbarung über den Wunderdingen schwebte.

Um sein Meisterstück auch praktisch zu erproben, schritten wir zum Balkonversuch. Diese Phase gestaltete sich so, dass Onkel Adi den aus Kistenholz selbst gebauten Lautsprecher (Stereo war noch nicht erfunden) auf den Balkon der Wohnung im dritten Stock platzierte. Das Gelände vor dem Haus war zu dieser Zeit noch nicht bebaut, und nur einzelne Gemüsebeete und Heimgärten wurden beschallt. Ich hatte dann die spannende Aufgabe, mich ebenerdig langsam von dem Wohnhaus zu entfernen und dabei die Klangqualität nach meiner Einschätzung durch Handzeichen zu beurteilen. Hände über dem Kopf bedeuteten sehr gut, waagrechte Hände Mittelmaß und hängende Hände schlechte Qualität oder zu leise. Wenn die Musik schwieg, sollte ich stehen bleiben. Onkel Adi werkelte und drehte inzwischen an seinem Verstärkerungetüm, und unter Krachen und Knacken war von Zeit zu Zeit wieder die Musik zu hören. Unser lautstarkes Tun lockte die Nachbarn auf die Balkone, und Passanten blieben stehen. Der Krach und die kurzzeitig konzertanten Klänge erregten keineswegs Unmut und wurden eher als kurzweilige Unterhaltung angesehen, wusste man doch, dass der Spinner mit seinem Großneffen wieder mal am Experimentieren war. Heute riefen derartige Schallversuche innerhalb weniger Minuten die Polizei auf den Plan.

In der Endphase war ich so weit vom Haus entfernt, dass ich Onkel Adi gerade noch winken sehen konnte und er mir, durch eine längere Sendepause, das Ende der gelungenen Freilandversuche andeutete.

Das waren glückliche Tage für einen glücklichen Jungen und vielleicht ein wenig Sonne für einen vereinsamten, betrübten Großonkel.

W as jetzt noch fehlte, war der humanistische Teil meiner Erziehung. Den erhielt ich bei der Schwester meines Großvaters Odati, bei meiner Großtante Marianne. Sie war eines von sieben Geschwistern und wurde von ihnen liebevoll Mara genannt. Für mich war sie immer nur „Tante Marianne“. Durch widriges Kriegsschicksal war sie unverheiratet geblieben und hatte nach dem frühen Tod meiner Großmutter die Erziehung meines Vaters übernommen. Sie lebte Tür an Tür mit meinem Großvater.

Tante Marianne hatte als kleines Mädchen ihre Mutter verloren. Ihre älteste Schwester musste die Mutterstelle übernehmen und konnte den großen Geschwisterhaufen nicht bändigen. Deshalb wurde die Kleinste, Tante Marianne, in ein Waisenhaus gesteckt und von Pinguinen streng christlich erzogen. Nach ihrer Schilderung hatte sie in dem Waisenhaus sehr an der Trennung von ihren Lieben zu leiden. Die Erziehungsmethoden waren damals noch brachial, wobei Stockhiebe und Auf-Erbsen-Knien zur Tagesordnung gehörten und der Sadismus mancher Schwestern schier unerträglich gewesen sein muss. Sie hat dort oft in der Nacht geweint und gebetet. Da sie nicht erhört wurde, griff sie zur Selbsthilfe und erhielt sich mit heimlichen, lästerlichen Sprüchen wahrscheinlich ihre Psyche gesund. Ich erinnere mich an einen Spruch, den sie bisweilen leise vor dem Essen losließ:

„Mein lieber Gott, für Spieß und Druck, sag ich Dir Lob und Duck.“

Die Tiefe ihrer Gläubigkeit war ihr wahrscheinlich auch durch den tragischen Verlust ihres einzigen Freundes abhandengekommen. Sie war ihm versprochen, und er kam aus dem Ersten Weltkrieg nicht mehr zurück. Ihr hartes Schicksal hatte ihre Seele jedoch nicht verkrustet, und ich habe sie als weichen, gutherzigen Menschen in Erinnerung. Sie übernahm bei mir wie selbstverständlich die Rolle einer liebevollen Großmutter, und ich durfte manches Wochenende bei ihr verbringen. Sie bewohnte ein winziges Zimmer, in dem ihr gesamtes Hab und Gut verstaut war. Es war nicht viel, und für mich war dort ein Sofa als Schlafplatz reserviert. An den Wänden und auf allen Stellflächen war ihr gesamtes Leben in Form von Ansichtskarten, Erinnerungsfotos, romantischen Bildern, Nippes und Kuriositäten ausgebreitet.

Zu jedem Stück gab es eine Geschichte, und ich wurde nie müde, sie zu hören. Zu ganz besonderen Anlässen las sie mir die poetischen Ansichtskarten und Nachrichten vor, die sie von ihrem verblichenen Verehrer erhalten hatte. Ich bewunderte immer ihren kräftigen Zopf, den sie kunstvoll aus ihren schwarzen, angegrauten, langen Haaren zu flechten verstand. Vor dem Schlafengehen löste sie das Kunstwerk auf und lag dann wie ein ergrautes Dornröschen in ihren Kissen.

Mit den Stockhieben hatte man ihr nicht nur Zucht und Ordnung beigebracht, sondern auch eine gehörige Portion Bildung eingebläut. Sie konnte mühelos lateinische Inschriften entziffern, sie wusste für jede Gelegenheit einen Sinnspruch oder Reim, und sie warf gern mit französischen Brocken um sich. Auf mein Bitten sang sie mir, mit ihrer zarten hohen Stimme, gern ein Schlaflied oder auch Kirchenlieder vor. Als ich selbst später im Kirchenchor mitsingen durfte, hatte ich dadurch den Vorteil, nur mehr den Text mitlesen zu müssen, denn die meisten Melodien hatte ich schon intus.

Ihre größte Vorliebe aber galt der klassischen Lyrik, und sie konnte unermüdlich für mich Gedichte rezitieren, die sie dramaturgisch aufpeppte und gestenreich vortrug.

Vor allem in langen Winternächten, wenn es in ihrem kleinen Holzofen knackte und der Harzgeruch sich mit dem Duft der Teekanne und dem von gebratenen Kastanien mischte, zauberte sie die gruseligste Stimmung.

„Die Mitternacht zog näher schon,

In stummer Ruh lag Babylon.“

Mit gedämpfter Stimme kam Heinrich Heine zu Wort, untermalt vom leisen Ticken der Wanduhr, und ich rückte vorsichtshalber näher zu meiner Großtante.

„Und sieh! Und sieh! An weißer Wand,

da kam’s hervor, wie Menschenhand:

Und schrieb und schrieb an weißer Wand

Buchstaben von Feuer und schrieb und schwand.“

Und ich hätte schwören können, dass ich die Flammenschrift gesehen hatte. Als dann am Ende der Jehova lästernde Belsazar von seinen Knechten nächtens umgebracht wurde, war ich auch dabei.

Eines ihrer Glanzstücke für Gänsehaut war:

„O schaurig ist’s, übers Moor zu gehen,

Wenn es wimmelt vom Heiderauche.“

Annette von Droste-Hülshoff hatte das arme Knäblein über das Moor geschickt, und ich musste mit ihm bibbern. Wenn es dann allzu dramatisch und auch lauter wurde:

„Da birst das Moor, ein Seufzer geht

Hervor aus klaffender Höhle;

Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:

„Ho, ho, meine arme Seele!“,

dann durfte ich schon manchmal die faltige, weiche Hand meiner Tante nehmen, die mich sanft wieder in die Realität zurückholte.

Der Bibel war sie treu geblieben, und ich bekam aus dem Alten Testament vorgelesen. Es war ein dicker, ledergebundener Foliant, illustriert mit dramatischen Bildern. Aus diesen bombastischen Kupferstichen erfuhr ich über die Schöpfung, wie man zur Salzsäule wurde, wie die Arche Noah entstand und die Sintflut tobte. Die Geschichten empfand ich oft als grausam, aber immer unheimlich spannend, und so prägten sie auch mein kindliches Verständnis vom Glauben und dem lieben Gott. Weit lustiger waren die Lebensweisheiten von Willhelm Busch, die sie zitierte.

Von diesem ersten Comicautor gab es in ihrem Fundus ein altes abgegriffenes Büchlein, in dem ich gern schmökerte.

Zu Weihnachten bekam ich von ihr die üblichen Nüsse, eine Orange und dazu Boxhörndl. Das waren die exotischen, schotenförmigen, dunkelbraunen Früchte des Johannisbrotbaums. Das Fleisch der harten Schoten schmeckte etwas mehlig, aber nach längerem Kauen wurde es süß. Tante Marianne wies mich an, die Kerne der Schoten sorgfältig aufzubewahren, weil man mit ihnen Diamanten wiegen könne.

Klammer auf: (Damals dachte ich, dass sie mir was vorflunkerte, aber tatsächlich waren diese Kerne seit Jahrtausenden als Gewichtseinheit für Diamanten in Verwendung. Ihr Gewicht beträgt unabhängig von der Form immer 0,2 Gramm, was genau einem Karat entspricht. Die Boxhörndl sind heute wieder aus der Versenkung aufgetaucht, und man kann in Bioläden ihren Sirup oder ihr Mehl kaufen, was übrigens sehr gesund sein soll. Bei Juwelieren wird man heute wahrscheinlich keine Boxhörndlkerne mehr finden.) Klammer zu.

Auch Erdnüsse bekam ich damals von ihr, aber jeweils nur zwei oder drei Stück. Manchmal gab es einen Kaugummi mit beigelegten Bildern. Es waren Illustrationen der Zukunft und ich sammelte sie leidenschaftlich. Die farbigen Darstellungen schilderten in verklärter Weise, wie unsere Welt im Jahr 2000 aussehen könnte. In meiner kindlichen Vorstellung lag dieses Jahr unvorstellbar weit in der Zukunft.

Soweit ich mich erinnere, waren die Menschen wunderschön und in exotische Gewänder gekleidet. Von spielenden Kindern umringt, bewegten sie sich friedlich in einer lichtdurchfluteten, begrünten Welt. Zwischen gläsernen, himmelstürmenden Häusern schwebten Gefährte ohne Lenkrad oder Steuerknüppel, und die Passagiere konnten während der Fahrt entspannt Schach spielen. Hunger gab es keinen, denn Getränke und Speisen wurden von Automaten gereicht. Von Kosmodromen erhoben sich fantastische Raumkreuzer, um ihre Reise zu den Planeten oder zu fernen Sonnensystemen anzutreten. In Anbetracht der dunklen, martialischen Bilder in der Bibel war diese Kaugummivision für mich wie ein Atlantis der Zukunft oder sogar das kommende Paradies auf Erden.