AUS DEN SATZUNGEN DER GESELLSCHAFT

Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Ermittlungen, Nachforschungen und Expeditionen nur dann, wenn ihr der Auftrag moralisch gerechtfertigt erscheint.

§

Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Expeditionen in alle Teile der bewohnten und unbewohnen Erde, soweit deren Ausführung nicht den Gesetzen des betreffenden Landes widerspricht. Sollten aber die Gesetze eines Landes den Gesetzen der Menschlichkeit widersprechen, so wird die Gesellschaft bereit sein, übernommene Aufträge auch dort auszuführen.

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Die Kosten einer Expedition werden vom Chef-Expeditionsleiter geschätzt. Die eine Hälfte des angesetzten Betrages ist vor dem Aufbruch der Expedition zu zahlen, die andere nach deren Beendigung. Überschreiten die tatsächlichen entstandenen Kosten den veranschlagten Betrag, so werden sie zur Hälfte vom Auftraggeber, zur Hälfte von der Gesellschaft getragen.

§

Betrifft eine Ermittlungs- oder Erforschungsaufgabe Menschen, die in Not sind und niemand haben, der sich ihrer annehmen kann, so übernimmt die Gesellschaft die Kosten der notwendigen Hilfs- oder Rettungsaktion.

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Die Teilnehmer an einer Expedition haben sich über deren Ziel, Zweck und Ergebnis zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Berichte über Expeditionen werden nur dann veröffentlicht, wenn der Generaldirektor der Gesellschaft und der Auftraggeber damit einverstanden sind. Nichtveröffentlichte Expeditionsberichte werden im Geheimarchiv der Gesellschaft niedergelegt und dort dreißig Jahre lang aufbewahrt.

UBIQUE TERRARUM

(ÜBERALL IN DER WELT)

LIMITED COMPANY

GESELLSCHAFT MIT BESCHRÄNKTER HAFTUNG

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EXPLORING AND RESEARCHING OF ALL KIND NACHFORSCHUNGEN UND ERMITTLUNGEN JEDER ART

EHRENPRÄSIDENT

LORD HAYSTACK, P.R.A., K.C.l.E.

GENERALDIREKTOR

ARTHUR MILLER

CHEFEXPEDITIONSLEITER

STEPHAN SLANTON, V.C.

EXPEDITIONSFORSCHER

DR. PHIL. DR. RER. NAT. PETER GEIST

EXPEDITIONSARZT: DOCTEUR EN MÉDECINE

GASTON DE MONTFORT

COMTE DE DARIFANT-CROY

EHRENRITTER DES SOUVERÄNEN MALTESERORDENS

UND IHRE MANNSCHAFT

PATRICK CROMBY aus Irland

BERTRAM KUNKE aus Deutschland

CYPRIAN BOMBARDON aus Frankreich

Weitere Informationen

über HERBERT KRANZ und

die UBIQUE-TERRARUM-SERIE

finden Sie im Internet unter

www.herbert-kranz.de

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ISBN: 978-3-8482-5439-2

1. Auflage 2004

Alle Rechte vorbehalten

©2004 Lipcowitz/Kranz

Herausgeber:

Georg Kranz, Ostseeheilbad Zingst

Einband:

Willy Kretzer

Überarbeitung der Wort- und Sacherklärungen:

ASvonPio, Dresden

Georg Kranz, Ostseeheilbad Zingst

Rückseitentext:

ASvonPio, Dresden

Satz und Layout:

voigt&kranz GbR, Ostseebad Prerow

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

INHALT

Nachts zwischen zwei und drei

Der Wächter, der mit seinen beiden riesigen Doggen Pronto und Agudo viermal des Nachts den Park abzugehen hatte, blieb stehen. Ein Blick auf die Leuchtziffern der Armbanduhr – zwei Uhr zehn. Dann sah er wieder in den zweiten Stock des schlossartigen Hauses, das in der Mitte des Parks lag und dem brasilianischen Kaffeekönig Castaneda gehörte. Aus dem dritten Fenster von links war für eine Sekunde ein Lichtschein gekommen. Er hatte nicht das ganze Fenster erhellt. Es war mehr so gewesen, als hätte jemand im Vorübergehen an die zugezogenen Fenstervorhänge gestoßen, so dass sie für einen Augenblick auseinander klafften, und gerade das beunruhigte den Wächter.

Das dritte Fenster von links im zweiten Stock gehörte zu dem Zimmer Graziellas, der dreizehnjährigen Tochter Senhor Castanedas. Wenn sie vom Bett aus Licht gemacht hätte, weil sie vielleicht nicht schlafen konnte, dann hätten sich die Fenstervorhänge nicht bewegt. Also musste sie oder jemand anders in ihrem Zimmer umhergehen. War das in der Ordnung, jetzt, tief in der Nacht? Aber wenn er Lärm schlug, machte er sich vielleicht nur lächerlich. Die Hunde waren ganz ruhig, die Türen, die ins Haus führten, fest verschlossen, wie er sich noch einmal überzeugte. Er sah wieder zu dem Fenster hinauf. Alles dunkel. Es war wohl nichts. Er setzte seine Runde fort. Seine Schritte knirschten im Kies der Parkwege.

Aber die Unruhe verließ ihn nicht. Er hatte Graziella gern und ihren Zwillingsbruder Mario auch. Millionärskinder, aber ohne falschen Stolz. Hatten alles, bekamen alles, was sie sich nur wünschten – nur die Mutter konnten sie nicht wieder bekommen. Die Mutter war tot. Drei Jahre war das jetzt her. Gewiss, Senhora Delgado, die Hausdame, sorgte für die beiden Kinder, es fehlte ihnen an nichts – aber eine Mutter kann man nicht kaufen. Seine eigenen beiden Kinder hatten es besser, dachte der Wächter, wenn auch bei ihm zu Haus das Geld knapp war. Seine Frau war eben eine richtige Mutter.

Er drehte um. Er ging wieder auf das Haus zu. Vielleicht war mit Graziella doch etwas nicht in Ordnung. Vielleicht war sie krank. Er würde keinen Lärm schlagen, nein, aber den Administrator behutsam wecken, dann konnte der das Nötige veranlassen.

Der Verwalter des großen Haushalts, der Senhor Administrator, war sehr ungnädig, dass er einer solchen Lappalie wegen aus dem Schlaf geholt wurde. Aber nachdem er nun einmal wach war, wollte er nicht der einzige sein, der um die wohlverdiente Nachtruhe kam, und so weckte er die Hausdame. Senhora Delgado erhob sich sofort, war im Nu so weit angezogen, dass sie sich sehen lassen konnte, und als ihr der Administrator auf dem Korridor zugeflüstert hatte, worum es sich handele, dankte sie ihm und sagte: „Ich sehe sofort nach. Warten Sie bitte noch ein paar Augenblicke, und wenn Sie dann von mir nichts weiter hören, legen Sie sich ruhig wieder hin.” Sie war wie immer von einer kühlen Freundlichkeit.

Sie ging die Treppe hinauf ins zweite Stockwerk. Die Stufen waren mit dicken roten Läufern belegt und ihre Schritte nicht zu hören. Leise öffnete sie die Tür zu dem Schlafzimmer des Mädchens – und stand sprachlos vor dem, was sie jetzt sah.

Graziella und Mario, die beiden Dreizehnjährigen, waren fix und fertig angezogen. Sie hatte ihre rote dreiviertellange Seeräuberhose an und ein Buschhemd, er trug zu seinem Buschhemd seine kürzeste Hose. Auf dem Tisch lagen zwei Moskitonetze und die beiden Jagdgewehre der Kinder. Sie waren gerade dabei, eine Jagdtasche mit dem Notwendigsten für eine Reise vollzustopfen.

Senhora Delgado unterdrückte jedes entsetzte Wort. Sie machte nur schnell die Tür zu und sagte dann freundlich und beherrscht wie stets: „Was habt ihr denn vor?”

Der Junge und das Mädchen standen da, ohne sich zu rühren. Stumm sahen sie auf die Hausdame, die sie überrascht hatte. Sie waren gewohnt, das zu tun, was sie für richtig hielten, sie hatten nie erst lange gefragt, wenn sie sich etwas vorgenommen hatten, – aber jetzt schien sie eine düstere Entschlossenheit gepackt zu haben. Ohne sich erst noch verständigen zu müssen, war es beiden klar, dass sie keine Ausflüchte machen würden. Dafür war es ihnen mit dem, was sie planten, zu ernst.

„Wir wollen fort”, sagte Mario.

„Wohin?” fragte Senhora Delgado.

„Zu den Indianern”, sagte Graziella.

Senhora Delgado hatte drei Jahre mit den beiden gelebt, denn Senhor Castaneda, dem sie aufs wärmste empfohlen worden war, hatte ihr sofort nach dem Tode seiner Frau Kinder und Haus anvertraut. Sie hatte gesehen, dass Graziella und Mario anders aufwuchsen, als es sonst üblich war. Sie hatte sich damit abfinden müssen, dass beide sehr viel selbständiger handelten, als sie es von gleichaltrigen Kindern gewöhnt war. Aber sie spürte deutlich, dass hinter diesem Plan zu einem heimlichen Aufbruch etwas Besonderes stand. Das war kein plötzlicher Einfall, das Indianerspiel aufzugeben und dafür bei wilden Indianern zu leben.

Sie setzte sich. „Warum wollt ihr zu den Indianern?” fragte sie und fügte noch hinzu: „Das möchte ich wirklich gern wissen.”

Mario sah seine Schwester an. Sie stand wie er an dem Tisch, auf dem die Moskitonetze und die Gewehre lagen, sie hatte die Jagdtasche noch immer in der Hand.

„Senhora”, sagte Graziella langsam, „wir haben erfahren, dass Senhor Castaneda wieder heiraten wird. In diesem Hause hat unsre Mutter mit uns gelebt. Mit einer Stiefmutter können wir nicht unter einem Dache leben.”

Jetzt war es mit Senhora Delgados Beherrschung zu Ende. „Wer hat euch das gesagt?!” rief sie aus.

„Wir haben versprochen, das nicht zu verraten“, antwortete Graziella fest.

Die Senhora war sehr erregt. Wie hatte sie sich bemüht, den Kindern zu verbergen, was sie noch nicht hatten erfahren sollen – und nun hatte irgendeine Magd oder sonst wer geschwatzt. Wie sollte das jetzt wieder eingerenkt werden?!

„Der Mann oder die Frau, durch die wir das wissen”, sagte Graziella voller Feindschaft, „hat uns noch mehr erzählt!”

„Was denn noch?!” rief Senhora Delgado entsetzt.

„Sie hat gesagt: ,Wer eine Stiefmutter hat, der hat auch einen Stiefvater.'“

„Aber das ist doch nur so ein dummes Sprichwort!” rief die Senhora und sprang auf.

„Sind alle Sprichwörter dumm?” fragte Mario.

„Ihr wisst, wie euer Vater euch liebt!” sagte die Senhora und bemühte sich, so eindringlich zu sprechen, wie es ihr nur möglich war. „Jeden Wunsch erfüllt er euch – ihr habt ein so schönes Leben, wie es die wenigsten Kinder kennen –“

„Wenn er die fremde Frau heiratet, hat er unsre Mutter vergessen, und wenn er unsre Mutter vergessen kann, dann wird er auch uns vergessen”, sagte Graziella. Der Schmerz packte sie. „Nein, nein”, rief sie, „ich kann hier nicht mehr leben! Ich will hier nicht mehr leben, wenn die Menschen so sind! Ich will da leben, wo die Menschen noch wahr, treu und einfach sind! Das sind sie in den Millionenstädten nicht mehr. Aber die Indianer im Urwald sind es noch. Wenn ich doch nur kein Mädchen wäre! Aber ich werde mich hartmachen und wie ein Mann leben – dann werden wir den Urwald besiegen wie die Indianer!”

Bestürzt sah Senhora Delgado auf das leidenschaftlich erregte Mädchen und den Bruder, der schweigend und finster dastand. Drei Jahre lang hatte sie nun für beide gesorgt, so gut sie es nur vermochte. Hätte sie ihnen nicht noch mehr geben müssen? Aber sie hatte von Anfang an gespürt, dass die beiden sich gegen sie wehrten, dass sie sich gegen sie versperrten – und jetzt erst verstand sie, warum sich die Kinder ihr gegenüber so ablehnend verhalten hatten.

Die beiden hatten gefürchtet, sie wolle die Gestalt der Mutter aus ihren Herzen verdrängen...

„Senhora, ist es denn überhaupt wahr, dass Vater wieder heiraten will?” fragte Mario, und aus dem Ton seiner Stimme war deutlich zu hören, dass er plötzlich die Hoffnung hatte, die böse Sache könne sich noch in nichts auflösen. Er sagte auch herzlich „Vater”, während seine Schwester feindselig „Senhor Castaneda” gesagt hatte.

Die junge Frau atmete hastig. Sollte sie jetzt lügen und sagen, alles sei gar nicht wahr? Konnte sie so nicht Zeit gewinnen, damit sich inzwischen irgendein Ausweg finde? Aber sie sah den Kindern an, wie ernst es ihnen war. Da musste auch sie die beiden ernst nehmen. Sie konnte deren schwierige Lage nicht ändern. Aber sie konnte ihnen vielleicht helfen, wenn sie ihnen die Augen dafür öffnete, dass sie selbst die Hilfe der Kinder brauchte.

„Mario”, sagte sie, „ihr habt versprochen, nicht zu verraten, wer zu euch über diese Sache geredet hat, und mir ist aufgetragen worden, über sie zu schweigen. Trotzdem will ich euch die Wahrheit sagen, wenn ihr mir auch etwas versprecht.”

„Was?” fragte Graziella rasch und misstrauisch.

„Seht, Kinder”, sagte Senhora Delgado, „wenn ihr heimlich aus dem Haus geht, wo ihr mir doch anvertraut seid, dann bekomme ich nie wieder eine Stelle. Jeder wird sagen: wenn sie sich um die Kinder richtig gekümmert hätte, dann wären sie nicht davongelaufen. Alle werden denken, ich sei zu euch scheußlich gewesen.

„Das waren Sie nicht, Senhora”, sagte Mario sofort.

„Ihr Unglück wollen wir nicht”, sagte Graziella.

„Versprecht mir”, sagte sie jetzt rasch, „dass ihr nicht weggeht, solange ich hier bin!”

„Aber das klingt ja so, als ob Sie nicht mehr lange hier wären!” sagte Graziella.

„Ich werde auch gehen müssen”, sagte Senhora Delgado. „Es ist wahr, Kinder: Senhor Castaneda will wieder heiraten, und dann braucht euer Vater keine Hausdame mehr. Dann muss ich mir eine andere Stelle suchen. Versprecht mir, mich nicht im Stich zu lassen, und ich verspreche euch, dass ich etwas für euch finde. Auch ihr sollt hier aus dem Haus. Aber nicht zu den Indianern – das geht nicht. Das ist zu gefährlich.”

„Das versprechen wir Ihnen”, sagte Mario. Graziella sagte nichts, aber sie hielt wie ihr Bruder der Senhora die Hand hin. Als sie die Hände der Kinder in der ihren fühlte, war ihr wohl und schmerzlich zugleich. Wohl, weil es ihr gelungen war, diese Flucht erst einmal zu verhindern, und schmerzlich, weil sie dachte: Wenn ich zu ihnen so vor drei Jahren schon gesprochen hätte, wären wir uns vielleicht so nahe gekommen, dass sie sich mir anvertraut und nicht daran gedacht hätten, in den Urwald zu fliehen.“

Sie hatte den beiden einen Ausweg versprochen, aber sie wusste nicht, wo sie ihn finden sollte. Sie überlegte. Mit dem Vater konnte sie nicht sprechen, denn er war nicht in Rio de Janeiro, sondern hielt sich in den Vereinigten Staaten auf. Aber den Anwalt konnte sie anrufen, der für Senhor Castaneda alles zu erledigen hatte, wenn er selbst außer Landes war, und der seine Familie seit Jahrzehnten kannte. Ihm setzte sie genau auseinander, dass für die Kinder sofort etwas geschehen müsse, und er wusste auch gleich, was zu tun war. Da wohnte doch in Belém Senhora Saraiva, die Schwester Castanedas. Die Dame war ein bisschen schnurrig, gewiss, aber sollte sich nur die Tante einmal um Neffen und Nichte kümmern, wenn sie eine Luftveränderung nebst Tapetenwechsel brauchten! Das tat so einer älteren Dame sicher gut! Ein Telegramm hin, eins her, und dann noch ein drittes, das die Sache abschloss: „kinder ankommen mittwoch 15 uhr 30 mit eldorado stop bitte am flugplatz abholen.”

Der Anwalt hatte das wohltuende Gefühl, eine verwickelte Angelegenheit wieder einmal durch einen geschickten Griff aufs beste gelöst zu haben. Dass er mit seinem Einfall mehr aufregende und gefährliche Abenteuer heraufbeschwor, als ihm je ein Aktenstück seiner vieljährigen Praxis beschert hatte, konnte der gute Mann nicht ahnen. Er tat sogar noch ein Übriges. In seinem eigenen Wagen holte er die Kinder und Senhora Delgado ab und fuhr mit ihnen zum Flugplatz Santos-Dumont.

Der Überfall

Die „Eldorado”, eine zweimotorige Dakota der Panair do Brasil, war sechs Uhr dreißig morgens vom Flugplatz in São Paulo, der zweitgrößten Stadt Brasiliens, abgeflogen, hatte dann, wie es der Fahrplan vorsah, genau eine Stunde später Rio de Janeiro erreicht und war, nach dem üblichen Aufenthalt von einer Stunde, zum Weiterflug wieder aufgestiegen. Er sollte zum Flughafen der Cidade de Nossa Senhora de Belém do Pará (Stadt Unserer Lieben Frau von Bethlehem von Parä) gehen; der schöne und feierliche Name stammte freilich noch aus einem Jahrhundert, wo die Menschen Zeit hatten, – in dem Flugplan, der jedem Passagier auf den Platz gelegt worden war, hieß das kurz Belém Pará. Aber dort war der Flug noch nicht zu Ende, sondern erst in Port of Spain, der reizenden Hauptstadt der britisch-westindischen Insel Trinidad. Das war eine Entfernung von 4500 Kilometern, und die Luftstrecke führte über den ganzen Osten des so ungeheuer weiträumigen Brasiliens mit seinen gewaltigen Strömen, seinen zahllosen Flüssen, über Bergländer, Urwälder und undurchdringliche Dschungel, deren Schrecken die Passagiere der „Eldorado” in ihren bequemen Sesseln aufs angenehmste enthoben zu sein glaubten, bis sie eine jähe Wendung mitten in diese Schrecken werfen sollte.

Das Flugzeug war nicht stark besetzt. Da war ein älterer Herr, dessen gelbliche Gesichtsfarbe vermuten ließ, dass seine Leber nicht mehr recht funktionierte, weil er sein Leben lang zu fettes Essen, zu starken Kaffee und zu viel Zuckerrohrschnaps bevorzugt hatte. Dann zwei Damen, eine Mutter mit ihrer sechzehnjährigen Tochter, die nach Belém wollten und deren Gepäck nicht nur aus bezaubernd schönen Lederkoffern bestand, sondern auch aus einem Geigenkasten, den die Tochter nicht aus den Augen ließ. Sie unterschied sich von ihrer Mutter nicht nur durch ihre Jugend. Während jene mit Brillantringen an Händen und Ohren und mit kostbaren Armbändern geradezu überladen war, trug sie als Schmuck auf der weißen Bluse ihres Reisekostüms nur eine Platinnadel mit einer einzigen Perle, und das kostbare Stück sah an ihr unauffällig, ja selbstverständlich aus. Dann waren da noch vier Herren zwischen zwanzig und dreißig, die wohl nicht zusammen gehörten, denn jeder hatte sich seinen Platz möglichst weit weg vom anderen gesucht. Sie hatten leichte, weite Reisemäntel an, die alle neu gekauft schienen. War das auffällig? Liebe Zeit, die Herren sahen so aus, wie hunderttausend Herren zwischen zwanzig und dreißig aussehen; ihre Gesichter hatte man schon in dem Augenblick wieder vergessen, wo man sie sah.

Stunde um Stunde verrann. Die „Eldorado” hatte das Bergland des Staates Minas Geraes überflogen. Sie überquerte die unübersehbaren Urwälder des Staates Mato Grosso, was „Dichter Wald” heißt, zog jetzt über dem Rio Anaguaya hin, an dessen Mündung Belém Pará liegt. Sie war schon über dem Staat Grao Pará – da geschah es.

Einer der unauffällig und so alltäglich aussehenden jungen Herren zwischen zwanzig und dreißig war wie von ungefähr im Flugzeug immer weiter nach vorn gegangen. Die Tür zu der Kabine, wo Flugzeugführer und Funker saßen, öffnete er, obwohl darüber stand „Eintritt nicht gestattet”. Er hatte plötzlich eine Smith-Wesson in der Hand und rief (was man im Passagierraum bei dem Donnern der Motoren nicht hörte) ihm zu, er solle ihm sofort seinen Platz einräumen. Der Flugzeugführer war ein beherzter Mann. Er dachte, er habe es mit einem Irren zu tun. Er lächelte ihn freundlich an und rief: „Sowie wir in Belém sind, kannst du auf meinen Platz, camarada!” Auch die beiden Schüsse, die darauf fielen und die dem Flugzeugführer und dem Funker das Leben kosteten, hörten die Passagiere nicht.

Aber nun zeigte es sich, dass jene vier unauffälligen Herren mit den Alltagsgesichtern doch zusammengehörten, und es zeigte sich weiter, dass sie ihre so weit voneinander liegenden Plätze mit viel Überlegung ausgesucht hatten. Jeder hatte jetzt eine Pistole gezogen, und sie standen so verteilt, dass sie den Passagierraum völlig beherrschten.

Die beiden Damen waren sehr erschrocken, die Mutter erbleicht; da sie aber, wie das in Südamerika üblich ist, ziemlich viel Rot aufgelegt hatte, saß ihr jetzt die Farbe plötzlich wie die plumpe Bemalung eines Clowns im weißen Gesicht. Die Stewardess befiel eine schreckliche Gedankenflucht wie ein Schwindel. Vergeblich suchte sie sich daran zu erinnern, was sie an Instruktionen für außerordentliche Vorkommnisse bekommen hatte. Ihr fiel nur ein, dass sie zur Vermeidung von Paniken den Passagieren mit ihrem reizendsten Lächeln Sekt und Whisky anbieten müsse, und das passte hier doch offenbar nicht.

Jetzt gingen zwei der jungen Männer auf den älteren Herrn zu, dem man sein Leberleiden ansah. Er hatte sich in die Passagierliste als „Kaufmann” eintragen lassen. Aber die vier Verbrecher wussten über ihn genau Bescheid. Sie wussten, dass er Diamantenhändler war, sie wussten, dass er auf der Rückreise nach großen Einkäufen war – und sie nahmen ihm alles ab, was er in den Taschen hatte. Er musste noch Rock und Weste ausziehen, und die beiden nahmen die Kleidungsstücke an sich; wahrscheinlich vermuteten sie, dass darin noch einiges eingenäht sei. Er ließ das übrigens ruhig mit sich geschehen. Er war gegen Diebstahl hoch versichert, und er bemühte sich seit Jahren, sich über nichts mehr aufzuregen, weil das nur ungünstig auf seine Leber wirkte.

Jetzt beschäftigten sich beide Männer mit den zwei Damen. Zitternd streifte die Mutter ihre kostbaren Ringe ab, sie war so aufgeregt, dass sie die Ohrringe kaum abbrachte. Sie mussten auch noch ihre Handkoffer öffnen, und was sie an Geld bei sich hatten, verschwand in den Taschen der Räuber.

„Sie haben noch etwas vergessen”, sagte die Tochter und hielt dem einen ruhig ihre Platinnadel hin, die sie abgemacht hatte, und sah ihm dabei fest in die Augen.

Der Mann wusste nicht, was er sagen sollte. So etwas war ihm noch nie passiert. Die überlegene Gelassenheit des schönen Mädchens verwirrte ihn, und zugleich fühlte er sich beschämt. Er fluchte laut – aber er nahm die Nadel nicht und ging weiter.

Jetzt kamen die Männer zu den beiden Kindern. „Wie heißt ihr?” fragten sie.

„Graziella Castaneda”, sagte das Mädchen.

„Mario Castaneda.”

Die Männer stutzten bei den Namen.

„Ist euer Alter etwa der Kaffeekönig?”

„Ja”, sagten sie zugleich.

Die beiden jungen Männer sahen sich an. Sie hatten denselben Gedanken: Soll man diese Ninos verschleppen? Lösegeld eine Million?

„Zu gefährlich”, sagte der eine, und der andere stimmte zu.

Das Flugzeug hatte die Richtung geändert. Es flog nicht mehr nach Norden, es flog nicht nach Belém zu, sondern nach Westen, immer nach Westen. Sie hatten den Staat Grao Pará schon wieder im Rücken. Sie waren über dem Mato Grosso. Unter ihnen wälzte der größte Fluss der Erde seine gelben Wasser dem Meere entgegen – sie aber flogen mehr und mehr seinem Oberlauf zu. Es gab keine Städte mehr, keine Dörfer, keine Siedlungen. Es gab nur noch Wälder und Dschungel und Wasserläufe...

Der eine Kerl wandte sich höflich an die Stewardess: „Hätten Sie nicht die Liebenswürdigkeit, uns ein kleines Frühstück zu servieren?”

Sie tat es. Sie brachte es nicht mehr fertig, zu lächeln, aber sie servierte es so sorgfältig, wie das Vorschrift war.

Das Flugzeug war jetzt, wo es in menschenleere Gegenden gekommen war, sehr weit niedergegangen. Sie flogen ziemlich dicht über den höchsten Palmen hin, die noch über das Waldmassiv hinausgewachsen waren und sich wie riesige Schirme ausbreiteten.

„Was machen Sie mit uns? Was machen Sie mit uns?” schluchzte die Mutter, während die Tochter mit einem deutlichen Zug der Verachtung schweigend dasaß, die schönen schlanken Hände still ineinandergelegt.

„Wir landen, Senhora”, sagte einer der Vier, „sobald wir die Stelle erreicht haben, die uns dazu geeignet scheint.”

„Und dann?” fragte sie entsetzt weiter.

„Dann werden wir Sie verlassen, Senhora”, war die höfliche Antwort.

„Mitten im Urwald – im Dschungel?!” schrie die Dame völlig verzweifelt.

„Senhora”, sagte der eine der jungen Männer, und mit einem Male sah sein Gesicht gar nicht so alltäglich aus, sondern schien von Bitterkeit durchtränkt, „wir haben nie anders als im Dschungel gelebt – vielleicht versuchen Sie es nun einmal!”

„Weißt du was?” sagte Graziella zu ihrem Bruder, „jetzt steht Tante Carlota auf dem Flugplatz von Belém und kann warten, bis sie schwarz wird! Ich finde das prima.”

„Ja”, sagte ihr Bruder, „vor der sind wir sicher.”

„Mario”, sagte Graziella, „pass auf: wenn wir im Dschungel landen, dann kommen wir auch zu Indianern! Genau das, was wir wollten!”

„Da haben wir wirklich Glück”, sagte er, „dass uns Senhora Delgado ausgerechnet in dieses Flugzeug gesetzt hat. Es ist nur schlimm, dass dafür der Flugzeugführer und der Funker sterben mussten.”

„Dafür können wir nichts”, sagte Graziella, „Sie wären auch ermordet worden, wenn wir nicht mitgeflogen wären.“

Ihr Bruder schwieg, und er verschwieg, was er dachte: „Wenn ich das Vater erzählen könnte, dann würde er wenigstens für ihre Frauen und Kinder sorgen.“

Aber das konnte er nicht tun, denn sie waren ja auf der Flucht vor ihrem Vater.

Die Retter kommen

Sie waren eigentlich sechs, aber jetzt waren sie nur vier. In Flashmans Hotel zu Peschawar, nicht weit von der indisch-afghanischen Grenze, hatte sie der Auftrag der UT-Company erreicht, sofort nach den beiden Kindern des Kaffeemillionärs Castaneda zu suchen, die im Dschungel der brasilianischen Urwälder spurlos verschwunden seien, und eben diese vier, von denen wir sprechen, waren mit dem nächsten Flugzeug der PAA von Karatschi aus losgeflogen. Über Beirut – Rom hatten sie Lissabon erreicht und waren dort um drei Uhr morgens in die mächtige Maschine umgestiegen, die von London über Paris gekommen war und nun nach Rio de Janeiro weiterflog.

Die Tür des Flugzeuges fiel zu, über der Kabine der Piloten glühte in Leuchtschrift auf: BITTE SETZEN SIE SICH! BITTE ANSCHNALLEN! – und dann rannte die Maschine nicht wie bei den bisherigen Abflügen des Flugzeugs, in dem sie gekommen waren, als besessener Riesenkäfer über den Boden, sondern fauchte über das Wasser. Da hörte das Rauschen der Wellen auf, der Ton der Motoren änderte sich, die Maschine hob sich, die Passagiere fielen leicht in die Sessel zurück, und im Dunkel unten blieb Europa zurück. Die Maschine stieg dem nächtlichen Himmel zu, der mit Sternen übersät war. Der Chef-Steward, in schwarzer Hose und weißem Smoking, hatte freilich keinen Blick für die Himmelslichter. Er bewegte sich diskret von Platz zu Platz und erkundigte sich nach den Wünschen der Gäste. Die Maschine war stark besetzt, aber überall wurde nur der Wunsch geäußert, man möchte schlafen. So knipste er störende Lampen aus, ein wohliges Dunkel füllte den Raum, und bei dem ganz gleichmäßigen Flug ließ sich in den bequemen Sesseln ausgezeichnet schlafen. Nur hin und wieder erinnerte die Schlafenden ein leises Wiegen daran, dass sie zu den Bevorzugten gehörten, die durch die Luft von Erdteil zu Erdteil fliegen konnten; aber wie die Menschen schon sind – keiner fand mehr etwas Besonderes dabei.

Auch unsere Vier hatten die Lichter an ihren Plätzen löschen lassen, jedoch schlief von ihnen keiner.

Da saß, in einem Sessel am Fenster, der Führer der Expedition, der Engländer Slanton, der nie anders als „Chef” genannt wurde. Er schlief nicht, weil er an die beiden denken musste, die in Indien zurückgeblieben waren, an die zwei, mit denen die vier sechs waren.

Neben ihm saß sein treuer Patrick Cromby, ein Ire, dessen Spitzname Plumpudding jeden überzeugte, der nur einen Blick auf sein freundliches Vollmondgesicht warf. Er schlief nicht, weil der Chef nicht schlief. Hier, wo Rauchen nicht gestattet war, konnte er ihm allerdings nicht die Pfeife mit dem ein für allemal bevorzugten Dunhill-Tabak stopfen – aber es konnte ja sein, dass der Chef irgendeinen andern Wunsch hatte, und deshalb schlief Plumpudding nicht.

Den andern Eckplatz hatte der Expeditionsarzt inne, der Franzose Gaston von Montfort, Graf von Darifant-Croy, Ehrenritter des Souveränen Maltheserordens. Weshalb er nicht schlief, war nicht ersichtlich. Aber er war, seitdem sie sich auf ihrem Fluge Europa genähert hatten, immer nachdenklicher geworden, und obwohl sie sich nun von Europa wieder entfernten, schien er von schweren Gedanken noch nicht frei zu sein. Keiner seiner Kameraden wusste übrigens, warum er aus Frankreich weggegangen war und es vorzog, sich als Expeditionsarzt der UT-Company in den entlegensten Teilen der Erde herumzutreiben.

Dass aber sein Nachbar nicht schlief, wird jeder verstehen. Cyprian Bombardon, ein gebürtiger Marseiller und Kriegskamerad des Grafen, war der Expeditionskoch. Dass er nur „Neunauge” genannt wurde, rührte daher, dass es sein einziger Wunsch war, in Paris ein „Bistro” , eine kleine Kneipe „Zum vergnügten Neunauge” aufzumachen. Nur war er immer noch nicht dazugekommen, weil er es nicht übers Herz brachte, den Grafen allein zu lassen. Jedenfalls sagte er das – es gab allerdings noch einen weiteren Grund, weshalb ihm die Rückkehr nach Paris ebenso wünschenswert wie bedenklich schien. Jetzt freilich nahmen ihm ganz andere Gedanken den Schlaf: er hatte eine neue Idee, eine fabelhafte Idee, die ihn so elektrisierte, dass an Schlaf nicht zu denken war.

Es wurde hell, Afrika tauchte auf, rötlichgelb lag der neue Erdteil da, einsam, ja wie in trostloser Verlassenheit. Dürftige Dorngehölze, dann Tamarindenbäume, die über zwanzig Meter hoch waren, aber von oben nicht größer als Streichhölzer aussahen, Palmen, Kamele. Es war, als flögen sie durch einen glühenden Ofen.

Der Chef rechnete: Wie lange würde es dauern, bis ihr fünfter Mann, der Dr. Peter Geist, sie in Rio de Janeiro eingeholt hatte? Er war mit seinem Begleiter in Indien zurückgeblieben, weil er erst noch für den jungen Inder sorgen musste, der ihnen auf ihrer letzten Expedition in das unbekannte Kafiristan so vorzügliche Dienste geleistet, der ihnen überhaupt das Leben gerettet hatte. Der Chef schätzte den Deutschen überaus, der mit seiner beispiellosen Sprachbegabung und seinen wissenschaftlichen Kenntnissen eigentlich das wichtigste Mitglied ihres Teams war. Der „Große Geist”, wie er halb bewundernd, halb spöttisch genannt wurde, führte seinen Beinamen wirklich zu Recht – allerdings kürzten sie die anspruchsvolle Bezeichnung mit dem farbloseren GG ab.

„Was lächeln Sie so erheitert, Chef?” fragte der Graf.

„Musste mir was Komisches vorstellen”, sagte der Engländer.

„Sie und ich stehen am Flughafen von Rio, und da kommt die Maschine angebraust, in der GG und Figur sitzen. Die beiden klettern heraus. ,Hallo, GG', sage ich, ,was wollen Sie denn hier?' – ,Na, wir müssen doch die Kinder aus dem Urwald holen!', sagt er. ,Völlig überflüssig', sage ich. ,Haben der Graf und ich schon besorgt!'“

„Sehr nett”, sagte der Graf, „nur sehr unwahrscheinlich!”

„Wieso?” fragte der Chef. „Sie sehen, – traue Ihnen einiges zu.”

„Viel zu viel, Chef, viel zu viel.”

„Kann das nicht leiden, dass Sie sich so unterschätzen, Graf. Gebe zu: GG weiß viel, was ich nicht weiß, und einiges, das auch Sie nicht wissen. Aber Kinder aus dem Urwald holen, ist keine wissenschaftliche Aufgabe. Zupacken – und die Sache ist erledigt. Das bringen wir beide ganz allein hin, Graf.”

„Wirklich, nett von Ihnen”, sagte der Graf.

„Wetten, dass ich Recht habe?”

„Chef, Sie haben kein Glück mit Ihren Wetten. Bei unsrer letzten Sache in Afghanistan haben Sie gewettet, dass der nette Inderjunge nicht astrein sei – und die Wette haben Sie glatt verloren.”

„Würde diesmal hundert zu eins gewinnen”, sagte der Chef.

Das Flugzeug senkte sich. Sie waren in Dakar. Furchtbar die Sonnenglut. Auf den Hafenkais Berge von Erdnüssen, in dem grauen Meer kleine Boote mit gelben oder purpurroten oder rosa Segeln – und ihr Flugzeug, das in der Luft einem mächtigen Geier gleicht, liegt jetzt auf dem Wasser wie ein mißgelaunter Haifisch. Dann hebt es sich wieder, der Flug geht weiter, und Neunauge träumt weiter, wie er schon seit Lissabon geträumt hatte, wo eine Amerikanerin ins Flugzeug gekommen war, die einen Fotoapparat umhängen hatte. Dass ihm das nicht schon eher eingefallen war! Das nämlich war die großartige Idee: er würde sich sofort in Rio eine Kamera kaufen, und wenn sie dann im Dschungel die Kinder suchten, würde er nicht nur für die Expedition kochen, sondern er würde für sich fotografieren. Selbstverständlich verstand er etwas davon. Er hatte doch als Junge genug geknipst! Allerdings hatte er seinen Apparat sehr bald gegen ein Luftgewehr vertauscht, denn er war auch ein leidenschaftlicher Schütze, aber so etwas verlernt man so wenig wie schwimmen. Das würden vielleicht Aufnahmen! Krokodile im Amazonas, wie sie sich auf Wasserschweine stürzten und sie zerrissen. Es musste doch eine Kleinigkeit sein, mit irgendwelchem Aas einen Jaguar anzulocken und ihn dann auf den Film zu bekommen! Und die Geier! Und die Wilden!

Mit diesen Bildern, auf fünfzig mal fünfzig vergrößert, würde er die Wände in seinem Bistro „Zum vergnügten Neunauge” schmücken. Das war eine Sensation! So etwas gab es in ganz Paris nicht!

In seine Träume donnerten die Motoren. Von Dakar bis Natal, zur Hauptstadt des brasilianischen Staates Rio Grande do Norte, 3040 Kilometer quer über den Atlantik. Weiter bis Bahia 961 Kilometer und dann noch einmal tausend Kilometer – und sie sahen Rio de Janeiro vor sich, die schönste Stadt der Erde.

Wilde Bergketten sahen aus wie ungeheure Wellen, die plötzlich, ehe sie sich überschlugen, zu Stein wurden. Himmel und Erde flossen in einem märchenhaften Türkisblau zusammen, Bucht an Bucht öffnete sich, und in drei mächtigen Brandungswellen rauschte der Ozean gegen die Küste und ihren Strand. Da der Zuckerhut-Berg, wie ein ungeheurer Zahn, und da, auf dem Corcovado, dem buckligen Berg, ein großes Kreuz – nein, waren sind sie näher gekommen, jetzt sahen sie, dass es kein Kreuz, sondern die Statue des segnenden Christus war, der seine Arme weit ausbreitete, als segne er diese Stadt, dieses Land, diesen Erdteil, diese ganze Welt.

Die Leuchtschrift glühte auf: BITTE ANSCHNALLEN! BITTE BLEIBEN SIE SITZEN! Das Flugzeug senkte sich, und je tiefer es sank, desto mehr stieg die Christusgestalt wieder in die Höhe. Jetzt setzten sie auf dem Wasser auf. Sie waren im Flughafen der Ilha dos Ferreiros. Sie waren in Rio de Janeiro angekommen.

„Herr Graf, sagte Neunauge, „was heißt Rio?”

„Fluss”, war die Antwort.

„Wieso heißt die Stadt nach einem Fluss – es war doch überhaupt kein Fluss zu sehen?”

Der Graf zuckte die Achseln.

„Und was heißt Janeiro?” fragte Neunauge weiter.

„Das weiß ich auch nicht”, sagte der Graf und setzte hinzu: „Sehen Sie, Chef – schon kann ich nicht weiter, weil GG nicht da ist! Der hätte alles sofort beantwortet.”

„Kunststück”, sagte der Chef. „Sehe im Reiseführer nach. Steht alles drin. Halte nach wie vor meine Wette. Bieten Sie dagegen oder nicht, Graf?”

„Es ist mir nicht gegeben”, sagte der Graf, „jemand einen Spaß zu verderben. Wenn Sie wieder eine Wette verlieren wollen – meinetwegen!”

„Werden mir dankbar sein”, sagte der Chef, „dass ich Ihr Selbstbewusstsein steigere. Also abgemacht: ich wette, wir holen die Kinder ohne GG!”

„Ich wette dagegen: das glückt uns nicht!”

„Worum geht die Wette?” fragte Plumpudding sachlich.

Daran hatten weder der Chef noch der Graf gedacht.

„Um einen Männerwitz”, sagte der Chef.

„Um die Einsicht”, sagte der Graf.

Zwölf Gewehre gegen vier Pistolen

Der Mann, der sich zum Piloten der „Eldorado” gemacht hatte, konnte nicht länger nach einem besonders guten Landungsplatz suchen. Der Treibstoff ging zu Ende; die Maschine hätte ja in Belém tanken sollen. Er wurde nervös. Mit letzter Energie hielt er auf einen einigermaßen freien Fleck zu. Er stellte die Motoren ab. Dann gab es einen schrecklichen Ruck. Die Passagiere fanden sich plötzlich auf dem Boden des Flugzeugs mit heftigen Beulen und schmerzenden Gliedern. Es lag schief- aber sie konnten von Glück sagen, denn um ein Haar hätte sich die Maschine noch überschlagen. Schließlich, nachdem sie über sehr unebenen Boden gerumpelt und gebockt hatte, war sie gegen eine Wand von Bussupalmen geprellt, die Propeller krachten und splitterten, und mit schrillem Gekreisch flog eine Unzahl erschreckter Papageien aus dem Walddickicht auf. Die Affen hatten sich schon schreiend davongemacht, als der unheimliche Riesenvogel heruntergekommen war. Er hielt auf einer Lichtung, einer sogenannten Roca, wie jung gerodete Waldstücke hier heißen. Die Menschen aber, die sie einmal durch Abbrennen des Waldes gewonnen hatten, waren längst wieder verschwunden. Nur einige Bananenbäume bezeugten, dass sie einmal hier gewesen waren, denn die köstliche Frucht ist ja in Südamerika nicht heimisch.

Es war kurz vor Sonnenuntergang, als das vorläufige Ende dieser unvorhergesehenen Reise erreicht war. Aber von den Reiseteilnehmern hatte niemand Lust, das unerhörte Purpurrot zu bewundern, mit dem die sinkende Sonne den Himmel übergoss. Die Kinder allerdings wären noch am ehesten dazu bereit gewesen, jedoch waren sie so gespannt, wie dieses Abenteuer sich nun weiterentwickeln würde, dass sie ihre Aufmerksamkeit ganz auf die Vorgänge im Flugzeug konzentrierten. Es stellte sich heraus, dass die vier Verbrecher, denen man den allerdings etwas zweifelhaften Ruhm zubilligen muss, die ersten Flugzeugpiraten in der Geschichte der Luftfahrt zu sein, sich auf ihr Unternehmen umsichtig vorbereitet hatten. Aus ihren Handkoffern hatten sie Kerzen herausgeholt, und als nun die Dunkelheit mit einem Schlage hereinfiel, war das Innere dieses schief liegenden Urwaldhauses mit deren flackerndem Licht erhellt.

Sie gaben auch der Stewardess eine Kerze, und die hübsche junge Person, deren schnittige Uniform nun auf einmal ganz fehl am Platz erschien, versorgte die Anwesenden mit einem improvisierten, aber guten Essen, denn dazu reichten die Vorräte noch aus. Der Herr mit dem Leberleiden aß wenig, die ältere Dame so gut wie nichts, ihre Tochter begnügte sich mit drei belegten Weißbrotscheiben, aber die Lufträuber (welches neue Wort wir wohl dem „Seeräuber” nachbilden dürfen) und die Kinder zeigten sich bei bestem Appetit. Es war merkwürdig – so verdrossen und missmutig sie beim Abflug inmitten aller Möglichkeiten der Zivilisation gewesen waren, so munter, angeregt und voller Erwartungen waren sie jetzt, wo sie doch ein Schicksal zu erwarten schien, das man niemand wünschen möchte.

„Es steht den Passagieren frei, das Flugzeug jederzeit zu verlassen”, verkündete der Wortführer der vier Räuber höflich, als alle mit dem Essen fertig waren. Aber niemand hatte Lust, die vorläufig noch so sichere Unterkunft gegen die Unbilden und Gefahren einer Nacht im Urwald zu vertauschen, und so machten sich Räuber und Beraubte daran, so gut es ging, sich ein Lager zum Schlafen herzurichten. Die Stewardess brachte herbei, was sie an Decken hatte, wobei die Räuber keineswegs anspruchsvoll waren, sondern darauf bestanden, dass die Damen und die Kinder bevorzugt würden. Trotzdem hörte man, als die Kerzen ausgeblasen waren, die ältere Dame leise vor sich hinjammern. Aus dem Sessel, in dem es sich der Herr mit dem Leberleiden bequem gemacht hatte, kam bald ein deutliches Schnarchen, wogegen indessen einer der Räuber empfindlich war. Man hörte ein leises Tappen, dann wurde der Schlafende angestoßen, und das Schnarchen hörte wieder auf.

Die Sessel waren, wenn man ihre Polster herauszog, so breit, dass die Kinder nebeneinander liegen konnten.

Sie schliefen noch nicht. Sie lauschten. Nichts war zu hören. Kein Papagei kreischte mehr, kein Affe schrie, nur ein leises Rauschen ging dann und wann über die Baumwipfel hin und verebbte wieder.

„Du, Mario”, flüsterte Graziella ihrem Bruder zu, „jetzt sind wir im Dschungel!”

„Ja”, antwortete er.

„Schöner können wir es uns gar nicht wünschen”, sagte sie.

„Nein”, sagte er.

„Hör nur, wie herrlich still es ist”, sagte sie.

In dem Augenblick erscholl ein Schrei, ein entsetzlich scharfer, durchdringender Schrei. Man konnte nicht sagen, ob das ein Mensch war, der so schrie – jedenfalls war es eine Kreatur, die da in Todesnot aufgeschrieen hatte. Gleich darauf ein wildes Brüllen. Affen kreischten, aus dem Schlaf geschreckt, und ganze Vogelkolonien antworteten schrill. Dann war wieder alles still, und die Stille schien jetzt noch tiefer als vorher.

„Ein Jaguar hat vielleicht einen Tapir gerissen”, sagte Graziella.

„Oder ein Bisamschwein”, sagte Mario.

„Prima, was?” sagte Graziella.

„Primissima”, sagte er. Aber in Gedanken war er ganz woanders. Er hörte an ihrem gleichmäßigen Atem, dass sie schon schlief. „Wie bringe ich sie nur wieder nach Haus?” dachte er. Aber ehe er darauf eine Antwort gefunden hatte, war auch er eingeschlafen.

Mit einem zitronengelben Streifen in einem fahlgrünen Himmel kündigte sich die Sonne wieder an. Die vier Räuber verschwanden im Packraum. Als sie wieder erschienen, hatten sie sich erheblich verändert. Die Eleganz, mit der sie das Flugzeug betreten hatten, war fort, sie hatten zerschlissene Hemden und abgetragene Hosen an. Aus ihrem aufgegebenen Koffer hatten sie sich die Tracht wieder herausgeholt, die ihnen eigentlich angemessen war und an der man sah, wer sie waren – enttäuschte Garimpeiros, Diamantensucher, die es satt hatten, sich in mühseliger Arbeit abzuschinden, bis sie ein unverhoffter Fund unerhört reich machte. Jetzt hatten sie alles auf eine Karte gesetzt. Da unter ihnen ein gescheiterter Flugzeugführer war, hatten sie sich die Diamanten aus der Luft geholt. Und war das nicht gut gegangen? Sie kannten sich aus, wie man sich durch die Dschungel des brasilianischen Urwaldes schlug. Da sollte sie einmal jemand finden! Erst würden sie einmal völlig untertauchen, und wenn es auch lange dauerte, bis sie an die Grenzecken im Westen kamen, wo Brasilien mit Kolumbien und Peru zusammenstößt – sie waren Entbehrungen gewohnt.

Wirklich, war es gut gegangen? Und die beiden Schüsse auf den Flugzeugführer und den Funker? Hatten sie ihre Diamanten jetzt nicht aus Menschen geholt und mit zwei Morden bezahlt? Senhor, die Toten findet niemand! Die sind rechtzeitig über Bord gegangen - die haben die Krokodile gefressen oder die Piranhas! Die tun uns nicht mehr weh, die Toten!

„Herrschaften”, sagte der Mann, der als einziger von ihnen redete, „wir werden Sie jetzt verlassen. Kommen Sie gut nach Hause! Bons dias!”

„Und was wird aus uns?” schrie die Mutter der Tochter verzweifelt.

„Regen Sie sich nicht auf, Senhora”, sagte der Mann. „Was meinen Sie denn, wie die verschwundene Maschine gesucht wird! Sie werden gefunden, Sie kommen in die Zeitungen, und machen Sie sich rechtzeitig hübsch, denn Sie kommen bestimmt in die Wochenschau!”

Die andern hatten schon das Flugzeug verlassen, er ging jetzt als Letzter. Eben war er aus der Türöffnung hinab gesprungen, als der Diamantenhändler, der unverwandt zu seinem Fenster hinausgesehen hatte, zur Tür rannte, sie zuschlug und verriegelte. Im selben Augenblick hörte man draußen den Ruf: „Hände hoch!”

Die vier Räuber dachten nicht daran. Sie warfen sich in das hohe Gras. Da krachte aber auch schon eine Salve.

„Von den Fenstern weg”, rief der Diamantenhändler. Alles kauerte sich auf den Boden. „Haben Sie gehört, meine Damen”, sagte er weiter, „das waren mindestens zwölf Schüsse – das heißt also zwölf Gewehre. Es steht zwölf gegen vier! Sie werden die Kerle klein kriegen!

„Ist das schon die Polizei?” flüsterte die Dame.

Der Diamantenhändler war höflich genug, nicht zu antworten: „Reden Sie nicht solchen Unsinn! Wie soll Polizei in den Urwald kommen!” Nein, er sagte: „Ich glaube nicht. Aber ich sah, wie sie das Flugzeug von allen Seiten umstellten.”

Jetzt knallten die Smith-Wesson-Pistolen der angegriffenen Vier. Gleich darauf kam wieder eine Salve von Gewehrschüssen.

„Das geht auf Leben und Tod”, sagte der Diamantenhändler.

„Mario”, flüsterte Graziella ihrem Bruder zu, „wenn das Männer sind, die uns nach Hause bringen wollen, gehen wir einfach in den Urwald!”

Die Auskunft ist nicht erschöpfend

Das Taxi, das der Chef und der Graf sich genommen hatten, hielt wie gewünscht vor der Nummer 235 der Avenida Rio Branco, und der Fahrstuhl brachte sie in den vierten Stock, wo der Anwalt Juan Carzal seine Büroräume hatte. Sie hatten sich telefonisch angemeldet und wurden sofort in sein Arbeitszimmer geführt. Sie machten sich miteinander bekannt, – aber wir kennen ihn schon, denn er ist der bewegliche Herr, der Graziella und Mario mit an die „Eldorado” gebracht hatte.

„Meine Herren”, sagte er, nachdem sie in großen Klubsesseln Platz genommen hatten, „ich bin glücklich, dass Sie sofort hierher gekommen sind, aber ich muss Ihnen auch sagen, Sie kommen keine Stunde zu früh. Sie sind über den Fall unterrichtet?”

Der Chef nickte. Er fand das als Antwort ausreichend.

„Wir haben die Zeitungen gelesen”, sagte der Graf.

„Die Zeitungen!” rief der Anwalt in einem Gemisch von Empörung und Verzweiflung aus. Er sprang wieder aus seinem Sessel auf und rannte in dem großen Raum auf und ab. „Was wissen denn die Zeitungen?! Entweder sind die Nachrichten, die sie bringen, falsch – oder wenn sie richtig sind, so sagen sie nichts über die Hintergründe der Vorfälle, und, meine Herren, allein die Hintergründe sind von Wichtigkeit!”

Er war wieder in seinem Klubsessel gelandet. „Meine Herren”, sagte er, „ich bin über die Unternehmungen der Company Ubique-Terrarum genau unterrichtet. Ich weiß, Sie haben schon das Unmögliche möglich gemacht. Aber Sie müssen sich über eins klar sein: Sie stehen hier vor der schwierigsten Aufgabe Ihres Lebens!”

Die Wirkung seiner großartigen Ankündigung war gering. Der Chef nahm die Pfeife aus dem Mund und sagte: „Tatsachen, bitte.” Das war alles. Dann steckte er die Pfeife wieder zwischen die Zähne. Auch der Graf zeigte keine Spur von Erschütterung; sein aristokratisch feines Gesicht behielt den leicht amüsierten Zug, der ihm eigen war.

„Gut”, sagte der Anwalt. „Also die Tatsachen!” Aber wieder hielt es ihn nicht in seinem Klubsessel. Er sprang auf, rannte auf und ab und gab seinen Bericht mit heftigen Armbewegungen, so dass die Szene, hätte sie der Stummfilm gebracht, beim Beschauer unfehlbar den Eindruck erweckt hätte, hier deklamiere ein aufgeregter Mime ein Heldengedicht.

„Meine Herren”, so begann er, „Mittwoch, den sechsten dieses Monats, morgens früh um 8 Uhr 30, habe ich mich in eigener Person davon überzeugt, dass die beiden noch nicht mündigen Kinder Graziella und Mario Castaneda das Flugzeug ,Eldorado bestiegen und dass es fahrplanmäßig den Flughafen verließ. Der nächste Platz, wo es wieder niederzugehen hatte, war Belém. Dort wurden die beiden Kinder von Senhora Carlota Saraiva erwartet, ihrer Tante väterlicherseits. Ich war an diesem Tage außerordentlich beschäftigt, und zwar außerhalb Rios. Als ich abends spät zurückkam, nahm ich an, ich würde hier ein Telegramm aus Belém vorfinden, das, wie verabredet, die Ankunft der Kinder bestätigte. Das Telegramm war aber nicht da, statt dessen war während meiner Abwesenheit, wie ich jetzt hörte, von Belém aus mehrmals angerufen worden, das Flugzeug sei überhaupt nicht gekommen, was ich selbstverständlich für krassen Unsinn hielt, denn ich hatte doch mit eigenen Augen gesehen, wie es nach Belém abgeflogen war. Zur Sicherheit aber rief ich noch die Panair an und erhielt den Bescheid, Port of Spain habe mitgeteilt, die ,Eldorado' müsse sich in Belém verspätet haben. Verspätet, meine Herren, ist etwas anderes als ,nicht angekommen'. Die Dame hatte also, wie ich denken konnte, die Kinder einfach verfehlt.

Auch das war noch ernst genug, meine Herren. Ich flog am andern Morgen sofort nach Belém – und hier hörte ich, was dann auch die Morgenzeitungen brachten, die Funkmeldung aus Port of Spain beruhe auf einem Irrtum, die ,Eldorado' sei tatsächlich nicht in Belém eingetroffen.” Die leicht erheiterte Miene war aus dem Gesicht des Grafen verschwunden. „Kann die Maschine nicht aus irgendeinem Grunde einen andern Flughafen angeflogen haben?”

„Die Fluggesellschaft hatte die Hoffnung”, erwiderte der Anwalt, „sie sei vielleicht in Guyana notgelandet – aber auch das erwies sich als falsch.”