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Jules Verne

Der Archipel in Flammen

Jules Verne

Der Archipel in Flammen

(L’Archipel en feu)
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
Illustrationen: Léon Benett
Übersetzung: Unbekannt, Jürgen Schulze
EV: A. Hartleben’ Verlag, 1887
1. Auflage, ISBN 978-3-962817-78-7

null-papier.de/695

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ju­les Ver­ne – Le­ben und Werk

Ers­tes Ka­pi­tel – Ein Schiff in Sicht

Zwei­tes Ka­pi­tel – Auge in Auge

Drit­tes Ka­pi­tel – Grie­chen ge­gen Tür­ken

Vier­tes Ka­pi­tel – Das trau­ri­ge Haus ei­nes Rei­chen

Fünf­tes Ka­pi­tel – Die mes­se­ni­sche Küs­te

Sechs­tes Ka­pi­tel – Auf die Pi­ra­ten des Archi­pels

Sieb­tes Ka­pi­tel – Eine Über­ra­schung

Ach­tes Ka­pi­tel – Um zwan­zig Mil­lio­nen

Neun­tes Ka­pi­tel – Der Archi­pel in Flam­men

Zehn­tes Ka­pi­tel – Beim Kreu­zen im Archi­pel

Elf­tes Ka­pi­tel – Si­gna­le ohne Ant­wort

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Eine Ver­stei­ge­rung in Scar­pan­to

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – An Bord der »Sy­phan­ta«

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Sa­cra­tif

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Die Lö­sung des Dra­mas

Ein Nach­wort

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie die­ses E-Book aus mei­nem Ver­lag er­wor­ben ha­ben.

Ju­les Ver­ne ge­hört zu den Au­to­ren, die je­der schon ein­mal ge­le­sen hat. Eine Be­haup­tung, die man nicht über vie­le Schrift­stel­ler auf­stel­len kann. Die Ge­schich­ten von Ver­ne sind un­ter­hal­tend, lehr­reich und im­mer sehr at­mo­sphä­risch.

In un­re­gel­mä­ßi­ger Fol­ge wird mein Ver­lag die Wer­ke von Ver­ne ver­öf­fent­li­chen – die be­kann­ten wie die un­be­kann­ten. Im­mer in der über­ar­bei­te­ten Er­st­über­set­zung, um den (sprach­li­chen) Ch­ar­me der Zeit bei­zu­be­hal­ten.

Kor­ri­giert und kom­men­tiert wer­den Orts- und Per­so­nen­na­men oder of­fen­sicht­lich falsche An­ga­ben. Sie fin­den die Er­läu­te­run­gen in Fuß­no­ten.

Ich habe es mir auch nicht neh­men las­sen, die ur­sprüng­li­chen Na­men zu ver­wen­den: Aus dem Jo­hann wird so wie­der der ur­sprüng­li­che Jean, aus Lud­wig wie­der Louis und aus Ma­ri­an­ne wie­der Ma­rie. Ich den­ke, das tut den Ge­schich­ten nur gut.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Ju­les Ver­ne bei Null Pa­pier

Ju­les Ver­ne – Le­ben und Werk

Bei­na­he wäre Klein-Ju­les als Schiffs­jun­ge nach In­di­en ge­fah­ren, hät­te eine Lauf­bahn als See­mann ein­ge­schla­gen und spä­ter un­ter­halt­sa­mes See­manns­garn ge­spon­nen, das ver­mut­lich nie die Drucker­pres­se er­reicht hät­te.

Jules Verne
Ju­les Ver­ne

Ver­liebt in die aben­teu­er­li­che Li­te­ra­tur

Glück­li­cher­wei­se für uns Le­ser hin­dert man ihn dar­an: Der Elf­jäh­ri­ge wird von Bord ge­holt und ver­lebt wei­ter­hin eine be­hü­te­te Kind­heit vor bür­ger­li­chem Hin­ter­grund. Ge­bo­ren am 8. Fe­bru­ar 1828 in Nan­tes, wächst Ju­les-Ga­bri­el Ver­ne in gut si­tu­ier­ten Ver­hält­nis­sen auf. Als äl­tes­ter von fünf Spröss­lin­gen soll er die vä­ter­li­che An­walt­spra­xis über­neh­men, wes­halb er ab 1846 in Pa­ris Jura stu­diert.

Viel span­nen­der fin­det er schon zu die­ser Zeit al­ler­dings die Li­te­ra­tur. Ver­ne freun­det sich so­wohl mit Alex­and­re Du­mas als auch mit sei­nem gleich­na­mi­gen Sohn an. Ge­mein­sam mit Va­ter Du­mas ver­fasst er Opern­li­bret­ti und ers­te dra­ma­ti­sche Wer­ke. Nach dem Ab­schluss sei­nes Stu­di­ums be­schließt er, nicht nach Nan­tes zu­rück­zu­keh­ren, son­dern sich völ­lig der Dra­ma­tik zu wid­men.

Zwar schreibt er nicht ganz er­folg­los – drei sei­ner Er­zäh­lun­gen er­schei­nen in ei­ner li­te­ra­ri­schen Zeit­schrift. Doch zum Le­ben reicht es nicht, wes­halb der jun­ge Au­tor 1852 den Pos­ten ei­nes In­ten­danz-Se­kre­tärs am Théâtre ly­ri­que an­nimmt. Im­mer­hin wird die­se Ar­beit zu­ver­läs­sig ver­gü­tet und Ver­ne darf sich als Dra­ma­ti­ker be­tä­ti­gen. In sei­ner Frei­zeit ver­fasst er wei­ter­hin Er­zäh­lun­gen, wo­bei ihn aben­teu­er­li­che Rei­sen am meis­ten in­ter­es­sie­ren.

Als er 1857 eine Wit­we hei­ra­tet, die zwei Töch­ter in die Ehe mit­bringt, muss sich der Li­te­rat nach ei­ner bes­ser be­zahl­ten Ein­kom­mens­quel­le um­se­hen. Wäh­rend der nächs­ten zwei Jah­re schlägt er sich als Bör­sen­mak­ler durch, wo­bei er ge­nug Zeit fin­det, län­ge­re Schiffs­rei­sen zu un­ter­neh­men, be­vor 1861 sein Sohn Mi­chel ge­bo­ren wird.

Ver­liebt ins li­te­ra­ri­sche Aben­teu­er

Letzt­lich ist es ei­ner be­son­de­ren Be­geg­nung im Jahr 1862 ge­schul­det, dass al­les, was der Au­tor bis­her »geis­tig an­ge­sam­melt« hat, in sei­nen künf­ti­gen Ro­ma­nen kul­mi­nie­ren darf: Der Ju­gend­buch-Ver­le­ger Pier­re-Ju­les Het­zel ver­öf­fent­licht Ver­nes uto­pi­schen Rei­se­ro­man »Fünf Wo­chen im Bal­lon«. Die­ses von ihm oh­ne­hin be­vor­zug­te Su­jet wird den Schrift­stel­ler nie wie­der los­las­sen – die aben­teu­er­li­chen Rei­sen, auf wel­cher Rou­te auch im­mer sie ab­sol­viert wer­den. Het­zel ver­legt Ver­nes noch heu­te be­lieb­tes­te Schrif­ten: 1864 »Rei­se zum Mit­tel­punkt der Erde«, im fol­gen­den Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Rei­se um den Mond« und »Zwan­zig­tau­send Mei­len un­ter dem Meer«. Mit »Rei­se um die Erde in 80 Ta­gen« er­scheint 1872 Ju­les Ver­nes er­folg­reichs­ter Ro­man über­haupt.

Die Zu­sam­men­ar­beit mit Het­zel, der gleich­zei­tig als sein Men­tor fun­giert, sorgt in den spä­ten 1860er Jah­ren da­für, dass der höchst pro­duk­ti­ve Schrift­stel­ler sei­ner Fa­mi­lie ei­ni­gen Wohl­stand bie­ten und sich selbst »ju­gend­traum­haf­te« Rei­se­wün­sche er­fül­len kann. Sein Ver­le­ger stellt ihn nam­haf­ten Wis­sen­schaft­lern vor – in Kom­bi­na­ti­on mit den er­wähn­ten Rei­sen ent­steht auf die­se Wei­se ein un­ge­heu­rer Fun­dus der In­spi­ra­ti­on: Ju­les Ver­nes Zet­tel­kas­ten ent­hält an­geb­lich 25.000 No­ti­zen!

Zwar ist er seit »Rei­se um den Mond« glei­cher­ma­ßen wohl­ha­bend und ge­ach­tet; er en­ga­giert sich seit den spä­ten 1880er Jah­ren so­gar als Stadt­rat in Amiens, wo­hin er 1871 mit sei­ner Fa­mi­lie über­ge­sie­delt war. Der »Rit­ter­schlag« aber bleibt aus: In der Aca­dé­mie françai­se möch­te man den Ju­gend­buch­au­tor nicht ha­ben, er gilt als nicht se­ri­ös ge­nug.

Den Ze­nit sei­nes Schaf­fens hat der Li­te­rat be­reits über­schrit­ten, als er 1888 blei­ben­de Ver­let­zun­gen durch den Schuss­waf­fen-An­griff ei­nes geis­tes­ge­stör­ten Ver­wand­ten da­von­trägt. Den­noch ar­bei­tet der Au­tor un­un­ter­bro­chen wei­ter. Als Ju­les Ver­ne im März 1905 stirbt, hin­ter­lässt er ein ge­wal­ti­ges Ge­samt­werk: 54 zu Leb­zei­ten er­schie­ne­ne Ro­ma­ne, wei­te­re elf Ma­nu­skrip­te be­ar­bei­tet sein Sohn Mi­chel nach dem Tod des Va­ters. Er­gänzt wird Ver­nes Œu­vre durch Er­zäh­lun­gen, Büh­nen­stücke und geo­gra­fi­sche Ver­öf­fent­li­chun­gen.

Ge­liebt und miss­ach­tet

Je­nes zwie­späl­ti­ge Ver­hält­nis, das sich be­reits in der Ab­leh­nung der Aka­de­mie­mit­glie­der äu­ßert, kenn­zeich­net die aka­de­mi­sche Re­zep­ti­on bis heu­te: Ju­les Ver­ne ist eben »nur ein Ju­gend­buch­au­tor«. We­ni­ger be­fan­ge­ne Re­zi­pi­en­ten frei­lich schrei­ben ihm eine ganz an­de­re Be­deu­tung zu, die dem Vi­sio­när und lei­den­schaft­li­chen Er­zäh­ler bes­ser ge­recht wird.

Wenn­gleich der al­tern­de Li­te­rat zum Ende sei­nes Schaf­fens durch­aus nicht mehr in gläu­bi­ger Tech­nik­be­geis­te­rung auf­geht, blei­ben uns doch ge­nau jene Wer­ke in lie­be­vol­ler Erin­ne­rung, in de­nen tech­ni­sche und mensch­li­che Groß­ta­ten die Hand­lung be­stim­men: »Rei­se um die Erde in 80 Ta­gen« oder »Zwan­zig­tau­send Mei­len un­ter dem Meer« bei­spiels­wei­se. Wer als Kind von Nemo und sei­ner Nau­ti­lus liest, wird un­wei­ger­lich ge­fan­gen von die­sem tech­ni­schen Wun­der­werk und des­sen Ka­pi­tän. Ver­nes Ro­ma­ne ge­hö­ren zu je­nen Ju­gend­bü­chern, die man als Er­wach­se­ner ger­ne noch­mals zur Hand nimmt – und man staunt er­neut, er­in­nert sich, lässt sich wie­der­um ein­fan­gen und fragt sich, warum man ei­gent­lich so sel­ten Ver­ne liest…

So wie der Au­tor sich selbst durch Rei­sen und Wis­sen­schaft in­spi­rie­ren lässt, die­nen sei­ne Wer­ke seit je­her der In­spi­ra­ti­on sei­ner Le­ser­schaft. Wie prä­sent die­ser ex­zel­len­te Un­ter­hal­ter in den Köp­fen sei­ner Le­ser bleibt, be­le­gen Be­nen­nun­gen in See- und Raum­fahrt: Das ers­te Atom-U-Boot der Ge­schich­te ist die ame­ri­ka­ni­sche USS Nau­ti­lus. Ein Raum­trans­por­ter der Eu­ro­päi­schen Raum­fahr­t­agen­tur heißt »Ju­les Ver­ne«, ein As­te­ro­id und ein Mond­kra­ter tra­gen eben­falls den Na­men des Schrift­stel­lers. Die »Ju­les Ver­ne Tro­phy« wird seit 1990 für die schnells­te Wel­t­um­se­ge­lung ver­lie­hen, was dem be­geis­ter­ten Jacht­be­sit­zer Ver­ne ge­wiss ge­fal­len hät­te.

Der kom­mer­zi­el­le Li­te­ra­tur­be­trieb so­wie die Film­wirt­schaft be­trach­ten den fran­zö­si­schen Va­ter der Science-Fic­ti­on-Li­te­ra­tur eben­falls mit Wohl­wol­len: Un­zäh­li­ge Neu­auf­la­gen der Ro­man­klas­si­ker, Hör­bü­cher und Ver­fil­mun­gen der ra­san­ten, stets mit­rei­ßen­den Hand­lun­gen spre­chen Bän­de. Mitt­ler­wei­le gel­ten die äl­tes­ten Ver­fil­mun­gen selbst als kul­tu­rel­le Mei­len­stei­ne, die kei­nes­wegs nur ein jun­ges Pub­li­kum er­freu­en.

Ju­les Ver­nes Be­deu­tung für die Li­te­ra­tur

Der Ein­fluss Ver­nes auf nach­fol­gen­de Science-Fic­ti­on-Au­to­ren ist gar nicht hoch ge­nug ein­zu­schät­zen: Aus heu­ti­ger Sicht ist er ei­ner der Vor­rei­ter der uto­pi­schen Li­te­ra­tur Eu­ro­pas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Wel­ten«) und Kurd Laß­witz (»Auf zwei Pla­ne­ten«) das neue Gen­re be­grün­det. Sein­er­zeit gibt es die­sen Be­griff noch nicht, wes­halb Het­zel die Ro­ma­ne sei­nes Er­folgs­schrift­stel­lers als »Au­ßer­ge­wöhn­li­che Rei­sen« ver­mark­tet

Der Fran­zo­se sieht, an­ders als Wells und ähn­lich wie Laß­witz, im tech­ni­schen Fort­schritt das künf­ti­ge Wohl der Mensch­heit be­grün­det. Trotz­dem ist Ju­les Ver­ne vor al­lem Er­zäh­ler: Er will we­der war­nen wie Wells noch be­leh­ren wie Laß­witz, son­dern in ers­ter Li­nie un­ter­hal­ten. Im Ver­gleich zum sprö­den Rea­lis­mus ei­nes Wells wir­ken sei­ne Ro­ma­ne für mo­der­ne Le­ser aus­ufernd, viel­leicht so­gar ge­schwät­zig. Den­noch sind sie leich­ter zu­gäng­lich als das sti­lis­tisch ähn­li­che Schaf­fen des Deut­schen Laß­witz, weil sie Uto­pie und Tech­nik­be­geis­te­rung nicht zum Zweck ih­res In­halts ma­chen, son­dern le­dig­lich zu des­sen Trä­ger: Schließ­lich ist es ein­fach auf­re­gend, in ei­nem Bal­lon eine Welt­rei­se an­zu­tre­ten oder Ka­pi­tän Nemo in sein ge­hei­mes Reich zu fol­gen.

Titelseite der französischen Originalausgabe
Titelseite der französischen Originalausgabe

Erstes Kapitel – Ein Schiff in Sicht

Am 28. Ok­to­ber 1827 ge­gen fünf Uhr abends be­müh­te sich ein klei­nes le­van­ti­ni­sches Fahr­zeug, noch vor Ein­bruch der Nacht den Ha­fen von Vi­ty­lo, am Ein­gang des Golfs von Co­ron, zu er­rei­chen.

Die­ser Ha­fen, das Oe­ty­los Ho­mers, liegt an ei­ner der tie­fen Ein­buch­tun­gen, wel­che aus dem Io­ni­schen und Ägäi­schen Mee­re das Pla­ta­nen­blatt aus­schnei­den, mit dem man das süd­li­che Grie­chen­land so treff­lich ver­gli­chen hat. Die­ses Blatt nimmt der alte Pe­lo­pon­nes, das Mes­se­ne der Grie­chen un­se­rer Tage, ein. Die ers­te die­ser Aus­buch­tun­gen bil­det im Wes­ten der Golf von Co­ron, der sich zwi­schen Mes­se­ne und La­co­nia öff­net. Die zwei­te, der Golf von Ma­ra­thon, der die Küs­te des erns­ten La­co­nia tief ein­schnei­det. Die drit­te, der Golf von Nau­plia, des­sen Ge­wäs­ser La­co­nia und Ar­go­lis schei­den.

Zu dem ers­ten der drei Gol­fe ge­hört der Ha­fen von Vi­ty­lo. An der Ost­küs­te, im Hin­ter­grun­de ei­ner un­re­gel­mä­ßi­gen Bai lie­gend, reicht er bis an die letz­ten Aus­läu­fer des Tay­ge­tos her­an, des­sen Berg­käm­me das Ske­lett des Hin­ter­lan­des bil­den. Die Si­cher­heit sei­nes An­ker­grun­des, der be­que­me Ver­lauf der Ein­fahrts­s­tra­ßen und die ihn um­ge­ben­den Hö­hen ma­chen ihn zu ei­nem der bes­ten Zuf­luchts­hä­fen die­ser von al­len Win­den der süd­li­chen Mee­re un­aus­ge­setzt ge­peitsch­ten Küs­te.

Das Fahr­zeug, wel­ches bei ziem­lich fri­scher Nord­nord­west­bri­se sehr dicht am Win­de se­gel­te, konn­te von den Ha­fen­däm­men Vi­ty­los nicht er­kannt wer­den, da das­sel­be noch eine Ent­fer­nung von sechs bis sie­ben Mei­len von dem­sel­ben trenn­te. Da das Wet­ter aber aus­ge­zeich­net klar war, hob sich doch der Rand sei­ner obe­ren Se­gel deut­lich von dem leuch­ten­den Hin­ter­grund des äu­ßers­ten Ho­ri­zonts ab.

Was aber von un­ten nicht sicht­bar war, konn­te doch von oben, das heißt von dem Gip­fel der Hö­hen­zü­ge, ge­se­hen wer­den, wel­che das Dorf um­gren­zen. Vi­ty­lo ist in Ge­stalt ei­nes Am­phi­thea­ters auf ab­schüs­si­gen Fel­sen er­baut, wel­che die alte Akro­po­lis von Ke­la­pha ver­tei­digt. Dar­über er­he­ben sich noch ei­ni­ge alte, zer­fal­le­ne Tür­me von jün­ge­rem Ur­sprung als jene merk­wür­di­gen Über­res­te ei­nes Tem­pels der Se­ra­phis, des­se Säu­len und Ca­pi­tä­le von io­ni­scher Ord­nung noch heu­te die Kir­che von Vi­ty­lo zie­ren. Ne­ben je­nen Tür­men ste­hen auch noch zwei oder drei klei­ne, we­nig be­such­te Ka­pel­len, in wel­chen from­me Mön­che den Kir­chen­dienst ver­se­hen.

Es ist hier von Wich­tig­keit, auf die Be­zeich­nung »den Kir­chen­dienst ver­se­hen« und selbst auf die Qua­li­fi­ka­ti­on ei­nes Mön­ches, wel­che die­se Geist­li­chen der mes­se­ni­schen Küs­te sich zu­le­gen, zu ach­ten. Ei­ner der­sel­ben, der so­eben sei­ne Ka­pel­le ver­ließ, wird so­gleich dem Le­ser nä­her vor Au­gen tre­ten.

Zu je­ner Zeit war die Re­li­gi­on in Grie­chen­land noch ein ei­gen­tüm­li­ches Ge­misch von heid­nischen Sa­gen und christ­li­chen Glau­bens­sät­zen. Vie­le Gläu­bi­ge be­trach­te­ten die Gott­hei­ten des Al­ter­tums noch ge­wis­ser­ma­ßen als Hei­li­ge der neu­en Re­li­gi­on. In der Tat, wie das Hen­ry Bel­le schil­dert, ver­men­gen sie die Halb­göt­ter mit den Hei­li­gen, die Ko­bol­de der be­zau­bern­den Tä­ler mit den En­geln des Pa­ra­die­ses und ru­fen eben­so die Si­re­nen und Fu­ri­en an, wie sie noch Bro­top­fer dar­brin­gen. Die­se Um­stän­de ha­ben ge­wis­se merk­wür­di­ge Ge­bräu­che ein­ge­führt, wel­che an­de­re zum La­chen rei­zen, wäh­rend die Geist­lich­keit große Mühe hat, die­ses we­nig or­tho­do­xe Cha­os zu ent­wir­ren.

Wäh­rend des ers­ten Vier­tels die­ses Jahr­hun­derts – es ist ei­ni­ge fünf­zig Jah­re her und die Zeit, mit wel­cher un­se­re Er­zäh­lung be­ginnt – war der Cle­rus der grie­chi­schen Halb­in­sel noch un­wis­sen­der, und die sorg­los da­hin­le­ben­den, nai­ven, zu­trau­li­chen Mön­che, »gute Kin­der«, schie­nen sehr we­nig ge­eig­net, die von Na­tur aber­gläu­bi­sche Be­völ­ke­rung auf rech­te Wege zu lei­ten.

Und wenn die­se nie­de­ren Kir­chen­die­ner nur al­lein un­wis­send ge­we­sen wä­ren! In ge­wis­sen Ge­gen­den Grie­chen­lands aber, vor­züg­lich in den wil­den Distrik­ten von Ma­gne, scheu­ten die ar­men Teu­fel, von Na­tur und aus Not schon Bett­ler und gie­rig auf die paar Drach­men, wel­che mit­lei­di­ge Rei­sen­de ih­nen zu­war­fen, ohne alle Be­schäf­ti­gung, au­ßer etwa der, den Gläu­bi­gen das ge­fälsch­te Bild­nis ei­nes Hei­li­gen zum Kus­se dar­zu­rei­chen oder eine ewi­ge Lam­pe in ir­gend­ei­ner Grot­te zu un­ter­hal­ten, dazu ver­stimmt über den ge­rin­gen Er­trag ih­rer Pfrün­den, der Be­er­di­gun­gen und der Tau­fen, nicht da­vor zu­rück, die Auf­laue­rer – und was für Auf­laue­rer – im Sol­de der Be­woh­ner des Küs­ten­ge­bie­tes zu spie­len.

Die See­leu­te von Vi­ty­lo, wel­che am Ha­fen um­her­lun­ger­ten wie dei Laz­zaro­nis, wel­che gleich meh­re­re Stun­den Ruhe brau­chen, um sich von der Ar­beit wäh­rend ei­ni­ger Mi­nu­ten zu er­ho­len, er­ho­ben sich doch rasch, als sie einen ih­rer Mön­che, die Arme hef­tig be­we­gend, schnel­len Schrit­tes nach dem Dor­fe hin­ab­stei­gen sa­hen.

»Was gibt’s denn, Vater, was ist denn los?«
»Was gibt’s denn, Vater, was ist denn los?«

Es war das ein Mann von fünf­zig bis fünf­und­fünf­zig Jah­ren, der nicht nur dick, son­dern fett war von je­nem Fet­te, das der Mü­ßig­gang er­zeugt, und des­sen schlaue Phy­sio­gno­mie1 nur sehr mit­tel­mä­ßi­ges Ver­trau­en ein­zu­flö­ßen ver­moch­te.

»Was gibt es denn, Va­ter, was ist denn los?« frag­te ei­ner der See­leu­te, der ihm ent­ge­gen­ging.

Der Vi­ty­li­ner sprach mit so nä­seln­dem Ton, dass man Na­son hät­te für einen Vor­fah­ren der Hel­le­nen hal­ten kön­nen, und dazu jene ma­nia­ti­sche Mund­art, in der sich das Tür­ki­sche mit dem Ita­lie­ni­schen misch­te, als rüh­re das­sel­be aus der Zeit des Turm­bau­es von Ba­bel her.

»Ha­ben die Sol­da­ten Ibra­hims etwa die Hö­hen des Tay­ge­tos be­setzt?« frag­te ein an­de­rer See­mann mit sehr sorg­lo­ser Ges­te, wel­che eben nicht viel Pa­trio­tis­mus ver­riet.

»Wenns nicht gar Fran­zo­sen sind, mit de­nen wir es zu tun ha­ben«, er­wi­der­te der ers­te Spre­cher.

»Na, die sind ein­an­der wert!« be­merk­te ein drit­ter.

Die­se Äu­ße­rung be­wies, dass der Kampf, wel­cher da­mals ge­ra­de am hef­tigs­ten wü­te­te, die Be­woh­ner des un­ters­ten Pe­lo­pon­nes nur sehr we­nig be­rühr­te, sehr ver­schie­den von den Ma­nia­ten des Nor­dens, wel­che sich im Un­ab­hän­gig­keits­krie­ge so rühm­lich her­vor­ta­ten.

Der di­cke Geist­li­che ver­moch­te aber we­der dem einen, noch dem an­de­ren Ant­wort zu ge­ben. Er war von dem Herab­klet­tern über die stei­len Ab­hän­ge noch ganz au­ßer Atem. Sei­ne asth­ma­ti­sche Brust keuch­te. Er woll­te spre­chen, konn­te es aber nicht. Ei­ner sei­ner Ah­nen im al­ten Hel­las, der Sol­dat von Ma­ra­thon, hat­te doch we­nigs­tens, noch ehe er starb, den Sieg des Mil­tia­des ver­kün­den kön­nen. Doch es han­del­te sich hier we­der um Mil­tia­des noch um den Kampf der Athe­ner ge­gen die Per­ser. Es wa­ren kaum Grie­chen, die­se ver­wil­der­ten Be­woh­ner der un­ters­ten Spit­ze von Ma­gne.

»So sprich doch, Va­ter, sprich doch!« rief der alte See­mann, na­mens Goz­zo, der sich un­ge­dul­di­ger als die an­de­ren ge­bär­de­te, als hät­te er schon er­ra­ten, was der Mönch ver­kün­den woll­te.

End­lich hat­te die­ser sich wie­der et­was be­ru­higt. Da streck­te er die Hand nach dem Ho­ri­zont aus und rief:

»Ein Schiff in Sicht!«

Auf die­se Mel­dung hin spran­gen die Ta­ge­die­be alle auf, klatsch­ten in die Hän­de und stürm­ten nach ei­nem Fel­sen, der den Ha­fen über­rag­te. Von hier aus konn­ten sie das Meer in wei­tem Um­kreis se­hen.

Ein Fremd­ling hät­te glau­ben kön­nen, dass die­se Be­we­gung nur her­vor­ge­bracht wür­de durch das In­ter­es­se, wel­ches je­des von der See her­kom­men­de Fahr­zeug na­tur­ge­mäß See­leu­ten ein­flö­ßen muss, de­nen so et­was ja be­son­ders an­geht. Das wäre aber eine falsche An­nah­me ge­we­sen oder war es viel­mehr; wenn dies ein In­ter­es­se die­ser Leu­te auf­zu­sta­cheln ver­moch­te, war das doch ein sol­ches ganz spe­zi­el­ler Art.

In der Tat ist Ma­gne, jetzt wo wir die­se Er­zäh­lung nie­der­schrei­ben – nicht zur­zeit, als die dar­in ge­schil­der­ten Vor­fäl­le sich er­eig­ne­ten – noch im­mer ein von Grie­chen­land halb ab­ge­son­der­ter Land­strich, ein un­ab­hän­gi­ges Kö­nig­reich, ge­schaf­fen durch den Be­schluss der eu­ro­päi­schen Groß­mäch­te, wel­che 1829 den Ver­trag von Adria­no­pel un­ter­zeich­ne­ten. Die Ma­nia­ten, oder min­des­tens die­je­ni­gen der­sel­ben, wel­che auf den ver­län­ger­ten Land­aus­läu­fern zwi­schen den Gol­fen woh­nen, sind noch hal­be Bar­ba­ren ge­blie­ben, wel­che sich mehr um ihre per­sön­li­che Frei­heit, als um die des Lan­des be­küm­mern. Die­se äu­ßers­te Zun­ge des un­te­ren Mo­re­as ist von je­her auch kaum zur Bot­mä­ßig­keit zu brin­gen ge­we­sen. We­der die tür­ki­schen Ja­nit­scha­ren, noch die grie­chi­schen Gens­darmen ha­ben sie zu be­zwin­gen ver­mocht. Streit­süch­tig und rach­be­gie­rig, oft in Fa­mi­li­en­zwi­s­tig­kei­ten ver­wi­ckelt, wel­che nur durch Blut aus­ge­tra­gen wer­den kön­nen, Räu­ber von Ge­burt und doch gast­freund­lich, Mör­der, wenn der Raub einen Mord be­dingt, nen­nen sich des­halb die ro­hen Berg­völ­ker nicht we­ni­ger die di­rek­ten Nach­kom­men der Spar­ta­ner; aber ein­ge­schlos­sen in die Verzwei­gun­gen des Tay­ge­tos, in dem man zu tau­sen­den jene klei­nen Be­fes­ti­gun­gen oder »Pyr­gos«, wel­che kaum zu er­klim­men sind, fin­det, spie­len sie gar zu gern die zwei­fel­haf­te Rol­le je­ner We­ge­la­ge­rer des Mit­tel­al­ters, die ihre Feu­dal­rech­te mit Dolch und Pis­to­le üb­ten.

Wenn die Ma­nia­ten zur Stun­de auch noch halb wild sind, so mag man sich vor­stel­len, was die­sel­ben vor nun fünf­zig Jah­ren sein moch­ten. Ehe die Kreuz­fahr­ten der Dampf­schif­fe ih­ren Raub­zü­gen zur See ein Ziel setz­ten, tra­ten sie wäh­rend des ers­ten Vier­tels die­ses Jahr­hun­derts als die ver­we­gens­ten See­räu­ber auf, wel­che die Han­dels­fahr­zeu­ge in al­len Sta­pel­plät­zen des Mor­gen­lan­des nur zu fürch­ten hat­ten.

Gera­de der Ha­fen von Vi­ty­lo er­schi­en durch sei­ne Lage am Ende des Pe­lo­pon­nes, am Ein­gang zwei­er Mee­re, durch die Nähe der den See­räu­bern wohl­be­kann­ten In­sel Ce­ri­got­to, höchst ge­eig­net, sich al­len Übel­tä­tern zu öff­nen, wel­che den Archi­pel und die be­nach­bar­ten Ge­gen­den des Mit­tel­mee­res un­si­cher mach­ten. Der Zen­tral­punkt der Be­woh­ner­schaft die­ses Teils von Ma­gne hieß spe­zi­ell das Land von Ka­ko­von­ni, und die Ka­ko­von­ni­o­ten, wel­che zu bei­den Sei­ten der Land­spit­ze sie­del­ten, wel­che mit dem Kap Ma­ta­pan2 aus­läuft, hat­ten es be­quem, ihre Un­ta­ten aus­zu­füh­ren. Auf dem Meer über­fie­len sie die Schif­fe; an das Land lock­ten sie die­sel­ben durch falsche Si­gna­le. Über­all plün­der­ten und ver­brann­ten sie die­sel­ben. Ob de­ren Be­sat­zung nun eine tür­ki­sche, mal­te­si­sche, ägyp­ti­sche oder selbst eine grie­chi­sche war, das küm­mer­te sie nicht; sie wur­de ohne Er­bar­men nie­der­ge­met­zelt oder nach den Bar­ba­res­ken­staa­ten3 in die Skla­ve­rei ver­kauft. Gab es ein­mal eine Zeit lang nichts zu tun, und wur­den die Küs­ten­fah­rer in der Bucht von Ce­ri­go oder dem Kap Gal­lo sel­te­ner, so stie­gen öf­fent­li­che Ge­be­te auf zu dem Gott der Stür­me, da­mit die­ser sich her­a­blie­ße, ein Schiff von großem Ton­nen­ge­halt und mit rei­cher La­dung in ihre Hand zu ge­ben. Die Mön­che schlu­gen es auch nicht ab, die­se Ge­be­te zum Nut­zen ih­rer Gläu­bi­gen zu ze­le­brie­ren.

Jetzt hat­te es seit meh­re­ren Wo­chen nichts zu plün­dern ge­ge­ben. Kein Schiff war an der Küs­te von Ma­gne an­ge­lau­fen. Des­halb ver­ur­sach­te es einen wirk­li­chen Aus­bruch der Freu­de, als der Mönch jene von asth­ma­ti­schem Keu­chen un­ter­bro­che­nen Wor­te aus­ge­ru­fen hat­te:

»Ein Schiff in Sicht!«

So­fort er­schall­ten die dump­fen Schlä­ge des Si­man­ders, ei­ner Art Glo­cke aus Holz mit ei­ser­nem Klöp­pel, wel­che in den Pro­vin­zen in Ge­brauch ist, wo die Tür­ken die Ver­wen­dung von me­tal­le­nen Glo­cken nicht zulie­ßen. Die klang­lo­sen Schlä­ge ge­nüg­ten je­doch, die hab­gie­ri­ge Be­völ­ke­rung zu­sam­men­zu­ru­fen, Män­ner, Frau­en, Kin­der, her­ren­lo­se furcht­ba­re Hun­de, alle be­gie­rig zu plün­dern und wenn nö­tig zu mor­den.

In­zwi­schen ver­han­del­ten die auf dem Fel­sen ver­ei­nig­ten Vi­ty­li­ner mit großer Leb­haf­tig­keit. Wel­cher Art Fahr­zeug war es, das der Mönch ih­nen an­mel­de­te? Mit der nord­nord­west­li­chen Bri­se, die beim Ein­bruch der Nacht noch auf­frisch­te, glitt das Schiff mit Back­bord­hal­sen schnell da­hin. Es schi­en mög­lich, dass es beim La­vie­ren das Kap Ma­ta­pan ziem­lich streif­te. Sei­nem Kurs nach schi­en es aus der Ge­gend von Kre­ta zu kom­men. Schon be­gann sein Rumpf sich zu zei­gen über dem wei­ßen Kiel­was­ser, das es hin­ter sich ließ; sei­ne Se­gel alle bil­de­ten je­doch für das Auge eine un­kennt­li­che Mas­se. Es war also schwie­rig zu sa­gen, wel­cher Klas­se das Fahr­zeug an­ge­hö­ren möge, was auch die ver­schie­dens­ten, von ei­ner Mi­nu­te zur an­de­ren sich wi­der­spre­chen­den Äu­ße­run­gen ver­an­lass­te.

»Es ist eine Sche­be­ke«, er­klär­te ei­ner der See­leu­te, »ich sehe ihre vier­e­cki­gen Se­gel am Fock­mast!«

»Nein«, er­wi­der­te ein an­de­rer, »es ist eine Pin­ke! Man sieht ja den er­höh­ten Ach­ter und stark­ge­krümm­ten Vor­ders­te­ven!«

»Sche­be­ke oder Pin­ke! Wer könn­te die­sel­ben auf eine sol­che Ent­fer­nung un­ter­schei­den?«

»Soll­te es nicht viel­mehr eine Po­la­ke mit vier­e­cki­gen Se­geln sein«, be­merk­te ein an­de­rer See­mann, der aus den halb­ge­schlos­se­nen Hän­den sich eine Art Fern­rohr ge­macht hat­te.

»Gott hel­fe uns!« ant­wor­te­te der alte Goz­zo. »Po­la­ke, Sche­be­ke oder Pin­ke, je­den­falls sinds drei Mas­te, und drei Mas­te sind al­le­mal bes­ser als zwei, wenn sichs dar­um han­delt, hier bei uns mit ei­ner tüch­ti­gen La­dung Wein aus Can­dia oder mit Stof­fen aus Smyr­na zu lan­den!«

Nach die­ser wei­sen Be­mer­kung blick­ten alle mit noch grö­ße­rer Auf­merk­sam­keit hin­aus.

Das Schiff nä­her­te sich und schi­en all­mäh­lich zu wach­sen; weil es aber so dicht am Win­de fuhr, konn­te man es nicht von der Sei­te se­hen. Es wäre also schwie­rig ge­we­sen, zu sa­gen, ob es zwei oder drei Mas­te führ­te, das heißt, ob sein Ton­nen­ge­halt ein grö­ße­rer oder ein ge­rin­ge­rer sein wer­de.

»Oh, das Un­glück ver­folgt uns, und der Teu­fel hat sein Spiel!« rief Goz­zo, in­dem er noch einen Fluch hin­zu­setz­te, mit dem er alle Sät­ze zu ver­stär­ken pfleg­te. »Das Ding ist wei­ter nichts als eine Fe­lu­ke …«

»Oder gar nur eine Spe­ro­na­re!« rief der Mönch nicht we­ni­ger ent­täuscht als sei­ne Zu­hö­rer.

Dass die­se bei­den Be­mer­kun­gen mit nicht sehr wohl­wol­len­den Ru­fen auf­ge­nom­men wur­den, braucht wohl kaum ver­si­chert zu wer­den. Aber wel­cher Art das Fahr­zeug auch war, so konn­te man doch schon be­ur­tei­len, dass es höchs­tens hun­dert bis hun­dert­fünf­zig Ton­nen mes­sen konn­te. Frei­lich kam es ja nicht auf die Men­ge der La­dung an, wenn die­se sonst eine wert­vol­le war. Man trifft ein­fa­che Fe­lu­ken oder selbst Spe­ro­na­ren, wel­che eine Fracht an kost­ba­ren Wei­nen, fei­nen Ölen oder teu­ren Ge­we­ben füh­ren. In sol­chen Fäl­len ver­lohnt es sich schon der Mühe, sie zu plün­dern, denn sie ge­ben oft rei­che Beu­te für ge­rin­ge Mühe. Zu ver­zwei­feln war also noch nicht. Dazu ent­deck­ten die äl­te­ren Leu­te der Ban­de, dass das Schiff ein ge­wis­ses ele­gan­tes Äu­ße­res hat­te, wel­ches, lang­jäh­ri­ger Er­fah­rung nach, im­mer­hin zu sei­nen Guns­ten sprach.

Schon be­gann die Son­ne hin­ter dem Ho­ri­zont im Wes­ten des io­ni­schen Mee­res zu ver­schwin­den; die Ok­to­ber­däm­me­rung muss­te je­doch noch eine Stun­de lang hin­rei­chen­des Licht ver­brei­ten, um das Schiff vor Ein­bruch völ­li­ger Dun­kel­heit zu er­ken­nen. Nach­dem das­sel­be das Kap Ma­ta­pan um­se­gelt, wen­de­te es sich um zwei Vier­tel, um bes­ser in den Golf ein­lau­fen zu kön­nen, und zeig­te sich da­mit den Beo­b­ach­tern in be­que­mer Stel­lung. Gleich nach­dem dies ge­sche­hen, ent­fuhr auch schon den Lip­pen des al­ten Goz­zo das Wort »Sa­co­le­ve«!

»Eine Sa­co­le­ve!« wie­der­hol­ten sei­ne Ge­nos­sen, wel­che ih­rem Un­mut durch rohe Flü­che Luft mach­ten.

Über den Ge­gen­stand wur­de in­des­sen nicht wei­ter ge­spro­chen, weil Zwei­fel über den­sel­ben nicht ob­wal­ten konn­ten. Das Fahr­zeug, wel­ches dem Gol­fe von Co­ron zu­steu­er­te, war si­cher­lich eine Sa­co­le­ve. Üb­ri­gens ta­ten die Leu­te aus Vi­ty­lo sehr un­recht, gleich über Un­glück zu schrei­en. Es ist gar nicht sel­ten, dass man ge­ra­de auf die­sen Sa­co­le­ven sehr kost­ba­re La­dun­gen an­trifft.

Man be­zeich­net mit die­sem Na­men üb­ri­gens ein le­van­ti­ni­sches Fahr­zeug von mitt­le­rem Ton­nen­ge­halt, des­sen Ver­deck einen ge­drück­ten Bo­gen bil­det, in­dem es sich nach hin­ten zu ein we­nig er­hebt. Auf sei­nen schlan­ken Mas­ten trägt es man­nig­fa­ches Se­gel­werk. Der stark nach vorn ge­neig­te, in der Mit­te ste­hen­de Groß­mast hat ge­wöhn­lich ein la­tei­ni­sches Se­gel, ein Rot-, ein Mars-und ein Top­se­gel. Zwei Klü­ver­se­gel vorn, zwei sehr spit­ze an den bei­den Hin­ter­mas­ten ver­voll­stän­di­gen sei­ne Ta­ke­la­ge,4 die ihm einen auf­fal­len­den An­blick ver­leiht. Die leb­haf­ten Far­ben des Rump­fes, die Aus­bie­gung des Vor­ders­te­vens, die Ver­schie­den­heit der Mas­te, die fan­tas­ti­sche Ge­stalt sei­ner Se­gel selbst stem­peln es zu ei­nem der merk­wür­digs­ten Mus­ter je­ner schlan­ken Fahr­zeu­ge, wel­che man zu hun­der­ten in den en­gen Was­ser­stra­ßen des Archi­pels ma­nö­vrie­ren sieht. Es ge­währ­te einen wirk­lich schö­nen An­blick, das leich­te Fahr­zeug sich bäu­men und mit der Wel­le wie­der auf­rich­ten zu se­hen, wenn es sich mit weißem Schaum be­kränz­te oder mü­he­los fast hüpf­te, gleich ei­nem un­ge­heu­ren Vo­gel, des­sen Flü­gel das Meer streif­ten und des­sen Ge­fie­der in den letz­ten Strah­len der Abend­son­ne schim­mer­te.

Ob­wohl die Bri­se auf­frisch­te und der Him­mel sich all­mäh­lich mit »Was­ser­ho­sen« be­deck­te – ein Name, den die Le­van­ti­ner ge­wis­sen Wol­ken ih­res Him­mels zu­le­gen – ver­min­der­te die Sa­co­le­ve ihre Se­gel­flä­che doch nicht im min­des­ten. Sie hat­te so­gar das Top­se­gel bei­be­hal­ten, wel­ches ein min­der küh­ner See­mann ge­wiss schon hät­te ree­fen las­sen.

Of­fen­bar lag es in der Ab­sicht des Ka­pi­täns, ans Land zu ge­hen und nicht etwa die Nacht auf dem schon ziem­lich be­weg­ten Meer, wel­ches noch mehr auf­ge­regt zu wer­den droh­te, zu­zu­brin­gen.

Wenn die See­leu­te von Vi­ty­lo nun nicht mehr in Zwei­fel sein konn­ten, dass die Sa­co­le­ve in einen Ha­fen ein­lief, so frag­ten sie sich doch, ob sie ge­ra­de in ih­rem Ha­fen an­le­gen wür­de.

»Ah«, rief ei­ner von ih­nen, »man möch­te sa­gen, dass sie sich im­mer nur am Win­de zu hal­ten, aber nicht ein­zu­lau­fen such­te.«

»Da soll sie der Teu­fel ins Schlepp­tau neh­men!« ver­setz­te ein an­de­rer. Soll­te sie wirk­lich nur la­vie­ren und wie­der auf die hohe See ge­hen?

»Steu­ert sie über­haupt auf Co­ron zu?«

»Oder viel­leicht auf Kala­ma­ta?«

Bei­de Voraus­set­zun­gen hat­ten etwa gleich­viel für sich. Co­ron ist ein von Han­dels­fahr­zeu­gen der Le­van­te stark be­such­ter Ha­fen der ma­nia­ti­schen Küs­te, wo ein be­deu­ten­der Aus­fuhr­han­del von Öl aus dem süd­li­chen Grie­chen­land statt­fin­det. Das­sel­be gilt für Kala­ma­ta am Grun­de des Gol­fes, des­sen Ba­za­re mit Ma­nu­fak­tur­wa­ren, Stof­fen oder Ge­schir­ren ge­füllt sind, wel­che von West­eu­ro­pa hier ein­ge­führt wer­den. Es war also mög­lich, dass die Sa­co­le­ve nach ei­nem die­ser zwei Hä­fen be­stimmt war, ein Um­stand, der die raub- und plün­de­rungs­lüs­ter­nen Vi­ty­li­ner sehr ent­täusch­te.

Wäh­rend sie so mit ziem­lich in­ter­es­sier­ter Auf­merk­sam­keit be­ob­ach­tet wur­de, glitt die Sa­co­le­ve rasch vor­wärts. Bald be­fand sie sich auf der Höhe von Vi­ty­lo. Jetzt muss­te ihr Schick­sal sich ent­schei­den. Wenn sie noch wei­ter auf den Hin­ter­grund des Gol­fes zu­hielt, muss­ten Goz­zo und sei­ne Spieß­ge­sel­len jede Hoff­nung, sich ih­rer zu be­mäch­ti­gen, auf­ge­ben. Selbst wenn sie sich in ihre schnells­ten Boo­te war­fen, hat­ten sie kei­ne Aus­sicht, jene ein­zu­ho­len, umso viel war sie ih­nen durch das un­ge­heu­re Se­gel­werk, wel­ches sie trug, an Ge­schwin­dig­keit über­le­gen.

»Sie kommt hier­her!«

Die­se drei Wor­te rief der alte See­mann, des­sen Arm mit nie­der­ge­bo­ge­ner Hand sich gleich ei­nem En­ter­ha­ken nach dem klei­nen Schiff zu aus­streck­te.

Goz­zo täusch­te sich nicht. Das Steu­er­ru­der wur­de in den Wind ge­legt, und die Sa­co­le­ve rich­te­te sich jetzt auf Vi­ty­lo. Gleich­zei­tig wur­den das Top­se­gel und ein Fock­se­gel ein­ge­zo­gen und an­de­re Se­gel we­nigs­tens halb ge­reeft. Auf die­se Wei­se von ei­nem Teil des auf ihr las­ten­den Wind­drucks be­freit, ge­horch­te sie nun leich­ter der Hand des Steu­er­manns.

Jetzt dun­kel­te es all­mäh­lich mehr. Die Sa­co­le­ve hat­te ge­ra­de nur noch Zeit, in die Ein­fahrt von Vi­ty­lo ein­zu­lau­fen. Hier lie­gen un­ter dem Was­ser Fel­sen ver­streut, wel­che we­gen der Ge­fahr, dar­an voll­stän­dig zu schei­tern, sorg­sam ver­mie­den wer­den müs­sen. Trotz­dem stieg kei­ne Lot­sen­flag­ge am Groß­mast des klei­nen Fahr­zeugs auf. Der Ka­pi­tän muss­te also mit dem ziem­lich ge­fähr­li­chen Fahr­was­ser selbst ge­nü­gend ver­traut sein, weil er sich, ohne Bei­stand zu ver­lan­gen, in das­sel­be wag­te. Vi­el­leicht miss­trau­te er auch – und zwar ganz mit Recht – dem be­lieb­ten Ver­fah­ren der Vi­ty­li­ner, wel­che wohl nicht da­vor zu­rück­ge­schreckt wä­ren, ihn ir­gend­wo hier auf den Grund lau­fen zu las­sen, wo schon so sehr viel Fahr­zeu­ge auf die­se Wei­se ver­lo­ren­ge­gan­gen wa­ren.

Bis­her er­hell­te üb­ri­gens noch kein Leucht­turm die Küs­te die­ses Tei­les von Ma­gne. Ein ein­fa­ches Ha­fen­licht diente dazu, den Ein­gang in den en­gen Kanal zu be­zeich­nen.

In­zwi­schen nä­her­te sich die Sa­co­le­ve. Bald be­fand sie sich nur noch eine hal­be Mei­le von Vi­ty­lo. Sie muss­te gleich lan­den. Man merk­te, dass eine er­fah­re­ne Hand sie führ­te.

Auch das war nicht dazu an­ge­tan, die Ungläu­bi­gen zu be­frie­di­gen; sie hat­ten ja weit mehr In­ter­es­se dar­an, das Fahr­zeug auf ir­gend­ei­nem Fel­sen stran­den zu se­hen; dann hat­ten sie die Bran­dung ge­wis­ser­ma­ßen als Bun­des­ge­nos­sen. Die­se be­gann die Ar­beit, wel­che sie nur zu vollen­den hat­ten. Erst der Schiff­bruch, dann die Plün­de­rung, das war ihr ge­wöhn­li­ches Ver­fah­ren. Das er­spar­te ih­nen ja meist einen Kampf mit be­waff­ne­ter Hand, einen un­mit­tel­ba­ren An­griff, dem doch al­le­mal ei­ni­ge von ih­nen zum Op­fer fal­len konn­ten. Es gab in der Tat oft ge­nug von ei­ner mu­ti­gen Mann­schaft ver­tei­dig­te Fahr­zeu­ge, wel­che sich nicht un­ge­straft über­fal­len lie­ßen.

Die Ge­nos­sen Goz­zos ver­lie­ßen also ih­ren Beo­b­ach­tungs­pos­ten und gin­gen nach dem Ha­fen hin­un­ter, um alle ver­bre­che­ri­schen Vor­be­rei­tun­gen zu tref­fen, wel­che bei den Strandräu­bern, ob die­se die Mee­re des Aben­do­der des Mor­gen­lan­des un­si­cher mach­ten, so ziem­lich die glei­chen sind.

Es er­schi­en ja so leicht, die Sa­co­le­ve in der en­gen Fahr­stra­ße des Kanals stran­den zu las­sen, wenn man ihr falsche Wei­sun­gen er­teil­te, was die zu­neh­men­de Dun­kel­heit noch be­güns­tig­te, die, ohne ge­ra­de schon voll­kom­men zu sein, doch die Füh­rung ei­nes Schif­fes ei­ni­ger­ma­ßen er­schwer­te.

»Ans Ha­fen­licht!« be­fahl Goz­zo, dem sei­ne Ge­fähr­ten ohne Zö­gern zu ge­hor­chen pfleg­ten.

Alle ver­stan­den den al­ten See­mann. Schon zwei Mi­nu­ten spä­ter er­losch die­ses Licht – eine ein­fa­che, am Ende des Ha­fen­dam­mes an ei­nem dort ste­hen­den Pfahl be­fes­tig­te La­ter­ne – ur­plötz­lich.

Im näm­li­chen Au­gen­blick wur­de es durch ein an­de­res Licht er­setzt, das zu­erst zwar die­sel­be Stel­le ein­nahm; doch wenn das ers­te auf dem Molo5 fest­ste­hen­de dem Schif­fer im­mer die glei­che Rich­tung an­wies, muss­te die­sen das be­weg­li­che an­de­re aus der Fahr­stra­ße ver­lo­cken und der Ge­fahr, auf einen Un­ter­was­ser­fel­sen auf­zu­lau­fen, aus­set­zen.

Das falsche Licht be­stand aus ei­ner La­ter­ne, de­ren Schein sich von dem des Ha­fen­lich­tes nicht un­ter­schied. Die­se La­ter­ne hat­te man aber an den Hör­nern ei­ner Zie­ge be­fes­tigt, wel­che lang­sam am Ran­de der Klip­pe hin­ge­trie­ben wur­de. Sie ver­än­der­te ih­ren Ort also mit dem Tie­re und muss­te in­fol­ge­des­sen auch die Sa­co­le­ve zu falschem Ma­nö­vrie­ren ver­lei­ten.

Es war nicht zum ers­ten Mal, dass die Leu­te in Vi­ty­lo auf die­se Wei­se ver­fuh­ren. Nein, ge­wiss nicht! Und es war lei­der auch nur sel­ten, dass ih­nen ihre schänd­li­chen Ab­sich­ten miss­lan­gen.

Die Sa­co­le­ve lief nun in die Ein­fahrt ein. Nach­dem auch das große Mars­se­gel6 ein­ge­zo­gen war, trug sie nur noch die la­tei­ni­schen Se­gel am hin­ters­ten Mas­te; doch muss­ten auch die­se ge­nü­gen, um bis zu dem An­le­ge­pfos­ten zu ge­lan­gen.

Zum größ­ten Er­stau­nen der das­sel­be be­ob­ach­ten­den See­leu­te be­weg­te sich das Schiff durch die Win­dun­gen des Kanals mit un­glaub­li­cher Si­cher­heit wei­ter. Um das von der Zie­ge ge­tra­ge­ne be­weg­li­che Licht schi­en sich dar­auf kein Mensch zu küm­mern. Selbst am hel­len Tage hät­te es nicht si­che­rer ma­nö­vrie­ren kön­nen. Sein Ka­pi­tän muss­te also un­be­dingt die Um­ge­bung von Vi­ty­lo schon wie­der­holt durch­se­gelt ha­ben, umso be­kannt zu sein, dass er selbst in fins­te­rer Nacht wa­gen konn­te, hier ans Land zu steu­ern.

Schon konn­te man jetzt den küh­nen See­mann wahr­neh­men. Sei­ne Ge­stalt hob sich noch ziem­lich deut­lich aus dem Schat­ten auf dem Vor­der­teil der Sa­co­le­ve ab. Er stand da, in die wei­ten Fal­ten sei­ner Aba, ei­ner Art wol­le­nen Man­tels, gehüllt, des­sen Ka­pu­ze sei­nen Kopf be­deck­te. Die­ser Ka­pi­tän zeig­te in der Tat kaum eine Ähn­lich­keit mit je­nen be­schei­de­nen Küs­ten­fah­rern, wel­che wäh­rend ei­ner schwie­ri­gen Fahrt meist einen Ro­sen­kranz mit großen Ku­geln, wie sie in den Mee­ren des Archi­pels ge­bräuch­lich sind, hin und her glei­ten las­sen. Nein, die­ser hier be­gnüg­te sich, mit tiefer und ru­hi­ger Stim­me dem auf dem Hin­ter­teil des Decks be­find­li­chen Steu­er­mann nur sei­ne An­wei­sun­gen zu er­tei­len.

Da er­losch plötz­lich die La­ter­ne am fel­si­gen Stran­de. Doch auch das stör­te die Sa­co­le­ve nicht, wel­che un­be­irrt ih­ren Weg fort­setz­te. Ei­nen Au­gen­blick hät­te man viel­leicht glau­ben kön­nen, dass sie bei ei­ner Wen­dung einen ge­fähr­li­chen Fel­sen an­lau­fen kön­ne, der ziem­lich bis zur Was­ser­flä­che, eine Ka­bel­län­ge vom ei­gent­li­chen Ha­fen, hin­auf­rag­te und den in der Dun­kel­heit un­mög­lich je­mand se­hen konn­te. Eine leich­te Wen­dung des Steu­ers ge­nüg­te aber, die Rich­tung des Schif­fes zu än­dern, das zwar ganz nahe an die­sem Rif­fe vor­über­streif­te, das­sel­be aber nicht im Ge­rings­ten be­rühr­te.

Die­sel­be Ge­wandt­heit ent­wi­ckel­te der Steu­er­mann, als es not­wen­dig wur­de, eine zwei­te Un­tie­fe zu pas­sie­ren, wel­che nur eine ganz be­schränk­te Fahr­stra­ße im Kanal üb­rig ließ – eine Un­tie­fe, auf der schon man­ches Schiff fest­ge­fah­ren war, ob des­sen Lot­se nun ein Kom­pli­ze der Vi­ty­li­ner war oder nicht.

Letz­te­re hat­ten nun kei­ne Aus­sicht mehr, auf einen Schiff­bruch zu rech­nen, der ih­nen die Sa­co­le­ve fast wehr­los über­lie­fert hät­te. Bin­nen we­ni­gen Mi­nu­ten muss­te die­se im Ha­fen ver­an­kert lie­gen. Um sich ih­rer zu be­mäch­ti­gen, galt es nun Ge­walt zu ge­brau­chen.

Das wur­de denn auch nach ei­ner kur­z­en Ver­hand­lung un­ter den Schur­ken von die­sen be­schlos­sen und soll­te bei der eben herr­schen­den und ei­nem sol­chen Un­ter­neh­men be­son­ders güns­ti­gen Dun­kel­heit so­fort ins Werk ge­setzt wer­den.

»In die Boo­te!« rief der alte Goz­zo, des­sen Be­fehl ohne Wi­der­spruch Gel­tung hat­te, vor­züg­lich wenn es sich um eine Plün­de­rung han­del­te.

Etwa drei­ßig kräf­ti­ge Män­ner, von de­nen die einen mit Pis­to­len be­waff­net wa­ren, die an­de­ren Dol­che oder Äxte schwan­gen, war­fen sich in die am Quai be­fes­tig­ten Boo­te und ru­der­ten, of­fen­bar an Zahl der Be­sat­zung der Sa­co­le­ve über­le­gen, auf die­se zu.

Da er­tön­te an Bord der letz­te­ren ein kur­z­es Kom­man­do. Die Sa­co­le­ve, wel­che jetzt über den Kanal her­aus­ge­kom­men war, be­fand sich in­mit­ten des Ha­fens. Ihre His­staue wur­den ge­löst, der An­ker ras­sel­te in den Grund, und sie lag, nach ei­nem kur­z­en Stoß in­fol­ge der An­span­nung der An­ker­ket­te, un­be­weg­lich.

Die Boo­te be­fan­den sich nur noch we­ni­ge Fa­den von der­sel­ben ent­fernt. Ohne be­son­de­res Miss­trau­en zu zei­gen, hat­te sich doch die gan­ze Be­sat­zung, wohl be­kannt mit dem üb­len Ruf der Be­woh­ner von Vi­ty­lo, aus­rei­chend be­waff­net, um ge­ge­be­nen­falls zur Ver­tei­di­gung be­reit zu sein.

Vor­läu­fig ge­sch­ah aber nichts. Der Ka­pi­tän der Sa­co­le­ve war, nach­dem das Schiff fest lag, mehr­mals auf dem Deck hin und zu­rück ge­gan­gen, wäh­rend sei­ne Leu­te, ohne sich be­son­ders um die An­nä­he­rung je­ner Boo­te zu be­küm­mern, ru­hig fort­fuh­ren, die Se­gel in Ord­nung zu brin­gen und das Ver­deck frei zu ma­chen.

In­des hät­te man doch be­ob­ach­ten kön­nen, dass sie die­se Se­gel nicht ein­ban­den, son­dern sie so weit frei lie­ßen, um so­fort wie­der aus­lau­fen zu kön­nen.

Das ers­te Boot leg­te ne­ben dem Back­bord der Sa­co­le­ve an. Die an­de­ren dräng­ten so­gleich nach. Und da die Sei­ten­wän­de des Fahr­zeugs nur nied­rig wa­ren, brauch­ten die An­grei­fer, wel­che jetzt ein wü­ten­des Ge­schrei aus­stie­ßen, sich nur in die Höhe zu schwin­gen, um sich auf des­sen Ver­deck zu be­fin­den.

Die Ver­we­gens­ten der­sel­ben eil­ten nach dem Hin­ter­teil. Ei­ner der­sel­ben er­griff eine bren­nen­de Stock­la­ter­ne und hielt sie dem Ka­pi­tän vor das Ge­sicht.

Da ließ die­ser durch eine schnel­le Hand­be­we­gung die Ka­pu­ze her­ab­sin­ken, so­dass sein Ge­sicht in vol­lem Licht er­schi­en.

»Eh«, sag­te er, »die Leu­te von Vi­ty­lo er­ken­nen nicht ein­mal ih­ren Lands­mann Ni­co­las Star­kos?«

Der Kapitän kreuzte gelassen die Arme.
Der Kapitän kreuzte gelassen die Arme.

Bei die­sen Wor­ten kreuz­te der Ka­pi­tän ge­las­sen die Arme. Kur­ze Zeit dar­auf stie­ßen die Boo­te ei­ligst wie­der ab und zo­gen sich nach dem Hin­ter­grund des Ha­fens zu­rück.


  1. Die äu­ße­re Er­schei­nung von Le­be­we­sen, ins­be­son­de­re des Men­schen und hier spe­zi­ell die für einen Men­schen cha­rak­te­ris­ti­schen Ge­sichts­zü­ge.  <<<

  2. Kap Ten­aro (auch: Kap Ma­ta­pan) ist die Süd­spit­ze der Halb­in­sel Mani auf dem grie­chi­schen Pe­lo­pon­nes.  <<<

  3. Als Bar­ba­res­ken­staa­ten wur­den vom 16. bis zum frü­hen 19. Jahr­hun­dert die Staa­ten in der als Bar­ba­rei be­zeich­ne­ten Re­gi­on, na­ment­lich das Sul­ta­nat Marok­ko und die os­ma­ni­schen Re­gent­schaf­ten Al­gier, Tu­nis und Tri­po­lis, be­zeich­net. (Wi­ki­pe­dia)  <<<

  4. Die Ta­ke­la­ge ei­nes Schif­fes um­fasst al­les für die Be­mas­tung so­wie die Be­se­ge­lung er­for­der­li­che Tau­werk nebst Be­fes­ti­gun­gen.  <<<

  5. Mole  <<<

  6. (Meist) zweit­größ­tes Se­gel ei­nes Mas­tes  <<<

Zweites Kapitel – Auge in Auge

Zehn Mi­nu­ten spä­ter ver­ließ ein leich­tes Boot, eine Gig, die Sa­co­le­ve und führ­te nach dem Fuß des Mo­los ohne jede Beglei­tung und ohne Waf­fen den Mann, vor dem die Vi­ty­li­ner so schnell den Rück­zug an­ge­tre­ten hat­ten.

Es war der Ka­pi­tän der »Ka­rys­ta« – so nann­te sich das klei­ne Fahr­zeug, wel­ches eben im Ha­fen vor An­ker ge­gan­gen war.

Un­ter der di­cken See­manns­müt­ze zeig­te die­ser nur mit­tel­große Mann eine hohe stol­ze Stirn und in den grau­sa­men Au­gen einen höchst ent­schlos­se­nen Blick. Über sei­ne Ober­lip­pe lief der Kle­ph­te-Schnurr­bart waa­ge­recht nicht in Spit­zen, son­dern in star­ken Haar­bü­scheln aus. Sei­ne Brust war breit, sei­ne Glie­der mus­ku­lös. In Lo­cken fie­len ihm die schwar­zen Haa­re auf die Schul­tern. Wenn er fünf­und­drei­ßig Jah­re über­schrit­ten hat­te, konn­te das nur um we­ni­ge Mo­na­te sein. Aber sein durch Son­ne und Wind ge­bräun­ter Teint, die Här­te sei­ner Züge und eine Fal­te auf der Stirn, die wie eine Fur­che ver­tieft er­schi­en, in der kein gu­ter Sa­men kei­men konn­te, ließ ihn ent­schie­den äl­ter er­schei­nen, als er in der Tat war.

Was die Klei­dung an­geht, die er eben trug, so be­stand die­se we­der aus der Wes­te, noch dem Brust­latz oder der Fu­sta­nel­la des Pa­li­ka­ren. Der Kaftan, die Ka­pu­ze von brau­ner Far­be, wel­che we­nig her­vor­tre­tend ge­stickt war, die grün­li­chen Bein­klei­der mit den wei­ten Fal­ten, wel­che sich in hohe Stie­fel ver­lo­ren, er­in­ner­ten weit eher an die Tracht ei­nes See­man­nes aus den Bar­ba­res­ken­staa­ten.

Den­noch war Ni­ko­las Star­kos wirk­lich von Ge­burt ein Grie­che und ein Ein­ge­bo­re­ner des Ha­fens von Vi­ty­lo. Hier hat­te er sei­ne ers­ten Ju­gend­jah­re ver­bracht. Als Kind und als Jüng­ling hat­te er zwi­schen die­sen Fels­ge­bil­den den An­blick des Mee­res lie­ben ge­lernt. Auf die­sen Ge­wäs­sern war er, eine Beu­te des Win­des und der Strö­mun­gen, so viel um­her­ge­fah­ren. Hier gab es kei­ne Ein­buch­tun­gen, de­ren Was­ser­tie­fe und Lan­dungs­plät­ze er nicht ge­kannt hät­te; kein Riff, kei­nen Grund, kei­nen Un­ter­was­ser­fel­sen, des­sen Lage ihm ver­bor­gen ge­blie­ben wäre; kei­ne Win­dung des Kanals, wel­che er selbst ohne Lot­sen und ohne Kom­pass nicht hät­te in Si­cher­heit be­fah­ren kön­nen. Das er­klärt denn auch leicht, warum er trotz der falschen Si­gna­le sei­ner Lands­leu­te die Sa­co­le­ve im­mer hat­te mit ru­hi­ger Hand lei­ten kön­nen. Da­ne­ben wuss­te er, wie we­nig den Vi­ty­li­nern Ver­trau­en zu schen­ken war. Er hat­te sie schon gar zu oft in Tä­tig­keit ge­se­hen. Und im Grun­de miss­bil­lig­te er viel­leicht nicht ein­mal ihre räu­be­ri­schen Ge­wohn­hei­ten, we­nigs­tens so­bald er per­sön­lich ge­si­chert war, nicht da­von zu lei­den.

Doch wenn Ni­co­las Star­kos sei­ne Leu­te kann­te, so war er nicht min­der bei ih­nen be­kannt. Nach dem Tod sei­nes Va­ters, der un­ter den tau­sen­den von Op­fern fiel, wel­che die Grau­sam­keit der Tür­ken hin­schlach­te­te, lechz­te sei­ne von Ra­che er­füll­te Mut­ter nur nach der Stun­de, wo sie sich bei der ers­ten Er­he­bung ge­gen das tür­ki­sche Joch auf­leh­nen konn­te. Er selbst hat­te Ma­gne mit acht­zehn Jah­ren ver­las­sen, um zur See zu ge­hen, wo­bei er vor­züg­lich im Archi­pel um­her­fuhr, und sich da­bei nicht al­lein zum vor­treff­li­chen See­mann, son­dern auch in dem Hand­werk des Räu­bers aus­bil­de­te.

Nie­mand hät­te wohl zu sa­gen ver­mocht, an Bord wie vie­ler Schif­fe er seit­dem ge­dient, wel­che Fli­bus­tier- oder See­räu­ber­füh­rer ihn un­ter ih­rem Be­fehl ge­habt, un­ter wel­cher Flag­ge er zu­erst ge­kämpft, wie viel Blut sei­ne Hand schon ver­gos­sen, Blut der Fein­de Grie­chen­lands eben­so wie sol­ches sei­ner Ver­tei­di­ger – das­sel­be, wel­ches auch in sei­nen Adern roll­te. Wie­der­holt hat­te man ihn schon in ver­schie­de­nen Hä­fen des Bu­sens von Co­ron ge­se­hen. Man­che sei­ner Lands­leu­te hät­ten wohl ver­schie­de­ne Groß­ta­ten von ihm be­rich­ten kön­nen, wenn er sich mit ih­nen ver­bün­det hat­te, Han­dels­schif­fe zu über­fal­len und zu ver­nich­ten, um die rei­che Beu­te mit ih­nen zu tei­len. Den­noch um­gab den Na­men Ni­co­las Star­kos ein ge­wis­ses Ge­heim­nis. Je­den­falls war er aber in den Pro­vin­zen von Ma­gne so be­kannt, dass sich alle vor sei­nem Na­men ver­neig­ten.

Da­mit er­klär­te sich auch der Empfang, den die­ser Mann bei den Be­woh­nern von Vi­ty­lo fand, eben­so der Um­stand, dass schon sei­ne An­we­sen­heit ge­nüg­te, alle auf die ge­plan­te Plün­de­rung ver­zich­ten zu las­sen, so­bald sie nur er­kannt hat­ten, wer die Sa­co­le­ve be­feh­lig­te.

So­bald der Ka­pi­tän der »Ka­rys­ta« ein we­nig hin­ter dem Quai den Ha­fen be­tre­ten hat­te, bil­de­ten die zu sei­nem Empfang her­bei­ge­lau­fe­nen Män­ner und Frau­en ehr­er­bie­tig eine Ket­te, um ihn hin­durch­zu­las­sen. Als er ans Land stieg, wur­de kein Aus­ruf laut. Es schi­en, als ob Ni­co­las Star­kos hier einen hin­rei­chen­den Ein­fluss aus­üb­te, um an­de­ren schon durch sein Er­schei­nen Ruhe zu ge­bie­ten. Die Leu­te war­te­ten, bis er spre­chen wür­de, und wenn das – wie wahr­schein­lich – nicht der Fall war, hät­te sich ge­wiss nie­mand er­laubt, ein Wort an ihn zu rich­ten.

Nach­dem Ni­co­las Star­kos sei­nen Ma­tro­sen der Gig be­foh­len, an Bord zu­rück­zu­keh­ren, be­gab er sich nach dem Win­kel, den der Quai im Hin­ter­grund des Ha­fens bil­de­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­