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Inhalt

Stadt, Land und Menschen

Das Dorf

Die Brandung

Die See

Die Heimkehr

Der Tote

Der Abschied

Anmerkungen

Steckbrief Nigerias

Den armen, aber glücklichen
Fischern hinter der kochenden
Brandung von Lawani ist diese
Geschichte gewidmet. Jenen
Menschen, die zeigen, daß
Fortschritt, die Jagd nach
Geld und Profitgier nicht
alles sind
.

Stadt, Land und Menschen

Es war am 18. April, damals in einer »Nacht der langen Messer«. Für meine Familie die erste Nacht in Nigeria. Nie werde ich diese Nacht vergessen, die wie ein Unwetter jäh auf uns einstürzte! Und noch lange danach habe ich mir große Vorwürfe gemacht. Schließlich glaubte ich das Land zu kennen und Entwicklungen zu sehen. Doch seit dem Ölrausch, der Lagos und bald das ganze Land wie eine Lawine erfassen und verschlingen wird, gab es keine Kontinuität mehr.

Zwei Stunden vor Mitternacht, unter uns lag die Metropole, umgeben von schwarzen Lagunen und Mangrovensümpfen, vom Norden her von dichtem Urwald umklammert. Vororte und Slums an der Peripherie der Vier-, vielleicht Sechs-Millionenstadt fressen sich unaufhaltsam in die Unwirklichkeit. Lagos ist ein Krebsgeschwür, dessen Metastasen üppig wuchern und der regulierenden Hand des Menschen längst entglitten sind. Ohne Unterlaß strömt die Landbevölkerung aus dem Wald in eine glitzernde Traumstadt, die keiner versteht, doch magnetisch anzieht, weil sie ein leichtes Leben verspricht und doch nur Elend hält.

Auch mich zog sie wieder an. Zum zigsten Male war ich abgeflogen, um sie endgültig zu verlassen – und doch immer wiedergekehrt.

Lagos ist ein Ort, den man verwünscht, haßt, preist – in einem Atemzug. Der einen packt, rüttelt und abstößt. Ich war bei der Rückkehr in seinen Dreck, seinen Gestank, sein Verkehrschaos, seine Profitgier, seine beleidigende Häßlichkeit, seine schroffe Abkehr doch immer wieder zu Hause. Lagos ist, was man ihm nachsagt: ein Sodom und Gomorra, ein Schlachthof voller Gefahren und Brutalität. Ein im eigenen Abfall erstickender Moloch.

Die DC 10 des Lufthansafluges LH 720 zog eine Schleife und setzte zur Landung an. Das gleiche Panorama wie auf allen meinen Nachtflügen: Lagos Island und Ikoyi im weißen Neonlicht. Grell und abweisend die Fensterschluchten der Hotelklötze Eko, Federal Palace. An der Apapa-Pier klein, unscheinbar – Ozeanriesen mit Zement befrachtet, Baustoff, den Nigeria mit Gold aufwiegt! Rasch nahm die Lichterpracht ab. Wir kreisten über die Wellblechlandschaften der Ärmsten der Armen, den Slums von Mushin, Shomulu, Oshodi. Vereinzelt machte ich wieder die kleinen flackernden Öllampen aus. Und doch war dieser Anflug anders als alle bisherigen: dieses Mal hatte ich meine Familie dabei!

Erwartungsvoll spähten Ruth, meine Frau und Michael, unser Sohn, aus dem Bullauge. Um ja alles mitzubekommen, hatten sie die Hände an die Stirn gepreßt. Michael war gestern sechzehn geworden und der Flug von Frankfurt hierher sein schönstes Geburtstagsgeschenk! Monate vorher sog er sich mit Informationen über Nigeria voll. In nächtelangen Diskussionen vor dem Aufbruch, die weiß Gott hitzig und kontrovers verliefen, staunte ich nicht schlecht über sein Wissen.

Ruth fiel die Entscheidung nicht leicht, mir nach Afrika zu folgen. Im Urlaub, der für mich jetzt zu Ende ging, und auf dem Sechs-Stunden-Flug merkte ich das wohl. Für sie gab es im Schwarzen Erdteil nur Dreck und Ungeziefer und davor graute ihr. Schließlich wollte sie mir aber doch folgen. Das Leben allein war sie gründlich leid. Also brachen wir unsere Zelte in Deutschland – in Frankfurt – endgültig ab.

Ich bin Wanderarbeiter, ein Freund zu Hause nannte mich »Know-How-Zigeuner«, das sind Typen, die heute Stahlwerke in Südafrika, morgen Staudämme in Australien und übermorgen Hafenanlagen in Seoul bauen. Der Job hat nichts mit Abenteuer, schon gar nichts mit Tropenromantik, aber viel mit harter Arbeit und mancherlei Entbehrungen zu tun.

Leicht rumpelnd setzte die Maschine auf.

»Wir sind da, Liebling, freust du dich? Aufgeregt?«

»Ich weiß nicht recht, Albert.«

»Wird schon gut gehen!« machte ich ihr Mut und drückte sie.

Wir rollten am neuen, fast fertigen »Murtala Mohammed-Flughafen« (1)* hinüber auf das alte Rollfeld.

Nun stoppte der mit 260 Passagieren vollbesetzte Düsen-clipper, die meisten waren Europäer. Summend öffnete sich die Tür und über die Gangway strömte alles hinab.

Wie ein Hammerschlag traf uns die Hitze der Tropennacht.

»Verdammt, ist das heiß!« entfuhr es Michael. »Wart’s nur ab, mein Junge, in der Halle wird’s noch besser«, gab ich zurück.

Die Menschentraube schleppte sich quer über das Standfeld zum Flughafengebäude, eine niedere Baracke, in deren Vorraum höchstens 100 Personen Platz finden konnten. Wie immer begann bereits vor dem Eingang ein unangenehmes Gedränge und Geschubse. Schließlich hatte sich, keiner wird jemals wissen wie, jeder in die Halle gepreßt. Hitze und Durcheinander umgaben uns. Jedem, einschließlich der Afrikaner, standen dicke Schweißperlen im Gesicht und von hinten wurde immer mehr und heftiger geschoben.

»Das ist ja unerträglich!« stöhnte Ruth. »Mein Kreislauf, das hält mein Kreislauf nicht aus.«

Ihre frische Gesichtsfarbe war grauer Blässe gewichen.

»Nicht daran denken, Ruth«, rief ich und hatte mittlerweile eine günstigere Position, nahe der drei Paßkontrollen, erkämpft.

»Ich werd’s versuchen, umfallen kann ich doch nicht«, erwiderte sie.

Michael schüttelte nur den Kopf und beobachtete flinke Schwarze, die sich wie Aale durch die Menschenmasse wanden und den in Richtung Paßabfertigung ausgestreckten Armen die Dokumente entrissen, untertauchten – nach einer Weile neben den Beamten in den Kabäuschen, wo sich die Pässe türmten, auftauchten. Ich hielt meine Pässe krampfhaft fest. Wußte, daß bei diesem Service schon mancher seinen Paß einbüßte oder einen falschen zurückbekam. Allmählich beruhigte sich die schiebende Menschenmenge. Eingekeilt harrte jeder geduldig auf die Abfertigung. Eine Stunde verging. Arme, Beine, Schultern schmerzten. An den Körpern lief das Wasser in Bächen herab. Der Gestank war beißend – unerträglich. Nichts rührte sich. Unmutsrufe, Kindergeschrei, krächzende Lautsprecher und das herrische Donnern niedersausender Einwanderungsstempel irgendwo, weit weg von jedermann, erfüllte die Baracke.

Endlich! Ganz zögernd kam wieder Bewegung in die ungeduldige Masse. Zentimeter für Zentimeter ging es voran. Ich reckte mich auf den Zehenspitzen und hielt dem Beamten die Pässe unter die Nase. Doch er ignorierte sie.

An der Abfertigung wurde es lichter. Schon erschienen vom Zoll her die ersten Schwarzen mit hochgehaltenen Tafeln.

Bekannte Namen standen darauf: Julius Berger, Siemens, MCC, Alumaco, Strabag. Mir fiel auf, daß heute nacht wenig Reisende abgeholt wurden. Sicher war wohl diesmal die Zahl der Neuankömmlinge gering.

»Paßt mal etwas auf!« rief ich meiner Familie zu. »Wir werden auch abgeholt.«

Dem Emigrationsoffizier gefielen meine Pässe immer noch nicht. Überall wäre ich bei dieser offensichtlichen Benachteiligung explodiert, doch in Nigeria hatte ich Duldsamkeit und Beherrschung zu meiner höchsten Tugend gemacht.

»Hallo, Mr. Hansen!« schlug plötzlich eine Hand auf meine Schulter.

»Mr. Shunuga!« rief ich erfreut, »was machen Sie denn hier?«

»Dienst am Kunden«, lachte der rundliche Nigerianer.

»Hätte ich nur gewußt, daß sie kommen!« Dann lagen wir uns in den Armen, besser ich auf dem Bauch des Negers und klopften uns auf die Rücken.

»Wieder allein?« fragte Shunuga. »Nein, kommen Sie, dort ist meine Familie«, sagte ich stolz.

Wir bahnten uns einen Weg zurück. »Das ist Alex Shunuga«, stellte ich den Afrikaner vor, und mit einem zugekniffenen Auge: »Flughafendirektor von Lagos.«

»So, nun mal die Pässe und die Formulare her, oder wollen Sie hier übernachten?«

Alex kassierte die Dokumente, und während er sich zu den Beamten arbeitete, rief er: »Gehen Sie schon durch und machen Sie sich’s im Foyer bequem.«

Wir passierten anstandslos die Sperre, Ruth und Michael ließen sich erschöpft in die Sessel fallen. Nach fünf Minuten erschien Shunuga: »Das wäre erledigt – wie sieht’s mit Gepäck aus? Wieviel Stück haben Sie?«

»Dreizehn, hier sind die Nummern«, ich reichte ihm die Tickets. »Dreizehn!« staunte er, rollte mit den Augen und schnappte sich drei herumlungernde Träger samt Gepäckkarren und tauchte in den gewaltigen Gepäckberg. Kurz darauf: Träger samt Shunuga erschienen wieder und präsentierten das Gepäck ordentlich auf die Karren gestapelt. »Alles da?« fragte Alex. Kritisch prüfte Ruth jedes Stück: »Tatsächlich, bis auf Odin, alles da.«

»Odin?« fragte der Nigerianer erstaunt.

»Ja, Odin, ein Hund, unser kleiner Boxer«, erklärte Michael.

Shunuga verzog skeptisch seine dicken Lippen und blickte auf die Gepäckhalde: »Der wird nicht mehr leben.«

»Oh Gott«, erregte sich Ruth, »das darf nicht sein, er ist unser Liebling!«

Ich konnte sie beruhigen, denn Odin hatte ich der Flugleiterin persönlich in die Hand gedrückt.

Die Familie setzte sich in Richtung Zoll in Bewegung. Als Michael die kritischen Augen der schwarzen Zöllner und die vielen geöffneten Koffer, in denen herumgestochert wurde, bemerkte, hielt er sichtlich die Luft an.

Shunuga grüßte, in dem er mit dem Finger an die Stirn tippte, damit zog unsere kleine Gepäckkarawane an Zöllnern vorbei.

Als wir schließlich vor dem Flughafengebäude standen, war es viertel vor zwölf. Das Treiben afrikanischen Nachtlebens um keine Spur verebbt. Im Gegenteil, jetzt drängten sich hunderte von Taxifahrern um die Ankömmlinge – zerrten an Mensch und Gepäck. Jeder wollte diese lukrative Tour machen. Shunuga brüllte in die Meute, daß seine Schützlinge abgeholt und in Ruhe gelassen werden sollten. Ohne Erfolg. Nun griff er sich einen Polizisten, steckte ihm einen Schein zu und postierte ihn vor uns. Der Gesetzeshüter schnallte seinen Schlagstock ab und schlug wahllos auf schwarze Krausköpfe, die sich zu nah heranwagten.

Shunuga war mit dem Personenschutz zufrieden und verschwand, um den Hund zu holen. Ich hielt nach Mitarbeitern meiner Firma Ausschau. Jeder wußte, daß ich heute mit Sack und Pack ankomme. Man hatte geschrieben und telegraphiert. Keiner erschien, noch nicht mal ein Fahrer. Unerklärlich! Erst« wurde ich wütend, dann besorgt. War etwas geschehen?

Alex erschien, unter dem Arm hatte er eine Gitterbox aus Plastik und darin bellte Odin.

»Werden Sie nicht abgeholt?« fragte Shunuga. »Offensichtlich nicht«, entgegnete ich. »Ausgerechnet heute läßt man uns sitzen, das ist noch nie vorgekommen. Hat sich in Lagos etwas ereignet?«

»Nichts besonderes. Sie wissen doch, unsere Regierung hat Sparmaßnahmen zur Bekämpfung der Inflation eingeleitet. Gestern waren die Studenten dran: erhöhte Studiengebühren. Als Antwort darauf haben sie mit Protesten gedroht, sonst nichts.« (2)

»O. K., dann laßt uns ein Taxi nehmen«, entschloß ich mich. »Nur weg von diesem Flughafen«, stöhnte Ruth.

Koffer, Pakete, Kisten verschwanden im Lasttaxi, einem VW-Bus. Schwarze nackte Arme halfen von allen Seiten dabei. Als es an’s Entlohnen der Gepäckträger ging, griff jeder zu.

»Steigt schon mal ein«, riet ich meiner Familie, und ging mit Shunuga hinter das Auto, wo ich ihm einige zusammengerollte Scheine reichte.

»Hier fünfzehn Naira, (3) Sie sind mir ohnehin einiges vom letzten Mal schuldig!« Alex fingerte die Scheine auseinander. Mit ernstem Gesicht sagte er knapp: »Viel zu wenig, Mr. Hansen! – Emigrationsofficers bekamen jeder fünf, der Zöllner fünf, für den Hund mußte ich zehn Naira bezahlen, und vergessen Sie den Polizisten nicht. Was bleibt da für mich?«

»Hier, ihr verdammten Halsabschneider«, lachte ich und steckte nochmals zehn dazu.

Alex Shunuga, der »Airportdirektor«, verschwand in der Menge.

»Apapa, Emotan Road Nummer 5 – zehn Naira«, rief ich dem Taxifahrer zu, während ich mich neben ihn auf den Sitz schwang. »Zwanzig, Master!« antwortete er und gab Gas. »Anhalten, wir steigen um!« Vom Rücksitz ertönte es ärgerlich: »Um alles in der Welt, nur das nicht, Albert.« Es war Ruth. Mit 15 Naira ging’s ab. Ächzend setzte sich das Gefährt in Bewegung. Wir waren geneigt, Türen, Kotflügel und Sitze festzuhalten, da sie in jedem Schlagloch in jeder Kurve abzufallen drohten. Der Afrikaner fuhr lässig und wild. In dicken Wolken drang straßenstaubgeschwängerter Fäulnisgeruch durch die heruntergelassenen Fenster. Ruth schlang sich ihr Halstuch um Haare und Gesicht. Laut verfluchte meine bisher des Fluchens unfähige Frau den gestrigen Gang zum Friseur. Und der Driver steuerte wie ein Henker: Mit der Linken trommelte er aufs Chassis, der rechte Fuß kitzelte das Gas, zwei Finger steuerten, mit irgendeinem Körperteil hupte er wie besessen – jeder hupte wie besessen – aus allen Richtungen rasten Autos aufeinander – auf uns zu, wechselten links, rechts die Fahrbahn, drehten um. Bremsen kreischten. Es wurde lamentiert und geschimpft. In kurzen Staus zerrte man sich gegenseitig vom Fahrersitz. Handgemenge. Keine Ampeln, keine Verkehrsregeln, kein Polizist. Nur der mit den besten Nerven hatte eine Chance. Menschen sprangen, hüpften, retteten sich vor jagenden Autos auf die andere Straßenseite. Wo im Dreck des Trottoirs Körper lagen, kreuz und quer, barbarischer Schwüle sich anschließender Wellblechhütten entronnen. Die Körper zuckten nach schreiender Radiomusik oder lagen da, wie tot.

Brückenpfeiler, wieder Menschenmengen, fahl beleuchtete Hauswände bildeten eine schwankend düstere Kulisse. Nicht hinsehen! Nicht denken! Der VW bog quietschend in die Ikorodu Road, eine autobahnähnliche Schnellstraße in Richtung Süden. Apapa liegt im Südwesten. Verwundert fragte ich: »Eh Driver, warum fahrt ihr nicht die Agege Motor Road. Wollt wohl ’n paar Naira extra machen?«

»Nix extra, Master. Agege gesperrt. Studenten machen trouble. Viel trouble!« Dabei fuhr er sich mit dem Handrücken über die Kehle und grunzte.

Michael beugte sich nach einer Weile vor und flüsterte: »Sag, Vater, hast du den Flughafendirektor bestochen?«

»Hör zu, erstens war das kein Direktor und zweitens wird hier nicht bestochen. Hier wird gedashed. Dashen (4) gehört zum Leben in Afrika!«

Vor uns, in ziemlicher Entfernung, erschienen Straße und Himmel auf einmal merkwürdig rot. Unruhig rot, wie Feuerschein. Und bisweilen strich ein scharfer, ätzender Geruch in den Wagen. Michael schnupperte: »Was riecht hier so komisch? Wie …, ja natürlich, wie Tränengas.« Urplötzlich steckten wir mittendrin, eingekeilt von Hunderten von Fahrzeugen und immer mehr brausten in den Stau. Unser Taxifahrer versuchte noch auszuscheren, riß den schwankenden Wagen herum … zu spät. Wir saßen in einer Autofalle.

»Big trouble«, sagte der Neger am Steuer, »very big trouble«!

Und da geschah es auch schon. Aus den Wellblechhütten, die die Straße säumten, quollen tobende Jugendliche. Brüllend und johlend – Stangen, Knüppel und Buschmesser über ihre Häupter schwingend. Die Bande stürzte sich in die Flanken der Fahrzeuge und schlug wie von Sinnen auf Autos – auf alles was sich bewegte. Ein wahres Fegefeuer stürmte heran. Sirenen heulten, Menschen schrien. Glas splitterte. Metall knirschte. Eine Vorhut Wilder riß Fahrzeugtüren auf, zerrte Insassen heraus und schlug sie nieder – brutal und blutig. Im Rausch war der Mob zu allem fähig, selbst zum Mord. Weitere Stoßtrupps schütteten Benzinkanister in PKW’s und steckten Fackeln hinein. Überall prasselten und explodierten Feuer. Schräg vor dem Taxi loderte ein Mercedesbus wie ein mehrstökkiges Wohnhaus. »Bastards!« schrie unser Fahrer und machte einen rettenden Satz aus dem Wagen.

»Unter die Sitze!« brüllte ich.

Schon schoß krachend eine schwere Eisenstange durch die Windschutzscheibe. Kreischende Rowdies rissen die Tür auf. Nie werde ich diese Augen vergessen: wirr, lüstern – funkelnd, die der Schwarzen. Entsetzt aufgerissen die Ruths. Die Männer hatten Schaum vor den Mündern, sie schienen in Trance geraten. Das war das Ende!

»Oyibo, Oyibo!« (5) stießen heisere Kehlen aus, als Ruth am Boden kauernd entdeckt wurde. Und Odin kläffte wie von Sinnen aus seinem Käfig. Benzingeruch drang in die Nase. Ich preßte die Hände vor’s Gesicht.

Wo blieb das Feuer?

Wo die Flammen? Nichts brannte …

Der Spuk war vorbei, so plötzlich, wie er hereinbrach.

Einmal noch krachte ein Steinbrocken auf das Verdeck, dann war alles vorüber. Zurück blieb Weinen, Wimmern, Rauch, brennende Autowracks. Der Taxifahrer hatte sich unter seinen Wagen gekauert. Ängstlich kam er zum Vorschein. Allmählich sammelten wir uns wieder. Keiner hatte das Geschehene richtig erfaßt, da setzten sich die ersten fahrtüchtigen Autos in Bewegung. Verwundete, Tote, die auf der Fahrbahn liegend den Verkehr blockierten, wurden hastig auf den Gehweg gezerrt.

»Nur weg, schnell weg!« dachte jeder, die verdammte Horde konnte jeden Moment wiederkommen. Unser Kleinbus sprang an, mit schlotternden Knien steuerte der Fahrer an verbrannter Erde, heilloser Verwüstung vorbei, in Richtung Stadtmitte. Gespenstisch war die Strecke nach Apapa geworden. Geheimnisvoll und gespenstisch. Wo waren das Treiben, die Menschen, wo der unendliche Verkehrsstrom geblieben? Geblieben waren beißender Gasgeruch und ausgebrannte Fahrzeuge, von denen einige als Fackeln die Straße säumten, mehr noch, kilometerweit wie skurrile Straßenlampen leuchteten.

Endlich bog der Fahrer von der Hauptstraße ab, holperte über einen unbefestigten Weg und hielt vor einer Pforte. »Wir sind da!« sagte ich müde. Mutter und Sohn lösten sich aus ihrer Versteinerung und schauten auf den wuchtigen, wenig einladenden Bau, der von einer hohen tristen Mauer umgeben war.

Achmet, ein Wächter, sprang von der Bastmatte, trabte zur Pforte und schloß sie auf.

»Welcome Master, welcome«, rief er, als er mich in der Dunkelheit erkannte. »Alles gesund, alle am Leben?« setzte er staunend nach. Auf seinem Nachtlager schnarrte ein Radio, er mußte die Ereignisse aus den Nachrichten erfahren haben.

»Wie du siehst, Achmet, alles o. k. Hol’ Simion und Eric, wir haben viel Gepäck. Kommt alles in den Masterbedroom.«

Lautlos schälten sich der kleine Simion und der baumlange Eric aus der Finsternis. »Welcome in Nigeria, Madam«, sprach Eric meine Frau von hinten mit tiefer Stimme an. Ruth wirbelte herum, das Entsetzen noch in den Gliedern und warf sich an meine Brust. Selbst der beherzte Michael machte einen Satz zur Seite, als er das breite Gesicht, die großen Zähne und das Weiße in vorstehenden Pupillen über sich sah. Der Kochsteward lachte schallend.

Ich bewohnte mit Ruth ein kombiniertes Wohnschlafzimmer im ersten Stock des Doppelhauses. Michael bezog einen Raum daneben. Zwischen Koffern und unausgepackten Kisten streifte sich Ruth ihr Nachthemd über und wankte mitgenommen, Zahncreme, Bürste und Glas in den Händen dem Bad zu – mit einem spitzen Schrei auf den Lippen rannte sie zurück: »Albert, ich kann nicht mehr. Ich halt’ es nicht mehr aus. Ich muß zurück, hörst du. Bevor ich wahnsinnig werde, will ich nach Hause!«

Ich nahm meine aufgelöste Frau in die Arme: »Was ist denn, Liebes?«

»In der Badewanne sind zwei Mäuse und am Klosett krabbelt es von Kakerlaken!« schluchzte sie. Sie war mit den Nerven am Ende. Ich versuchte sie zu trösten, da ging die Tür auf: »Vater, das Wasser läuft nicht«, berichtete mein Sohn. Auch das noch, dachte ich, was für eine afrikanische Nacht, was für eine verdammte erste Nacht! … Und endlich schliefen wir erschöpft ein. Der nächste Tag stand noch ganz im Zeichen der Erlebnisse vom Vorabend. Ruth machte keinen Schritt aus ihrem Zimmer. Unter dem Vorwand die Koffer auszupacken, werkelte sie unentwegt und ließ sich selbst vom harmlosen Simion nicht helfen. Ich machte mir Sorgen. Wollte sie wirklich wieder abreisen? Obwohl ich mich gleich in die Arbeit hätte stürzen müssen, widmete ich die folgenden Tage hauptsächlich meiner Familie.

Früh morgens führte mein erster Gang zum Funkgerät. Michael war dabei. Mühlselig versuchte ich dann, Kontakt mit unserem Außenposten in Sokoto, über 1000 Kilometer nördlich am Rande der Sahelzone, zu bekommen, der mir die letzten Informationen über den Fortschritt an unserem Staudammprojekt – nochmals hundert Kilometer weiter im Busch – übermittelte. Meist ging es um eintreffende Zementzüge, Bestellungen aller Art, Personalfragen, Verladung schwerer Baumaschinen, die wir von Lagos her per Achse in Marsch setzten. Nicht selten wurden Bergungstrupps zusammengestellt, um liegengebliebene Fahrzeuge flottzumachen oder die Fracht umzuladen. Der Wellensalat war während der Gespräche einzigartig, nach zwei Stunden endete der Funkkontakt mit Kopfschmerzen und Ohrensausen. Michael schien beim Funken unermüdlich, immer wieder fragte er den Äther ab, bastelte an Gerät und Antenne herum und holte schließlich eine annehmbare Verständigung aus dem Kasten. Später wurde er unser Funker und wichtigster Nachrichtenmann. Regelmäßig vor der Schule saß er am Gerät und führte das Funkbuch.

Im Nebenhaus fing das schwarze Büropersonal um sieben Uhr dreißig an zu arbeiten. Olegungu, der Buchhalter, hatte seine Rechnungsprüfer und Kontopfleger fest im Griff, ihm vorgesetzt war ein weißer »Financial Controller«, eine Art kaufmännischer Leiter aus Deutschland.

Michael hatte noch Ferien. Die englische Oberschule St. Saviours in Ikoyi sollte erst übermorgen beginnen. James, mein Fahrer, meldete sich, als wir mit dem Frühstück fertig waren: »Alles klar, Master!«

»Komm Michael, begeben wir uns mal in das Chaos Lagos!« Und James fragte ich: »Straßen frei? Keine Unruhen?«

»Alles unter Kontrolle, mehr Soldaten als Zivilisten auf den Straßen, Master.«

»Wir fahren über Kiri Kiri, zum Hafen, in die City und nach Ikoyi. Hast du den richtigen Wagen?«

»Natürlich, heute sind die geraden Nummern dran.« Als wir im Fond saßen, erklärte ich, daß an bestimmten Tagen nur Fahrzeuge mit geraden, an anderen nur die mit ungeraden Kennziffern fahren durften. Mit dieser Maßnahme sollte die Verkehrsflut unter Kontrolle kommen, in Wirklichkeit erreichte die Regierung, daß jeder mindestens zwei Autos besaß und munter wechselte. Bereits in der Marine Road saßen wir hoffnungslos fest. James fluchte was das Zeug hielt. Über dem Verkehrsstau hing eine dicke Staubwolke und von Süden, aus den letzten unbebauten Mangrovensümpfen, kroch die lähmende Tageshitze. Vor uns stand ein Bus, an dem die Menschen wie Trauben hingen. In großen Lettern war am Heck: »Nigeria – love her or leave her!« (6) zu lesen. »Können vor lachen«, meinte Michael trocken.

Mittags erreichten wir »Kiri Kiri«, Luftlinie fünf Kilometer, und damit den wüstesten Platz Nigerias: abgesehen vom berüchtigten Gefängnis befindet sich hier der Hauptumschlagplatz für Zement. Unverkennbar die graue Zementstaubglocke. In dem unübersehbaren Areal, wie hineingeworfen, die ältesten Lastenvehikel der Autogeschichte. Einige bunt bemalt, andere mit Plastikblumen geschmückt, die meisten ohne Kotflügel und Stoßstangen. Die Fahrer lagen, hingen, schliefen über, unter und neben ihren Karren. Da kochte sich eine Gruppe ihr Süppchen, da spielte eine andere Karten. Zwischendurch tobten Beifahrer, die mit Knüppeln und Schlägen ihre Fahrzeuge durch die träge Masse bugsieren wollten. Doch die Masse war unsagbar zäh, wie Kaugummi. Die Laster der Schieber und Zementhändler verbrachten Tage, um entweder beladen zu werden oder kurz vorher in den metertiefen Schlaglöchern zu Bruch zu gehen.

»Kiri Kiri« ist selbst für Nigerianer ein Alptraum! Ein Bulldozer, der das heillose Durcheinander ins Meer schiebt, wäre der einzige Ausweg! Ich habe drei Wochen in diesem Tohuwabohu verbracht um mit Dash, Versprechungen, Drohungen, Flüchen bis an den Rand eines Nervenzusammenbruchs 1000 Tonnen Zement herauszubekommen.

Ängstlich folgte mir Michael in diesen Vorhof der Hölle. Wir kletterten aus dem Wagen, für James war ohnehin kein Weiterkommen. Ich bahnte mir den Weg an die Verladerampe, die, wenn meine Orientierung richtig war, 200 Meter vor uns lag. Dabei krochen wir unter LKW’s, sprangen über umgestürzte Betonpfeiler oder grotesk zerfetzte Stahlträger. Richtig, da stand Kiri Kiri Jetty, die kleine Holzbude mit der Funkantenne, Tag und Nacht von Hundertschaften umlagert: Zementhungrige aus dem ganzen Land. Zierliche Ibos aus dem Cross River Staat, einem Gebiet des damaligen Biafra. Untersetzte, dicke Yorubas aus Zentralnigeria und tief schwarze, aufgeschossene Haussa oder Fulami aus dem Norden. Ein ethnischer Querschnitt Nigerias 80 Millionen Bevölkerung. Eine Maskerade bunter Trachten außerdem. Allein an Kopfbedeckungen waren vom Fez über den Turban, dem Schlapphut zum schmierigen Stoffetzen alles vertreten. Vor dem Eingang der Bude stand wie eh und je Ruufus, der Zweizentnermann und Rausschmeißer. »Eh Ruuf«, rief ich ihn an und boxte ihm in den Schmierbauch, daß die Luft rauszischte. »Master da?«

»Welcome Mr. Hansen, nett Sie zu sehen. Master van Alfen ist da.« Die Freude war echt, der Kerl hatte von mir Schmiergelder wie kein zweiter kassiert.

An einem Schreibtisch, klein und klapperig, hing Hafen-Manager Jonas van Alfen leibhaftig und angetrunken. Wer hier für den größten Zementimporteur Dantata die Verteilung managte, war nach vier Wochen durchgedreht, es sei denn Whisky, mindestens eine Flasche pro Schicht, half ihm länger durchzuhalten.

»Hallo Hansen, alter Junge!« begrüßte er mich. Auf seiner tätowierten Brust standen dicke Schweißperlen, den Kopfhörer, die einzige Verbindung zur Zentrale in der City – Telephon war in Lagos schon seit Jahren zusammengebrochen – um den Hals gehängt, stürmte er auf uns zu, eine Schnapsfahne vorneweg.

»Aha, hast Verstärkung mitgebracht? Unverbrauchter Mann, kann gleich meinen Job übernehmen«, und zu Ruuf rief er: »Schmeiß die Leute raus und hol die Flasche, wir haben Besuch!«

»Das ist übrigens mein Sohn«, sagte ich. – »Auch nicht schlecht. Aber was führt dich ins gottverdammte Kiri Kiri?«

»Ganz einfach: Zement. Im Juni brauch ich 20 000 Tonnen für Mafara.«

20 000 Tonnen? Für euren Damm? Bist du wahnsinnig? Das kriegst du in zwei Jahren nicht heraus!«

»In einem Monat muß das über die Bühne!«

»Unmöglich!«

»Ich setzte vierzig Sattelzüge ein und du sorgst dafür, daß Kiri Kiri geräumt wird.«

»Das geht nur mit Hilfe der Armee.«

»Dann bestell sie doch. Wir lassen uns die Aktion 5000 Naira extra kosten.«

»Mann, Mann Hansen, du verlangst wieder Sachen«, stöhnte van Alfen. (7)

Michael ging mit mir vor zur Rampe. Hier standen rückwärts herangefahrene LKW’s, einige, die es tatsächlich schafften, durchzukommen. Davor lag eine Flut von Leichtern, und was sich darauf abspielte, erinnerte an mittelalterliche Sklavenarbeit. Ich war jedes Mal aufs Neue von diesem Blick über den 300 000 qm großen Zementhafen fasziniert: Es wimmelte wie im Ameisenhaufen. Leichenblasse Neger – Zementstaub hatte sie entstellt und gerbte nicht nur ihre Haut, sondern setzte sich in Mund, Nase und Ohren und in wenigen Jahren in den Lungen fest – die mit Portland-Säcken auf den Köpfen zu den LKW’s eilten. Im Akkord, für 5 Kobo pro Sack und 8 DM pro Tag schleppten sie im Schichtbetrieb Tag und Nacht unter Scheinwerfern zigtausend Tonnen Zement über eine Distanz von 200 Metern. Geplatzte Säcke dienten ihnen als Staub- und Sonnenschutz, Papierfetzen stülpten sie über ihre Schädel, kleinere wurden in die Nasenlöcher gestopft. Mein Sohn war schockiert, wie ich, als ich damals zum ersten Mal dem Treiben zusah.

»Wie lange halten die Männer das aus?« fragte er. »Zwei Jahre, dann haben sie Staublungen. Das Tollste: der Job ist begehrt! Nur mit Körperkraft, ohne Ausbildung – Geldverdienen ist schwer in Nigeria. Aus den Urwäldern strömen immer mehr Menschen nach Lagos, ihre einzige Chance zu überleben hast du vor dir.«