Maria Sall gewidmet
© 2010 Peter Halfar
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany
ISBN 978-3-8448-8078-6
Vorwort
Zu den Wurzeln
Die Frau, die schrie
Der Lastwagen
Die Reise nach Hembadoo
Warte bis September
Unsterblichkeit
Putty
So fing es an
Anopheles
COME TO KITTY HAWK!
Der Akt
Das schönste Zimmer
Der Vogel
Morrisons Grab
IT’S APRIL AGAIN
Die Nachtschwester
Pall Mall
Nach Einbruch der Dunkelheit
Allee in Pristina
Hier war ich noch nie
Zum Autor und seiner künstlerischen Arbeit
Traumatisiert von den Schrecken des Krieges 1945 begann ich, aus dem tiefen Brunnen der Kindheit und den Ängsten der Kindernächte meine Geschichten zu schöpfen.
Die Trivialität des Alltags, die vergebliche Liebe und die eigene Unberechenbarkeit veranlassen mich, dieses sonderbare Leben wie eine Art Mosaik so zusammenzusetzen, dass so etwas wie eine Sinngebung mit sozialkritischen und antifaschistischen Botschaften erkennbar wird.
Und so tut sich ein Reigen auf –ein Reigen von absonderlichen und grotesken Begebenheiten. Bis auf COME TO KITTY HAWK und ANOPHELES haben sich alle wirklich ereignet. Abgesehen von der Erinnerung an Marlene Dietrich sind Ähnlichkeiten mit verstorbenen oder lebenden Personen allerdings rein zufällig.
Mein herzlicher Dank gilt Esther Schöler, ohne deren Einfühlungsvermögen und Herstellung der Druckvorlage mein zweites Buch ANOPHELES nicht zustande gekommen wäre.
München, April 2010
Peter Halfar
Die Tante versorgte mich mit Büchern, damit ich las – als Kind, in Prag – :
WINNIE PUH DER BÄR
ALICE IM WUNDERLAND
DAS DSCHUNGELBUCH
REINEKE FUCHS mit Illustrationen von Kaulbach und
ZÄPFEL KERN von Otto Julius Bierbaum – ein Buch, in Holz gebunden, das mir meine Mutter ins Mantelfutter einnähte, so dass ich es auf der Flucht von Prag nach Köln durch die Wirren jener Zeit wohlbehalten in Sicherheit bringen konnte. Später dann – nach dem Krieg – verschaffte ich mir möglichst viele Bücher von Graham Greene sowie die destruktiven Romane von Frederic Prokosch und die Kurzgeschichten von James Joyce, die ich so oft las, dass ich sie auswendig konnte.
Den unmittelbaren Impuls zum Schreiben jedoch löste die Kurzgeschichte DIE GROSSMUTTER von John Hawkes in mir aus.
Später dann – als ich bereits zu schreiben begonnen hatte – gesellte sich Patricia Highsmith mit ihren suggestiven, manchmal furchterregenden Kriminalromanen hinzu. Ich hatte mir geschworen: Diese Frau, die imstande war, mir derartige Angst zu bescheren, die musste ich kennenlernen!
Und so geschah es, dass sich die widerspenstige Berühmtheit 1984 mit mir in Locarno im Schatten einer Lorbeerhecke traf.
In Wirklichkeit hieß sie Dora Busch.
„Auf den Namen Busch kann ich verzichten“, bemerkte Doreen McGregor, wenn sie auf einen ihrer früheren Ehemänner zu sprechen kam, der sich in seiner Villa in der Badewanne erschoss – Doreen hatte sich rechtzeitig abgesetzt. Busch hinterließ ihr einen Cadillac, der bereits verpfändet war.
„Aber Gregor“, fragte ich, „was bedeutet Gregor?“ Doreen steckte ihr rotes Haar zu einem Knoten auf. „Mein Vater hieß Gregor. Meine Eltern waren im letzten Moment aus Deutschland entkommen – nach Argentinien! Dort wurde Gregor von der Junta verhaftet, weil er politisch links war. Wir haben ihn nie wieder gesehen. Kurz darauf wurde ich geboren, und so kam es, dass ich meinen Vater nie kennen gelernt habe.“
Nach dem Krieg kehrte die Mutter mit ihren beiden Kindern nach Deutschland zurück.
Während Doreen sich unaufhaltsam zum schwarzen Schaf der Familie entwickelte, stieg ihre ältere Schwester zur Vorsitzenden des Komitees für HEIM UND HERD auf in einer Kleinstadt im Baden-Württembergischen. Zu Weihnachten schickte sie Doreens Kindern Tütensuppen und Papierunterhosen. Doreen brach in Tränen aus – ich konnte sie kaum beruhigen. Einer ihrer früheren Ehemänner riet ihr, es beim Film zu versuchen, aber davon wollte Doreen nichts wissen – was man da schon alles gehört hatte! Statt dessen gelang es ihr, Kontakte zur Bühne aufzunehmen. Obwohl sie damals wegen ihrer Schönheit überall Aufsehen erregte, trat sie auf der Bühne nicht in Erscheinung, da man sich für sie eine andere Funktion ausgedacht hatte. Jedes Mal, wenn die Primadonna in den nebelverhangenen Docks von London von dem berüchtigten Frauenmörder JACK THE RIPPER ums Leben gebracht wurde, mußte Doreen in den Kulissen einen so markerschütternden Schrei ausstoßen, dass selbst routinierte Opern-Kenner im Parkett erbleichten.
Doreen hatte einen Schneckenmund und schlief in einem Schrank – einem begehbaren Schrank.
An schönen Sommertagen legte sie sich nackt in den Garten, um ein Sonnenbad zu nehmen. Die Türkinnen in den oberen Stockwerken schauten zum Fenster hinaus; sie tuschelten: „Heute liegt sie schon wieder nackt im Garten!“ Damit konnte Doreen gut leben!
In Zeiten von finanziellen Engpässen kam es vor, dass sie herrenlose Fahrräder farblich umlackierte. Nach getaner Arbeit legte sie sich in den Isarauen an den Strand, um in einem kurzen Schlummer frische Kräfte zu sammeln. Wenn es anfing zu regnen, erwachte Doreen und konzentrierte sich darauf, besagte Fahrräder unter Dach und Fach zu bringen. Später begann sie zu malen. Böse Zungen behaupteten, sie male zwischen Abwasch und Abtritt – aber da hatte Doreen sich schon mit ihren Anwälten beraten.
Auf jeden Fall behielt sie ihren Künstlernamen bei, und so stand auf einem Schild an ihrer Wohnungstür:
Doreen McGregor
Kunstmalerin
Als irgend jemand mit Bleistift darunter gekritzelt hatte:
Hitler hat auch gemalt
verdächtigte Doreen ihre Nachbarin, deshalb kam es im Treppenhaus zwischen den beiden Frauen zu erheblichen Differenzen. – – – – –
„Nie wieder ziehe ich ins Parterre“, ereiferte sie sich, „da denken die Leute, hier ist eine Absteige – besonders die Türken – nein, nein, ich bin nicht ausländerfeindlich, ganz im Gegenteil! Und der Hausmeister, dieser Dreckskerl, er hat Unterschriften gegen mich gesammelt! Ich habe die Liste eingesehen, es stehen Namen von Leuten darauf, die gar nicht im Haus wohnen – das ist ja unglaublich! Ich finde das nicht korrekt – was meinst du?“
Mir fehlten die Worte.
Mittlerweile hatte Doreen damit begonnen, mir schöne Augen zu machen. Als ich nicht reagierte, versuchte sie, bei gemeinsamen Bekannten herauszubekommen, was denn mit mir los sei.
Um diesem Gerede ein Ende zu machen, lud ich mich selbst zu Sylvester ein. Ich brachte eine Flasche Sekt mit und auch sonst hätte meinerseits nichts im Wege gestanden, eine Liebesnacht in Gang zu bringen. Doch unglücklicherweise hatte Doreen darauf bestanden, den großen Hund mit im Bett zu halten. Der Hund fürchtete sich vor den Sylvesterraketen, und ich fürchtete mich vor dem Hund – letztendlich hatte ich nicht mehr die Nerven für derartige Extratouren – und noch dazu in einem Schrank!
Und so begann das neue Jahr ganz anders, als Doreen es sich vorgestellt hatte. Sie nahm es mir aber nicht übel, sie sagte: „Die meisten Männer sind impotent, wenn es zur Sache kommt! Ich weiß es, gIaub mir!“ „Ich glaube es dir“, erwiderte ich, „du musst es ja am besten wissen!“
Die Intrigen des Hausmeisters hatten jedoch völlig unerwartete Konsequenzen; anstatt Doreen hinauszuwerfen, offerierte der Hausbesitzer ihr eine geräumige Wohnung in einer der oberen Etagen. Und so zog Doreen triumphierend vom Hinterhaus ins Vorderhaus!
„Der Hausmeister!“, sinnierte sie eines Abends beim Essen, „das hätte er ja nicht gedacht! Es geschieht ihm ganz recht. Aber ich bin ja nicht nachtragend – leben und leben lassen!“
“Aber warum hinkt er so? Hat er etwas mit dem Bein?“
„Nein, nein“, erklärte Doreen, „man hat ihm in den Arsch geschossen, im Ersten Weltkrieg! Dafür bekommt man keinen Orden!“
Wir waren bei unserer neuen Lehrerin zum Mittagessen eingeladen gewesen; es hatte Rindfleisch mit Spinat und Kartoffeln gegeben. Die Lehrerin hatte zerstreut gewirkt. In den Sonnenstrahlen, die durch die halbzugezogenen Gardinen schienen, tanzten winzige Staubpartikel.
Plötzlich hatte ein kleiner tschechischer Junge barfuß in der Tür gestanden; atemlos hatte er gerufen: “Das Auto ist da! Kommt schnell, das Auto ist eben gekommen!“ Und so hatten wir unsere noch halbvollen Teller stehen lassen müssen, wir waren hinter dem Jungen hergelaufen; wir hatten nicht weit zu dem Haus, in dem wir wohnten. Meine kleine Schwester und ich hielten uns an den Händen. Es war heiß.
Nicht allzu lange davor – ich erinnere mich, es war ein Sonntagvormittag und es regnete – hielten wir uns in einer fremden Wohnung auf. Ein junges Paar saß auf einem Sofa. Die rothaarige Frau hatte vergeblich versucht, den Ausschlag in ihrem Gesicht mit Schminke zu überdecken; der Mann trug einen dunklen Anzug mit Nadelstreifen und wirkte ziemlich durchtrieben. Es war auch noch eine ältere Frau anwesend; sie war recht nachlässig gekleidet.
Alles deutete auf eine gewisse Unruhe hin; die Stimmung war gespannt.
Und obwohl ich damals als Kind perfekt Tschechisch konnte, erinnere ich mich nicht, worüber die Erwachsenen gesprochen hatten. Die ältere Frau saß mir gegenüber. Plötzlich stand sie auf und durchquerte die Stube und kam auf den Tisch zu, an dem ich saß. Ich erinnere mich, dass ich – wie damals viele Schulkinder –eine Baskenmütze trug.
Die Frau beugte sich über mich, und ich erschrak, als ich spürte, wie sie mich an meinem kurzgeschittenen Haar zog, das unter der Baskenmütze hervorlugte, bis ich begriff, dass sie meine Kinderstirn bekreuzigen wollte.
Ich wurde stutzig. Warum tat sie das? Auch der kummervolle Ausdruck ihrer leicht vorstehenden Augen machte mir Angst.
Der tschechische Kinderarzt hatte uns gewarnt: „Sie müssen weg, die Tschechen haben mit Ihnen etwas vor!“
Was ich nie begriffen hatte, das war der Einzug einer tschechischen Familie aus dem Ort in unser Haus gewesen; sie bewohnten eine Zeitlang die Parterrewohnung, zu der es vom Garten aus einen Zugang ins Haus gab.
Was wollten diese Leute hier?
Sie zogen jedoch überstürzt wieder aus, und ich hörte, dass sie mit meiner Mutter nicht im Guten auseinander gingen.
Und dann die Sache mit der tschechischen Waschfrau! Sie kam eines Abends lächelnd und fast lustig vom hinteren Teil des Gartens auf uns zu. Sie war untersetzt und sehr breit gebaut, mit einem roten Gesicht und roten Händen vom vielen Waschen. Es hieß, sie würde Mutter helfen, die viele anfallende Wäsche zu waschen; doch ich erinnerte mich nicht, sie wieder gesehen zu haben.
Es hatte aber noch etwas gegeben, was ich nicht verstand. Es muss im letzten Sommer vor Kriegsende gewesen sein, in dem die Tante mit ihrer Familie wie in jedem Jahr bei uns den Sommerurlaub verbrachte. Es war spät an jenem Abend; die schillernden Rosenkäfer schossen wie Gewehrkugeln durch das Dämmerlicht, das den Himmel hellgrün und alles andere ringsum zu dunklen Schatten machte.
Ich kam mir vor wie in einer Prozession, als ich inmitten der jüngeren und älteren Frauen unserer Familie auf das hintere Ende unseres Gartens zuging. Dort öffnete sich das Gartentor, und der Wirt der benachbarten Wirtschaft brachte einen kleinen Jungen mit herein, der ganz sicher noch nicht zur Schule ging. Das Kind hatte pechschwarzes seidiges Haar und dunkle Augen im bräunlichen Gesicht. Der Junge war barfuß; das alles hatte einen fast feierlichen Charakter. Eine der Frauen um mich herum – war es meine Tante? – gab mir eines meiner Kinderspielzeuge, ich glaube, es war ein bemaltes Pony aus Holz oder etwas anderes.
Ich trat einen Schritt auf das Kind zu und überreichte ihm mein Geschenk. Seine Augen leuchteten auf, und er lächelte mich an. Er war so klein und sanft in seinem weißen Hemd und der schwarzen Kniehose. Niemand sagte ein Wort unter diesem leeren hellen Himmel, auf dem die ersten Sterne sichtbar wurden. Dann verließen der Wirt und das Kind in der hereinbrechenden Dunkelheit unseren Garten und gingen Hand in Hand an den braunen Wassern der Moldau davon.
Bereits vor Weihnachten hatten wir fast alle unsere Spielsachen in den Böhmerwald vorausgeschickt, wohin wir bald verreisen wollten. Doch als wir hörten, dass die Russen dort bereits einmarschiert waren, konnten wir die Sache vergessen.
Es gab für uns Kinder auch noch mehr Anzeichen dafür, dass sich bald etwas ändern würde. Kurz nach Weihnachten erfuhren wir, dass der Vater an der Front ums Leben gekommen war. Mir war die ganze Situation äußerst peinlich, denn sie passte so gar nicht in das aktuelle Heldentum, und ich konnte keine Trauer empfinden. Diese kam erst ein halbes Jahr später zum Ausbruch.
Immer öfter lauschte ich der gedämpften Unterhaltung der Erwachsenen, die Pläne machten für eine Reise zum Großonkel; denn irgendwie schien es hier nicht weiterzugehen.
Die Mutter kam aus der Küche in den Flur, wo unser Gepäck stand, damit wir jederzeit aufbrechen konnten. Wir hatten nicht viel, wir sollten nur das Nötigste mitnehmen, was wir eben tragen konnten; meine Schwester hatte ihren Puppenwagen mit allem notwendigen Kleinkram bepackt.
Und so saßen wir hier auf unseren Koffern und wollten in den Lastwagen steigen, wegen dem der Junge uns geholt hatte; aber wir konnten den Wagen nirgendwo erblicken – weder am vorderen Eingang noch auf dem Seitenweg ganz hinten am Gartentor – wir konnten noch so oft aus dem Küchenfenster schauen.
Die Mutter wurde blass. Sie begann zu zittern, es schüttelte sie so sehr, dass sie sich setzen musste. War das eine Falle? Es war April, die Magnolien und all die vielen Obstbäume blühten in überschäumender Pracht.
Die Mutter strich über ihren Rock; sie stand auf und sagte zu uns: „Ich gehe jetzt mal zu dem seitlichen Gartentor, vielleicht steht der Lastwagen dort und wartet auf uns, denn von hier aus können wir wegen des Gartenhäuschens sowieso nichts sehen.“
Wir folgten ihr bis zur Haustür und sahen sie über die Wiese gehen und hinter dem Gartenhaus verschwinden.
Sie kam aber sehr schnell zurück; sie rannte über das Gras, dabei verlor sie einen Schuh, sie lief aber nicht zurück, denn hinter ihr sahen wir nun einen Mann kommen; er hatte es scheinbar nicht so eilig, doch seine Haltung verhieß nichts Gutes. Gleichzeitig hörten wir hinter uns im Wohnzimmer ein Geräusch; wir drehten uns um, und wir sahen, dass auch hier ein Mann stand, der offensichtlich durch die Tür vom Garten her hereingekommen sein musste. Jetzt sahen wir hinter ihm noch mehrere Männer auftauchen, und als wir im Garten weitere Männer sahen, die hinter unserer Mutter her waren, da wussten wir, etwas Schlimmes würde geschehen, jetzt, bald!Und wir wussten nicht, was wir tun sollten.
Die Mutter stürzte jetzt die Stufen zur Haustür hinauf und in den Flur hinein und geradewegs den Männern im Wohnzimmer in die Arme. In diesem Moment holten sie die Männer aus dem Garten ein. Sie hatte keine Chance!
Wir Kinder fingen an zu weinen und zu schreien – ich stürzte mich auf einen der Männer und biss ihn in die Hand. Er stieß mich fluchend zurück, und als ich das Geräusch von splitterndem Glas hörte, dachte ich: Das ist der Bücherschrank.
Und dann begann der Alptraum. Als sie die Mutter auf das Sofa niederzwangen, hielten sie ihr ganz offensichtlich den Mund zu. Ich hörte das dumpfe Geräusch von Schlägen, von Flüchen von Männerstimmen, die an ihrer rasenden Wut schier ersticken wollten.
In dem Durcheinander sah ich Mutters zweiten Schuh auf dem Teppich liegen, doch die Männer trampelten darauf herum, bis er wer weiß wie aussah – nur nicht mehr wie ein Schuh.
Plötzlich hielten mir rote breite Hände die Augen zu, und die Stimme der tschechischen Waschfrau fuhr wie ein Donnerwetter über die tobenden Männer dahin. Sie ließen von unserer Mutter ab, wenigstens vorläufig.
Und die Waschfrau nahm uns Kinder in die Arme und schob uns vor sich her – hinaus aus dem Wohnzimmer, hinaus aus dem Haus, hinaus aus dem paradiesischen Garten, hinaus aus unserer Kindheit. Und sie lief mit uns schnell – „Beilt euch, schaut euch nicht um!“ Sie begann zu fluchen: „Dieser gottverdammte Krieg – das hätte doch nicht alles so kommen müssen!“
Und die Waschfrau schrie und weinte und hielt uns fest mit ihren roten Händen.
Es hätte nicht viel gefehlt, und es wäre so gekommen. Doch da stand der Lastwagen auf dem Weg seitlich des Gartens, mit niedergelassenen Planen. Wir stiegen schnell auf, meine Großmutter, die Cousine, die Mutter und die kleine Schwester und ich.
Es war am helllichten Tag, und alle Fenster in den benachbarten Wohnblöcken waren schwarz von Menschen, die uns mit ihren geballten Fäusten drohten.
Man brachte uns hinaus aus der Stadt, noch rechtzeitig. Wir fuhren einen Tag und eine Nacht. Und als wir endlich beim Großonkel ankamen, da dachten wir: Jetzt haben wir das Schlimmste hinter uns.
Weil ich meine Fußsohlen nicht verletzen wollte, kam ich nur langsam voran. Die Sonne brannte mit unbarmherzig sanftem Feuer auf meinen Rücken, es musste auf Mittag gehen. Vor mir donnerte die Brandung gegen das Riff, auf dessen nassem Felsgestein ein dunkler großer Reiher stand.
Als ich aufsah von meinen Füßen, die ich im glasklaren Wasser vorsichtig zwischen die scharfkantigen Steine setzte, sah ich in einiger Entfernung von der Brandung im ruhigen Wasser ein Boot. Darin saß ein Mann in einem weißen Kleid und mit einem weißen Turban auf dem Kopf. Er hob seinen dunklen Arm; er winkte und rief mir etwas zu. Ich drehte mich um; der Strand war leer. Das Wasser reichte mir immer noch nicht weiter als bis zum Knie, aber allmählich spürte ich die Strömung.
Dann sah ich ein zweites Boot, das kurz zuvor noch nicht da gewesen war, und ich konnte mir nicht erklären, von wo es gekommen war, denn ich hätte es doch sehen müssen. Es lag etwas weiter rechts von mir vor der lang gezogenen türkisfarbenen Lagune. Auch in diesem Boot saß ein Mann in einem festlich weißen Gewand, mit einem weißen Tuch um den Kopf. Mir fiel ein, dass ich in einem Prospekt gelesen hatte, dass heute ein hoher islamischer Feiertag war.
Die beiden Boote schienen sich weiter nach rechts verschoben zu haben, und ich befand mich genau zwischen ihnen. Da die Reflexe auf den Wellen mich blendeten, konnte ich nicht erkennen, was die beiden Männer in ihren Booten machten. Jedoch sie taten offensichtlich nichts, sie saßen nur und sahen mir zu. Der Mann linken Boot stand auf. Er hob mit beiden Händen sein Kleid hoch, so dass ich seine dunkelbraunen Schenkel sehen konnte, er stellte sich seitlich; er rief mir wieder etwas zu und zeigte auf das Wasser vor dem schaukelnden Boot.
Ich blieb stehen. Der Reiher war nicht mehr da. Ich drehte mich um, und da sah ich Agneta, die sich – unbemerkt von mir – an den Strand geschlichen hatte. Spärlich bekleidet und ungeheuerlich fett saß sie wie ein Götzenbild am Strand. Über ihr spreizten die Königspalmen drohend ihre Palmwedel. Ich winkte. Doch Agneta winkte nicht zurück. Sie winkte nie zurück.
Im Flugzeug hatte sie zwei Plätze nebeneinander reserviert, in ihrem Bungalow hatte sie einen Armsessel umtauschen lassen, in den sie sich hineingesetzt hatte, aber nicht mehr wieder heraus kam. Da sie geräuschempfindlich war, lief sie mit Ohropax herum, und die Leute meinten, sie sei verrückt, weil sie keine Antworten gab.
„Weshalb hast du dir den Kopf kahl scheren lassen?“ fragte ich sie, als ich neben ihr im heißen Sand lag. „Weil, wenn ich nachts im Wald spazieren gehe und so ein Schwein von Mann kommt, er nicht erkennen kann, dass ich eine Frau bin.“
Und zum Thema Sex zuckte sie verächtlich die Schultern: „Diese lächerlichen Turnübungen!“
Am nächsten Morgen warteten wir am Pier auf das Schnellboot, das uns ins Südatoll bringen sollte. Die Frau neben uns unter dem Sonnendach sprach uns an: „Verzeihen Sie meine Neugier, aber was machen Sie hier? Ich sehe Sie den ganzen Tag malen oder zeichnen.“ Sie war auffallend teuer angezogen.
„Wir drei“, erklärte Elspeth, „haben in einem Malwettbewerb gewonnen – in Deutschland!“
„Tatsächlich? Meinen herzlichen Glückwunsch! Hier oben im Nordatoll gibt es mehrere Inseln wie Hembadoo, mit allem erdenklichen Luxus und erstklassigem Service!“
“Ja“, erwiderte Elspeth, „wir sind sehr froh, dass man uns so komfortabel untergebracht hat!“
Der Pfauenaugen-Butt in dem großen Bassin neben uns wirbelte um sich herum Schlamm auf und sank dann wieder auf den Grund, gestreift von den Schatten der jungen Haifische, die unruhig an den Rändern des Bassins hin und her schwammen.
„Und wie lange werden Sie hier bleiben?“
„Zwei Wochen.“
„Und wo wohnen Sie hier?“
„Im Village.“
Die Frau schwieg einen Moment. Dann sagte sie: „Im Village? Da wohnen wir auch. Das wird aber ein teurer Urlaub für Sie werden!“
„O nein“, erwiderte Elspeth, „wir sind Gäste der Regierung; es kostet uns nichts; als Gegenleistung sollen wir ein paar Bilder malen.“
„Ach wie interessant! Wie schön für Sie!“ Sie sprang auf und klatschte in die Hände. .„Nun aber an die Arbeit! Heute wird Französisch gelernt und Klavier geübt!“, sagte sie zu dem kleinen Mädchen, das neben ihr aus dem Schatten auftauchte. Sie nickte uns zu. Wir nannten sie seitdem die Kolonialmutter, weil sie solche Kolonialallüren hatte.
Nun dauerte es nicht mehr lange, bis immer mehr Leute uns in unseren Bungalows besuchten, um sich unsere Bilder anzuschauen. Auch die Kolonialmutter zeigte sich kurz mit dem kleinen Mädchen – sie setzte sich nie. „Sie ist nicht unsere richtige Tochter. Wir haben sie adoptiert. Wir haben sie in Jordanien in den Kriegswirren in einer Plastiktüte auf dem Müll gefunden damals. Das muss man sich vorstellen!“ Ein Mann eilte draußen vorbei. „Mein Mann“, erklärte sie; „er ist hier der Hotelmanager. Er hat nie Zeit.“
Im Südatoll hatte es Probleme gegeben, Agneta vom Schnellboot hinunter in die Fischerboote zu transportieren, die uns ans Ufer brachten. Überall, wo sie auftauchte, kamen die Leute in hellen Scharen aus ihren Häusern, um sie sprachlos anzustarren: Ein Monster am helllichten Tag, das durch die Gassen taumelte. Auf der Rückfahrt hatte Agneta dann auch ein bisschen geweint, war aber im Großen und Ganzen recht zufrieden mit dem Aufsehen, das sie erregt hatte.