Cover.jpg

Als Ravensburger E-Book erschienen 2020

Ein Augenblick für immer. Das erste Buch der Lügenwahrheit
© 2018 Ravensburger Verlag
Text © 2018 by Rose Snow

Ein Augenblick für immer. Das zweite Buch der Lügenwahrheit
© 2019 Ravensburger Verlag
Text © 2019 by Rose Snow

Ein Augenblick für immer. Das dritte Buch der Lügenwahrheit
© 2019 Ravensburger Verlag
Text © 2019 by Rose Snow
Lektorat: Franziska Jaekel

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-47200-0

www.ravensburger.de

13780.jpg

Für die beiden Helden in unserem Leben

Die Legende von Green Manor

Der Landschaft Cornwalls wohnt ein besonderer Zauber inne. Es ist ein Zauber, der sich in unzähligen Mythen wiederfindet, und für viele ist Cornwall die faszinierendste und schönste Grafschaft Englands. Wer Cornwall besucht, wird von den sattgrünen Hügeln, den steilen Klippen und den malerischen Buchten begeistert sein, und die Einheimischen behaupten sogar, dass jene, die genau hinsehen, noch mehr zu sehen bekommen.

Tatsächlich muss man nur einmal durch die verlassenen Hochmoore wandern, um zu verstehen, warum hier vielerorts von der Anderswelt gewispert wird. Oftmals scheint es, als läge nur ein dünner Nebelschleier zwischen unserer modernen Welt und den mystischen Geheimnissen der Vergangenheit. Neben den bekannten Spukschlössern wie Pendennis Castle und Pengersick Castle gibt es noch viele vergessene Orte, an denen man das Raunen unerlöster Seelen hören und ihre Präsenz spüren kann.

Einer dieser Orte ist Green Manor, ein efeuberanktes altes Herrenhaus inmitten der unberührten Natur nahe der Steilküste. Seine wuchtigen Mauern trotzen seit Jahrhunderten dem Wechsel der Gezeiten, und seit ebenso langer Zeit soll dort eine rastlose Gestalt in einem grünen Umhang ihr Unwesen treiben. Der Legende nach handelt es sich um die ermordete Geliebte des Grafen Winston Winterly, der Green Manor vor mehr als dreihundert Jahren von seiner Urgroßmutter erbte und dem Anwesen durch diverse Umbau- und Modernisierungsmaßnahmen neues Leben einhauchte.

Auch heute noch wird Green Manor von den Nachfahren Winston Winterlys bewohnt – dessen unglückliche Geliebte des Nachts noch immer ihre Streifzüge durch die weitläufigen Gärten unternehmen soll. Vielleicht ist es aber auch der Geist von Sir Winterly selbst, der in seinem grünen Umhang über das Anwesen spukt und nach seiner verlorenen Geliebten sucht.

»Auf den Spuren der ungelüfteten Geheimnisse Cornwalls«
von Lewis Campell,
März 2017

Kapitel 1

»Ist es noch weit?«, wollte ich von dem alten Taxifahrer mit der Schirmmütze wissen, der seinen gelben Wagen in einem Tempo über die Küstenstraße lenkte, dass es mir den Magen aushob. Die steil abfallenden Klippen links von uns verschwammen bei der Geschwindigkeit zu einem einzigen grauen Farbklecks und ich krallte mich verkrampft an der Rückbank fest.

»Vielleicht noch zwanzig Minuten, Miss, oder dreißig«, antwortete er und hustete. »Sind Sie das erste Mal hier?«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte nicht darüber nachzudenken, dass ich bei seinem Fahrstil aber wahrscheinlich das letzte Mal hier sein würde. Laut Statistik starben 7,3 Menschen auf einer Milliarde gefahrener Kilometer, was mich eigentlich beruhigen sollte, es in dem Moment aber nicht tat. Auch die Tatsache, dass gelbe Taxis weniger Unfälle als schwarze verursachten, half wenig, wenn das Auto auf der nassen Straße ins Schleudern kam und über die Klippen stürzte. Einziger Lichtblick war, dass die Constables meine Leiche in dem gelben Wrack wahrscheinlich leichter finden würden.

»Sie haben sich ein schönes Fleckchen Erde für Ihren Urlaub ausgesucht«, bemerkte der Taxifahrer und lächelte mich über den Rückspiegel an.

»Nicht Urlaub, Austauschjahr.« Ich lächelte schnell zurück, damit er sich wieder auf die Straße konzentrieren konnte.

»Austauschjahr, noch besser«, grunzte er. »Dann haben Sie noch mehr Zeit, sich unser hübsches Cornwall anzusehen. Hier können Sie viel unternehmen, junge Lady. St. Michael’s Mount oder St. Ives sind absolut einen Abstecher wert.« Er nickte und hob bestätigend die buschigen Augenbrauen.

»Da haben Sie aber ganz schön viele Heilige.« Ich blickte durch die Fensterscheibe nach draußen. Der Regen prasselte auf die hügelige Landschaft nieder, und dichte graue Wolken schoben sich über den Himmel, was wahrscheinlich der Grund dafür war, dass nirgends eine Menschenseele zu sehen war.

Der Fahrer lachte. »Stimmt, die haben wir. Aber nicht jeder, der wie ein Heiliger aussieht, ist auch einer. Sie sind ein hübsches Mädchen, junge Lady – nehmen Sie sich also vor den Kerlen in Acht, die haben es faustdick hinter den Ohren.«

»Ich werde mich meilenweit von ihnen fernhalten«, versprach ich, und der Taxifahrer quittierte meinen Entschluss mit einem zufriedenen Nicken.

Nach der Sache mit Jasper konnten mir Jungs ohnehin gestohlen bleiben, und ich war froh über den Tapetenwechsel, der mir bevorstand.

Erst an meinem achtzehnten Geburtstag vor knapp zwei Wochen hatte ich beschlossen, doch noch ein Austauschjahr in England zu verbringen. Und da sämtliche Fristen bereits abgelaufen waren, hatte meine Mutter alle Hebel in Bewegung gesetzt und persönlich alle notwendigen Telefonate geführt, damit ich für ein Jahr bei meinem Onkel Edgar Beaufort wohnen und den Abschluss an der hiesigen Privatschule machen konnte. Meinen Vater hatte diese Idee nicht besonders begeistert. Schon immer hatte ich eine gewisse Sehnsucht nach dem Land meiner Vorfahren verspürt, die mein Vater jedoch hartnäckig ignoriert hatte, da sein Verhältnis zu seiner englischen Familie nicht besonders gut war. Letztendlich war er diesmal jedoch dem Charme meiner Mutter erlegen.

»Sie können auch durch die unberührten Moorlandschaften des Dartmoor wandern«, schlug der Fahrer vor, während er den Wagen in eine enge Kurve lenkte und mein Körper leicht nach links driftete. »Und Sie sollten unbedingt einen Ausflug nach Pengersick Castle oder zu den Steinkreisen machen – Cornwall ist nicht nur verdammt schön, sondern auch sehr mysteriös.« Seine Stimme nahm einen unheilvollen Klang an, als würde eines der sagenumwobenen Geisterwesen dieser Gegend jeden Moment am Straßenrand auftauchen.

»Ich glaube, ich werde mich eher auf die Schule konzentrieren«, erklärte ich freundlich, weil ich wie mein Vater nicht viel auf Mythen und Legenden gab. Ich glaubte an Fakten und logische Erklärungen sowie an Dinge, die ich tatsächlich sehen konnte. Und ich glaubte daran, dass mich das Jahr in England perfekt auf Oxford vorbereiten würde. Das abgeschiedene Cottage von Onkel Edgar bot mir genau die Ruhe, die ich brauchte, um für die Aufnahmeprüfungen zu lernen.

Der Taxifahrer sah mich erneut über den Rückspiegel an. »Es ist schon gut, die Schule ernst zu nehmen. Aber vergessen Sie nicht, dass man dort nicht alles lernt. Das Leben ist die beste Schule.«

Ich nickte abwesend und dachte daran, wie mein Leben das nächste Jahr verlaufen würde. Wie würde es sein, bei Onkel Edgar zu wohnen? War er noch immer der gutmütige Mann, an den ich mich erinnerte?

Zur Beerdigung seiner Frau – meiner Tante Catherine – vor einigen Jahren konnte ich nicht kommen, weil ich mir damals eine Grippe eingefangen hatte. Gesehen hatte ich Tante Catherine davor auch nur ein einziges Mal, als wir den Sommer in Cornwall verbracht hatten. Mein Vater sprach kaum über seine Schwester, und das hatte sich nach ihrem Tod auch nicht geändert. Meine Mutter hatte einmal erwähnt, dass sie schon als Kinder keine besonders gute Beziehung gehabt hätten und dass mein Vater sowohl England als auch seiner Schwester nach dem Schulabschluss so schnell wie möglich den Rücken gekehrt hatte.

»Jaja, das Leben ist die beste Schule«, wiederholte mein Fahrer nachdenklich und bretterte weiter viel zu schnell über die schmale Küstenstraße.

Ich ließ mich auf meinem Sitz zurücksinken und versuchte den Blick zu den schroffen grauen Felsen auf meiner linken Seite zu vermeiden. Obwohl es erst früher Nachmittag war, wurde es draußen immer düsterer. Der Regen prasselte unermüdlich auf das Dach des Taxis, und irgendwo zuckte ein Blitz über den Himmel, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Krachen. Vor uns schlängelte sich die Straße durch die raue Landschaft, und ich musste an meine Cousins Blake und Preston denken, die schon letztes Jahr ihren Abschluss gemacht hatten. Obwohl ich mich kaum an die beiden erinnern konnte, hatten wir offenbar zumindest gemeinsam, dass es uns alle in die Ferne zog. Doch während ich mich für das nasskalte Wetter Englands entschieden hatte, waren die beiden laut meiner Mutter gerade irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs. Immerhin musste ich mir so keine Gedanken darüber machen, ob es im gemütlichen Cottage meines Onkels nicht zu eng für uns vier werden würde.

Das plötzliche Quietschen der Bremsen riss mich aus meinen Gedanken, und ich keuchte erschrocken auf, als ich mit einem kräftigen Ruck nach vorne katapultiert wurde. Instinktiv klammerte ich mich am Vordersitz fest und versuchte zu verstehen, was gerade passiert war.

Das Taxi war auf der kleinen Landstraße abrupt stehen geblieben.

»Damn!«, hörte ich den Fahrer schimpfen, der ungläubig nach draußen blickte, wo dampfender Qualm unter der Motorhaube hervorquoll. »Nicht schon wieder.« Er schlug mit der flachen Hand auf sein Lenkrad und atmete dann mehrmals tief durch, bevor er sich zu mir umdrehte. »Tut mir leid, junge Lady, aber Hank scheint meiner Dorothy nicht gut genug unter die Haube geschaut zu haben.«

Ich starrte ihn nur verständnislos an.

»Hank ist unser Mechaniker und Dorothy ist meine alte Lady.«

»Sie meinen das Taxi?«

Der alte Mann nickte und zog einen Lappen aus dem Handschuhfach. »Mal sehen, wie schlimm es diesmal ist.« Er stellte mürrisch den Kragen seiner dunklen Jacke hoch, stieg aus und machte im strömenden Regen ein paar Schritte ums Auto herum.

Ich seufzte und ließ mich tiefer in meinen Sitz sinken.

Motorschaden.

Mein Austauschjahr in Cornwall fing ja gut an. Morgen schon war mein erster Tag auf der Privatschule, und ich hoffte, dass ich es bis dahin überhaupt noch zum Cottage meines Onkels schaffen würde.

Draußen tobte der Sturm und Windböen zerrten an den Büschen am Wegrand. Das Wetter war alles andere als ein Begrüßungsgeschenk, genau wie der resignierte Gesichtsausdruck meines Fahrers, als er sich über die offene Motorhaube beugte. Ich öffnete die Autotür und stieg ebenfalls aus.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, rief ich über das Tosen hinweg.

Der Taxifahrer presste die Lippen aufeinander. »Wenn Sie einen neuen Motor im Gepäck haben, gerne – ansonsten wohl kaum. Meine Frau wird mir die Hölle heißmachen.«

Fröstelnd machte ich ein paar Schritte in seine Richtung. »Können wir einen Abschleppwagen rufen?«

»Das müssen wir. Aber das wird dauern, junge Lady.«

»Wie lange denn?« Der Wind blies mir meine langen Haare ins Gesicht und die Regentropfen peitschten gegen meinen Körper.

Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Wenn wir Glück haben, ist er in drei Stunden da. Wir sind ziemlich weit draußen und am Sonntag kommt nur der Notdienst aus Newtown.«

»Drei Stunden?« Entmutigt schlang ich die Arme um meinen Oberkörper. Dabei blickte ich über die wildromantische Landschaft, die im Regen unterging. Der Himmel war mittlerweile fast schwarz und die Wolken ballten sich bedrohlich über unseren Köpfen. Zu meiner Rechten fuhr der Wind tosend über die grasbedeckten Hügel, während sich links von uns eine beeindruckende Klippenlandschaft erstreckte. Weit unten schlugen die Wellen krachend an die Küste, und ich erkannte in einiger Entfernung ein Fischerdorf, das sich schutzsuchend an die schroffen Felsen schmiegte.

Der Taxifahrer schloss mit seinem Lappen die Motorhaube und wischte sich dann die Finger an der dunklen Hose ab, bevor er sein Handy aus der Jackentasche zog. Er betrachtete das Display und schnaubte. »Kein Netz. Bei dem Wetter auch kein Wunder.«

Ich warf ebenfalls einen Blick auf mein Smartphone und musste feststellen, dass auch ich keinen Empfang hatte.

Der alte Mann hob vielsagend die buschigen Augenbrauen. »Dann müssen wir wohl warten, bis das Unwetter weitergezogen ist – oder jemand vorbeikommt.«

»Und wie lange kann das dauern?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort gar nicht wissen wollte. Wir standen mitten in der Einöde und es war uns seit einer gefühlten Ewigkeit kein Wagen mehr entgegengekommen.

»Ein paar Stunden«, entgegnete er vage.

Die Aussicht, ein paar Stunden im Taxi zu verbringen, fand ich nicht besonders prickelnd.

»Und was ist mit dem Fischerdorf dahinten?« Ich deutete auf die kleine Siedlung neben den Klippen, deren moosbewachsene braune Dächer schon ziemlich mitgenommen aussahen.

»Das ist Portfall«, erklärte der Taxifahrer.

»Vielleicht sollten wir dort um Hilfe bitten«, schlug ich vor, doch der alte Mann winkte sofort ab. »Ich kann Dorothy nicht allein hier stehen lassen.«

Ich betrachtete die rauchende Motorhaube. »Aber Dorothy wird doch niemand klauen. Bei dem Wetter kommt sowieso niemand vorbei.«

Er zog die Stirn kraus. »Das kann man nie wissen.«

»Dann gehe ich«, beschloss ich, weil ich hier nicht stundenlang im Sturm ausharren wollte, um danach womöglich noch ewig auf einen Abschleppwagen zu warten. »Führt die Straße direkt ins Dorf?«

»Das schon.« Der Taxifahrer räusperte sich. »Aber ganz allein, das kann ich nicht zulassen, junge Lady.«

»Es ist doch nur ein kurzer Fußmarsch«, hielt ich dagegen und sah die Küstenstraße hinunter, die in Serpentinen direkt nach Portfall zu führen schien.

»Wenn Sie gehen, wahrscheinlich schon«, brummte mein Fahrer und strich sich über seinen linken Oberschenkel. Ich hatte schon beim Einsteigen am Flughafen gemerkt, dass er das eine Bein leicht nachzog.

»Ich lasse das Gepäck bei Ihnen und mache mich auf den Weg.« Ich nickte ihm noch einmal zu und marschierte los.

Der Regen ließ nicht nach, was mittlerweile auch nichts mehr ausmachte, da meine Jeans und Sneakers ohnehin schon komplett durchnässt waren. Lediglich meine Jacke bot ein wenig Schutz vor dem stürmischen Wetter. Die Haare klebten mir patschnass am Kopf und die Regentropfen liefen in Strömen über mein Gesicht, als ich den Biegungen der schmalen Straße hinunter ins Fischerdorf folgte.

Allerdings schien ich dem Dorf in den nächsten Minuten kaum näher zu kommen. Der Wind fuhr durch meine Kleidung und ich fröstelte am ganzen Körper. Mittlerweile wünschte ich mich nur noch in das kleine Cottage an den Kamin. In dem Moment hörte ich einen brummenden Motor hinter mir und hoffte, dass es ein Auto war, das mich nach Portfall mitnehmen könnte.

Schnell drehte ich mich um und sah, wie jemand auf einem Motorrad neben mir stehen blieb. Die Maschine glänzte schwarz und auch ihr Fahrer war komplett schwarz gekleidet. Er klappte das Visier seines dunklen Helmes hoch, und mir stockte unwillkürlich der Atem, als ich in seine Augen blickte. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Augen gesehen. Ihre Farbe war von einem derart durchdringenden Blau, dass ich das Gefühl hatte, in einen weiten, leuchtenden Ozean einzutauchen. Mein Herz geriet ins Stolpern, und plötzlich spürte ich den Regen und den peitschenden Wind nicht mehr.

»Schlechter Tag für einen Spaziergang«, bemerkte der Motorradfahrer mit rauer Stimme.

Ich strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Mein Taxi ist liegen geblieben.«

»Siehst gar nicht aus wie eine Taxifahrerin.«

Ich atmete tief ein. »Das Taxi, das ich genommen habe, ist liegen geblieben.«

»Genommen? Du hast es also geklaut?« Die Ironie in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Genau. Ich habe das Taxi geklaut, zu Schrott gefahren und mich dann entschieden, einen romantischen Spaziergang im Regen zu machen.« Ich schüttelte genervt den Kopf und konnte es nicht leiden, dass mich der Typ wie eine Idiotin behandelte.

Unter seinem Helm stachen nur seine leuchtend blauen Augen hervor, während der Rest seines Gesichts im Verborgen lag. »Du triffst heute anscheinend nur schlechte Entscheidungen.«

»Ach, ja? Dann passt es ja, dass ich mich jetzt mit dir unterhalte.«

»Wenn du meinst.« Er klappte sein Visier hinunter, bevor er sein Motorrad wieder startete.

»Und das war’s jetzt? Du wechselst ein paar Sätze mit mir und lässt mich dann stehen?« Kopfschüttelnd starrte ich ihn an. »Das ist also die feine britische Art.« Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte ich mich um und setzte meinen Weg Richtung Portfall fort.

Der Typ fuhr mit seiner Maschine weiter, rauschte aber nicht davon, sondern zuckelte einfach neben mir her. »Und das ist also die feine deutsche Art«, erwiderte er spöttisch.

Ich runzelte die Stirn und sah ihn verblüfft an. Da ich zweisprachig aufgewachsen war, hatte ich eigentlich keinen deutschen Akzent, den der Typ bemerkt haben konnte.

»Woher willst du wissen, dass ich eine Deutsche bin?«

Er brachte sein Motorrad erneut zum Stehen und schaltete den Motor ab. »Ist doch so. Hier. Setz den auf«, befahl er und zog sich seinen Helm vom Kopf.

Ich schluckte, als ich das erste Mal sein Gesicht sah. Er hatte eine schmale Nase, einen dunklen Bartschatten und ein energisches Kinn, doch seine Lippen sahen so weich aus, dass ich mich ungewollt fragte, wie es sich wohl anfühlte, von ihm geküsst zu werden.

Plötzlich wurde mir peinlich bewusst, dass ich ihn einfach nur anstarrte, während er mich abwartend betrachtete.

»Wieso soll ich den aufsetzen?«, fragte ich schnell.

Er strich sich seine vom Regen feuchten Haare aus dem Gesicht. Sie waren vorne etwas länger und hatten genau dieselbe Farbe wie seine Motorradkluft. »Ich dachte, selbst bei euch weiß man, wofür ein Helm gut ist.«

»Sehr witzig.«

Er atmete tief ein, und mein Blick rutschte unbewusst hinunter zu seiner Lederjacke, die sich über seiner durchtrainierten Brust spannte.

»Du sollst den Helm aufsetzen, damit ich dich nach Portfall bringen kann. Da willst du doch hin, oder?« Er zog eine dunkle Braue hoch. »Und allein kommst du offensichtlich nicht in einem Stück an.«

Ich schnaubte. »Was soll das denn bitte heißen?«

Er bewegte sich leicht auf der glänzenden schwarzen Maschine, von der die Regentropfen abperlten. »Ein Motorradfahrer, den du nicht kennst und der dir auf einer einsamen Straße begegnet, spricht dich an, und du beschwerst dich darüber, dass er dir keine Hilfe anbietet?«

»Was sollte ich denn deiner Meinung nach sagen?«, erwiderte ich genervt. »Danke, dass du mich im Regen stehen lässt?«

»Du solltest besser gar nichts sagen. Schon mal auf die Idee gekommen, dass ich ein Axtmörder sein könnte?«

Ich sah ihn ungläubig an, das hier war absurd. »Ein Axtmörder würde doch von sich nicht behaupten, ein Axtmörder zu sein.«

Sein linker Mundwinkel zuckte. »Vielleicht bin ich ein besonders intelligenter Axtmörder, der genau weiß, wie er dich manipulieren kann.«

Ich kniff die Augen zusammen. »Sorry, aber so intelligent siehst du nicht aus. Eher wie jemand, der gerne Spielchen spielt.«

Er musterte mich intensiv, und für einen Moment hatte ich das Gefühl, so etwas wie Interesse bei ihm aufflackern zu sehen. »Dann erklär mir mal, was für ein Spiel das sein sollte. Lies ein nasses Mädchen von der Straße auf?«

»Eher: Finde ein nasses Mädchen und treib es in den Wahnsinn.«

Er betrachtete mich nüchtern und warf mir dann den Helm zu, den ich überrascht auffing.

»Keine schlechte Idee. Aber erst setzt du den Helm auf.«

Herausfordernd drehte ich den schwarzen Motorradhelm in meinen Händen. »Und wieso? Damit ich keinen Kratzer abbekomme, bevor du mich mit deiner Axt um die Ecke bringst?«

»Exakt. Also – steigst du jetzt auf, oder willst du noch länger hier im Regen rumstehen?« Inzwischen klang seine tiefe Stimme ziemlich ungeduldig.

»Und was ist mit dir?«

»Was soll mit mir sein?«

Ich holte tief Luft. »Wenn ich den Helm aufsetze, hast du keinen mehr.«

»Ich brauche keinen.«

»Und was ist, wenn du einen Unfall baust?«

»Ich baue keinen Unfall. Also setz den verdammten Helm auf, oder du gehst zu Fuß.« Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er es ernst meinte, und da ich am ganzen Körper zitterte, beschloss ich, diesmal die Klappe zu halten.

Wortlos stülpte ich mir seinen Helm über meine nassen Haare und kletterte hinter ihm auf das Motorrad. Der Helm war natürlich viel zu groß, aber ich ließ mir nichts anmerken.

»Schling die Arme um mich.«

Etwas zurückhaltend legte ich meine Arme um seinen Bauch und überlegte, ob das wirklich eine gute Idee war.

»Fester«, verlangte der Typ über die Schulter. »Und rutsch näher an mich heran, sonst fällst du mir in der nächsten Kurve runter.«

Ich zögerte kurz. Es gefiel mir zwar nicht, wie er mich rumkommandierte, aber es war wahrscheinlich besser, als im Straßengraben zu landen. Entschlossen rutschte ich deshalb etwas näher an ihn heran und schlang meine Arme fester um seine Taille.

»Hast du das noch nie gemacht?«, fragte er unwirsch. Ein Blitz zuckte über den dunklen Himmel, gefolgt von dem ohrenbetäubenden Geräusch des Donners. »Noch fester.«

Ich schluckte und bewegte meine Hüften so dicht an ihn heran, wie ich konnte, bevor ich meinen Oberkörper an seinen Rücken presste.

»Geht doch«, hörte ich ihn sagen. Dann startete er mit einem lauten Brummen seine Maschine. »Und klapp dein Visier runter.«

Ich folgte seiner Anweisung und die sowieso schon düstere Umgebung verdunkelte sich noch weiter. Im nächsten Moment gab der Typ Gas und die Maschine schoss mit einem Ruck vorwärts. Ich rutschte kurz nach hinten und klammerte mich erschrocken an ihm fest. Er bretterte mit einer derartigen Geschwindigkeit über die Straße, dass mir die Taxifahrt von eben wie ein Sonntagsspaziergang vorkam. Atemlos schlang ich meine Arme noch fester um seinen Körper und krallte meine Finger in den feuchten Stoff seiner Lederjacke. Dabei konnte ich seine Bauchmuskeln unter meinen Händen fühlen und merkte, wie mein Herz sofort schneller schlug. Ich versuchte mir einzureden, dass das nur an der halsbrecherischen Fahrt lag, aber eine leise Stimme in mir flüsterte, dass das Blödsinn war.

Obwohl uns Wind und Regen entgegenpeitschten, lenkte der Typ sein Bike mit beeindruckender Sicherheit über die Straße. Das Unwetter schien ihn nicht im Mindesten zu kümmern und langsam entspannte ich mich. Trotz des heruntergeklappten Visiers konnte ich seinen Duft wahrnehmen, der an ihm und seinen Sachen haftete. Er erinnerte mich an eine Mischung aus Wind und Ozean mit einer dunklen Note, und ich hätte am liebsten meine Nase tief in seiner Lederjacke vergraben, um den Geruch zu inhalieren. Bevor ich mich dieser peinlichen Vorstellung allzu lange hingeben konnte, erreichten wir glücklicherweise Portfall. Das Motorrad wurde langsamer und der Typ steuerte seine Maschine durch die engen Straßen des Fischerdörfchens, bis wir den Hafen erreichten. Auf dem ganzen Weg hierher war uns kein einziger Mensch begegnet, und nur ein paar Boote schaukelten in dem schäumenden Wasser, das laut an die Anlegestelle klatschte. Der tosende Wind trug den Geruch nach Meer und Seetang mit sich, und ich hielt einen Moment den Atem an, als ich auf das sturmgepeitschte Meer hinaussah.

Neben der verwitterten Kaimauer stand ein kleines Häuschen, dessen Putz schon von der Fassade bröckelte. Der Typ hielt seine Maschine davor an und stellte den Motor ab.

»Wir sind da. Du kannst mich loslassen.«

Ich rutschte genervt ein Stück zurück, bevor ich vom Motorrad kletterte und den Helm abnahm. »Danke, dass ich noch lebe.«

Sein Mundwinkel zuckte. »Ich bin extra langsam gefahren.«

Ich lächelte humorlos. »Dann möchte ich schnell nicht erleben.«

Rasch drückte ich ihm den Helm in die Hand und machte ein paar Schritte auf das heruntergekommene Gebäude zu, vor dem wir angehalten hatten. Es schien sich um einen Pub zu handeln, der so nah am Kai gebaut worden war, dass ich die Gischt auf der Haut spüren konnte. Entschlossen ging ich auf die Tür des Pubs zu und hoffte, dass es dort einen Festnetzanschluss gab, damit ich einen Abschleppwagen rufen konnte. Es brannte zwar kein Licht hinter den getönten Scheiben, aber davon wollte ich mich nicht entmutigen lassen. Ich legte meine Hand auf die Klinke und versuchte die Tür zu öffnen, doch sie war verschlossen. Irritiert rüttelte ich noch einmal daran, dann drehte ich mich zu meinem Begleiter um, der noch immer auf seinem Bike saß und mich beobachtete.

Seine unglaublich blauen Augen funkelten herausfordernd. »Gibt’s etwa Probleme?«