Peter Schneider


Normal, gestört, verrückt

Über die Besonderheiten psychiatrischer Diagnosen

herausgegeben von Wulf Bertram

Wulf Bertram, Dipl.-Psych. Dr. med, geb. in Soest/Westfalen, Studium der Psychologie, Medizin und Soziologie in Hamburg. Zunächst Klinischer Psychologe im Universitätskrankenhaus Hamburg Eppendorf, nach Staatsexamen und Promotion in Medizin Assistenzarzt in einem Sozialpsychiatrischen Dienst in der Provinz Arezzo/Toskana, danach psychiatrische Ausbildung in Kaufbeuren/Allgäu. 1986 wechselte er als Lektor für medizinische Lehrbücher ins Verlagswesen und wurde 1988 wissenschaftlicher Leiter des Schattauer Verlags in Stuttgart, 1992 dessen verlegerischer Geschäftsführer. Im gleichen Jahr gründete er zusammen mit Thure von Uexküll und medizinischen Fachkollegen die Akademie für Integrierte Medizin, deren Vorstand er seitdem angehört. Aus seiner Überzeugung heraus, dass Lernen ein Minimum an Spaß machen müsse und solides Wissen auch unterhaltsam vermittelt werden kann, konzipierte er 2009 die Taschenbuchreihe »Wissen & Leben«. Bertram hat eine Ausbildung in Gesprächs- und Verhaltenstherapie sowie in Psychodynamischer Psychotherapie und arbeitet neben seiner Verlagstätigkeit als Psychotherapeut in eigener Praxis.

Für sein Lebenswerk, seine »wissenschaftlich fundierte Verlagstätigkeit im Sinne des Stiftungsgedankens«, wurde Bertram 2018 der renommierte Wissenschaftspreis der Margrit-Egnér-Stiftung verliehen, deren Ziel es ist, zu einer humaneren Welt beizutragen, in welcher der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit im Mittelpunkt steht.

Impressum

Peter Schneider

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Besonderer Hinweis

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Schattauer

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© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © adobe stock/Dmytro Panchenko

Lektorat: Maren Klingelhöfer, Heidelberg

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-40031-1

E-Book: ISBN 978-3-608-12067-7

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20484-1

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Pat und Laszlo

People are strange

when you’re a stranger.

Jim Morrison

Vorwort

Dieses Buch handelt von der Besonderheit psychiatrischer Diagnosen. Es geht darin um die Fragen, auf was sie sich eigentlich beziehen und warum sie sich über die Jahre hinweg ändern. Ich betrachte deshalb an einigen Beispielen (wie der Schizophrenie, der Depression, dem Burnout, der Aufmerksamkeitsdefizitstörung, den Störungen der sexuellen Identität) den historischen Wandel in der Diagnostik, der sich nicht – wie häufig in der somatischen Medizin – wissenschaftlichem Fortschritt im Sinne neuer Erkenntnisse über die Ursachen der Krankheiten und die Möglichkeiten ihrer Heilung verdankt. So ist die noch gar nicht so lange zurückliegende Entpathologisierung (und damit auch Entstigmatisierung) der Homosexualität sicherlich ein bedeutender gesellschaftlicher Fortschritt, aber diesem liegt nicht eine prinzipiell neue wissenschaftliche Erkenntnis zugrunde. Dieses Buch beschäftigt sich demzufolge auch damit, wie Psychotherapien, Mutmaßungen über die Ursachen von psychischen Störungen, Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen, Medikamente und veränderte soziale Stimmungslagen auf die Systematik der Diagnosen einwirken. Der Standpunkt, den ich dabei einnehme, ist der eines Beobachters, der innerhalb dieser Veränderungen steht und sie gleichwohl mit der Neugier eines Ethnographen untersucht und beschreibt, ohne sogleich für die eine oder andere Seite in den zahlreichen geschilderten Auseinandersetzungen Partei zu ergreifen. Wer Entwicklungen in der Psychiatrie und insbesondere in der psychiatrischen Diagnostik kritisieren will, sollte zuvor ihre historische und gesellschaftliche Dynamik verstanden haben. Oder, um es in einem Vergleich zu formulieren: Dies ist nicht das Buch eines psychiatrischen Theologen, der sich einer bestimmten Glaubensrichtung verschrieben hat, sondern das eines psychiatrischen Ethnologen, der die religiösen Systeme zu verstehen versucht, indem er ihre Geschichte beschreibt und sie zu anderen Feldern des gesellschaftlichen Lebens in Beziehung setzt.

Zürich, im April 2020

Peter Schneider

1 Dr. House und Dr. Frances

Diagnosen stellt man sich gerne nach dem Doktor-House-Modell vor: Ein Mensch ist krank, und fieberhaft sucht der Experte nach der richtigen Diagnose. Denn um jemanden heilen zu können, muss man erst einmal wissen, unter welcher Krankheit er leidet. Es funktioniert wie im Märchen von Rumpelstilzchen: Ist der richtige Name für die Krankheit gefunden, ist deren Macht (hoffentlich) gebrochen. Die Diagnose(1) vermittelt zwischen der Tatsache der Krankheit auf der einen und den Verfahren der Therapie auf der anderen Seite. Sie macht die Krankheit, die unabhängig von Diagnose und der Möglichkeit einer Therapie besteht, erst zugänglich für die Behandlung.

Viele somatische Diagnosen(1) entsprechen diesem Modell. Gallensteine und Beinbrüche sind ziemlich einfach zu diagnostizieren und somit recht handfeste medizinische Tatsachen. Multiple Sklerose oder Epilepsie sind es weniger, wenngleich sie für die Betroffenen eine sehr gravierende Beeinträchtigung darstellen. Verlassen wir aber das Feld der somatischen Diagnosen und betreten das der psychiatrischen, verliert dieses Modell Krankheit – Name – Therapie an Überzeugungskraft.

Besonderheit psychiatrischer Diagnosen

Psychiatrische Diagnosen(1) sind rein klinische Diagnosen. (Lediglich im Moment noch, verspricht die biologische Psychiatrie schon seit langem.) Epilepsie war einmal eine psychiatrische Diagnose, mit dem Aufkommen der EEG-Diagnostik(1) wurde sie eine neurologische. Für die Schizophrenie, die Aufmerksamkeitsdefizitstörung, die Autismus-Spektrum-Störung, die soziale Phobie, die Palette der Persönlichkeitsstörungen und der Angst- und Zwangsstörungen fehlen die Möglichkeiten, sie durch Biomarker(1), also Laborwerte, genetische oder neurologische Befunde dingfest zu machen. Dieses Fehlen ist das, was eine klinische Diagnose kennzeichnet.

Anders als bei den somatischen klinischen Diagnosen können psychiatrische Diagnosen nicht durch eine biologische Diagnostik(1) ergänzt, verifiziert oder über den Haufen geworfen werden. Ein Dr. House, der am Ende einer Serienepisode nach langem Hin und Her herausfindet, dass es sich bei der vermeintlichen Zwangsstörung in Wirklichkeit um eine veritable Angststörung handelt und die bisherige Behandlung deshalb vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss, wäre so unfreiwillig komisch wie eine Notfallsituation im Flugzeug, bei der die Stewardess über den Lautsprecher aufgeregt fragt, ob ein Psychoanalytiker an Bord ist.

Ist das Spektrum somatischer Diagnosen ausgereizt, bleibt oft die psychiatrische Diagnose(2) als Restdiagnose übrig: Es könnte eben alles auch psychisch sein. Was immer dieses Psychische genau sein mag. Psychiatrische Diagnosen werden deshalb oft so missverstanden, als seien sie »eigentlich« gar keine richtigen Diagnosen und das, was sie diagnostizieren, gar keine richtigen Krankheiten. Diesem Missverständnis dadurch zu begegnen, dass man psychische Störungen(1) zu Krankheiten »wie alle anderen auch« erklärt, führt allerdings ebenso in die Irre. Psychiatrische Störungen(1) und deren Diagnosen sind weder das eine noch das andere, sondern etwas Eigenständiges.

Diagnosen und Krankheitsverlauf

Viele Diagnosen enthalten sowohl Aussagen über die Vergangenheit, die Entstehung einer Krankheit, als auch über die Zukunft, den (wahrscheinlichen) Ausgang einer Krankheit. »Syphilis« ist z. B. eine solche Diagnose. Sie enthält Wissen über die Entstehung dieser Krankheit(1), über die Formen der Ansteckung sowie über ihren Verlauf in vier zeitlich voneinander getrennten und symptomatisch unterschiedlichen Phasen. Die letzte tritt nach einer weitgehend beschwerdefreien Latenzperiode erst viele Jahre nach der Infektion ein. Dabei wird das zentrale Nervensystem des Infizierten angegriffen. Dieses Stadium endet meist tödlich. Die Diagnose impliziert auch eine Therapie: Syphilis wird durch eine Infektion mit dem Bakterium Treponema pallidum verursacht, die Krankheit kann also durch ein Antibiotikum geheilt werden (Fleck 1980) – allerdings nicht mehr in ihrem letzten Stadium. Ohne das Wissen über die Ätiologie der Syphilis gäbe es keine brauchbare Diagnose; wahrscheinlich nicht einmal eine Vorstellung davon, dass all die Stadien Phasen einer einzigen Krankheit(1) sind.

Beweglicher Charakter von Diagnosen

Bluthochdruck(1) kann das Symptom verschiedener Erkrankungen sein; er ist jedoch auch unabhängig von seiner Entstehung behandlungsbedürftig, weil er zu vielen weiteren Folgeerkrankungen führen kann. Von Zeit zu Zeit ändert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Werte, ab denen hoher Blutdruck als behandlungsbedürftig erscheint. Wird dieser Wert gesenkt, gelten mehr Menschen als krank im Sinne von behandlungsbedürftig, wird er erhöht, werden zuvor kranke Menschen gesund. Dabei handelt es sich nicht um bürokratische Wunderheilungen oder neue »wissenschaftliche« Erkenntnisse über das Wesen des Bluthochdrucks, sondern um Anpassungen, die sich aus neuen Studien zum statistischen Zusammenhang von Blutdruckwerten und, sagen wir, Herzinfarkten ergeben. »Zu hoch« ist ein Blutdruck also aufgrund dessen, was er in der Zukunft mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anrichten wird.

Für die Diagnose Bluthochdruck bedarf es allerlei: nicht zuletzt des Wissens um den Blutkreislauf des Menschen, die Funktionsweisen des Herzens und der Blutgefäße, Instrumente, die den Blutdruck messen – und, last but not least, einer Institution, die Werte für einen normalen Blutdruck festsetzt und Behandlungsrichtlinien vorgibt. »Blutdruck« an sich ist weder eine Diagnose noch ein Symptom, sondern eine der Bedingungen für das Funktionieren des menschlichen Organismus.

Man sieht an diesem Beispiel gut, dass Diagnosen aufgrund mehrerer Faktoren zustande kommen. Sie sind nichts, was man an und für sich erkennen kann, wenn man nur mit dem richtigen Gerät in den Menschen hineinschaut. Im Fall der Diagnose(1) Bluthochdruck handelt es sich um eine Mischung aus natürlichen Tatsachen (dem Blutkreislauf), technischen Dingen (Messgeräten für den Blutdruck) und Institutionen (der WHO). Erst mit der Erfindung unkomplizierter und darum massenhaft verfügbarer nichtinvasiver Messmethoden unter Verwendung einer Gummimanschette Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte der Bluthochdruck zu einer wichtigen Diagnose werden.

Man muss sich den hybriden Charakter von Diagnosen(1) vor Augen halten, um einerseits den falschen Respekt vor ihnen zu verlieren und andererseits neuen und besser begründeten Respekt vor den Mechanismen zu gewinnen, die Diagnosen möglich machen und hervorbringen, aber auch wieder verschwinden lassen können.

DSM-5: Inflation psychiatrischer Diagnosen?

Als 2013 die fünfte Auflage des von der American Psychiatric Association (APA) herausgegebenen Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders erschien, kurz DSM-5(1) genannt, meldete sich der Psychiater Allen Frances zu Wort und prangerte die Inflation psychiatrischer Diagnosen an (Frances 2013). Frances’ Intervention wurde nicht zuletzt deshalb besonders beachtet, weil er der Vorsitzende der Arbeitsgruppe war, welche die Herausgabe der vorherigen Auflage, des DSM-IV(1), verantwortet hatte. Zuvor hatte er bereits an der dritten Auflage und deren Revision (dem DSM-III-R(1)) mitgewirkt. Die englische Originalausgabe seines Buches trägt den dramatischen Titel Saving Normal. An Insider’s Revolt against Out-of-Control Psychiatric Diagnosis, DSM-5, Big Pharma, and the Medicalization of Ordinary Life, wortgetreu übersetzt: »Das Normale bewahren. Der Aufstand eines Insiders gegen außer Kontrolle geratene psychiatrische Diagnostik(1), DSM-5, die pharmazeutische Großindustrie und die Medizinalisierung des alltäglichen Lebens.« In der deutschen Version wurde dieser epische Titel verkürzt und entdramatisiert: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen.

Frances’ Buch trifft ein zentrales Unbehagen, das psychiatrische Diagnosen in der Öffentlichkeit wecken: Was ist eigentlich noch normal? Werden unsere Kinder nicht überdiagnostiziert (auf die Diagnose ADHS werden wir später noch zu sprechen kommen) und übertherapiert (z. B. mit Ritalin)? Erfinden die Pharmakonzerne Krankheiten, für die sie noch ein paar Medikamente in der Pipeline haben? Ist heute nicht schon jede Missstimmung eine behandlungswürdige Depression? Wird das Netz der Normierung nicht immer engmaschiger? Werden immer mehr gesellschaftliche Phänomene pathologisiert? Macht eine kranke Gesellschaft die Menschen zunächst krank, um sie anschließend mit Medikamenten zu »heilen«?

Die erste Auflage des DSM, die 1952 erschien, enthielt eine Aufzählung von 60 psychiatrischen Krankheitsbildern, in der fünften Auflage hat sich diese Zahl mehr als verfünffacht. Es sind nun 312 »disorders«, die im DSM-5 aufgelistet sind. Mit der Vermehrung der Störungen geht die massive Zunahme der Verschreibung psychotroper Medikamente(1) einher. »We are becoming a society of pill poppers«, sagt Frances (2013, S. 11), und manche würden allenfalls korrigieren: Aber wir sind doch schon längst eine Gesellschaft von Pillenschluckern(1). Neue Diagnosen, wie das »psychosis risk syndrome«, mit dem das erhöhte Risiko von Jugendlichen diagnostiziert wird, an einer Psychose zu erkranken, oder die Diagnostizierbarkeit einer Depression bereits zwei Wochen nach dem Verlust eines geliebten Menschen erweitern – so die Kritik – die Möglichkeiten der Pharmaindustrie, nicht nur die wehrlosen Patienten in den psychiatrischen Kliniken mit Pillen vollzustopfen, sondern auch eigentlich völlig Gesunde.

Frances’ Anklage wurde gerade deshalb so ernsthaft rezipiert, weil sie nicht aus einer grundsätzlich antipsychiatrischen(1) Perspektive kam, sondern aus der Mitte der Psychiater selbst. Frances ist jemand, von dem man zu sagen pflegt, dass er weiß, wovon er spricht – aus langer Erfahrung und ohne ideologische Verblendung. Es geht ihm nicht um die Abschaffung der Psychiatrie. Die Normalität zu retten und die Psychiatrie zu bewahren sind für Frances nur die zwei Seiten einer Medaille (2013, S. 19). Was also ist falsch gelaufen in den knapp 20 Jahren zwischen 2013, als das DSM-5 erschien, und 1994, dem Jahr der Publikation des DSM-IV?

DSM-III: Symptome statt Ätiologie

Möglicherweise ist die 2013 beklagte Diagnoseninflation der Effekt einer noch weiter zurückliegenden Änderung. Seit 1980 mit der Veröffentlichung von DSM-III(1) hat sich die American Psychiatric Association(1) nämlich davon verabschiedet, psychiatrische Erkrankungen nach deren (mutmaßlichen) Entstehung zu kategorisieren. Die vormals weitgehend psychoanalytisch beeinflusste ätiologische Beschreibung von psychischen Erkrankungen wurde ersetzt durch ein Kategoriensystem, das sich am Vorhandensein von Symptomen orientierte. Die Frage, mit deren Hilfe nun eine »Störung« bestimmt wurde, lautete: Wie viele Symptome(1) von welchen möglichen Symptomen liegen über welche Zeitspanne vor?

Man muss nicht alle möglichen Symptome einer Depression(1) haben, um als depressiv zu gelten. Doch je mehr der möglichen Symptome jemand aufweist, als desto schwerer gilt seine Depression(1). Aber es reicht auch nicht aus, diese Symptome nur für wenige Tage zu zeigen, sie müssen über einen gewissen Zeitraum andauern, damit eine Depression diagnostiziert werden kann. Es gilt außerdem, den Unterschied zu einer gewöhnlichen Trauer dadurch zu markieren, dass die Symptomatik über einen bestimmten Zeitraum nach einem Verlust anhielt. Die Anzahl der Symptome, deren Dauer und die Zeit des Auftretens nach einer Verlusterfahrung sind somit die Stellschrauben, mit denen man die Diagnose einer Depression verändern kann.

Mit dem DSM-III sollte die Diagnostik von psychiatrischen Schulen unabhängig werden. Nicht mehr die unterstellten innerpsychischen Konflikte etwa sollten über eine Diagnose entscheiden, sondern allein die klinisch zu beobachtenden Symptome. Eine Krankheit wurde also fortan nicht mehr aufgrund ihrer Entstehung diagnostiziert, sondern anhand ihrer symptomatischen Erscheinung. Die Ätiologie wurde zur Blackbox(1) erklärt; was symptomatisch wie eine Depression aussieht, ist auch eine Depression. Dieses blackboxing hatte durchaus einen Sinn: Die Diagnosen wurden schulübergreifend vergleichbar; und trotzdem behielten die psychiatrischen Schulen weiterhin die Freiheit, jene Entstehungsgeschichten in die Blackboxes zu packen, die sie für richtig hielten und an die sie glaubten. Natürlich war damit auch die Hoffnung aufgegeben worden, psychiatrische Krankheiten durch verallgemeinerbare ätiologische Annahmen oder gar durch objektivierbare Merkmale charakterisieren zu können. Um es in einer biologischen Analogie zu beschreiben: Wenn die Anatomie und die Physiologie zweier Tiere allzu unterschiedlich sind, dann handelt es sich eben nicht um verwandte Tiere, sondern um Exemplare ganz unterschiedlicher Arten. Aber der äußere Eindruck kann täuschen, und erst eine Analyse des Genoms(1) verschafft mehr Klarheit über Unterschiede und Verwandtschaften. Doch wir kennen die DNA(1) psychiatrischer Störungen so wenig wie Darwin die DNA der Tiere kannte. (Wir werden in Kapitel 14 noch auf die problematische Anlehnung der psychiatrischen Diagnostik an die biologische Taxonomie zu sprechen kommen.) Die genetische oder neuronale Bestimmung psychischer Störungen steht weiterhin in den Sternen: als großes und weiterhin uneingelöstes Versprechen. Seit dem DSM-III versucht man aus dieser Situation das Beste zu machen: einen pragmatischen Kompromiss. Solange es keine »Genetik« der psychiatrischen Störungen gibt, bleibt uns immerhin ein phänomenologisch plausibles Kategorisierungssystem(1).

Aus Freuds(1) Sicht war alles Psychische ein Symptom – ein Kompromiss aus widerstreitenden psychischen Tendenzen; und nur als ein solches Symptom war etwas der dekonstruktiven Deutungsarbeit der Psychoanalyse zugänglich. Sowenig die Psychoanalyse(1) ein genuines Konzept von Krankheit hat, hat sie eines von Gesundheit oder Normalität. Wir haben alle strukturell gleiche Konflikte; bei manchen Menschen wirken sie sich allerdings so aus, dass ihr alltägliches Leben durch sie bedeutsam eingeschränkt wird. In diesem Fall ist eine Psychoanalyse indiziert; einer besonderen Diagnose dafür bedarf es nicht. (Wir kommen in Kapitel 15 auf dieses Thema zurück, wenn wir über Aufstieg und Fall der Psychoanalyse im psychiatrischen Denken sprechen.) Für den psychiatrischen Alltag war dieses Modell auf die Dauer nicht hilfreich. Die Konzentration auf spezifische Symptome(2) statt auf die allgemeine Symptomhaftigkeit des Lebens schien vielversprechender. Doch welche Symptome gehören zu einer Störung?

Die Mill’sche Krankheit

Die Geschichte des DSM ist eine Geschichte von Abstimmungen unter Psychiatern, die darüber diskutiert haben, welche Störungen mit welchen Symptomen genug Trennschärfe aufweisen, um aus ihnen eigene diagnostische Kategorien zu machen. Dabei kann man zu zurückhaltend sein, und die Diagnosen werden unscharf. Oder man ist zu forsch (oder, wie manche Kritiker meinen, zu sehr beeinflusst von der Pharmaindustrie, die neue Pillen gegen neue Krankheiten verkaufen möchte), und es kommt zu einer Inflation der Symptome und Störungen. Das, so Frances, sei mit dem DSM-5(2) geschehen.

Auf den englischen Ökonomen und Philosophen John Stuart Mill geht die Beschreibung einer allzu menschlichen Neigung zurück, die man als »Mill’s disease(1)« bezeichnet hat:

Die Tendenz war schon immer stark zu glauben, dass was auch immer einen Namen erhält, eine Entität oder ein Wesen mit eigenständiger Existenz sein müsse. Und wenn keine Entität gefunden werden konnte, die auf den Namen hörte, entschieden Menschen deswegen nicht etwa, dass es keine gab, sondern bildeten sich ein, dass es sich um etwas besonders Abstruses und Mysteriöses handeln musste (Fußnote von J. S. Mill in J. Mill 1869, S. 5).

Die Mill’sche Krankheit besteht darin, dass Namen und Begriffe ein Eigenleben führen, sind sie erst einmal in die Welt gesetzt. Man kennt dergleichen aus der Philosophie: Wenn man sagen kann, dass etwas »ist«, dann wird es ja wohl auch ein »Sein« geben – und eben nicht nur Seiendes, also letztlich triviale Dinge. In der Psychiatrie geht es etwas weniger mysteriös zu; aber auch hier können Bezeichnungen für menschliches Missbefinden, wenn sie sich nur genug verbreitet haben, beanspruchen, auf etwas ganz Reales zu verweisen. Man nennt das für gewöhnlich Modediagnosen.

2 Modediagnosen, Eichhörnchen und die Schizophrenie

Die Diagnose, dass etwas eine Modediagnose sei, ist ihrerseits selbst immer eine Modediagnose(1). Anders formuliert: »Modediagnose« ist ein historisch variabler Kampfbegriff(1). Während die einen behaupten: XY gibt es gar nicht, XY sei ein sich selbst verstärkender, medial angefeuerter Hype (zum Beispiel die »multiple Persönlichkeitsstörung« oder das »Schleudertrauma«), insistieren deren Gegner: XY gibt es sehr wohl, in Skandinavien sei XY längst als Krankheit anerkannt, und das sei eine sehr fortschrittliche Haltung der Skandinavier. In diesem Streit um Modediagnosen erwartet man von der Wissenschaft, dass sie das Machtwort über Schein und Sein spricht.

Modediagnose oder nicht?

Die Schwierigkeit liegt freilich darin, dass dieser Streit kein Kampf aufklärerischer Wissenschaft gegen dumpfe Medien- und Laiennaivität ist, sondern dass es sich dabei um eine Auseinandersetzung in den Wissenschaften(1) selbst handelt. Dieser science war(1) wird mit zahlreichen Betroffenen als einfachem Fußvolk geführt. Die einen bestätigen, wie erleichtert sie sich fühlen, seit ihnen attestiert wurde, dass sie tatsächlich an realem XY leiden; während die anderen bekunden, wie froh sie sind, nicht mit dem Etikett XY stigmatisiert zu werden. Man entkommt dieser Zwickmühle gegenteiliger Zeugenaussagen nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn man auf die Zweidimensionalität der Frage »Modediagnose – ja oder nein« fixiert bleibt. Der Ausweg liegt in der dritten Dimension, einer sowohl historischen als auch erkenntnistheoretischen.

Bevor wir uns nun also weiter mit psychiatrischen Diagnosen im Speziellen beschäftigen, müssen wir zunächst einen umfassenderen Blick auf die Probleme von Kategorisierungen(1) im Allgemeinen werfen.

Die Kategorien und die Dinge

Once upon a time …,