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Michael Benesch

Der Dialog in Beratung und Coaching

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog: Der Dialog in Beratung und Coaching

1Psychologie und Dialog

1.1Theory of Mind

1.2Spiegelneurone

1.3Heuristiken, Automatismen und Bauchgefühl

1.4Sozialer Druck

1.5Konstruktivismus und Dialog

2Begriffe des Dialogs

2.1Thinking und Thought

2.2Feelings und Felts / Embodiment

2.3Fragmentierung

2.4Inner State und das Unbewusste

2.5Emotionen

2.6Mentale Modelle

2.7Die Philosophie des „Ich und Du“ von Martin Buber

3Ein dialogisches Beratungsmodell für die Praxis

3.1Das DI•ARS-Beratungsmodell

3.2Die Primären Felder des DI•ARS-Beratungsmodells

3.2.1Das Primäre Feld „Holismus“

3.2.2Das Primäre Feld „Detailtreue“

3.2.3Das Primäre Feld „Motivation/Intention“

3.2.4Das Primäre Feld „Tun“

3.2.5Die Vermittlerin „Emotionale Regulation“

3.3Das DI•ARS-Modell in der Anwendung: Coaching

3.4Interventionen: Eine Übersicht

3.4.1Vom Holismus zur Detailtreue

3.4.2Von der Detailtreue zum Holismus

3.4.3Von der Motivation/Intention zum Tun

3.4.4Vom Tun zur Motivation/Intention

4„Erleichterer“ für die dialogische Beratung

4.1Aktives Zuhören

4.2Synchronisierung auf (körper-)sprachlicher Ebene

4.3Humor und humorgeleitete Provokation

4.4Bildhafte Sprache mit allen Sinnen und Pausen im Präsens

4.5Vage Sprache

4.6Persönlichkeitsanteile wahrnehmen

4.7Denkprozesse anstatt Denkprodukte

4.8Verschränkung von Ausdrucksebenen: Sprache, Bilder, Gefühle

5Rahmenbedingungen dialogischer Gesprächsführung in der Gruppe

5.1Symbole und Regeln

5.1.1Hierarchie vernichtet Dialog

5.1.2Das Redesymbol

5.1.3Die Mitte

5.2Vielfalt im Gruppendialog

6Grundkompetenzen einer dialogischen Berater-Haltung

6.1Der Umgang mit widersprüchlichen Wahrnehmungen

6.2Erkunden und Plädieren

6.3Systemisches Denken

6.4Zwölf dialogische Kompetenzbereiche

7Fallbeispiele dialogischer Prozesse

7.1Dialog in der Gruppe

7.2Das DI•ARS-Modell als Tool für Führungsaufgaben

8Praktische Übungen zur dialogischen Kompetenzerweiterung

8.1Übungen zur Stärkung des Feldes „Holismus“

8.2Übungen zur Stärkung des Feldes „Detailtreue“

8.3Übungen zur Stärkung des Feldes „Motivation/Intention“

8.4Übungen zur Stärkung des Feldes „Tun“

8.5Übungen zum Suspendieren von Annahmen

8.6Übungen zum Entschleunigen, Schweigen und Zuhören

8.7Übungen zu Beobachten versus Bewerten

8.8Übungen zum Verändern von Mustern

8.9Übungen zu mentalen Modellen

Nachwort

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Quellenverzeichnis für Abbildungen und Tabellen

Literaturverzeichnis

Zum Autor

Personenregister

Sachregister

Vorwort

Der Dialog als Kommunikationshaltung findet seit den 1990er-Jahren auch im deutschen Sprachraum immer mehr Zuspruch. Dabei ist gar nicht klar, was mit „Dialog“ gemeint ist, solange man den Begriff nicht irgendwie definiert und anhand praktischer Beispiele erklärt. So unterschiedlich wie die (theoretischen) Zugänge sind auch die Anwendungsfelder und Zielgruppen der „Dialoge“.

Seit meinem ersten Dialogbuch („Psychologie des Dialogs“), erschienen 2011 in diesem Verlag, hat sich mein persönlicher Zugang verändert, auch – aber nicht nur – weil ich vieles aus dem Bohm’schen Dialog-Gerüst für mich adaptiert und mit eigenen Erfahrungen aus der Beratungspraxis als Arbeits- und Wirtschaftspsychologe kombiniert habe. Im Laufe der Jahre war für mich vieles, von dem ich früher überzeugt war, unwichtig, oft auch unbrauchbar geworden. So halte ich den „weichen“ dialogischen Zugang (und dabei geht es keineswegs immer um Kerzen, Blumenkränze und Kreistänze) zwar im privaten Bereich durchaus für spannend und sinnvoll, im Kontext von Organisationen und professioneller Beratung von Gruppen und Einzelpersonen ist er jedoch zumeist ungeeignet.

Transferiert man diese weicheren dialogischen Ansätze also in Unternehmen, verlieren sie oft ihre Einzigartigkeit, auch wenn das Vorgehen auf seriösen Fundamenten aufgebaut ist. Sie sind mehr alter Wein in neuen Schläuchen als das, was einen Dialogprozess im Bohm’schen Sinn ausmacht. Dieser nimmt sehr viel Zeit in Anspruch und erfordert ein hohes Maß an Anstrengung, Überzeugungsarbeit und Geduld. Die daraus entstehenden längerfristigen Konsequenzen wären für gewinnorientierte Unternehmen durchaus die Mühe wert, aber das ist ein eigenes Thema …

So haben für mich die klassischen Rahmenbedingungen, unter denen Dialoge meist stattfinden und wie sie von vielen Autoren – nicht nur von David Bohm – kommuniziert werden, mittlerweile an Bedeutung eingebüßt. An ihre Stelle ist eine bestimmte „dialogische Grundhaltung“ gerückt, die von diesen Rahmenbedingungen nahezu unberührt bleibt. Dies ist sicher zu einem erheblichen Teil meinem gewachsenen Interesse an der Arbeit mit Hypnose sowie der psychologischen PSI-Theorie (Persönlichkeits-System-Interaktionen) von Julius Kuhl geschuldet, dessen Ansatz zur Erklärung der menschlichen Persönlichkeit ich aus zwei Gründen für enorm wichtig halte: Zum einen ist sie wissenschaftlich hochseriös, philosophisch sowie erkenntnistheoretisch außerordentlich spannend und zudem in vielen Bereichen empirisch fundiert. Zum anderen hat Kuhl aus vielen bekannten Theorien und Modellen das Beste genommen, in die PSI-Theorie integriert und daraus (v. a. in Zusammenarbeit mit Maja Storch) praktisch umsetzbare Prozesse abgeleitet. Ich halte es für bedauerlich, dass die PSI-Theorie in der universitären Lehre, zumindest in Österreich, noch nicht wirklich angekommen ist. Jedenfalls bildet sie die Grundlage (und viel mehr) für die Vernetzungen mit meinen eigenen beraterischen Erfahrungen und hypnosystemischen Zugängen, was bei der Lektüre des Kapitels über das DI•ARS-Modell für jeden sofort ersichtlich sein wird, der schon Bekanntschaft mit der PSI-Theorie gemacht hat. Ebenso hat mich die Arbeit von Manfred Prior sehr positiv beeinflusst, was sich wohl bei der Lektüre über die „Erleichterer“ in diesem Buch und in Kenntnis von Priors Werken und Seminaren unmittelbar erschließt.

Das DI•ARS-Modell hilft mir dabei, meine Beratungs- und Coachingprozesse zu strukturieren und gleichzeitig wichtige dialogische Prinzipien in der Arbeit mit meinen Klienten nie außer Acht zu lassen. Aus diesem Grund nimmt es einen breiten Raum im Buch ein. Das ist das Schöne am Beraterberuf: Letztlich lernt man bei der Arbeit mit Menschen ständig dazu und durchlebt kontinuierlich Entwicklungsprozesse, was gerade aus dialogischer Sicht wesentlich ist für die Qualität der Arbeit. Wenn in der Literatur von der „Haltung des Lernenden“ die Rede ist, zielt dies genau darauf ab.

Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei meinem alten Studienfreund Rudi Adamcyk für die kritische Durchsicht einiger Kapitel und wertvolle Anregungen, die mein Denken stets sehr bereichern, und bei Mag. Attila Amon, der bereit war, zwei Fallbeispiele zu Papier zu bringen, die darstellen, wie er das DI•ARS-Modell im Rahmen der Mitarbeiterführung praktisch einsetzt. Mein Dank gilt auch MMag. Dr. Sigrid Mannsberger-Nindl vom Facultas Verlag, die als verlässliche Ansprechpartnerin nun schon bei meinem vierten Buch den Entstehungsprozess im bestmöglichen Sinn unterstützt hat.

Waidhofen an der Thaya, im Mai 2020

Dr. Michael Benesch

Anmerkung:

Auf geschlechtergerechte Formulierungen wird im Text zur besseren Lesbarkeit verzichtet, personenbezogene Begriffe beziehen sich stets auf alle Geschlechter.

Prolog: Der Dialog in Beratung und Coaching

Das Wort Dialog steht praktisch synonym für Unterredung, für mündliche oder schriftliche Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Personen, mit abgeleiteten Begriffen wie Monolog, Trialog oder Polylog. Bekannt ist der sogenannte Sokratische Dialog, dessen Ziel es ist, durch geschicktes Fragen dem Gegenüber dabei zu helfen, verborgene Erkenntnisse zu gewinnen, Verschüttetes an die Oberfläche zu befördern und so einer Problemlösung zugänglich zu machen. Man spricht von der Mäeutik, der Hebammenkunst, weil man – einer Hebamme gleich – neuen Gedanken zur Geburt verhilft.

Zum Dialog, meist verbunden mit dem Namen David Bohm (und Martin Buber als Quelle für philosophische Grundlagen des Dialogs, wenngleich der US-amerikanische Physiker Bohm den Namen des jüdischen Religionsphilosophen Buber höchstwahrscheinlich gar nicht kannte), gibt es mittlerweile eine Reihe von Büchern, es werden Seminare und Ausbildungen angeboten, Dialog-Runden im öffentlichen wie privaten Raum und vieles mehr veranstaltet. Ein allgemein akzeptierter, einheitlicher Rahmen für den „Dialog“ ist nicht vorhanden, es gibt keine kongruente oder gar empirisch fundierte Theorie dahinter, sondern eben viele Zugänge aus ganz unterschiedlichen Richtungen. Deshalb muss, möchte man sicherstellen, vom Gleichen zu sprechen, der Begriff Dialog definiert werden: Was versteht man darunter? Gibt es Rahmenbedingungen, unter welchen dialogisiert wird? Orientieren wir uns an dem sehr offenen Zugang von David Bohm oder blicken wir zu William Isaacs, der (am Massachusetts Institute of Technology in Boston) einen an den Begriff der Lernenden Organisation angelehnten Dialog-Zugang entwickelt hat?

Hat man für sich eine Idee, eine einigermaßen konsistente Definition von „Dialog“ entwickelt, kann man nach Wegen suchen, diese Idee in eigenen Beratungsprozessen so umzusetzen, dass man – und dies ist besonders wichtig – zum einen authentisch mit der eigenen Persönlichkeit und zum anderen mit klaren, überlegten Zielen vor Augen willensstark den eigenen Weg als „dialogischer Berater“ zu gehen vermag.

Dass es keine empirische „Dialog-Theorie“ gibt und somit auch jeder vollkommen frei ist, den Dialog in seinem Sinne zu verwenden, ist einerseits eine Chance, andererseits aber eben auch mit der Notwendigkeit verbunden, zunächst klarzustellen, was man unter Dialog versteht. Wer ein Dialog-Seminar bucht, kann sich in der Situation wiederfinden, unter freiem Himmel, bei Lagerfeuer und Tänzen der germanischen Muttergöttin Frigg zu huldigen oder auch in einem neutralen Besprechungsraum mit Flip-Chart und Beamer zu sitzen und sachlich dialogische Ideen, Ansätze, Prinzipien und Abläufe zu besprechen und einzuüben, mit dem Ziel, die Gesprächskultur im Unternehmen zu verbessern. Es kann sein, dass die Vertreter ersteren Zugangs das, was sich im Besprechungsraum abspielt, gar nicht als dialogisch in ihrem Sinn verstehen und vice versa. Oft liegen dem persönlichen Dialog-Begriff (auch implizite) Annahmen zugrunde, die – gar nicht dialogisch – verteidigt werden. Alles ist möglich, was auch gut ist, denn jeder Topf soll die Chance haben, seinen Deckel zu finden, und jeder kann sich frei entscheiden, in welche Richtung er gehen möchte. Die Welt ist vielfältig.

Wie immer man den Dialog definieren möchte, es gibt wohl eine Reihe von Charakteristika, welche von den meisten Anwendern als zentral aufgefasst werden. Exemplarisch seien erwähnt: nicht durcheinander sprechen (egal, ob man ein Redesymbol verwendet oder nicht), alle Ansichten sind bedeutsam, man begegnet den anderen mit einem gewissen Respekt (auch wenn es manchmal schwerfällt), Buber’sche Gedanken vom Ich und Du werden zumindest gestreift und es sollen Denkprozesse sichtbar gemacht und nicht nur Meinungen verteidigt werden (was wiederum bedingt, dass man sich an gewisse Grundsätze in der Gesprächsführung hält).

Dabei ist es überhaupt nicht von Bedeutung, ob zwei Individuen versuchen, miteinander „dialogisch“ umzugehen, oder ob es sich um eine Gruppe von 40 Personen handelt – oder ob man daran geht, dialogische Prinzipien auf sich selbst anzuwenden. Wesentlich ist das kreative, offene Kommunikationsfeld, das bis zu einem gewissen Maß das Unbestimmte, Unvorhersehbare, man kann sagen: das Chaotische, zulässt – natürlich innerhalb gewisser Grenzen.

Der Mensch, so auch der Rat- oder Hilfesuchende, hat oft Angst vor dem unerforschten Gebiet, aber bringt (hoffentlich) die Neugier mit, es zu betreten, ebenso wie der Berater. In einem derartigen sozialen Interaktionsprozess muss eine Balance gefunden werden zwischen kreativem Chaos und geregelten Bedingungen. Wenn man glaubt, alles kontrollieren zu müssen, ist dies das Ende jedweder Kreativität. Der dialogische Zugang bedeutet auch die Suche nach dieser Balance zwischen dem angstmachenden, unerforschten, wilden Gebiet und der ordnenden, vertrauten, ritualgeprägten kulturellen Welt des Vorhersehbaren und Vertrauten.

Im vorliegenden Buch werden zwei Ansätze verfolgt. Zum einen geht es um die „Psychologie des Dialogs“: um Denkprozesse, verzerrte Wahrnehmungen, soziale Einflüsse auf die Kommunikation, die Rolle von Intuition und Emotionen und dergleichen. Es ist wichtig, sich als Berater damit zu beschäftigen, welche Strukturen und Muster unserem Denken zugrunde liegen. Zum anderen werden Wege aufgezeigt, die einen Berater, der seine Tätigkeit dialogischer gestalten möchte, dabei unterstützen können. Das DI•ARS-Beratungsmodell liefert dafür eine Struktur, weil es den Berater immer wieder daran erinnert, sich Hypothesen zu bilden, die auch wieder verworfen werden können (und sollen, alleine schon deshalb, weil sich Menschen und Situationen verändern), und weil es die Komplexität des Beratungsgeschehens mithilfe eines relativ einfachen Modells herunterbricht, was zur Übersichtlichkeit beiträgt.

Diesen beiden Ansätzen nähert sich das Buch in drei Schritten: Zunächst werden in Kapitel 1, 2 und 3 die Grundlagen ausgeführt. Dabei geht es einerseits um ausgesuchte Aspekte der Psychologie, darum zu verstehen, was unser Verhalten und unsere Wahrnehmung sowohl als Individuum als auch als soziales Wesen in der Gruppe ausmacht. Zum anderen werden die wesentlichen Begriffe des Dialogs nach David Bohm sowie das DI•ARS-Modell vorgestellt, das dabei unterstützen soll, dialogische Prinzipien in der Beratungspraxis zu implementieren. Während der Dialog in der Tradition von David Bohm auf Gruppenprozesse fokussiert, bietet sich das DI•ARS-Modell in erster Linie für individuelle Beratungs- bzw. Coachingsituationen an.

In einem zweiten Schritt werden in den Kapiteln 4, 5 und 6 Wege bzw. Bausteine erläutert, welche die dialogische Beratung unterstützen und intensivieren können. Die vorgestellten „Erleichterer“ aus unterschiedlichen beraterischen Zugängen, die dialogischen Rahmenbedingungen sowie die dialogischen Kompetenzen des Beraters beziehen sich dabei besonders auf die individuelle Beratung (Kapitel 4 und 6) und auf Gruppensituationen (Kapitel 5).

Kapitel 7 und 8 widmen sich schließlich der praktischen Umsetzung. Fallbeispiele zeigen, wie der Gruppendialog im betrieblichen Managementkontext und das DI•ARS-Modell in der Einzelberatung umgesetzt werden können. Eine Vielzahl von Übungen liefert Anregungen für dialogische Beratung in der professionellen Beratungspraxis, aber durchaus auch für den privaten Bereich.

Im Buch werden immer wieder die Begriffe „Energie“, „Selbst“ und „Unbewusstes“ verwendet. Ich benutze diese Worte in einem alltagssprachlichen Sinn. Über „Energie“ als psychologischen Begriff kann man lange diskutieren, obgleich es im normalen Wortgebrauch überhaupt nicht problematisch ist zu sagen: „Energie fließt von einem psychischen System in ein anderes“ – man weiß, was damit gemeint ist.

Das „Unbewusste“ war für Freud1 eher ein Ort („psychischer Ort“: auch das ein gewaltiger Begriff, der schnell einmal so dahingesagt ist) verdrängter, dunkler Inhalte. Im vorliegenden Buch ist mit dem Unbewussten ein solcher gerade nicht gemeint, sondern etwas sehr Positives, „Weises“, ein weit verzweigtes und großteils zumindest im Moment nicht bewusstes Netzwerk von Erfahrungen, Ideen, Phantasien, intelligenten Intuitionen und Lösungswegen, Gefühlen und vielem mehr, auf das wir im Grunde zugreifen können. Das „Selbst“ als Konstrukt ist in diesem Unbewussten angesiedelt, aber weder das Selbst noch das Unbewusste sollten verdinglicht werden. Es handelt sich schlicht um Hilfskonstruktionen, damit Begriffe zur Verfügung stehen, über die man sich austauschen kann. Es gibt keine Orte, an denen sich „Dinge“ wie das Unbewusste oder das Selbst aufhalten. Deshalb plädiere ich dafür, mit diesen Begriffen locker und nicht zu streng umzugehen, denn solch eine Lockerheit bereitet auf einer alltagssprachlichen Ebene üblicherweise keine Probleme. Die Begriffe stehen einfach für psychische Funktionen, man benutzt sie, um Konstruktionen zu beschreiben. Und wir sind daran gewöhnt: Alltagssprachlich hat wohl kaum jemand ein Problem mit Begriffen wie Liebe, Freundschaft, Feindseligkeit oder Glück. Wir können uns wunderbar darüber unterhalten, so wie wir sagen: „Ich stehe auf der Mariahilfer Straße“, obwohl wir unser Auto meinen. Die Wissenschaft verkompliziert Benennungen notwendigerweise und aus guten Gründen, aber im Rahmen des vorliegenden Buches ist meiner Meinung nach der alltagssprachliche Zugang zu solch schwierigen Begriffen vollkommen ausreichend.

1 Psychologie und Dialog

Wenn Sie Abbildung 1 betrachten, werden Sie – wie über 90 Prozent aller Erwachsenen – ein Liebespaar erkennen.2

Bei genauerem Hinsehen werden Ihnen aber ebenso Delphine auffallen, das Bild vermittelt Doppelbotschaften. Wir haben die Darstellung auch Kindern im Alter von ca. vier bis acht Jahren vorgelegt, mit dem Ergebnis, dass über 80 Prozent tatsächlich zuallererst die Tiere sahen und nicht zwei Liebende. Die Art der Wahrnehmung von Informationen, deren Verarbeitung und schließlich auch die Konstruktion von Normen und Wertmaßstäben ist ein Resultat primär sozialer Interaktionsprozesse. Die Rolle der Sozialisation für unsere (sinnliche) Wahrnehmung und Heranbildung von Verhaltensweisen und Wertvorstellungen kann kaum überschätzt werden.

Abb. 1: Eine mehrdeutige Botschaft: Delphine oder Liebespaar? (© Sandro Del-Prete)

Wenn wir zunächst einmal vom Einfluss der Sozialisation auf unsere Werte und Normen absehen und einigermaßen banale Wahrnehmungstatsachen betrachten, so stoßen wir gleich auf sehr interessante und bezeichnende Phänomene. In replizierten Experimenten wurde nachgewiesen, dass Kinder aus der sogenannten Unterschicht Geldmünzen anders, nämlich größer, einschätzen als Kinder aus wohlhabenden Gesellschaftsschichten. Der Grad der Valenz eines Objektes, hier also der Münzen, beeinflusst tatsächlich die subjektive Größenschätzung (Zimbardo 1992, S. 185).

Der US-amerikanische Philosoph und Psychologe George Herbert Mead3 stellte bereits vor über 100 Jahren in seiner Theorie des symbolisch vermittelten Interaktionismus die Abhängigkeit der Entwicklung des individuellen Denkens von der Gesellschaft, ihren Normen und Werten fest und kam zu dem Schluss, dass der Mensch notwendigerweise eine ethnozentrische Weltauffassung haben müsse. Die Werte der Gesellschaft werden also aufgenommen, adaptiert, ausprobiert und damit aber auch gefestigt. „Der Heranwachsende [adaptiert] letztendlich auch deren [gemeint ist die Bezugsgruppe] Weltanschauung und damit den (vor-)theoretischen Hintergrund und die Vernunftsgrundsätze, mit denen er sich ,die Welt‘ erklärt“ (Stavemann 2007, S. 56). Als Menschen sind wir nahezu ständig auf der Suche nach Erklärungen für die Welt. Wir hätten gerne Antworten auf die Warum-Fragen unseres Lebens: Warum bevorzugt diese Frau einen anderen? Aus welchem Grund bin nicht ich Abteilungsleiter geworden? Warum kommt die Person, mit der ich einen Termin habe, zu spät?

Der Mensch sucht nach kausalen Faktoren für Verhaltensweisen, Ereignisse und Ergebnisse. Der österreichische Gestaltpsychologe Fritz Heider formulierte in den 1960er-Jahren mit der Attributionstheorie eine der bekanntesten psychologischen Theorien im Zusammenhang mit sozialen Kognitionen und Beziehungen. Zur Attributionstheorie gibt es mittlerweile Tausende von Studien, ihre Aussagen gelten empirisch als sehr gut gesichert.

Die Attributionstheorie ist „ein allgemeiner Ansatz zur Beschreibung der Art und Weise, in der ein sozial Wahrnehmender Informationen nutzt, um kausale Erklärungen zu generieren“ (Gerrig/Zimbardo 2008, S. 637). Heider zufolge stellen wir primär zwei Fragen:

a) Liegen die Ursachen in der Person (internale oder dispositionale Kausalität) oder in der Situation (externale oder situationale Kausalität)?

b) Wer ist für das Ergebnis verantwortlich?

Harold Kelley erweiterte die Attributionstheorie und stellte fest, dass die Menschen vor allem in Situationen der Unsicherheit Kausalattributionen4 vornehmen. Wir kämpfen mit diesen Unsicherheiten, aber haben fast nie ausreichende Informationen zur Erklärung von Ereignissen oder Verhaltensweisen, weswegen wir – nach Kelley – das Kovariationsprinzip anwenden: Der Mensch schreibt zur Erklärung die von ihm beobachteten Verhaltensweisen und Ereignisse einem Kausalfaktor zu, „wenn dieser Faktor immer dann gegeben war, wenn das Verhalten aufgetreten ist, aber nicht gegeben war, wenn das Verhalten nicht aufgetreten ist“ (ebd., S. 638).

Ein Beispiel: Ein Arbeitskollege kommt verspätet in eine wichtige Teambesprechung. Alle waren pünktlich da, nur er nicht. Welche Überlegungen würden Sie anstellen, um herauszufinden, was da los ist?

Nach Kelley sind es vor allem drei Dimensionen, die wir heranziehen, um Verhalten zu erklären:

a) Distinktheit: Ist das Verhalten spezifisch für eine bestimmte Situation – ist er in der Regel pünktlich oder unpünktlich?

b) Konsistenz: Tritt dieses Verhalten wiederholt als Reaktion auf diese Situation auf – ist er in der Vergangenheit pünktlich gekommen?

c) Konsens: Zeigen andere Menschen auch dieses Verhalten in einer vergleichbaren Situation – kommen die anderen normalerweise pünktlich oder unpünktlich?

Welches der beiden Erklärungsmodelle würden Sie eher wählen:

Er hat gerade erfahren, dass sein Auto gestohlen wurde.

Er soll sich zusammennehmen und zu einer so wichtigen Besprechung pünktlich kommen.

Im Durchschnitt wählen die meisten Menschen eher die zweite Erklärung, die sich auf eine Disposition bezieht: Die Ursache liegt im Menschen und nicht in der Situation. Da diese Tendenz sehr stark ist, hat der Sozialpsychologe Lee Ross sie als den fundamentalen Attributionsfehler bezeichnet. Wir neigen dazu, menschliche Faktoren über- und Situationsfaktoren unterzubewerten, mit anderen Worten: Der Mensch ist eher verantwortlich als die Umwelt.

Weitere Beispiele solcher Verzerrungen sind der Self-Serving Bias und die Self-Fulfilling Prophecies. Self-Serving Bias bedeutet: Menschen neigen dazu, die Verantwortung für Misserfolge anderweitig zu suchen, etwa bei anderen Menschen oder der Situation an sich. Das Konzept der selbsterfüllenden Prophezeiungen sagt aus, dass wir unser Verhalten oft so anpassen, dass unsere Erwartungen eben dadurch eintreten.

Ein Beispiel: Wird jemand zu einer „kreativen Besprechung“ eingeladen, wo er für ihn ungewohnt im Kreis sitzen und mit einem Redesymbol hantieren soll, und empfindet diese Person solche Umstände als „irgendwie blöd“, kann es passieren, dass er durch sein Verhalten die Besprechung aktiv in eine Richtung lenkt, die seine ablehnenden Vorerwartungen voll bestätigt.

Warum sind psychologische Theorien wie die Attributionstheorie und ihre Verfeinerungen, beispielsweise das Kovariationsprinzip, als Modell für den Dialog wichtig? Sie sind es vor allem deshalb, weil wir sehr anfällig sind für Verzerrungen in unserer Wahrnehmung und unserem Denken, die uns aber zumeist eben nicht bewusst sind! Darin liegen gewisse Gefahren und der Dialog gibt uns viele Möglichkeiten, durch das gemeinsame Denken und die dadurch angeregte Innenschau diese Biasquellen5 zielgerichtet zu reflektieren und sie bis zu einem gewissen Maß zu überwinden. Prinzipien wie das „Inder-Schwebe-Halten von Annahmen“ (siehe S. 151) oder die „Leiter der Schlussfolgerungen“ (siehe S. 58) sind dabei hilfreich.

1.1 Theory of Mind

Unter Theory of Mind versteht man die Fähigkeit, sich in andere Personen hineinzuversetzen, um deren Gefühle, Wünsche, Absichten usw. zu verstehen. Wir entwickeln normalerweise so etwas wie eine Theorie über das, was in anderen vorgeht – eine Theory of Mind. Dass wir dazu in der Lage sind, „ist die Grundlage sozialen, ,sittlichen‘ Verhaltens. Ohne Interesse am anderen, ohne Gefühl für dessen Bedürfnisse und ohne differenziertes Verständnis seiner Perspektiven entwickeln sich weder Mitgefühl noch Rücksicht oder Respekt“ (Förstl 2007, S. 4). Verwandte Konzepte zur Theory of Mind sind beispielsweise:6

Empathie: Das Verhalten anderer löst Resonanz, Einfühlung aus, bis hin zu teilweiser Identifikation. Man übernimmt also – unter Wahrung einer beobachtenden Distanz – die Innenperspektive einer anderen Person. Dem liegt wohl das Bestreben zugrunde, Informationen über Menschen, mit denen wir zu tun haben, einzuholen und zu beurteilen. Wir versetzen uns also in einen anderen hinein, auch um sein Verhalten zu verstehen. Ursprünglich bezog sich der Begriff auf das Verstehen von Kunstwerken.

Mimesis: Man versucht, durch Nachahmung eine Annäherung an die Innenperspektive zu erreichen.

Alltagspsychologie: Darunter versteht man die Neigung, etwa Personen oder Zustände mit „psychologisierenden“ Begriffen zu beschreiben. So könnte beispielsweise das Verhalten einer Person, in einer Gruppe zu schweigen, als Ausdruck von „Minderwertigkeitskomplexen“ erklärt werden.

Zweifellos haben wir das Bedürfnis, eine gewisse Sicherheit oder Stabilität zu erfahren. Wir möchten relevante Ereignisse in der Umwelt vorhersagen. Sieht mich eine andere Person auf eine Weise an, die ich als aggressiv deute, gehe ich von einer erhöhten Gefahr aus – vielleicht schlägt diese Person zu. Es liegt ein „Vorteil in der Berechnung fremder Absichten […] und sogar im eigenen Verhalten gegenüber anderen Lebewesen [...], als hätten diese ein ähnliches Innenleben mit vergleichbaren Denk- und Handlungsprinzipien wie wir selbst“.7

Es geht also sehr darum, möglichst viele Informationen über die Umwelt und die Menschen darin zu sammeln. Wem diese Fähigkeit fehlt, etwa den sogenannten „Savants“, kann sich in der Umwelt mit ihren komplexen sozialen Beziehungsmustern nicht zurechtfinden: Menschen mit dem Savant-Syndrom können in sehr eingeschränkten Bereichen überdurchschnittliche Leistungen erbringen (etwa ganze Gebäude nach kurzer Betrachtungszeit detailgetreu zeichnen), aber sind in der Regel mehr oder weniger unfähig für ein „normales“ Beziehungsleben. Dies wurde schon als Beleg dafür herangezogen, dass die Theory-of-Mind-Leistungen einen sehr großen Teil unserer kognitiven Ressourcen einnehmen.

Bereits in den 1950er-Jahren konnte nachgewiesen werden, „dass das Betrachten von Filmsequenzen zu ähnlichen elektroenzephalografischen Änderungen führte wie selbstinitiierte Handlungen“.8 Der Mensch ist normalerweise gut in der Lage nachzuempfinden, was in einem anderen vorgeht oder vorgehen könnte, und erstaunlicherweise kann die bloße Vorstellung alleine schon körperlich messbare Wirkungen entfalten. Diese messbaren Wirkungen sind von denen, die auftreten, wenn sie selbst durchgeführt werden, kaum bis gar nicht unterscheidbar. Das führt uns zu einem kurzen Ausflug in die Welt der Spiegelneurone.

1.2 Spiegelneurone

Es ist eine gar nicht neue Entdeckung, dass Menschen, die irgendwie miteinander in Kontakt stehen, sehr oft Handlungen zeigen, die nahezu parallel ablaufen. Das Gähnen ist ein viel zitiertes Beispiel: Es ist ansteckend. Oder beobachten Sie einmal einen Erwachsenen, der mit einem Kleinkind kommuniziert: Seine Stimme wird höher, ähnlicher der eines Kindes, und er beugt sich nach unten, um sich auch größenmäßig dem Kind anzugleichen. Ja selbst wenn wir ein Kind mit dem Löffel füttern, öffnen wir selbst den Mund, wenn wir Blickkontakt haben.

Giacomo Rizzolatti von der Universität Parma hat in den 1990er-Jahren anhand von Experimenten mit Affen Entdeckungen gemacht, die vor allem in den letzten zwanzig Jahren eine unglaubliche Resonanz auslösten. Er beobachtete, dass bestimmte Nervenzellen im Gehirn, die für die Ausführung einer Handlung zuständig sind, auch dann aktiv werden, wenn der Affe diese Handlung bei einem anderen Affen nur beobachtete! „Die Beobachtung einer durch einen anderen vollzogenen Handlung aktivierte im Beobachter […] genau das Programm, das die beobachtete Handlung bei ihm selbst zur Ausführung bringen könnte“ (Bauer 2006, S. 22). Derartige Zellen, die ein Programm auch dann aktivieren können, wenn man die Handlung nur beobachtet, bezeichnet man als Spiegelneurone.

Aber das noch Erstaunlichere: „Beim Menschen genügt es zu hören, wie von einer Handlung gesprochen wird, um die Spiegelneurone in Resonanz treten zu lassen“ (ebd., S. 24), und es wurde sogar nachgewiesen, dass es genügen kann, sich eine betreffende Handlung nur vorzustellen (allerdings sind die Effekte dann geringer). Die Spiegelneurone entfalten ihre Wirkung auch bei Gefühlen. Bereits Charles Darwin hat darüber geschrieben, dass sich die meisten emotionalen Reaktionen im Lauf der Evolution aufgrund ihres Nutzens herausgebildet haben und „dass es daher nicht überraschend ist, dass sie von Art zu Art und innerhalb der menschlichen Art von einer Kultur zur anderen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit aufweisen“ (Rizzolatti/Sinigaglia 2008, S. 175).

Ein Beispiel: Ekel ist zweifellos eine sehr alte, überlebenswichtige Emotion (man bedenke, dass das Verspeisen verdorbener Nahrung gefährlich ist). Es stellt sich die Frage: Aktivieren das Ekel ausdrückende Gesicht einer anderen Person und das eigene Empfinden von Ekel exakt die gleichen Regionen im Mechanismus der Spiegelneurone?

Genau das ist der Fall, wie Rizzolatti berichtet (ebd., S. 182). Wenn Versuchspersonen den ekligen Gerüchen direkt ausgesetzt sind, werden u. a. Teile in der rechten und linken Insel aktiviert, und dasselbe geschieht, wenn der Ekel der Personen nur im Video, also rein visuell wahrgenommen wird. Dabei stellte Rizzolatti auch fest, dass der Mandelkern, welcher für Angstempfindungen wichtig ist, beim wahrgenommenen Ekel keine Rolle spielt.

Diese und viele andere Untersuchungen zeigen eindrucksvoll, wie sehr das Verstehen von Emotionen anderer Personen von diesen Spiegelmechanismen abhängt. Rein sensorische Informationen können von den Spiegelneuronen direkt kodiert werden!

Der Spiegelmechanismus ermöglicht es unserem Gehirn, „direkt zu erkennen, was wir anderen tun, sehen, hören oder uns vorstellen, das aktiviert dieselben neuralen […] Strukturen, die für unsere Handlungen oder unsere eigenen Emotionen verantwortlich sind“ (ebd., S. 188).

1.3 Heuristiken, Automatismen und Bauchgefühl

Ein auch für den Dialog äußerst spannendes Thema sind die kognitiven Schnellschüsse, also die sehr rasch ablaufenden Bewertungen beispielsweise von Situationen bei unzureichender Information, sowie das sogenannte „Bauchgefühl“. Bei der Vielzahl an Informationen und unter Berücksichtigung des Umstandes, dass unser Gehirn so arbeitet, wie es arbeitet – mit all den Konstruktionen, die es gemäß seiner Beschaffenheit herstellen muss –, ist es klar, dass wir nur einen kleinen Ausschnitt der uns zur Verfügung stehenden Informationen nutzen können.

Cialdini (Cialdini 2006, S. 336) berichtet von einem amüsanten Wortwechsel zwischen Frank Zappa und dem US-amerikanischen Showmaster Joe Pyne (der eine Beinprothese trug), welcher berühmt dafür war, seinen Gästen mit provozierenden Bemerkungen zu begegnen:

„Pyne: Ich würde sagen, Sie mit Ihren langen Haaren müssten eigentlich eine Frau sein. Zappa: Ich würde sagen, Sie mit Ihrem Holzbein müssten eigentlich ein Tisch sein.“

Natürlich schließen wir, gerade im Alltagsleben, von einigen wenigen Hinweisreizen auf etwas dahinterstehendes Größeres. Wir werden in diesem Buch sehr viele Beispiele dafür kennenlernen und die zugrunde liegenden Mechanismen samt ihren Risiken besprechen. Sehr oft verlassen wir uns bei unseren Einschätzungen auf unser „Bauchgefühl“ und das ist in vielen Fällen auch sehr gut so. Zum einen sind die Wechselwirkungen zwischen dem sogenannten „Verstand“ und unseren Emotionen massiv, zum anderen gibt es Situationen im Leben, in denen eine „rein rationale“ Entscheidungsfindung schlicht lächerlich wäre – wenn man nicht sowieso davon ausgeht, dass diese in unserem Kulturkreis übliche historisch bedingte Trennung von Gefühl und Verstand mehr als entbehrlich ist.

Bei Gerd Gigerenzer (Gigerenzer 2007, S. 13) ist eine nette Anekdote zu lesen – und zwar über einen Ratschlag, den Benjamin Franklin einem Neffen gegeben hatte, der sich nicht zwischen zwei Frauen entscheiden konnte:

„Wenn du zweifelst, notiere alle Gründe, pro und contra, in zwei nebeneinanderliegenden Spalten auf einem Blatt Papier, und nachdem du sie zwei oder drei Tage bedacht hast, führe eine Operation aus, die manchen algebraischen Aufgaben ähnelt; prüfe, welche Gründe oder Motive in der einen Spalte denen in der anderen an Wichtigkeit entsprechen – eins zu eins, eins zu zwei, zwei zu drei oder wie auch immer –, und wenn du alle Gleichwertigkeiten auf beiden Seiten gestrichen hast, kannst du sehen, wo noch ein Rest bleibt. […] Dieser Art moralischer Algebra habe ich mich häufig in wichtigen und zweifelhaften Angelegenheiten bedient, und obwohl sie nicht mathematisch exakt sein kann, hat sie sich für mich häufig als außerordentlich nützlich erwiesen. Nebenbei bemerkt, wenn du sie nicht lernst, wirst du dich, fürchte ich, nie verheiraten.

Dein dich liebender Onkel

B. Franklin“

Gerade in der heutigen Zeit, in der so viel Wert auf quantitative Daten gelegt wird, also darauf, auch komplexe und im Grunde nur intuitiv zu erfassende Zusammenhänge in Form von Zahlenmaterial darzustellen, kann es zu kuriosen Erscheinungen kommen, wenn etwas sehr Intuitives beispielsweise in Formeln gepresst wird. Ein nettes Beispiel dafür findet sich selbst bei dem „urtypischen“ wahrnehmend-beobachtenden Naturforscher Konrad Lorenz, der sich bekanntermaßen gegen diese quantifizierenden, statistischen Methoden verwahrt hat.9 Er unternahm den Versuch, den Umstand, dass wir uns emotional vom Verhalten eines Tieres angesprochen fühlen, in einer Wahrscheinlichkeitsformel auszudrücken (Lorenz 1988, S. 291):

„Wenn wir uns vom Verhalten eines Tieres emotional angesprochen fühlen, ist das ein sicherer Indikator dafür, daß wir intuitiv eine Ähnlichkeit zwischen tierischem und menschlichem Verhalten entdeckt haben […] Die Ähnlichkeit ist wissenschaftlich erfaßbar:

bei n Merkmalen beträgt ihre Wahrscheinlichkeit

Wir können es ruhig wagen, gerade auch im Bereich des Zwischenmenschlichen, mehr auf unser Bauchgefühl zu hören und nicht immer nach Belegen zu suchen, die durch ihre ausgefeilte Methodik sehr wissenschaftlich und „objektiv“ aussehen. Gigerenzer (Gigerenzer 2007, S. 25) verwendet den Begriff „Bauchgefühl“ synonym mit Intuition und Ahnung,

„um ein Urteil zu bezeichnen,

1. das rasch im Bewusstsein auftaucht,

2. dessen tiefere Gründe uns auch nicht ganz bewusst sind und

3. das stark genug ist, um danach zu handeln.“

Das Bauchgefühl sei demnach nicht nur ein Impuls, sondern habe seine eigene Gesetzmäßigkeit und es bestehe aus zwei Elementen: aus a) einfachen Faustregeln, die sich b) evolvierte Fähigkeiten10 des Gehirns zunutze machen. Nehmen Sie folgendes Beispiel: Wenn man Sie fragen würde, welche Stadt mehr Einwohner hat – Detroit oder Milwaukee, was würden Sie antworten (ebd., S. 15)? Gerd Gigerenzer hat genau diese Frage sowohl seinen US-amerikanischen als auch seinen deutschen Studenten gestellt, mit dem Ergebnis, dass „praktisch alle [Deutschen] die richtige Antwort: Detroit [gaben]“ im Gegensatz zu nur 40 % der amerikanischen Studenten. Das ist irgendwie paradox, denn die deutschen Studenten wussten viel weniger über die amerikanische Geografie Bescheid als ihre Kollegen jenseits des großen Teiches. Viele Deutsche hatten – im Gegensatz zu den amerikanischen Studenten – noch nie etwas über Milwaukee gehört.

Die Lösung ist schlicht: Die Deutschen verließen sich auf einen Automatismus, den man als Rekognitionsheuristik bezeichnet. „Kennst du den Namen der einen, aber nicht den der anderen Stadt, dann schließe daraus, dass die dir bekannte Stadt die größere ist.“ Dieses Prinzip, diese Faustregel, war von den Amerikanern nicht anwendbar – sie wussten einfach zu viel über beide Städte. Natürlich kann man bei solchen intuitiven Urteilen auch total verkehrt liegen. Aber dieses Beispiel zeigt sehr schön, dass „ein gewisses Maß an Unwissenheit […] also durchaus von Wert sein [kann]“ (ebd., S. 16).

Menschen benutzen unterschiedliche Heuristiken, das sind einfache wie effiziente Regeln zur Beurteilung und Entscheidungsfindung. Sie passieren im Grunde „aus dem Bauch heraus“, oft sind wir nicht in der Lage zu erklären, warum wir eine Situation oder einen Menschen so und nicht anders einschätzen. Dabei lassen wir uns unbewusst gerne von Einflüssen leiten, die äußerst „irrational“ erscheinen.

Eine weitere, häufig verwendete Heuristik ist die Verfügbarkeitsheuristik. Nach dieser ist der Grad der Zugänglichkeit von Informationen die Grundlage für die Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten. Wird jemand gefragt, wie viele Ausländer in seinem Wohnort leben, und hat diese Person keine ausreichenden Daten zur Verfügung, wird sie sich an einzelne Ausländer zu erinnern versuchen. „Je mehr Personen dieser Kategorie ihm einfallen (und je schneller sie ihm einfallen), desto höher wird er ihre Häufigkeit einschätzen“ (Herkner 1996, S. 202).

Dan Ariely, Professor für Verhaltensökonomik am Massachusetts Institute of Technology in Boston, führte einmal ein amüsantes Experiment durch, das zeigt, welch kuriose Einflussfaktoren unsere Einschätzungen beeinflussen können (Ariely 2008, S. 49). Den Versuchspersonen wurden verschiedene Produkte gezeigt (u. a. ein schnurloser Trackball, eine schnurlose Tastatur mit Maus, ein Designbuch und eine Schachtel mit belgischen Pralinen). Anschließend mussten sie auf einem Blatt Papier, auf dem alle diese Produkte aufgelistet waren, angeben, wie viel sie maximal für diese Produkte zu zahlen bereit waren. Der entscheidende Punkt bestand allerdings darin, dass die Personen vorher ersucht wurden, auf das Blatt Papier die letzten beiden Zahlen ihrer Sozialversicherungsnummer zu schreiben (die amerikanischen Sozialversicherungsnummern enden nicht so wie die österreichischen mit dem Geburtsjahr).

Erstaunlicherweise gaben die Personen mit den höchsten Endziffern im Mittel die höchsten Gebote ab, jene mit den niedrigsten waren im Schnitt auch am wenigsten zu zahlen bereit. „Am Ende stellten wir fest, dass die Gebote […] mit Endziffern im Bereich der oberen 20 Prozent um 216 bis 346 Prozent höher lagen als die Gebote derjenigen, deren Endziffern im Bereich der unteren 20 Prozent lagen“ (ebd., S. 51). Dieser unbewusste Automatismus ist doch sehr erstaunlich und zeigt, wie stark wir von unbemerkten Einflüssen gelenkt werden können.

Bei diesem Beispiel handelt es sich nicht um eine Heuristik, sondern um das schlichte Setzen eines Ankerreizes. Solche Anker, unsere auf Heuristiken basierenden Urteile, all unsere kognitiven Schnellschüsse und Automatismen sind wesentliche Faktoren, die unsere Denkmuster, Verhaltensweisen und Beurteilungen mitbestimmen und denen wir uns in aller Regel kaum bis gar nicht entziehen können. Dies alles sollten wir bedenken, wenn wir es mit anderen Menschen zu tun haben – und natürlich auch, wenn wir es mit uns selbst zu tun haben.

1.4 Sozialer Druck

Meiner Meinung nach liegt eines der größten Versäumnisse in der Persönlichkeitspsychologie darin, die Einflüsse der Umwelt nicht in ausreichendem Maß zu beachten. Die typische Vorgehensweise, um ein Persönlichkeitsprofil eines Menschen zu erstellen, ist jene, die Person einen „wissenschaftlich fundierten“ Persönlichkeitsfragebogen ausfüllen zu lassen und dann, im Vergleich mit einer Normgruppe, bestimmte Variablen wie Extraversion, Offenheit, Ehrlichkeit, Neurotizismus usw. hinsichtlich der Stärke ihrer Ausprägung zu beurteilen. Natürlich finden sich in diesen Verfahren auch regelmäßig Items, die eine Selbsteinschätzung abhängig von Situationen verlangen, wie: „Wenn ich einen Raum betrete, in dem sich mir fremde Menschen aufhalten, suche ich das Gespräch.“ Man darf getrost davon ausgehen, dass derartige Selbstbeurteilungen nicht gerade valide sind. Ähnliches gilt auch für die Diagnostik von Leistungsparametern, wie Intelligenzdimensionen oder Aufmerksamkeit und Konzentration. In der Umwelt, der Realsituation, gelten andere Maßstäbe.

Zwar sind die enormen Einflüsse der Situation schon lange bekannt und gut untersucht, aber welche Bedeutung hat die Kenntnis von Phänomenen, wenn sie nicht wirklich beachtet werden? Klassisch sind die Experimente von Solomon Asch,11 die in besonders eindrucksvoller Weise belegen, welchen Einfluss abweichende Gruppenmeinungen auf das Individuum haben können. Versuchspersonen, die glaubten, an einem Experiment zur visuellen Wahrnehmung teilzunehmen, wurden mehrere Linien gezeigt, die sich in ihrer Länge sehr deutlich unterschieden (Abb. 2).

Abb. 2: Die Experimente von Asch zum Gruppendruck (eigene Darstellung)

Im klassischen Asch-Design war nur ein Teilnehmer „naiv“, das heißt, bei allen anderen handelte es sich um eingeweihte Personen. Diese sollten einhellig die gleiche Meinung vertreten, nämlich dass eine deutlich kürzere Linie gleich lang sei wie die Standardlinie. Obwohl in den unterschiedlichen Experimenten stets sehr viele Personen ihre Meinung, die Vergleichslinie sei kürzer, gegen die anderen behaupteten, gab es zumeist einen nicht geringen Anteil von rund 30 % der Teilnehmer, der sich der – offensichtlich falschen – Gruppenmeinung beugte.

Wir befinden uns hier in einem heiklen Spannungsfeld, in einer Art „Dualität von Zurückhaltung und Aufgeschlossenheit“, wie Zimbardo es nennt (Zimbardo 2008, S. 414): Auf der einen Seite haben die Menschen das Bedürfnis nach Abgrenzung und Individualität, auf der anderen Seite empfinden wir ein Bedürfnis nach Nähe und Verbundenheit. Das macht uns wiederum anfällig für Konformität und Überredung. Wir können die Vorteile des einen nicht ohne die Gefahren des anderen kaufen.

Sozialer Druck kann selbstverständlich auch in dialogischen Settings eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Es können in einem Unternehmen etwa unausgesprochene Regeln oder nicht hinterfragbare Annahmen gelten, die zwar akzeptiert, nicht aber gutgeheißen werden. Diese direkt anzusprechen, gar in Frage zu stellen, wird jedoch ob etwaiger zu erwartender Sanktionen als gefährlich betrachtet. Es bedarf einigen Mutes, als Erster dieses Thema zur Sprache zu bringen, weil man als „erfahrener“ Mitarbeiter um den Druck seitens der Kollegen weiß, dieses heikle Thema lieber unter den Tisch zu kehren.

Aus gutem Grund sprechen Martina und Johannes Hartkemeyer von einem Container12, der notwendig ist, eine fest verankerte Basis des Vertrauens im Dialog zu schaffen, um beispielsweise gefährliche Systemarchetypen an die Oberfläche zu bringen. Sie zitieren William Isaacs mit den Worten: „No container, no dialogue“. Damit ist ein auf Wertschätzung und Vertrauen basierender Gruppenzusammenhalt gemeint, der widersprüchliche Ansichten, Gegensätze, Außenseiterrollen und Höhen wie Tiefen des Gruppengeschehens aushält. Die Teilnehmer haben geschützt durch einen solchen Container die Gewissheit, dass normalerweise Unaussprechliches ausgesprochen werden darf, ohne dass der gemeinschaftliche Zusammenhalt grundsätzlich darunter leidet.

„Die Schaffung eines gemeinsamen Containers, basierend auf gegenseitigem Vertrauen in der Gruppe, ist daher notwendig, um den sicheren Raum zu schaffen für Vielfalt und um Spannungen nicht nur zu ertragen, sondern im Sinne eines möglichen Lernfeldes zu begrüßen“ (Hartkemeyer et al. 2001, S. 45).

Gerade ein funktionierender Dialog ermöglicht die Schaffung eines solchen Containers, es handelt sich um einen zirkulären Prozess: Der Dialog unterstützt das Entstehen eines Containers, der Container ist eine Voraussetzung für einen wirklichen Dialog. Alleine daraus wird ersichtlich, dass der Dialog Zeit braucht.

1.5 Konstruktivismus und Dialog

Der Konstruktivismus mit all seinen unterschiedlichen Schulen und Denkrichtungen (von „dem“ Konstruktivismus kann man nicht sprechen) wird oft als eine Art Modephilosophie bezeichnet, was jedoch seinen Wert nicht schmälert. Ein wunderbares Bild für das, was den Konstruktivismus im Grunde kennzeichnet, liefert der Film „Matrix“ mit Keanu Reeves in der Hauptrolle. Die Menschen werden von Maschinen und Computerprogrammen in ihrem Denken, in ihren Illusionen gefangen gehalten und haben praktisch keine Chance zu erkennen, dass ihr gesamtes Leben auf ihrer eigenen gedanklichen Konstruktion beruht.