Arne Hofmann, Luca Ostacoli,
Maria Lehnung, Michael Hase

Depressionen behandeln mit EMDR

Techniken und Methoden für die psychotherapeutische Praxis

Mit dem Behandlungsmanual DeprEnd

Unter Mitarbeit von Benedikt Amann, Alessandra Minelli, Sara Carletto, Susanne Altmeyer, Visal Tumani, Gabriella Bertino, Elisabetta Maffioletti, Carmen Settanta, Lorena Giovinazzo und Francesca Malandrone

Mit einem Beitrag zu bipolaren Störungen von Benedikt Amann

Übersetzung der fremdsprachigen Beiträge von Ulrike Stopfel

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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Cover: Bettina Herrmann

unter Verwendung eines Fotos von © photocase/Fotoline

Datenkonvertierung: Eberl & Kœsel Studio GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98227-5

E-Book: ISBN 978-3-608-12044-8

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20449-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Teil 1

Erinnerungsarbeit – ein neuer Weg der Depressionsbehandlung

Kapitel 1

Einleitung

Dieses Buch wurde von einer internationalen Gruppe von Klinikern und Forschern geschrieben, die seit über zehn Jahren gemeinsam die Behandlung depressiver Störungen mit der EMDR-Methode untersuchen. Wir haben dabei zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches fünf kontrollierte klinische Studien, davon drei RCT-Studien, zu dieser Frage selbst durchgeführt und über 500 depressive Patienten mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen behandelt (Hofmann 2014, Hase et al. 2015, Hase et al. 2018, Ostacoli et al. 2018, Minelli et al. 2019).

Aus diesen Erkenntnissen ist ein eigener Ansatz für die Behandlung depressiver Störungen entstanden, den wir in diesem Buch vorstellen möchten.

Zentral für diesen Ansatz ist die Annahme, dass die meisten depressiven Störungen in engem Zusammenhang mit belastenden Erlebnissen und den daraus entstehenden Erinnerungsstrukturen stehen. Diese Erinnerungsstrukturen, die wir pathogene Erinnerungen nennen, können klinisch in verschiedener Weise auffällig werden und spielen in der Behandlung eine entscheidende Rolle. Die Erinnerungen sind bei depressiven Patientinnen meist nicht mit Lebensgefahr verbunden und erfüllen meist auch nicht die Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung (vor allem nicht Kriterium A). Sie sind aber, ähnlich wie bei der posttraumatischen Belastungsstörung, durch eine EMDR-Therapie gut und nachhaltig auflösbar. Dabei geht die depressive Symptomatik der meisten Patienten mit zunehmender Verarbeitung der pathogenen Erinnerungen zurück.

Dieser Behandlungsansatz führt nach unseren Beobachtungen nicht nur zu einer deutlich höheren Zahl von Patienten, die ihre depressive Symptomatik am Ende der Behandlung komplett verlieren (komplette Remission), sondern scheint auch depressive Rückfälle deutlich zu reduzieren. Nach unserer Meinung kann dieser neue therapeutische Ansatz, den wir im Laufe unseres gemeinsamen Forschungsprojektes entwickelt haben, dabei hilfreich sein, dass mehr Patienten mit depressiven Erkrankungen erfolgreich behandelt werden.

Ein Grund, warum uns der neue, traumatherapeutisch arbeitende Behandlungsansatz Hoffnung für eine Verbesserung der Behandlung schwer depressiv erkrankter Patienten gibt, sind eine Reihe von Behandlungserfahrungen wie die der folgenden Patientin:

Der etwas über 50-jährigen Frau ging es zu Beginn der ambulanten psychotherapeutischen Behandlung sehr schlecht, sie war schwer depressiv und hatte Schwierigkeiten ihren Alltagsablauf aufrechtzuerhalten. Sie litt unter Schlafstörungen, Panikattacken, Angstgefühlen in vielen Lebenssituationen, Schwierigkeiten, Ärger zu kontrollieren und Beziehungen aufrechtzuerhalten. Zeitweise hatte sie Alkoholprobleme und eine Essstörung. Sie beschrieb intrusive Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch in ihrer Kindheit, der vom 3. bis 10. Lebensjahr gedauert hatte, ohne dass eine posttraumatische Belastungsstörung bestand. Sie berichtete über eine psychiatrische Vorgeschichte, die so weit zurückreichte, wie sie sich erinnern konnte, und die über zehn depressive Episoden, mehr als fünf Krankenhausaufenthalte in der Psychiatrie sowie drei Selbstmordversuche beinhaltete. Zum Zeitpunkt des Beginns ihrer Behandlung lebte sie von Hartz IV.

Die Diagnose einer schweren depressiven Episode mit wiederholten Rückfällen sowie einer Borderline-Persönlichkeitsstörung wurden gestellt.

In der ersten Phase der Behandlung arbeitete die Therapeutin mit klassisch kognitiv verhaltenstherapeutischen Ansätzen wie der Hinterfragung irrationaler Überzeugungen, dem Versuch von Verstärkungsstrategien für erwünschtes Verhalten sowie Strategien zur Symptomreduktion. Dies war teilweise erfolgreich, veränderte Stimmungslage und Depression jedoch wenig. Es veränderte nicht die Intrusionen der Patientin, die mit einem Gefühl von Selbstverachtung und Scham verbunden waren. In der Mitte der Therapie hatte die Patientin von EMDR gehört und bat die Therapeutin dies zu versuchen. Nach einigen EMDR-Sitzungen zur Stabilisierung der Patientin konnten in 8 erinnerungsbearbeitenden EMDR-Sitzungen die schweren Erfahrungen der Patientin direkt bearbeitet werden. Fokussiert wurden dabei zuerst zwei belastende Trennungserfahrungen, die zeitlich jeweils mit dem Beginn einer depressiven Episode zusammenfielen. Danach wurden Erinnerungen an die sexuellen Übergriffe sowie eindringliche Verlassenheitserfahrungen der Patientin fokussiert. Im Verlauf dieser Prozesse gewann die Patientin ein deutlich besseres Selbstwertgefühl und am Ende der letzten EMDR-Sitzung hatte sie erstmals ein starkes positives und warmes Körpergefühl. Am Ende der 80 Behandlungssitzungen war die Patientin stabil und fühlte sich deutlich besser. Obwohl ihre Depression zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig ver

schwunden war, hatte sie im Laufe dieser Behandlung ihre Borderline-Diagnose und die meisten ihrer Borderline-Symptome verloren.

In einer Nachbefragung 6 Jahre nach Ende ihrer Behandlung fühlte sie sich viel besser und erzählte, seither keine depressive Episode mehr gehabt zu haben. Die Depression war nun vollständig verschwunden, ihre Borderline-Symptome waren nicht mehr aufgetreten und sie benötigte keine Medikamente mehr. Sie war seit Ende der Behandlung wieder berufstätig geworden, wobei sie nun auch Verantwortung für Mitarbeiter hatte. Trotz starker belastender Erlebnisse und mehr als zehn früheren depressiven Episoden konnte sie mit neueren schweren Belastungen gut und ohne einen depressiven Rückfall umgehen.

12 Jahre nach Beendigung der Behandlung ergab sich ein weiterer Kontakt. Es hatte in der ganzen Zeit keine depressiven Rückfälle gegeben, die Patientin war stabil und hatte mittlerweile anderen eine psychotherapeutische Behandlung empfohlen.

Depressive Störungen können sehr vielfältig und die Verläufe sehr unterschiedlich sein. Die Literatur und die Studien dazu sind kaum noch zu überblicken. Dennoch möchten wir in dieser Einleitung einige grundsätzliche Zusammenhänge für die Behandlung depressiver Störungen ansprechen, um dann im Einzelnen unsere klinischen Ansätze und das von uns entwickelte Manual zur Behandlung depressiver Störungen mit EMDR (das ständig weiterentwickelt wird) im Detail vorzustellen.

Depressive Störungen

Depressionen zählen zu den häufigsten psychischen Störungen und betreffen nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation weltweit mehr als 300 Millionen Menschen (WHO 2017). Das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression (alle Formen) zu erkranken, liegt national wie international bei 16 – 20 % (Ebmeier et al. 2006). Dies macht die depressive Störung zu einer der wichtigsten Volkskrankheiten in Europa und weltweit. Im Indikator Disability adjusted life years (DALYs), der die Summe der Lebensjahre erfasst, die durch Behinderung oder vorzeitigen Tod aufgrund einer Erkrankung verloren gehen, nahmen unipolare depressive Störungen 2004 den dritten Rang aller Erkrankungen weltweit  ein. Da die Zahl der depressiven Erkrankungen steigt, geht die WHO davon aus, das unipolare Depressionen bis 2030 den ersten Platz für die meisten durch Erkrankungen verlorenen Lebensjahre einnehmen werden (WHO 2004, Schneider et al. 2012).

Bei ca. einem Fünftel der Patienten, die an depressiven Episoden erkranken, treten hypomanische oder manische Episoden auf. Diese »bipolaren Störungen« werden als eigenständige Erkrankung von der »unipolaren Depression« abgegrenzt. Wir werden diese Störungsbilder detailliert in Kapitel 4 ansprechen.

Im Folgenden werden wir, wenn wir von Depression sprechen, meist über die unipolare majore Depression sprechen, wie sie in der ICD-11, dem derzeit gültigen Klassifikationsmanual der Weltgesundheitsorganisation (WHO), definiert ist.

Depressive Erkrankungen sind häufig. In der Allgemeinbevölkerung wird die Häufigkeit einer unipolaren Depression in einem Zeitfenster von zwölf Monaten auf 7,7 % geschätzt (12-Monats-Prävalenz). Das Erkrankungsrisiko von Frauen ist dabei etwa doppelt so hoch wie bei Männern.

Die Anzahl der im Laufe eines Jahres von einer Depression betroffenen Menschen in Deutschland liegt bei ca. 6,2 Millionen (DGPPN et al. 2015). Man kann daher davon ausgehen, dass die große Mehrzahl der Menschen in Deutschland im persönlichen Umfeld oder nahen Freundeskreis einen Menschen mit einer depressiven Erkrankung kennt.

Etwa 60 % der depressiv erkrankten Menschen leiden zusätzlich an einer weiteren psychischen Erkrankung. Am häufigsten sind dabei Angsterkrankungen, Suchterkrankungen und posttraumatische Belastungsstörungen. Eines der Hauptrisiken einer depressiven Störung ist der Suizid. Fast alle Patienten mit einer schweren Depression haben Suizidgedanken. In Deutschland nehmen sich insgesamt pro Jahr mehr als 10 000 Menschen das Leben. Die große Mehrzahl dieser Suizide wird auf depressive Störungen zurückgeführt. Die Anzahl der Suizidversuche liegt dabei ca. 7 – 12-mal höher als die der vollzogenen Suizide. Im höheren Alter steigt die Zahl der Suizidversuche, wie auch der Anteil der tödlichen Suizidversuche, deutlich an.

Depressive Störungen treten nicht selten im Zusammenhang mit schweren körperlichen Erkrankungen auf. Depressionen gehen aber auch selbst mit einer erhöhten Sterblichkeit – unabhängig von Suiziden – einher. So ist auch das Risiko für einen Herz-Kreislauf-Tod bei depressiven Menschen deutlich erhöht. Dieses Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Ursache zu sterben, erwies sich nach einer neueren Untersuchung für depressive Patienten höher als die Risiken, die durch Hypercholesterinämie und Fettleibigkeit entstehen (Ladwig et al. 2017). Viele Depressionen werden nicht erkannt bzw. nicht behandelt. Dies stellt ein wichtiges eigenständiges Problem in der Versorgung dieser Menschen dar, zu dessen Behebung derzeit viele Anstrengungen unternommen werden.

Interessant ist, dass viele depressive Erkrankungen »Vorläufer« in der Kinder- und Jugendzeit haben. Diese depressiven Vorläufer im Kindes- und Jugendalter stellen einen eigenständigen Risikofaktor für eine spätere Depression im Erwachsenenalter dar. Nach einer repräsentativen Studie von 12- bis 17-Jährigen in Deutschland waren schon 8,2 % der befragten Jugendlichen von einer depressiven Symptomatik betroffen (Wartberg et al. 2018). Andere Studien zeigen, dass derartige depressive Symptome (oder depressive Episoden) bei Jugendlichen einen starken Risikofaktor für eine spätere Depression darstellen und das Risiko des späteren Auftretens der Störung um das Zwei- bis Vierfache erhöhen (Pine et al. 1998). Auf der anderen Seite zeigen Studien auch, dass Depressionen in der Kindheit und Jugend häufig mit belastenden und traumatischen Erlebnissen zusammenhängen und einen deutlich komplizierteren und schwierigeren Verlauf im Vergleich zu später entstandenen depressiven Erkrankungen haben (Nanni et al. 2012).

Depressionen zeichnen sich durch einen Verlauf in Phasen (Episoden) aus. Dies bedeutet, dass sie, wie man aus der Zeit vor der Einführung von Psychopharmaka weiß, häufig auch ohne therapeutische Maßnahmen nach ca. 6 – 8 Monaten abklingen (Üstün et al. 2004, Berger & van Calker 2004). Die Entwicklung effektiver Therapien führte zu einer Verkürzung dieser Zeit auf ca. vier Monate und einer weniger starken Ausprägung einzelner Episoden (Kessler et al. 2003). Von einigen Forschern wird vermutet, dass antidepressive Medikamente eher symptomunterdrückend wirken als ursächlich heilend wirksam sind (Hollon et al. 2002).

Die Verläufe depressiver Störungen weisen eine große Variabilität auf, wobei die Anzahl der depressiven Episoden wie auch die Vollständigkeit des Verschwindens der depressiven Symptome (vollständige Remission) eine wichtige Rolle für den weiteren Verlauf der Erkrankung spielen. Die nach einer unvollständigen Remission verbleibenden Restsymptome werden von den Patienten häufig noch als deutlich einschränkend erlebt. Derartige Restsymptome stellen auch einen der stärksten Risikofaktoren für einen depressiven Rückfall dar (Nierenberg et al. 2003). Man rechnet, dass das Risiko eines depressiven Rückfalles im Falle einer unvollständigen Remission der depressiven Störung ca. 5-fach gegenüber den Patienten mit einer vollständigen Remission erhöht ist. Im Durchschnitt rechnet man zwei Jahre nach Abschluss einer erfolgreichen Behandlung einer depressiven Störung mit einer Rückfallwahrscheinlichkeit von 40 – 50 % (de Jong-Meyer et al. 2007, Keller 1999, Hautzinger & de Jong-Meyer 1996, Hollon et al. 1992).

International rechnet man, dass lediglich 20 – 30 % der depressiven Patienten nur eine einzige depressive Episode erleiden, bei 70 – 80 % kommt es, je nach der Länge der Nachbeobachtung, zu erneuten Episoden (Angst 1986, Greden 2002). Die Wahrscheinlichkeit der Wiedererkrankung an einer Depression erhöht sich nach zweimaliger Erkrankung auf 70 % und liegt nach der dritten Episode bei 90 % (Kupfer 1991). Bei vielen Patienten scheint sich dabei mit jeder neuen Episode der Depression ein beschleunigtes Auftreten der nächsten, eher behandlungsresistenteren Episode zu zeigen (Keller et al. 1998). Bei ca. 20 % der Patienten kommt es zu einer Chronifizierung der Erkrankung (Eaton et al. 2008, Keller et al. 1992). Bei der großen Mehrzahl der depressiven Patienten kann man daher von einer chronischen oder in Phasen wiederkehrenden Erkrankung sprechen.

Derzeitige Behandlungsmöglichkeiten und ihre Grenzen

Neben der aktiv abwartenden Begleitung (watchful waiting), die bei weniger schweren depressiven Erkrankungen Anwendung findet, gibt es drei grundlegende Therapieansätze sowie eine Reihe von weiteren etablierten Therapiemethoden zur Behandlung depressiver Störungen. Die am häufigsten verwendeten Behandlungsformen sind medikamentöse Behandlungen, psychotherapeutische Behandlungen sowie eine Kombination von medikamentöser und psychotherapeutischer Behandlung. Weitere Therapieverfahren, die häufig in Kombination mit den oben genannten Behandlungsformen adjuvant eingesetzt werden, sind zum Beispiel: Lichttherapie, Wachtherapie, Sport und Bewegungstherapien, Elektrokonvulsionstherapie (EKT), die transkraniale Magnetstimulationstherapie (TMS) sowie die in stationären Behandlungen eingesetzte Ergotherapie, künstlerische Therapien und Körpertherapien (DGPPN et al. 2015). Alle diese Therapiemöglichkeiten haben die Behandlung depressiver Erkrankungen zum Teil deutlich verbessert. Einige grundlegende Probleme der Behandlung depressiver Patienten sind jedoch bis heute nicht gelöst.

Diese ungelösten Behandlungsprobleme führen immer noch zu einer hohen Zahl von schwer depressiv erkrankten Menschen, vor allem solchen, die unter wiederholten depressiven Episoden leiden oder in ihrer chronischen schweren Depression immer wieder nur kurzfristige bzw. gar keine Erleichterung erleben.

Im Folgenden möchten wir zuerst auf die drei grundlegenden, in den Leitlinien etablierten Therapieansätze zur Behandlung depressiver Störungen eingehen. Einige der anderen Therapieverfahren werden im weiteren Verlauf des Buches angesprochen werden.

Die Möglichkeit einer medikamentösen Behandlung der Depression hat die Behandlungen depressiver Patienten deutlich erleichtert. Sie hat vielen Patienten mit zum Teil kaum erträglichen depressiven Zuständen Erleichterung gebracht und Hoffnung gegeben. Zur Wirksamkeit von Antidepressiva liegen daher auch sehr viele randomisierte klinische Studien sowie Metaanalysen vor. Als Nachweis einer klinisch relevanten Wirksamkeit wird in diesen Studien eine mindestens 50-prozentige Verbesserung der Symptome der Patienten angesehen. In den wissenschaftlichen Studien zu medikamentösen Behandlungen kommt es in der Regel bei einer Behandlung von bis zu zwölf Wochen bei ca. 50 – 60 % der Patienten zu einer derartigen Verbesserung, einer Response (Walsh et al. 2002). Zu einer vollständigen Auflösung der depressiven Symptome, einer vollständigen Remission, kommt es jedoch meist nur bei weniger als der Hälfte der Patienten (Bauer et al. 2005). In längeren Nachuntersuchungen zeigt sich, dass viele der Patienten dabei zwischen den Zuständen der Teilremission, vollständiger Remission und einem Wiederauftreten der Symptomatik hin und her zu pendeln scheinen.

Auch erleiden 15 – 20 % der depressiven Patienten trotz einer Behandlung eine Chronifizierung ihrer Depression mit einer Beschwerdedauer von über zwei Jahren (Spijker et al. 2002).

Ein weiteres wichtiges Problem, das Auftreten von depressiven Rückfällen, wird durch eine medikamentöse Therapie nur teilweise reduziert, selbst durch eine kontinuierlich fortgesetzte medikamentöse Therapie (Erhaltungstherapie). Betrachtet man das Rückfallrisiko insgesamt, so liegt dieses, abhängig von der Art der Behandlung, nach dem ersten Jahr bei 30 – 40 % (Belsher & Costello 1988). Nach einem Zeitraum von zwei Jahren nach einer erfolgreichen Behandlung muss mit einer Rückfallwahrscheinlichkeit von 40 – 50 % gerechnet werden.

Weiterhin wird zunehmend klar, dass die Wahrnehmung der (Fach-)Öffentlichkeit die Wirksamkeit von Antidepressiva eher überschätzt. Dies unter anderem dadurch, dass Studien, in denen das Antidepressivum sich als wirksamer zeigte, häufiger publiziert werden als solche, in denen dies nicht der Fall war (Elkin et al. 1989).

Es zeigte sich auch, dass bei einer leichten oder mittelgradigen Depression nach neueren Metaanalysen klinischer Studien der klinische Effekt einer medikamentösen Behandlung in der Größenordnung einer Placebo-Wirkung (d. h. ohne eigene nachweisbare stoffgebundene Wirksamkeit) eingeschätzt werden muss. Ein klinisch signifikanter Unterschied ist in diesen Metaanalysen erst bei einer schweren Depression (mit Testwerten in der Hamilton Skala über 25) nachweisbar (Fournier et al. 2010). Eine 2019 erschienene Metaanalyse, die 522 Studien analysierte, kommt sogar zu dem Ergebnis, dass durch mögliche methodische Fehler bis heute unklar ist, ob Antidepressiva tatsächlich wirksamer sind als Placebos (Munkholm et al. 2019).

Ein zusätzliches Problem bei der Anwendung antidepressiver Medikamente liegt darin, dass vor allem ihre längerfristige Einnahme durch Nebenwirkungen wie z. B. eine häufige Gewichtszunahme und Compliance-Probleme, die zum heimlichen Weglassen der Medikamente führen können, eingeschränkt ist (Hirschfeld 2003, Reid & Barbui 2010).

Insgesamt können psychopharmakologische Interventionen daher bei schweren Depressionen notwendig sein, stoßen jedoch in ihrer Wirksamkeit, ganz abgesehen von der Diskussion ihrer generellen Wirksamkeit, speziell bezüglich der Prävention einer Chronifizierung und der Verhinderung von Rückfällen an deutliche Grenzen.

In den Empfehlungen verschiedener internationaler Leitlinien zur Behandlung depressiver Störungen wird daher meist eine Kombination von Psychopharmakotherapie und Psychotherapie als Standardbehandlung für schwere depressive Störungen empfohlen (DGPPN et al. 2015, NICE 2018). In der Realität der klinischen Versorgung wird dieses empfohlene Vorgehen aus verschiedenen Gründen jedoch häufig nicht eingehalten.

Psychotherapeutische Interventionen haben eine lange Tradition in der Behandlung der Depression. Zu den am häufigsten eingesetzten und wissenschaftlich gut untersuchten psychotherapeutischen Ansätzen für depressive Störungen gehören die kognitive Verhaltenstherapie (KVT), psychodynamische Psychotherapie (PD) und interpersonelle Psychotherapie (IPT). Viele Studien und Metaanalysen belegen, dass diese psychotherapeutischen Ansätze zur Behandlung depressiver Episoden in ihrer Wirksamkeit mindestens so effektiv wie eine medikamentöse Behandlung sind (Hollon et al. 2002, DeRubeis et al. 2005). Auch wenn, wie bei anderen Patientengruppen, bei ca. 5 – 10 % der mit Psychotherapie behandelten Patienten eine zumindest zeitweilige Verschlechterung angenommen wird (Lambert & Ogles 2004, Mohr 1995), scheinen diese Nebenwirkungen für viele Patienten gegenüber den Nebenwirkungen einer medikamentösen Behandlung akzeptabler.

Gegenüber der alleinigen medikamentösen Behandlung scheint die Psychotherapie insgesamt deutliche Vorteile zu haben. So fand eine Metaanalyse von 28 Studien, dass eine Behandlung mit kognitiver Verhaltenstherapie – allein oder in Kombination mit einer Pharmakotherapie – die Behandlungsergebnisse signifikant verbesserte. Auch das Risiko eines Rückfalls oder eines Rückfalls zum Ende der Erhaltungstherapie war signifikant reduziert (Hollon et al. 2006, Vittengl et al. 2007, Beck 2005). In den deutschen nationalen Leitlinien heißt es daher als Empfehlung zur Behandlung einer depressiven Störung: »zur Stabilisierung des Therapieerfolges sowie zur Senkung des Rückfallrisikos soll im Anschluss einer Akutbehandlung eine angemessene psychotherapeutische Nachbehandlung (Erhaltungstherapie) angeboten werden«. Weiterhin empfiehlt die wissenschaftliche Leitlinie: »längerfristige stabilisierende Psychotherapie (Rezidivprophylaxe) soll Patienten mit einem erhöhten Risiko für ein Rezidiv angeboten werden« (DGPPN et al. 2015).

Diese Empfehlungen sind auch deshalb wichtig, weil die Rückfallraten auch unter Patienten nach einer erfolgreichen psychotherapeutischen Behandlung hoch sind. In einer Studie hatten nach einem Jahr 29 % und nach zwei Jahren 54 % der Patienten eine erneute depressive Episode (Vittengl et al. 2007). Ähnliche Zahlen finden sich in einer Reihe von anderen Studien.

Von vielen Kliniken und Forschern wird die Depression daher zunehmend als schwere chronische Erkrankung betrachtet, die nur bei einem kleineren Teil der Patienten vollständig geheilt werden kann (Nierenberg et al. 2003). Dies ist sicher auch einer der Gründe, warum in letzter Zeit eine zunehmende Zahl von Forschern verstärkt nach neuen Ansätzen im Verständnis und in der Behandlung depressiver Störungen sucht (Buckman et al. 2018, Kraus et al. 2019, Heinz et al. 2016).

Ein Faktor wieder neu im Blickfeld: belastende Erlebnisse

Depressive Störungen können in sehr verschiedenen Situationen auftreten, und mögliche Ursachen und Auslöser sind in vielen wissenschaftlichen Studien analysiert worden. Da es eine einzelne Ursache nicht zu geben scheint, versucht man die Faktoren, die zum Entstehen einer Depression beitragen können, zu identifizieren und, wenn möglich, auf diesem Weg neue Therapieansätze zu gewinnen. Einige der festgestellten Risikofaktoren für das Auftreten einer depressiven Episode sind zum Beispiel: genetische Faktoren, hormonelle Faktoren, Licht und Jahreszeiten, mangelnde Bewegung, soziodemografische Faktoren, Grübeln, bestimmte Medikamente, aber auch frühere depressive Episoden und auch die Hauterkrankung Akne und andere chronische Entzündungen (Vallerand et al. 2018, Bullmore 2018a, Bullmore 2018b).

Zwei der wichtigsten Einflussgrößen, die in den vielen Jahren der Entwicklung von Therapieansätzen zur Behandlung depressiver Erkrankungen immer wieder in den Blickpunkt geraten sind, sind genetische Faktoren, von den man sich neue medikamentöse Behandlungsansätze erhoffte, und belastende bzw. traumatische Lebensereignisse. In den letzten Jahren scheint sich dabei, vor allem durch die neueren Ergebnisse neurobiologischer Stress- und Traumaforschung, eine stärkere Zusammensicht beider Ursachenkomplexe bei einer zunehmenden Gewichtung der belastenden und traumatischen Lebensereignisse anzudeuten.

Durch die bei eineiigen Zwillingen in 50 % der Fälle bei beiden Zwillingen auftretenden unipolaren depressiven Erkrankungen (Konkordanzrate – sie beträgt bei zweieiigen Zwillingen 15 – 20 %) wurde früh schon die Aufmerksamkeit auf den Beitrag genetischer Faktoren zum Risiko einer depressiven Erkrankung gelenkt. Die Suche nach dem einen genetischen Faktor, der zu depressiven Störungen führt, war jedoch nur wenig erfolgreich. Auch wenn immer wieder einzelne »Kandidatengene« als Risikofaktoren depressiver Störungen gefunden wurden, kann derzeit davon ausgegangen werden, dass der genetische Faktor bei depressiven Erkrankungen von einem komplexen Zusammenspiel verschiedener Gene mitverursacht wird.

Ein Beispiel für die lange Diskussion über Kandidatengene sind die Studien zu den Varianten des Serotonintransponder-Gens. Dieses Gen ist eines der am besten untersuchten Kandidatengene, die mit dem Auftreten depressiver Episoden in Zusammenhang gebracht werden. In einer Untersuchung von Avshalom Caspi zeigte eine Variante dieses Gens (mit einem kurzen Allel) zusammen mit mehreren belastenden Lebensereignissen einen signifikanten Einfluss auf das vermehrte Auftreten depressiver Störungen (Caspi et al. 2003).

Sechs Jahre nach dieser Studie untersuchte Neil Risch, einer der führenden amerikanischen Molekulargenetiker, die seither zu dieser Frage entstandenen 26 RCT-Studien in einer Metaanalyse. In dieser Metaanalyse zeigte sich, dass der Zusammenhang zwischen den Varianten des Serotonintransponder-Gens und dem Auftreten einer depressiven Störung nicht nachgewiesen werden konnte. Ebenso wenig konnte ein Zusammenhang zwischen der Genvariante zusammen mit mehreren belastenden Lebensereignissen und dem Auftreten einer depressiven Störung festgestellt werden. Der einzig signifikante Zusammenhang, den die Metaanalyse feststellen konnte, war der Zusammenhang zwischen belastenden Lebensereignissen allein und dem Auftreten einer depressiven Störung (Risch et al. 2009).

In einer neueren Metaanalyse wurden 18 weitere Kandidatengene über eine Reihe großer Stichproben in ihrem Einfluss auf das Entstehen depressiver Erkrankungen noch einmal untersucht. Ebenso wie in der Risch-Studie zeigte sich kein Zusammenhang mit Depressionen zwischen den Kandidatengenen allein oder im Zusammenspiel mit belastenden Umweltsituationen. Einzig die belastenden Umweltsituationen allein zeigten starke Effekte bezüglich der Entwicklung depressiver Störungen. Die Autoren stellten fest: »In Übereinstimmung mit der amerikanischen Arbeitsgruppe des Mental Health Council for Genomic des National Institute for Health (NIH) folgern wir, dass es für die Depressionsforschung an der Zeit ist, die Suche nach historischen Kandidatengenen und deren Gen-Umwelt-Interaktion zu beenden« (Border et al. 2019).

Nach diesen Ergebnissen sieht es tatsächlich so aus, als ob die vorhandenen genetischen Einflussfaktoren gegenüber dem in der Metaanalyse wesentlich einflussreicheren Faktor der belastenden Lebensereignisse in den Hintergrund treten. Doch genetische Studien wie diese sind nicht der einzige Hinweis auf den zunehmend ins Blickfeld kommenden Faktor der belastenden und traumatischen Lebensereignisse.

Von Seiten der klinischen Forschung werden mittlerweile vor allem frühe Kindheitsbelastungen und Traumatisierungen und ihre neurobiologischen Folgen als ein signifikanter Faktor in der Verursachung und Entwicklung depressiver Episoden angesehen (Heim & Nemeroff 2001, Nanni et al. 2012). In seinen Untersuchungen konnte Martin Teicher mit seinem Team am McLean-Krankenhaus in Boston in prospektiven Studien nicht nur den Zusammenhang von frühkindlichen Misshandlungen, sexuellem Missbrauch mit einem erhöhten Depressionsrisiko bestätigen, sondern auch den zum Teil noch stärkeren Zusammenhang von Depressionen mit emotionalem und verbalem Missbrauch und Vernachlässigung (Khan et al. 2015). In weiteren Untersuchungen konnten so deutliche neurobiologische Veränderungen identifiziert werden, die durch derartige Stressoren in verschiedenen Entwicklungsaltern bei Jungen und Mädchen verursacht werden (Teicher et al. 2018).

In größeren epidemiologischen Studien zeigt sich, dass traumatische Erfahrungen und das Erleben eines dysfunktionalen Zuhauses in der Kindheit für einen großen Teil des populationsabhängigen Risikos für majore Depressionen und Suizide verantwortlich zu sein scheinen (Dube et al. 2003, Dube et al. 2001).

Die mit depressiven Störungen zusammenhängenden Belastungen umfassen keineswegs nur die in den diagnostischen Manualen eigens definierten »traumatischen Erlebnisse«, die meist Erfahrungen im Zusammenhang mit erlebter Lebensgefahr beschreiben und im Kriterium A in den jeweiligen diagnostischen Manualen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bzw. der Amerikanischen psychiatrischen Fachgesellschaft (APAChapman et al. 2004Teicher et al. 2006Minelli et al. 2019Agid et al. 1999