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Martin Werlen

Raus aus dem Schneckenhaus!

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

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Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG

ISBN E-Book (E-Pub): 978-3-451-82159-2

ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82160-8

ISBN Print: 978-3-451-39204-7

Martin Werlen

Raus aus dem Schneckenhaus!

Nur wer draussen ist, kann drinnen sein

Von Pharisäern mit Vorsicht zu genießen!

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In Dankbarkeit allen Menschen, die in den vergangenen Jahrzehnten ihre Glaubenserfahrungen mit mir geteilt haben.

Inhalt

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Über den Autor

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Titel ecken an – oder sie werden übersehen. Gute Titel lassen aufhorchen. Sie fordern heraus. Sie provozieren Interesse oder Ablehnung. Das gilt auch für den Titel dieses Buches. „Wie meint er das jetzt?“ – „Gibt es da noch Hoffnung?“ – „Weiß er denn nicht, dass ‚Pharisäer‘ ein Stereotyp ist?“ – „Darf man die Kirche mit einer Schnecke vergleichen?“ – „Jetzt wird es aber heiß.“ – „Mit den Pharisäern meint er wohl uns.“ – „Das ist aber daneben: Eine Karikatur über die Kirche.“ – „Es ist doch klar, wer drinnen und wer draußen ist!“ – „Was hat er gegen Schnecken?“ – „Entweder man ist drinnen oder draußen.“ – „Endlich schießt einmal jemand gegen die Pharisäer.“ – „Wahrscheinlich meint er es nicht ernst, sondern will nur provozieren. Wir kennen ihn ja …“

Allerdings: Titel müssen halten, was sie versprechen. Sonst steht das Buch dumm da – und vor allem der Autor. Spätestens bei der Lektüre muss der Titel sich erwahren. Erwahren? Dieses Wort gefällt mir. Leider wird es heute nicht mehr oft gebraucht. Vielleicht, weil wir es nicht mehr gewohnt sind, großartige Worte im Leben wahr werden zu lassen. Erwahren! Nach dem Duden ist es wenigstens noch schweizerisch. Das lässt mich hoffen …

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Bilder sind mehrdeutig. Und Vergleiche hinken immer. Trotzdem: Mit Bildern und Vergleichen versuchen wir, dem Leben auf die Spur zu kommen. Sie können dabei eine große Hilfe sein. An das Wunder des Lebens können wir uns immer nur annähern. Es ist voller Mehrdeutigkeiten. Und bietet immer aufs neue unvorhersehbare Überraschungen. Zugegeben: Das macht es nicht einfacher. Einigen bereitet das sogar große Mühe. Sie erwarten Klarheit – bereits auf dem Buchumschlag. Und gewiss darf es keinen Humor in Bezug auf Glauben geben! „Was sagt Gott dazu?“, will eine besorgte Frau wissen. So viel kann ich verraten: Wir lachen oft miteinander – aus ganzem Herzen.

Die Vielfalt in unserer Zeit, der Pluralismus unserer Gesellschaft wird oft gepriesen, doch ein aufmerksamer Blick wie der des Geisteswissenschaftlers Thomas Bauer zeigt, wie sehr diese Vielfältigkeit de facto gegenwärtig reduziert wird. Er weist nach, dass die Suche nach Eindeutigkeit heute eindeutig überhandnimmt.1 Das gilt auch in Bezug auf Religion. Allerdings kann im Leben Vieldeutigkeit nie ausgeschlossen werden – und schon gar nicht in der Religion, wo es um die größtmögliche Spannung geht, um die Spannung zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung. Es gibt in unserer Welt äußere und innere Widersprüche. Damit müssen wir nun einmal leben, ob wir wollen oder nicht. Wenn wir das nicht akzeptieren, verliert unser Leben an Dynamik, Spannung und Lebendigkeit. Auch eine Kirche, in der alles klar ist, ist nicht nur eng, sie ist wirklichkeitsfern, weltfremd und nicht katholisch.2 Übrigens: Der großartige Begriff „katholisch“ wird in diesem Buch immer in seiner Bedeutung von „allumfassend“ gebraucht und nicht als Bezeichnung einer Konfession (außer wenn dies ausdrücklich vermerkt ist). Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die Begriffe „christlich“, „evangelisch“, „orthodox“, „adventlich“ und „pfingstlich“. Es ist ein Skandal, wenn wir solche Begriffe ohne zu erschrecken gebrauchen, um uns voneinander abzugrenzen. Die Freude am zutiefst verbindenden Charakter dieser Wörter schließt natürlich nicht aus, dass ich konkrete Beispiele aus meinem konfessionell geprägten Erfahrungshintergrund anführe. Das soll die Leserinnen und Leser anregen, in der eigenen Erfahrungswelt konkret zu werden. Das Gute ist immer konkret.

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„Katholisch“ bringt Weite und Spannung zum Ausdruck wie kaum ein anderes Wort. Wenn ein Kardinal im Hinblick auf dringende Reformen sagt: „Die katholische Kirche muss katholisch bleiben“, so wirkt das auf mich verdächtig einengend. Wie anders kommt doch die Weite zum Ausdruck, wenn alle Getauften unterwegs sind, damit die Kirche immer mehr katholisch wird. Das ist die Kardinalfrage jedes Reformprozesses: Ob wir immer mehr katholisch werden. Da hat es nach oben noch unendlich viel Luft. Dasselbe gilt für Glaube, Hoffnung und Liebe. Diese drei so wichtigen Begriffe im Leben der Kirche sind alles andere als begrenzt und klar oder gar eingrenzend. Wer versucht, sie mit Klarstellungen zu begrenzen, geht blind an ihrer Weite und Spannung vorbei. Gemäß dem Mönchsvater Benedikt von Nursia (5./6. Jh.) zeigt sich das Fortschreiten im Glauben in der immer größeren Weite des Herzens. Das ist und bleibt also spannend. Der Mönch ist nach der Weisung Benedikts berufen, in allem Gott zu suchen. Wir sind nicht Besitzende, wir sind Suchende. Das gilt aber nicht nur für die Mönche. Zugegeben: „Gott suchen“ ist keine einfache Aufgabe. Damit haben wir gelegentlich große Mühe. Wo – wie im Glauben – die Fähigkeit gefordert ist, Ungewissheiten auszuhalten, locken den Menschen nach Thomas Bauer zwei Fluchtwege: Fundamentalismus und Gleichgültigkeit. Beide Versuchungen kenne ich aus eigener Erfahrung. Ich hoffe, dass ich nie drinnen stecken bleibe.

Der bildhafte Titel dieses Buches fordert die Fähigkeit, Ungewissheiten auszuhalten. Leute, die sich bereits überzeugt für einen der beiden Fluchtwege entschieden haben, werden sich für die Lektüre kaum interessieren. Braucht es dann dieses Buch noch? Selbstverständlich! Wenn ich davon nicht überzeugt wäre, hätte ich es nicht geschrieben. Dafür sprechen gemachte Erfahrungen. Widersprüchliches auf dem Umschlag provoziert, wie sich bereits bei früheren Titeln gezeigt hat, zum Beispiel: „Zu spät. Eine Provokation für die Kirche. Hoffnung für alle“.3 Es gab – vereinfacht gesehen – drei Reaktionen: 1. Einige wenige störten sich daran – aber laut. Am Titel selbstverständlich. Das sei Resignation. Das habe mit Glauben nichts mehr zu tun. Das sei eine Verabschiedung der Kirche. Wirklich? Schade, dass sie das Buch nicht gelesen haben. 2. Erstaunlich viele wagten die Lektüre und entdeckten in unserem Glauben überrascht Neues und Spannendes. 3. Ein solches Buch geht an den meisten spurlos vorbei. Das darf nicht vergessen werden. Sie interessieren sich nicht, wenn es um Kirche geht. Zu spät! Allerdings: Nicht selten melden sich Menschen aus der 1. oder aus der 3. Gruppe. Sie haben das Buch geschenkt erhalten, oder jemand hat sie darauf aufmerksam gemacht. So haben sie es trotzdem gelesen. Zu spät ist also nicht immer zu spät.

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Zu spät! Ausgerechnet diesen Vorwurf muss Jesus von zwei befreundeten Frauen hören. Ihr Bruder ist gestorben. Sie haben Jesus rechtzeitig wissen lassen, dass Lazarus krank war. Und er? „Als er hörte, dass Lazarus krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er sich aufhielt“ (Joh 11,6).4 Ist das nicht unerhört? Handelt so ein Freund der Menschen? Da wird deutlich, dass Jesus nicht so ist, wie wir uns das meistens vorstellen. Da ist nicht alles klar. Da ist sogar Unverschämtes. Er fordert uns ganz gehörig heraus. Immer wieder.

In der Zwischenzeit weiß Jesus, dass Lazarus gestorben ist. Und er sagt zu seinen Jüngern: „Ich freue mich für euch, dass ich nicht dort war“ (Joh 11,15). Schade, dass wir in der Heiligen Schrift über manchen Satz einfach hinweglesen. Da gibt es vieles, das uns ganz gehörig schütteln könnte. Und genau das brauchen wir immer wieder, um nicht einzuschlafen oder selbstzufrieden zu werden – oder mit anderen Worten: den Weg der Gleichgültigkeit einschlagen oder den Weg des Fundamentalismus gehen. „Ich freue mich für euch, dass ich nicht dort war.“ Dann fügt er eine völlig unerwartete Begründung an: „Denn ich will, dass ihr glaubt“ (Joh 11,15). Das ist offensichtlich eine andere Ebene, die uns aufhorchen lässt. Die wollen wir in diesem Buch miteinander entdecken. Also trotz der immer wieder anklopfenden Versuchung nicht in der Gleichgültigkeit landen oder hängen bleiben. Aber auch nicht im Fundamentalismus. Glauben? Glauben! Der Glaubensweg ist faszinierend, aber oft auch mühsam. Es gibt Phasen der Begeisterung und Strecken der Enttäuschung. Eine Herausforderung ist der Glaubensweg allemal. Um durchzuhalten, ist es wichtig, immer wieder innezuhalten. Dazu laden auch die Abschnitte dieses Buches ein: Nicht einfach den Text rasch durchlaufen, sondern sich Einkehr, Auseinandersetzung und Vertiefung gönnen. Wie wertvoll ist es, wenn wir einen solchen Weg nicht allein zurücklegen, sondern zusammen mit anderen Menschen gehen dürfen! Auch Jesus hat Freundschaften gepflegt.

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Als Jesus bei seinen Freundinnen ankommt, ist Lazarus schon vier Tage im Grab. Marta geht mit ihrer großen Not Jesus entgegen: „Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben“ (Joh 11,21). Denselben Vorwurf mit denselben Worten schmettert später auch Maria Jesus ins Gesicht: „Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben“ (Joh 11,32). Zu spät! Aber wenigstens wird klar: Die Not der Menschen lässt Jesus nicht kalt. Er selbst weint (Joh 11,35).

Zu spät! Diesen Vorwurf muss Jesus immer wieder hören. Er weiß um die Not der Menschen – und erscheint nicht. Zu spät! So haben 2020 in der Zeit der Pandemie viele auch in unseren Breitengraden gerufen. Wärst du hier gewesen, dann wären unsere Schwestern und Brüder nicht gestorben, so viele wären in ihrer Angst nicht allein geblieben, wir hätten die Lösung nicht in der Distanz suchen müssen, wir hätten nicht so vieles verloren, das uns vertraut war! Wärst du hier gewesen! Hier kommt etwas Zentrales unseres Glaubens zum Vorschein: Gott verstehen wir nicht. Seine Gedanken sind offensichtlich so oft nicht unsere Gedanken (vgl. Jes 55,10). Unser Gott ist ein Du, mit dem wir ringen und streiten können. Diesem Gott dürfen wir – wie Marta und Maria – unsere ganze Not auch ins Gesicht schreien, wenn es sein muss.

Auf den tröstlichen Hinweis Jesu, dass Lazarus auferstehen wird, antwortet Marta: „Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tag“ (Joh 11,24). Kritikerinnen und Kritiker unseres Glaubens würden sagen: Vertröstung auf das Jenseits. Und genau hier bringt Jesus ein, was unseren Glauben ausmacht. Ob wir es nicht bisher meistens überhört haben? Jesus vertröstet nicht auf das Jenseits. Wir als Christinnen und Christen glauben nicht einfach an die Auferstehung, die einmal kommen wird. Es geht um Gegenwart! Wie berührt das Wort Jesu, das er an Marta richtet: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben“ (Joh 11,25–26). Wir als Christinnen und Christen glauben nicht einfach an die Auferstehung, zu der wir gelegentlich in Umfragen um ein Ja oder ein Nein gebeten werden. Wir glauben an den, der die Auferstehung und das Leben ist.

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Immer dann, wenn unsere Wünsche, auch unsere frommen Wünsche, nicht erfüllt werden, sagt Jesus zu uns: „Ich freue mich für euch, dass ich nicht dort war; denn ich will, dass ihr glaubt.“ Wie sollen wir das verstehen? Der von den Nationalsozialisten verhaftete Jesuit Alfred Delp (1907–1945) schreibt am 17. November 1944 aus dem Gefängnis, die Hände gefesselt: „Heute ist wieder ein schwerer Tag. Gott meint es schon ganz intensiv mit mir, dass er mich so ausschließlich auf sich verweist. Ich bin ja wieder ganz isoliert seit einiger Zeit. Ich soll lernen, was glauben und vertrauen heißt. Das muss jede Stunde neu begonnen werden. Es gibt auch gute Stunden der Fülle und Tröstung, aber im großen Ganzen sind wir doch auf ein Seil gesetzt, und sollen über einen Abgrund laufen und dazu schießen sie noch mit Scharfschützen auf uns. Und dauernd fallen welche herunter.“5 Delp ist der Verachtung ausgesetzt. Enge Freunde werden hingerichtet. Er hat keine Möglichkeit, sich zu wehren. Am 22. November 1944 schreibt er: „Ich sehe die Sache für mich persönlich als eine intensive Erziehung Gottes zum Glauben an.“6 Gerade in schwierigsten Momenten sagt Jesus zu uns: Ihr müsst nicht in euren engen Wänden hängen bleiben. Das Leben ist mehr – viel mehr. Ich befreie euch aus euren Gittern. Ich hole euch aus euren Gräbern herauf, und ihr werdet lebendig. Dieses Leben will ich euch schenken, Leben in seiner Vielfalt, Leben in Fülle. Und er lässt alle Anwesenden im Haus seiner Freundinnen und seines Freundes erfahren, dass unser Glaube einen Horizont schenkt, der unsere menschlichen Vorstellungen bei Weitem übertrifft. Ja, es ist zu spät! Aber diese Einsicht bedeutet für den glaubenden Menschen nicht das Ende. Im Glauben öffnet sich der Horizont zu einer Weite, die der Mensch von sich aus nicht kennt. Und genau diesen Horizont will Jesus uns schenken. „Ich freue mich für euch, dass ich nicht dort war; denn ich will, dass ihr glaubt“ (Joh 11,15).

Hoffentlich haben wir alle schon die Kraft des Glaubens erfahren. Nicht Vertröstung auf ein Jenseits, sondern Erfahrung im Hier und Heute. Wie gut es tut, diese Erfahrungen immer wieder dankbar in Erinnerung zu rufen! Schwierige Momente prägen sich leichter in unser Gedächtnis ein, das, was uns niederdrückt. Gerade darum müssen wir die Erfahrungen in unserer Erinnerung pflegen, in denen uns Kraft geschenkt wurde. Denn: Wir müssen uns nicht auf den Tod vorbereiten – auf die Auferstehung dürfen wir uns vorbereiten. „Was ist es doch verkehrt, sich auf den Tod vorzubereiten! Auf das Leben, auf unsere Auferstehung, auf den ausbrechenden Himmel in uns haben wir uns vorzubereiten ein Leben lang, und dann vor allem, wenn es mit uns zu Ende geht.“7 So bringt es die dichtende Nonne Silja Walter (1919–2011) auf den Punkt. Im Kloster Fahr hat sie sich als Sr. Hedwig auf die Gottsuche gemacht. Ihre tiefen Erfahrungen kann sie mit ihren vielseitigen Begabungen auch nach ihrem Tod mit anderen Menschen teilen. Mit dem großen Werk von Gedichten, Hymnen, Hörspielen, Meditationen, Schauspielen, Oratorien, Romanen und Theaterspielen, aber auch mit ihren Gemälden erreicht sie viele Menschen. Unermüdlich ruft sie uns zu: Jetzt! Heute in dieser Auferstehung leben! Vieles in unserem Leben kann – auch jetzt – zum Verzweifeln sein. Wir werfen unsere Vorwürfe Gott ins Gesicht: Wärst du hier gewesen … Und doch geben wir nicht auf. Wir bleiben bei ihm, der so anders ist, als wir es erwarten. Und plötzlich dürfen wir staunend bekennen: Ja, es stimmt, du bist die Auferstehung und das Leben! Gott kann neues Leben schenken, wo scheinbar alles zu spät ist. Aus dieser Erfahrung heraus schreibt der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) am 21. Juli 1944 – am Tag nach dem misslungenen Attentat auf Hitler – aus dem Gefängnis: „Gott führe uns freundlich durch diese Zeiten; aber vor allem führe er uns zu sich.“8

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Solche Kraft des Glaubens überrascht. Es ist eine Kraft, die bewegt. Sie schenkt Leben. Einige von denen, die das, was mit Lazarus geschehen ist, miterlebt haben und zum Glauben an Jesus gekommen sind, gehen zu den Pharisäern und erzählen darüber (vgl. Joh 11,45–46). Da geraten sie aber an die Falschen. „Da beriefen die Hohepriester und die Pharisäer eine Versammlung des Hohen Rates ein. Sie sagten: Was sollen wir tun? Dieser Mensch tut viele Zeichen. Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben“ (Joh 11,47–48). Von da an waren sie entschlossen, ihn zu töten (vgl. Joh 11,53). Die Hüter des Glaubens haben offensichtlich Mühe mit der Kraft des Glaubens. Warum wohl? Diejenigen, die vorgeben - und auch davon überzeugt sind -, dem Glauben zu dienen, verschließen sich ihm. Ist das nicht verrückt? Das müsste uns doch eigentlich mehr beschäftigen, als das bisher der Fall war. Die Hüter des Glaubens stehen dem Glauben im Weg. Das ist nichts Altes aus vergangenen Zeiten, das ist höchst aktuell. Ist das nicht sogar die Erfahrung der großen Mehrheit der Getauften in unserer Zeit? In der Coronakrise schaffte es eine Bistumsleitung, mit Machtkämpfen in ihrem engsten Kreis in die Schlagzeilen zu kommen. Die fadenscheinige Begründung der Entfernung eines Priesters aus der Bistumsleitung, der bei den Menschen ist, konnte in der breiten Öffentlichkeit nicht anders wahrgenommen werden denn als eine schamlose Ausnutzung der Situation. Wer heute Verantwortung in der Kirche trägt und eine solche Entscheidung in der größten Krisensituation seit vielen Jahrzehnten trifft, hat sich offensichtlich schon lange von den Menschen verabschiedet – und somit auch von dem Gott, der bei den Menschen in ihrer Not ist. Während viele Seelsorgende über ihre Kräfte bei den Menschen sind, macht die Bistumsleitung Schlagzeilen zum Davonlaufen. Auf diese Weise verabschieden wir uns als Kirche von den Menschen. Wir verraten unsere Berufung. Ein tief gläubiger alter Mann, verwurzelt in der Kirche, sagte mir mit Tränen in den Augen in einem Glaubensgespräch: „Diese Pharisäer!“ Die Glaubenshüter bringen ihn zum Verzweifeln. Und eine Frau, die sich seit ihrer Kindheit in der Kirche sehr eingesetzt hatte, kam zu dem Entschluss, ihre Kinder nicht taufen zu lassen: „Das ist nicht meine Kirche!“ Was verrät das über uns, wenn wir uns über die Menschen verurteilend äußern, die sich verabschieden! Sehr viele Menschen gehen nicht, weil die Botschaft Christi sie nicht interessiert. Sie nehmen im selbstgerechten Getue der Kirche die Botschaft Christi nicht wahr. Das müsste uns zu denken geben und ein Anstoß sein, zu handeln. Von Menschen, die sich von der Kirche verabschieden, könnten wir sehr viel lernen. Sie halten uns einen Spiegel vor und lassen uns merken, wie Kirche bei ihnen ankommt. Tragisch ist selbstverständlich, dass wir uns für ihre Stimme zuvor nicht interessiert haben. Was Kirchenaustritte betrifft, so denken wir leider immer noch vor allem in Zahlen. Das ist falsch. Wir sollten in Menschen denken. Jeder Mensch ist ein von Gott geliebter Mensch.

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Dieses Buch wollte ich schreiben für alle am christlichen Glauben Interessierten. Besonders für solche, die „draußen“ sind. Und das ist doch die Mehrheit. In fast jeder Begegnung und ausnahmslos bei jeder größeren Veranstaltung treffe ich auf die große Enttäuschung von Menschen. Sie sind draußen. Oder nicht vielleicht doch drinnen? Der heilige Augustinus (354– 430) ist überzeugt, dass viele, die drinnen sind, in Wirklichkeit draußen sind, und viele, die draußen sind, in Wirklichkeit drinnen sind.9 Ja, wer weiß denn überhaupt, wer draußen und wer drinnen ist? Genau: Die Pharisäer und die Schriftgelehrten. Bei ihnen ist alles klar. Aber sind nicht vielleicht gerade sie draußen? Jetzt werden gewiss schon die ersten Einwände auftauchen. Diese kamen auch zu Papst Franziskus, der in seinen Predigten immer wieder die Karikatur der Pharisäer und Schriftgelehrten aufgenommen hat, wie sie uns in den Evangelien entgegenkommt. Dort haben diese Frommen keinen guten Ruf. Eines ist klar: Heute möchte niemand Pharisäer oder Schriftgelehrter sein. Diese Bezeichnungen sind zu Schimpfwörtern geworden. Oft brauchen wir sie für die Verurteilung von Menschen, die nicht in unser Konzept passen. Der immer wiederkehrende päpstliche Blick auf die Pharisäer und Schriftgelehrten war einigen doch zu viel. So fand im Mai 2019 in Rom ein Kongress statt zum Thema „Jesus und die Pharisäer“. Die historische Erforschung der Quellen sollte die Pharisäer retten. Nota bene: Jesus scheint dies im Zeugnis der Evangelien weitgehend nicht gelungen zu sein … So entstand in Radio Vatikan unter der Regie des angehenden Jesuiten Fabian Retschke die Radio-Akademie „Rettet die Pharisäer“. Wir brauchen sie in diesem Buch nicht zu retten. Aber vielleicht gelingt es uns, sie ganz neu zu entdecken.

Der britische Rabbiner David Rosen sagt: „Wenn ihr Christen die Pharisäer kritisiert, fühlen wir uns kritisiert.“ Nein, das darf es nicht sein! Aber wie gehen wir mit den Texten im Neuen Testament anders um? Sollten wir uns am besten an ihnen vorbeimogeln? Oft werden zudem zusammen mit den Pharisäern in den Evangelien auch noch andere Gruppen genannt: die Sadduzäer, die Ältesten und die Hohenpriester. An anderen Stellen steht für sie einfach „die Juden“. Diese biblischen Stellen haben zum katastrophalen Versagen gegenüber den jüdischen Schwestern und Brüdern beigetragen. Arroganz ihnen gegenüber und auch ihre Verachtung und Verfolgung sind ein schwerwiegender Teil der Kirchengeschichte – über alle Konfessionen hinweg. Der verächtliche Umgang mit Menschen ist nicht tolerierbar. Er geht am Evangelium vorbei. Das gilt in besonderer Weise für den Umgang mit den Menschen des Bundes. Denn Juden sind – außer den Heiden – alle Personen, die in den Evangelien vorkommen, angefangen bei Jesus über Maria bis zu allen Jüngerinnen und Jüngern. Niemand kann sie verstehen, wer nicht entdeckt, dass sie jüdisch sind. Das Neue Testament ist ein urjüdischer Text. Wir können uns nicht Christinnen und Christen nennen, ohne unsere Wurzeln dankbar anzunehmen. Antisemitismus ist nicht vereinbar mit dem christlichen Glauben. Wenn unsere jüdischen Schwestern und Brüder diskriminiert werden, müssen wir als Getaufte aufstehen und unsere Stimme erheben. Ein Ausspruch von Dietrich Bonhoeffer hat sich bei seinen Schülern besonders eingeprägt: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.“10 Dieser prägnante Satz bringt den Zusammenhang zwischen unserem Einsatz gegen Verachtung und den christlichen Traditionen auf den Punkt. Wer sich für die christliche Kultur einsetzt, muss schreien, wenn Menschen diskriminiert und verachtet werden – gleich welcher Glaubensgemeinschaft, gleich welcher Hautfarbe, gleich welchen Geschlechts sie sind. Die Stimme in aller Deutlichkeit zu erheben, sind wir auch heute aufgefordert. Ich hoffe, dass dieses Buch dazu eine große Ermutigung ist. Es will uns nach drinnen und nach draußen führen, vom Gegeneinander und Nebeneinander zum Miteinander.

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Was heißt das Miteinander im Umgang mit den Pharisäern, den Sadduzäern und den Schriftgelehrten im Neuen Testament? Sie alle gehören sozusagen zur Elite der damaligen Glaubenden. Es sind Menschen, die ihren Glauben ernst nehmen – im Tempeldienst oder in ihrem Alltag. Sie halten sich an das Vorgeschriebene. Sie sind Praktizierende. Verschiedene Religionswissenschaftler betonen zu Recht die Verwandtschaft der Botschaft Jesu mit dem Pharisäismus, manche beschreiben ihn sogar als liberalen Pharisäer oder als einen der einflussreichsten Pharisäer seiner Zeit.11 Der jüdische Religionswissenschaftler David Flusser beschreibt Jesus als einen, der sich innerhalb der Gruppe der Pharisäer gegen den „Starrsinn der Stockfrommen“ gewandt hat. Zu Recht fordert der Rabbiner Walter Homolka, dass es die Aufgabe der christlichen Theologien sein solle, „eine Christologie zu schaffen, die ohne eine Karikatur des Judentums auskommt“.12 Was machen wir aber mit den Pharisäern, wenn wir uns diesem Anspruch stellen? Obwohl es nur wenige sind, kommen sie in den Evangelien und in der Apostelgeschichte überraschend oft vor. Alle, die regelmäßig Gottesdienste mitfeiern, hören das noch und noch. Ebenso ergeht es denjenigen, die das Wort Gottes lesen und meditieren. Wie ist es möglich, dass wir das kaum wahrnehmen? „Habt ihr denn keine Augen, um zu sehen, und keine Ohren, um zu hören?“ (Mk 8,18), mag Jesus auch uns fragen. Genau das ist die Frage, die Jesus seinen Jüngern gestellt hat, weil sie seine Aussagen zu den Pharisäern nicht verstanden hatten: „Gebt Acht, hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer und dem Sauerteig des Herodes! Sie aber machten sich Gedanken, weil sie keine Brote bei sich hatten“ (Mk 8,15–16). Beim Vortrag von Abschnitten aus der Heiligen Schrift im Gottesdienst wird der Bezug zu den Pharisäern – aus nachvollziehbaren Gründen wie der Länge zusammengehöriger Teile – oft weggelassen, obwohl viele Texte nur in diesem Bezug so richtig zu leuchten beginnen. Das gilt zum Beispiel auch für die Geschichte von Maria, Marta und Lazarus. Kaum jemand bringt diese Erzählung mit den Pharisäern in Beziehung und dem Beschluss, Jesus zu töten.

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Wir wagen hier einen Weg, der uns die Pharisäer näherbringt. Wann immer in diesem Buch von den Pharisäern die Rede ist – von der Erwähnung in der Bibel bis in unsere Zeit –, denken wir nicht an eine historische Personengruppe.13 Das ist berechtigt, weil hier keine wissenschaftliche Abhandlung und keine theoretische Darlegung vorliegt. Es ist vielmehr ein aufmerksamer Spaziergang durch die Landschaft der Heiligen Schrift und das Geschehen in der Zeit. Wenn hier von Pharisäern zu lesen ist, so sind damit nicht bestimmte Menschen gemeint, sondern vielmehr personifizierte Haltungen, die in jedem Glaubenden auftreten können – in uns allen. So verstanden sind die Pharisäer eine Personifizierung der gefährlichsten Versuchung der Glaubenden. Es geht um die stets gegenwärtige Versuchung in allen Religionen, ja in allen Weltanschauungen. So wird uns vieles aufgehen, was wir bisher nicht bemerkt haben. Die Pharisäer müssen wir nicht zuerst bei den anderen suchen, sondern unter uns, ja in uns. Ein tragisches Beispiel dafür: Der Umgang von Christinnen und Christen mit Juden war von Anfang an bis heute oft „pharisäisch“ in diesem Sinne. Wir können Walter Homolka dankbar sein, dass er sich nicht scheut, Pharisäisches auch im Christentum anzusprechen – bis in höchste Stellen der Kirche in unserer Zeit.

Die Haltung erstarrter Frömmigkeit fassen wir der Einfachheit halber zusammen mit dem Begriff „Pharisäer“. Die Frauen werden Verständnis haben, wenn ich nur die männliche Form nehme – nicht der Einfachheit halber, wie wir viel später noch sehen werden. Selbstverständlich weiß ich, dass dieses Vorgehen eine große Vereinfachung ist. Aber weil die Pharisäer, Schriftgelehrten, Sadduzäer, Hohenpriester und Ältesten unserer Zeit – ja, es gibt sie auch heute – diese Lektüre nur mit der nötigen Vorsicht genießen, muss hier nicht alles so kompliziert wie nur möglich formuliert und dargestellt werden. Wenn sie dabei wären, würden sie es fertigbringen, dass wir unseren eingeschlagenen Weg bereits jetzt wieder aufgeben zugunsten unsäglicher Diskussionen über Detailfragen. Aber jetzt sind sie draußen. Das lässt aufatmen und den Pfad gelassen weitergehen.

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