Digitale Neuausgabe April 2018
© 2018, dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten
Dies ist eine Neuauflage des bereits 1992 beim Rowohlt-Verlag erschienenen Titels Lestrade und die Reize der Mata Hari
Aus dem Englischen übersetzt von Hans J. Schütz
© 1987 by M. J. Trow
First published by Macmillan, London.
Titel des englischen Originals: Lestrade and the Leviathan
Covergestaltung: Miss Ly Design
unter Verwendung von Motiven von
© Alex Staroseltsev/shutterstock.com, © Christopher Elwell/shutterstock.com und © 24Novembers/shutterstock.com
Korrektorat: Lennart Janson
ISBN: 978-3-96087-219-1
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96087-397-6
Es ist das Jahr 1910. Eine neue Mordserie hält Inspektor Lestrade auf Trab. Ein Mann wird tot im Glockenturm gefunden und dann fällt auch noch sein alter Freund Dr. Watson dem Mörder zum Opfer. Bei seinen Ermittlungen bewegt sich Lestrade wieder in illustrer Gesellschaft: Von Winston Churchill bis zur verführerischen Mata Hari scheinen alle bekannten Persönlichkeiten in den Fall verwickelt zu sein.
Als wäre das alles nicht schon kompliziert genug, muss sich Lestrade mit einer Gruppe alter Jungfern und den Kapriolen seiner äußerst eigenwilligen Tochter Emma herumschlagen.
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M. J. Trow stammt aus Wales, studierte Geschichte am Londoner King’s College und ist bekennender Fan des viktorianischen Zeitalters. Er verfasste spannende und humorvolle Kriminalgeschichten um Inspektor Lestrade, der in den Geschichten von Arthur Conan Doyle oft mit seinem Zeitgenossen Sherlock Holmes aneinandergerät. Doch während bei Trow der arrogante Sherlock Holmes die meiste Zeit nur pfeiferauchend in seinem Zimmer sitzt, löst der Scotland-Yard-Inspektor Lestrade mit außergewöhnlichem Scharfsinn die ungewöhnlichsten und skurrilsten Fälle.
Mehr zum Autor findest du unter
www.digitalpublishers.de/autoren/autor-m-j-trow/
Weitere Titel aus der Inspektor Lestrade-Krimi-Reihe bei dp DIGITAL PUBLISHERS:
Die Weiße Lady
ISBN: 978-3-96087-327-3
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96087-360-0
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Die Morde von Cornwall
ISBN: 978-3-96087-328-0
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96087-359-4
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Der Sarg von Sherlock Holmes
ISBN: 978-3-96087-341-9
Taschenbuch-ISBN: 978-3-96087-398-3
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»... Mord, begangen zur Nacht, Verrat, am Tage vollbracht...«
Rudyard Kipling
Mord extra scharf: Darina Lisles erster Fall
Janet Laurence
ISBN: 978-3-96087-283-2
Das jährliche Treffen der Gesellschaft für historische Kochkunst steht bevor. Darina Lisle, Inhaberin eines kleinen Partyservices, soll für das leibliche Wohl der Gäste sorgen. Beim Gedanken an die illustre Gästeschar ist sie schon ganz aufgeregt. Und als sie Digby, den Vorsitzenden des Vereins, eines Morgens mit einem Tranchiermesser in der Brust auffindet, hat sie auch allen Grund dazu: Denn plötzlich gehört sie zu den Hauptverdächtigen. Sie setzt alles daran, um ihre Unschuld zu beweisen. Doch dann kommt es zu einem weiteren Todesfall …
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Mordsmäßig unverblümt – Ein Fall für Louisa Manu
Saskia Louis
ISBN: 978-3-94529-872-5
Taschenbuch-ISBN: 978-3-94529-894-7
Innerhalb eines Tages einem Polizisten auffährt und einen Finger in einem alten Holzkästchen findet, kann das durchaus zu Stress führen. Wenn sich der leitende Ermittler aber als ebendieser Polizist herausstellt, man sich um das eigene Blumengeschäft, die verantwortungslose Schwester und die unfähige 70-jährige Mitarbeiterin kümmern muss, ist Chaos vorprogrammiert.
Doch Louisa Manu ist fest davon überzeugt, dass sie den Fall aufklären und gleichzeitig ihr Leben in den Griff kriegen wird. Schließlich ist sie neugierig, clever, motiviert – und fast nicht überfordert …
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Der Mann auf der Parkbank fröstelte und stellte den Kragen seines Mantels hoch. Abermals warf er einen Blick auf die Taschenuhr in seiner behandschuhten Hand. Halb drei. Wo blieb sie? Er erhob sich, schritt auf und ab, vorbei an dem Knäuel entenfütternder Kinder und schnalzte bei ihrem Kreischen und Plappern mit der Zunge. Beim Gehen warf er auf seltsam rührende Weise die Beine und schob den Bowler tiefer in die Stirn. Noch einmal ließ er den Sprungdeckel hochschnellen. Zwei Minuten waren vergangen. Im Geist legte er sich schon die Geschichte zurecht, die er bei Munyon’s erzählen würde. Es hatte einen Verkehrsunfall gegeben. Ein Pferd war zu Fall gekommen, sodass die Straßenbahn sich verspätet hatte. Ob das einleuchtend klang? Er stampfte mit den Füßen auf und ging entschlossen zur Bank zurück. Zum Glück waren die Kinder weitergelaufen.
Dann endlich kam sie, nahte mit ihrem unverwechselbaren Schritt, leichtfüßig, beschwingt, das Haar unter dem bebänderten Hut aus dem jungenhaften Gesicht zurückgekämmt. Er stand auf, tippte an seinen Bowler, und sie hängte sich bei ihm ein. Er reckte sich hoch und küsste sie. Sie lächelte und sagte, er solle sich benehmen. Sie schritten unter den Ulmen am Ufer des Sees entlang. Ihr Atem kräuselte sich in der kalten Luft, während sie zerstreut über dies und das plauderte.
»Ethel«, unterbrach er sie. »Sie droht damit, mich zu verlassen.« Das Mädchen blieb stehen und blickte ihn prüfend an. »Das ist nichts Neues.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber ich glaube, dieses Mal meint sie’s ernst. Sie fängt an, unser Geld abzuheben. Unsere Ersparnisse. Sie sind alles, was wir auf der Welt haben.«
»Aber sie gehören dir«, sagte Ethel.
»Ein Teil davon, ja. Sieh mal, Ethel, wir werden eine Weile aufhören müssen ... uns zu sehen. Ich kann’s mir nicht leisten ...«
»Peter, ich bin deine Sekretärin«, unterbrach sie ihn. »Wie sollen wir aufhören, einander zu sehen?«
»Du weißt, was ich meine«, sagte er. »Ich verfüge nur über meine Provisionen ... die Hotelrechnungen ...«
»Peter!« Sie riss sich brüsk von ihm los, und ihr gedämpfter Aufschrei erregte die Aufmerksamkeit eines ältlichen Pärchens auf seinem Nachmittagsspaziergang durch den Park. Sie kam näher und beugte sich so tief herab, dass ihre Augenpaare auf gleicher Höhe waren. »Ich habe die Hotels satt. Heimliche Treffen wie dieses. Behandelt zu werden, als sei ich eine Art Aussätzige. Du musst etwas unternehmen, Peter. Entweder ich oder sie.« Er zauderte. Seine riesigen Augen blinzelten in der Kälte hinter den goldgefassten Brillengläsern. »Das ist schwierig ...«
»Du bist Arzt, du lieber Gott«, zischte sie. »Nun, ich habe nie richtig praktiziert ...«
»Zum Üben hast du keine Zeit, Peter. Du musst es beim ersten Mal gleich richtig machen.«
»Ethel ...« Er griff nach den kleinen Brüsten unter ihrem Umhang. »Oh nein, nicht, bevor du etwas unternommen hast. Ich weiß nicht, was. Ich will nicht wissen, was. Aber solange es nicht getan ist, Peter, sind wir beide nichts als Arbeitskollegen. Ich werde deine Briefe tippen, und das ist alles.«
Sie wirbelte den Hügel hinauf und verschwand im Januarnebel. Er stieg in den erstbesten Bus und ließ sich gedankenlos durch die Straßen kutschieren, ehe ihm klar wurde, wo er war. Dann stieg er aus, ging an seinem Büro in Albion House vorbei und zur Apotheke der Messrs. Lewis & Burrows.
»Das haben wir leider nicht vorrätig, Sir«, sagte der Apotheker zu ihm. »Aber wir können es binnen zwei Tagen besorgen. Besteht nicht viel Nachfrage nach Hyoscin, wissen Sie. Ist das recht?« Der Kunde war ganz woanders. »Was?«
»Ich sagte, es wird in zwei Tagen da sein. Würden Sie sich jetzt vielleicht in das Verzeichnis eintragen?«
»Verzeichnis?«, wiederholte er verständnislos.
»Ja, Sir. Das Giftverzeichnis. Bloß eine Formsache, wissen Sie.«
»Ah ... ja ... ja, natürlich.«
Und er zwang seine Hand zur Ruhe, so gut es ging, um die Wörter hinzumalen – »Dr. H. H. Crippen«.
In der wärmsten Ecke des Restaurants Warschau schlürfte der elegant gekleidete Gentleman sein soundsovieltes Glas Tee. Draußen in der Osborne Street zog das tägliche Treiben von Whitechapel an ihm vorbei. Von Zeit zu Zeit winkte er einem vorübergehenden Gannef zu oder lächelte stillvergnügt in der Erinnerung an einen Spaß oder an bessere Zeiten. Er überprüfte seinen Schnurrbart in einem kleinen Spiegel, den er bei sich trug und eilig verschwinden ließ, für den Fall, dass einer seiner Kumpane seine Eitelkeit bemerkte. »Abend, Leon.« Eine Stimme brachte ihn zurück in die Gegenwart, und ein massiger, dunkler Körper versperrte ihm den Blick aus dem Fenster.
»Steinie.« Leon streckte eine Hand aus. »Ist lange her ... Wochen ... Tee?«
»Warum nicht?« Steinie setzte sich, ein hünenhafter, junger Mann in makellosem grauem Anzug und dazu passender Melone. »Hübsch.« Leon strich mit der Hand über den Stoff. »Deiner?« Leon nickte strahlend. »Und das auch.«
Er legte einen in Papier gewickelten Gegenstand auf den Tisch. Der ältere Mann sah ihn mit nachsichtigem Lächeln aus seinen dunklen, unergründlichen Augen an. Kein Grund, ihm zu trauen, vielleicht eher, vorsichtig zu sein. »Was ist das?«
»Leon, was die Miete angeht ...« Die beiden Männer in der verschwiegenen Ecke fuhren auseinander, als ein dritter sich zu ihnen gesellte.
»Sol, mein Lieber«, begrüßte ihn Leon mit der ganzen Jovialität einer Viper. »Ist schon ‘ne ganze Weile her, oder?«
Sol quetschte sich wie ein feudaler Lehnsmann, der seine Reverenz erwies, neben seinem Hausherrn zusammen. »Ich weiß, glauben Sie mir, ich weiß«, bejahte Sol. »Aber es sind die Geschäfte. Niemand kauft in diesen Zeiten Lattkes.«
»Nicht zu deinen Preisen«, bemerkte Steinie.
Sols Grinsen wurde säuerlich. »Hallo, Steinie. Ich hatte dich gar nicht bemerkt.«
»Und ich bin der Onkel eines Rabbis«, sagte Steinie. »Wo sind meine drei Schillings?«
»Drei Schillings sagt der Mann!« Sol hob die Hände zum Himmel. »Ich bin fast ruiniert, und er will drei Schillings!«
»In Ordnung, Solly, du hast Zeit bis Donnerstag.« Sol stöhnte erleichtert.
»Nur bis Donnerstag, denk dran ... oder ich schicke Steinie vorbei, damit er dir Beine macht.«
»Sie sind ein Heiliger, Leon Beron, ein Heiliger.« Beinahe hätte Sol seinem Hausherrn die Hand geküsst.
»Was soll das bedeuten, mich zu einem Goi zu machen? Raus!« Sol hastete zur Tür.
»Klar, er hat ‘ne hübsche Tochter«, sagte Leon und strich sich den sauber gewachsten Spitzbart.
Steinie schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge.
»Und du bist alt genug, um ihr Großvater zu sein.«
»So alt bist du doch auch noch nicht.« Leon schenkte Tee ein. »Was ist in dem Paket?«
Steinie schlug heftig auf Leons Hand, und seine Finger krachten auf das braune Papier. Leons Augen wurden größer, und er begriff. Rasch zog er seine Hand weg. »Es ist ein Revolver«, flüsterte er, als raubten ihm die Worte den Atem.
Steinie nickte. »Ein Webley. Mit vierundvierzig Patronen. Willst du sie zählen?«
Leon rückte vom Tisch ab. »Warum sollte ich sie zählen wollen? Wofür hast du dir das Ding besorgt?«
Steinie beugte sich vor. »Das Geschäft mit den Brüchen ist nicht mehr das, was es mal war, Leon, alter Freund. Es wird immer schwieriger. Ich werde auch nicht jünger. Du sprachst von einer Sache in Lavender Hill ...«
Leon schnaubte: »Das ist ‘ne Nummer zu groß für uns, Steinie ...«
Der jüngere Mann hob einen Finger an die Lippen und ließ ihn auf das Paket fallen. Er schüttelte den Kopf. »Nicht mit dem Ding da, Leon.«
Leon schüttelte betrübt den Kopf. »Du wirst mich noch mal ins Grab bringen, Steinie Morrison«, flüsterte er.
Den ganzen Tag über waren die Umzugsleute in dem großen, komfortablen Haus Nr. 63, Tollington Park, London N 4, ein- und ausgegangen. Der neue Eigentümer überwachte jeden ihrer Schritte und wies seine Familie an, ihnen nicht im Weg zu stehen. Es war fast dunkel, als sie fertig waren und der älteste der vier Männer auf dem Bürgersteig an ihn herantrat, die Mütze in der Hand.
»Das wärs dann, Sir. Alles fertig.« Und er hustete laut.
Sein Auftraggeber blickte ihn an. »Warten Sie auf ein Trinkgeld?«, fragte er mit seinem abgehackten Lancashire-Akzent.
»Nun, Sir, ich ...«
»Junger Mann«, begann er unmissverständlich, wenn auch unpräzise, denn der Umzugsmann war gut und gern fünfzehn Jahre älter als er, »ich bin Bezirksleiter der London und Manchester Industrial Assurance Company. Für diese Firma habe ich mehr als zwanzig Jahre lang gearbeitet. Und ich bin nicht dorthin gekommen, wo ich heute bin, indem ich Leuten wie Ihnen Geld nachgeworfen habe. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
»Vollkommen ... Sir«, knurrte der Londoner und kippte anschließend den Inhalt eines Ascheimers auf die Türschwelle seines Auftraggebers.
»Kommen Sie her!«, schrie der neue Eigentümer, dessen Akzent durch seine Verärgerung noch breiter wurde. Aber die Umzugsmänner waren mit ihrem Wagen bereits auf und davon und deckten ihn wegen der schlechten Behandlung mit Flüchen ein.
»Was ist los, Fred?« Seine Frau erschien in der Tür.
»Nichts!« Fred trat im Vorbeigehen gegen den Eimer. Vielleicht ein schlechtes Omen. »Kümmere dich um deine Angelegenheiten, Margaret. Und wo steckt dieses verrückte Hausmädchen?«
»Psst! Fred, sie kann dich hören!« Margaret war ihres Gatten Mangel an Diskretion peinlich.
»Es ist mir egal, ob die ganze verdammte Straße mich hört. Ihr Bruder und ihr Vetter sitzen hinter Schloss und Riegel. Und es wird nicht lange dauern bis sie ihnen Gesellschaft leisten wird!«
»Was ist los?« Eine große, schlampig aussehende Frau kam um die Hausecke gewieselt.
»Aha, da sind Sie ja.« Fred riss sich ein bisschen zusammen, weil ihm plötzlich einfiel, dass es notwendig war, in seinem neuen Heim Würde an den Tag zu legen. »Fegen Sie diesen Dreck zusammen«, knurrte er sie an.
Sie machte einen Knicks und fing an, die Asche mit den Fingern zusammenzukratzen.
»Sieh dir das an«, flüsterte er seiner Frau zu. »Total verrückt.« Und er zog sie ins Haus.
»Nun, meine Liebe« – die Floskel hing wie Eis in der Luft – »das ist es. Vierzehn Zimmer.« Er schlenderte durch die Halle und nahm seine neue Behausung in Augenschein. »Das vordere Erdgeschoss werde ich in ein Büro umwandeln. Im Wintergarten kannst du ein paar Pflanzen ziehen. Das große Hinterzimmer oben werden wir aufteilen. Großvater William kann mit den Jungen die eine Hälfte haben – da fällt mir ein, ich muss ihre Miete auf sechs Schilling erhöhen. Die kleinen Burschen essen wie die Scheunendrescher. Die andere Hälfte können die Mädchen haben, zusammen mit dieser Irren.« Er deutete auf das Hausmädchen, das sich immer noch auf der Schwelle abmühte. »Bleibt die zweite Etage. Vier Zimmer. Für die müssten wir ein paar Schilling kriegen. Und wir haben keinen Grund, damit zu warten. Ich werde morgen eine Anzeige in den Standard setzen lassen.«
Und er war ein Mann seines Wortes. Die Anzeige lautete: »Wohnung in der zweiten Etage zu vermieten. Vier geräumige Zimmer. Mit allem Komfort. Geeignet für alleinstehende Dame aus besseren Verhältnissen.«
Seine Frau war überrascht, dass er sich bei der Zeitung nicht über den Preis der Anzeige beklagte. Sie war unterzeichnet: »Anfragen an Mr. & Mrs. Frederick Seddon«.
An jenem Nachmittag schritten Mr. und Mrs. Rose durch die schweigenden Räume der National Gallery. Sie verstand wenig von Malerei, wohl aber ihr Gatte. Die meiste Zeit verbrachte sie damit, ihn hingerissen anzuschauen. Er war großgewachsen, fast hager, mit hohen Wangenknochen und trug einen prächtigen Schnurrbart wie ein respektabler Gentleman. Was sie wirklich fesselte, waren seine Augen.
Kalt, durchdringend, grau wie ein Schlachtkreuzer und beinahe hypnotisierend. Er lächelte sie von oben an, deutete hin und wieder auf ein Bild und sagte: »Ja, das gefällt mir. O ja. Rubens.«
»Tizian«, sagte ein vorüberschlendernder Aufseher. »Was Sie nicht sagen!« sagte Mr. Rose mit zusammengebissenen Zähnen. Und scheuchte seine Frau weiter.
»George?«, fragte sie.
»Ja, meine Liebe?«
»Du weißt, dass ich meine ganzen Ersparnisse bei der Post abgehoben habe?«
»Ja, meine Liebe.« Er lächelte gütig.
»Und dass ich die paar Staatspapiere verkauft habe, die ich zurückgelegt habe? Für schlechte Zeiten, weißt du?«
»Ja, meine Liebe.«
»Und wann wirst du nun den Antiquitätenladen kaufen, von dem du gesprochen hast? Es ist mir nicht wohl bei dem Gedanken, dass so viel Geld herumliegt. Ist es denn sicher?«
»Absolut sicher, Liebste«, sagte Mr. Rose. »Gefällt dir das Bild da?« Er versuchte das Gespräch wieder auf bemalte Leinwände zu lenken.
»O ja. Von wem ist es?«
»Äh ... von Rubens«, sagte Mr. Rose.
»Sie haben ‘ne Menge Rubens hier, nicht wahr?«
»Ja, ich denke, irgendjemand hat sie im Ramsch gekauft. Sollen wir uns ein paar für unseren Antiquitätenladen besorgen, Liebste?«
»Ach, wie hübsch sich das anhört, George. Unser Antiquitätenladen. Das klingt hübsch.«
»Damit wird’s noch ein bisschen dauern, Sarah«, sagte er besänftigend und tätschelte ihre Hand. »Solche Dinge brauchen Zeit. Und wenn meine Tante Lucy, die Herzoginwitwe, wie ich dir sagte, mir etwas vermacht, werden wir eine Kette von Antiquitätenläden haben.«
»Ich will keine Kette, George«, seufzte Sarah Rose und blickte zu ihm auf. »Ich will bloß dich.«
Er beugte sich herab, um sie auf die Wange zu küssen. »Zunächst müssen wir ein paar Dinge für das Haus anschaffen. Ein neues Bad vielleicht?«
»Wie wärs mit einer dieser Duschvorrichtungen. Sie sollen der letzte Schrei sein.«
»Neumodischer Kram«, bemerkte George. »Ich bin einer von der altmodischen Sorte, Liebste. Ich ziehe Badewannen vor.« »Natürlich, mein Lieber«, lächelte sie. »Eine Badewanne ist das Richtige.«
»Da wir gerade davon sprechen«, sagte George, »ich muss mal wohin, meine Liebe.« Er hüpfte von einem Bein aufs andere. »Hältst du bitte meinen Hut? Es wird nicht lange dauern.« Und er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Sarah Rose, frisch verheiratet und zum ersten Mal in ihrem Leben unsterblich verliebt, wanderte durch die widerhallenden Räume und hielt den schimmernden Zylinder liebevoll in der Hand. George Rose, zum dritten Mal frisch verheiratet, nahm einen Bus nach Clapham und verkaufte die Möbel seiner Frau und ihre gesamte Habe.
Mrs. Rose hielt noch immer den Hut, als man sie zum Gehen aufforderte, da man jetzt schließen müsse. Nein, es befinde sich außer dem Personal niemand mehr im Gebäude. Nein, man habe die Toiletten überprüft. Leer. Der Gentleman müsse wohl weggerufen worden sein. Sarah Rose wanderte durch die Straßen und Tränen liefen über ihre Wangen. Durch den Tränenschleier entzifferte sie zufällig den Namen im Schweißband. George musste versehentlich den falschen Hut erwischt haben. Der Namen lautete George Joseph Smith.
Es war kein guter Tag für Alfred Bowes gewesen. Seit fast zwei Stunden wartete er im Vorzimmer des Amtes für Transportwesen. Seine Füße taten weh und er fror, trotz aller Anstrengungen des Kohlenfeuers, in dem schmucklosen Raum Wärme zu vermitteln. Das Klopfen eines Bleistifts an einem Schalter brachte ihn auf die Beine.
»Mr. Bowes?«, fragte der Beamte.
»Das bin ich.« Bowes versuchte so heiter wie möglich zu klingen. Immerhin kam er aus Acton.
»Wie ich höre, haben Sie um eine Lizenz als Taxifahrer ersucht.«
»Ja, hab ich.« Bowes richtete seinen Schlipsknoten.
»Ihr Antrag ist leider abgelehnt«, sagte der Beamte.
Bowes blinzelte. »Abgelehnt?«, wiederholte er.
»Abgelehnt.« Der Beamte klappte unmissverständlich sein dickes Buch zu.
»Warum?« Bowes wurde ungehalten.
»Warum?«, wiederholte der Beamte. »Warum wohl ist es Ihnen unmöglich, Taxifahrer zu werden? Weil Sie nicht fahren können, Mr. Bowes. Sie haben die Prüfung nicht bestanden.«
»Niemand sonst muss eine Prüfung machen«, fauchte Bowes. »Privatpersonen nicht. Wenn ich das sagen darf, auch dieser Tag wird kommen. Doch wenn Sie mit einer Lizenz in London zu arbeiten wünschen, müssen Sie die Prüfer zufriedenstellen...«
»Was ist, wenn ich ohne Lizenz fahre?« Bowes sah einen Weg aus dem Dickicht des Bürokratismus, das ihn umgab.
»Dann werden Sie festgenommen.« Der Beamte war einerseits die Geduld selbst, andererseits fast eine Verkörperung des Bürokratismus.
»Von wem?«
Der Beamte blickte ihn an. »Von der Polizei«, sagte er, der festen Überzeugung, dass der abgewiesene Bewerber bestenfalls ein Schwachsinniger, schlimmstenfalls vielleicht gar ein Sozialist sei. »Es sollte mich nicht wundern, wenn Mr. Edward Henry das selbst besorgte. In diesem Gebäude war früher Scotland Yard untergebracht. Passen Sie auf, dass Sie sich nicht dort wiederfinden, wo er jetzt residiert.«
»Edward Henry? Wie nennt er sich denn in seinen eigenen vier Wänden?« Der Mann aus Acton wurde frech.
»Vermutlich Edward Henry. An seinem Arbeitsplatz jedoch ist er Assistant Commissioner der Metropolitan Police.«
»Ist er das?« Bowes schien fassungslos. Den Beamten überraschte das nicht.
»Na dann«, er ließ seine Faust auf den Schalter hinunterkrachen. »Der verdammte Mr. Edward Henry, wird mich nicht daran hindern, eine Lizenz zu kriegen. Ich werde ihn stoppen. Sie werden sehen!«, brüllte er, als er an der Tür war. »Ich werd’s ihm zeigen!«
Der verdammte Mr. Edward Henry, klapperte am folgenden Morgen zu seiner üblichen Zeit über das Kopfsteinpflaster von Scotland Yard. Wie immer pünktlich auf die Minute, strafte der kleine, braunhäutige Mann sein Alter Lügen und sprang eilig die Treppe zum Seiteneingang hinauf. Eine Meute von Constables salutierte, eine gemütliche Plauderei brach plötzlich ab, und eine exakt bestimmte Abordnung beeilte sich, ihm die Tür zum Fahrstuhl zu öffnen.
»Heute Morgen nicht, Gentlemen. Mrs. Henry sagt, dass ich zunehme. Die Treppe.«
Und seinen Worten die Tat folgen lassend, sprang er, immer zwei Stufen auf einmal, die Treppe hinauf. Das war nur gut, denn der Aufzug war an diesem Morgen von der moribunden Masse des Superintendent Frank Froest okkupiert, der sich schwitzend bemühte, seinem Chef auf dem Weg ins Büro zuvorzukommen.
»Wieder mal zu spät, Frank?«, war alles, was er hörte, als ein kleiner brauner Wirbelwind auf dem Treppenabsatz an ihm vorüberhuschte.
Froest schlug die verzierten Gittertüren hinter sich zu und sah sich einem sarkastischen Lächeln gegenüber, das, irgendwo zwischen einem Bowler und dem hochgestellten Kragen eines Donegal, durch den Flur auf ihn zukam.
»Kein Wort, Lestrade«, knurrte Froest. »Nicht ein verdammtes Wort.«
Lestrade hob in gespielter Unterwerfung die Hände. »Frank«, sagte er, »ich wäre an Ihrer Stelle nicht so garstig. Immerhin sind Sie heute Mittag im Horse’s Collar dran, einen zu spendieren. Da möchte ich lieber nichts riskieren.«
»Wie meinen?« Beide Männer sprachen, während sie aneinander vorbeigingen und sich voneinander entfernten. »Nichts. Es ist nur so, dass Sergeant Horner seit seiner Zeit als Grünschnabel beim Yard auf einen Drink von Ihnen wartet. Er wird morgen pensioniert.« Lestrade war um eine Ecke verschwunden, als Froests Bowler durch die Luft zischte, nur um den erwähnten Sergeant ins Gebiss zu treffen.
Lestrade zielte stattdessen mit seinem Bowler nach einem Constable, ließ seinen Donegal folgen und brüllte: »Tee!«
Ein dampfender Becher besagten Gebräus erschien neben ihm, während er sich über einen Ablagekorb beugte, dessen Inhalt einen schwächeren Mann als ihn unter sich begraben hätte. Er blickte den Constable an.
»Sind sie da?« fragte er.
»In Ihrem Vorzimmer, Sir.«
Lestrade starrte den jungen Burschen an. Hätte er dem alten Sprichwort über Polizisten, die jünger aussahen als man selbst, Glauben geschenkt, wäre er schon vor Jahren in Pension gegangen. Als er einen Blick auf die Formulare in dreifacher Ausfertigung warf, fragte er sich aufs Neue, warum er es nicht getan hatte. »Gut.« Er griff nach seinem Becher, den Sprünge und Risse zierten.
Er war zwar Superintendent, doch eine richtige Porzellantasse bekamen nur die Commissioners und ihre Stellvertreter. Andererseits war eine Untertasse doch nur hinderlich. Sie passte nicht ins Bild, wenn man bohrte, Verdächtige befragte oder Schurken unter Druck setzte.
Lestrade hatte es zu etwas gebracht. Sein Büro lag in der dritten Etage, weit genug von der Fingerabdruckabteilung und den Quartieren der Sergeants im Erdgeschoss entfernt, vorausgesetzt natürlich, man ließ das verrückte Treiben der Special Branch im Dachgeschoss außer Acht. Lestrade war davon überzeugt, dass sie bis zur Dämmerung wie eine Kolonie von Fledermäusen zirpend an den Dachsparren hingen und ihren Untergebenen auf die Köpfe schissen.
»Gentlemen!« Lestrade hatte eine Vorliebe für plötzliche Auftritte. »Nein, bleiben Sie sitzen. Das macht die Konzentration zunichte. Meine Güte. Wie ich unser Geplauder einmal im Monat liebe. Walter, Sie als Erstes, denke ich.«
Chief Inspector Walter Dew rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.
»Nicht viel, Sir«, sagte er. »Wir überwachen immer noch die Burschen im Hafengebiet, aber jetzt ist drüben bei den Blauen jeden Tag was los.«
»Lady Whitridge?«, fragte Lestrade.
»Oh, sie hat ausgepackt«, sagte Dew. »Verlangte, dass weitere dreiunddreißig Fälle von bewaffnetem Raubüberfall berücksichtigt werden.«
Lestrade schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Und bei ihr bloß vierundsechzig«, sagte er.
»Nun, das ist das Verblüffende«, sagte Dew. »Niemand rechnet damit.«
»Wie bei der Inquisition«, bemerkte der zweite Mann neben Lestrade.
»Ich denke, diese römisch-katholischen Analogien können wir aus dem Spiel lassen, Eli. Was gibt’s Neues?«
Inspector Elias Bower schlug seinen Aktendeckel auf. »Sehr wenig, Sir. Sieht so aus, als wär uns Ambrose durch die Lappen gegangen, aber die Pinkertons werden ihn auf der anderen Seite in Empfang nehmen.«
»Auf der anderen Seite? Sie sind also ein Spiritualist wie die Katholiken?«
»Stellt euch vor«, gluckste der nächste. »Von den Pinkertons in Empfang genommen! Unsinn!«
»Heute Morgen sind wir großzügig, Alfred. Was haben Sie in der Sache der Belmont-Diamanten unternommen?«
»Ja ...« Alfred Ward wurde so rot, wie nur ein rotblonder Mann mit einem Schuldkomplex rot werden kann. »Ich fürchte, da haben wir wohl eine Niete gezogen, Sir.«
»Wir?« Lestrades bissige Frotzelei stammte aus der Schule von Meiklejohn, McNaghten und Frost. Selbst »Dolly« Williamson hatte eingesehen, wie viel er in seinen ersten Jahren Lestrade zu verdanken gehabt hatte. Nur das alberne Geschmiere des guten Doktor Watson und Conan Doyles hatten den Eindruck vermittelt, Lestrade sei alles andere als ausgekocht.
»Gewiss, Sir – ich.«
»Aha«, sagte Lestrade. »Der Pater war also ...«
»Benito Garcia, wie Sie vermuteten.«
Zufrieden stellte Lestrade seinen leeren Becher ab.
»Und als Letzter, aber auf gar keinen Fall zu vergessen, Sie, John«, sagte Lestrade.
John Kane sagte zwei Worte, als ihn seine Kollegen auch schon niederbrüllten. »Theokratische Vereinigung.«
»Aber, aber.« Lestrade hob die Hand. »Gentlemen, machen Sie sich nicht lustig über Verschwörungen. Schon gar nicht über religiöse. Eine von denen hätte mir vor ein paar Jahren fast das Genick gebrochen. Haben Sie etwas Neues über die Burschen, John?« Kane seufzte. »Nein, Sir. Nichts.«
»Wäre vielleicht ein Fall für ...« Lestrade deutete fragend an die Zimmerdecke. »... für die da oben.«
Ein allgemeines, unwilliges Gemurmel war die Antwort: »Gott behüte!« »Nie und nimmer.« »Keinesfalls.«
»Nun dann, Gentlemen.« Lestrade fuhr über seine Nase und suchte wie gewöhnlich nach seiner fehlenden Nasenspitze. »Also ist alles ruhig? Sie versprachen mir ein friedliches Jahr, wie? Dieses Jahr des Herrn 1910? Hoffen wir, dass Sie recht haben.«
Es war kurz vor Mittag, und Lestrade hatte weniger als ein Drittel seines Papierkrams erledigt, als der Frieden des neuen Jahres gestört wurde. Der Constable aus seinem Vorzimmer öffnete die Tür. »Eine Miss Bandicoot möchte Sie sprechen, Sir.« Lestrade stand überrascht auf, als ein schüchternes Mädchen in weinrotem Samt in sein Büro eilte. Sie sah verschreckt aus, in ihren grauen Augen lag ein kummervollen Ausdruck, doch sie beherrschte sich, bis Lestrade den Constable entließ. Nachdem er das Zimmer verlassen hatte, barg sie ihr Gesicht an Lestrades Schulter und schluchzte krampfartig. »Na, na«, tröstete er, streichelte ihr goldenes Haar und ihre nassen Wangen. »Hier ...« Er fummelte ein Taschentuch hervor. »Jetzt mal tüchtig schnäuzen. Ja, so ist es recht. Constable!«, brüllte er, »eine Tasse Tee für Miss Bandicoot. Und eine für mich.«
»Sehr wohl, Sir.«
Lestrade verfrachtete Miss Bandicoot auf einen Stuhl, dem seinen gegenüber. Er hob ihr Kinn hoch und lächelte in die riesigen, grauen Augen. Er blickte auf ihre Nase, die von der Januarkälte und vom Weinen gerötet war.
»Jedes Mal, wenn ich dich sehe, siehst du deiner Mutter ähnlicher«, sagte er. »Also«, wurde er wieder sachlich, »was ist los?«
»Oh, Papa.« Miss Bandicoots Lippen zitterten, als sie mit den Worten kämpfte. »Es ist etwas Schreckliches passiert.« »Verstehe«, sagte Lestrade. »Dann erzählst du mir besser alles.«
Am 8. Mai erhielt Superintendent Sholto Lestrade einen Brief. Er trug das Wappen Seiner Majestät, König Edwards, Friedensstifter genannt, dessen großes Herz zwei Tage zuvor zu schlagen aufgehört hatte. Der Stallmeister, der den Brief überbrachte, sagte, er sei das Letzte, das der König mit eigener Hand geschrieben habe. Niemand sonst habe den Brief gesehen, und es gebe keine Abschriften. »Jetzt ist der König also tot«, sann Lestrade und genoss noch einmal die Augenblicke ihrer Bekanntschaft – der damalige Prince of Wales, der in jener regenlosen Gewitternacht auf dem Ball des Commissioners nach einer Zigarre lechzte; der dickliche Liebhaber, der mit Daisy Warwick unter den Ulmen von Ladybower entlangbummelte, und das vermummte Bündel, das in einer dunklen Ecke des Diogenes-Clubs ermordet werden sollte.
»Lang lebe der König«, sagte er und dankte dem Stallmeister für die Zeilen. Sie sagten nur wenig:
Lestrade. Letztes Jahr in Marienbad. Geben Sie an meiner Stelle acht auf sie, wie Sie es immer getan haben.
Bertie.
Marienbad? Lestrade ging zur verschrumpelten Landkarte an der gegenüberliegenden Wand hinüber. Das war doch in Deutschland, oder? Tummelplatz der Reichen? Für Edward VII eine zweite Heimat. Was war dort im vergangenen Jahr geschehen? Und auf wen sollte Lestrade achtgeben? Und warum? Er war selbst siebenundfünfzig. Plötzlich fühlte er sich im sonnigen Mai alt und kalt. Unter der Karte hatte Lestrade einen Zettel mit Notizen zu einem Fall befestigt: dem Mord an Percy Hinchcliffe, begangen von einer oder mehreren unbekannten Personen. Die sterblichen Überreste waren in der bescheidenen Familiengruft in Fingalsham beigesetzt worden. Nur wenige Trauergäste waren anwesend. Lestrade hatte sich persönlich hinbemüht, in der Hoffnung, etwas zu entdecken – irgendetwas Ungewöhnliches. Nichts. Obwohl seine Schwester ihn als einen berühmten Romanschreiber bezeichnet hatte, strömten seine Leser nicht gerade scharenweise zusammen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Auch schien ihm die Schriftstellerei nicht allzu viel eingebracht zu haben. Lestrade erwirkte eine Genehmigung zur Hausdurchsuchung, und er und Blevvins nahmen das Cottage des Schriftstellers unter die Lupe. Es kam wenig dabei heraus. Der Mann war ein ausgesprochener Gesundheitsfanatiker, der an den meisten Tagen, wenn das Wetter es erlaubte, an der Küste von Kent Dauerläufe machte oder schwamm. Er war auch ein Verfechter der Friedensidee.
»Verdammter Feigling!«, hatte Blevvins’ feinfühliger und sachlich begründeter Kommentar gelautet.
Hinchcliffe letztes Elaborat lag mitten in der angehäuften Unordnung des Raumes, der ihm als Arbeitszimmer diente. Es trug den Titel Die Schrecken der Tamara, und es schien sich, so Lestrades Eindruck nach einem flüchtigen Blick, mit den Härten des Lebens im Cheltenham Ladies’ College zu befassen. Die Zahl der unbezahlten Rechnungen überstieg die der poetischen Ergüsse. Augenscheinlich war Percy Hinchcliffe ein Mann gewesen, der etwas auf elegante Garderobe hielt – allein die Homburgs hätten Lestrade ein Jahresgehalt gekostet. Und er reiste offenbar häufig ins Ausland.
An einem Sonntag, nicht lange nach dem Tod des Königs, kam Lieutenant Ballard Hook, Royal Navy, nach Bandicoot Hall. Ein hübsches, graues Pony an der Trensenleine führend, ritt er in den Hof. Emma sah ihn als erste und sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, in ihrem blassblauen Reitkostüm die Treppe hinunter. Ihre Tante Letitia empfing sie am unteren Absatz und hob missbilligend eine Augenbraue.
»Was ist denn das?« Sie nahm Emmas Hände in die ihren und blickte auf die Fingernägel des Mädchens.
»Es ist in Deutschland die große Mode, Tante Lettie«, sagte sie. »Mädchen malen Bildnisse von ... Gentlemen, die sie verehren ... auf ihre Nägel. Ziemlich gut, findest du nicht?« »Nein, Liebes«, schalt Letitia milde. »Ziemlich vulgär, fürchte ich.« Sie lächelte das niedergeschlagene Mädchen an. »Dehnt euren Ritt bitte nicht zu lang aus. Onkel Harry und Ivo werden rechtzeitig zum Lunch aus Taunton zurück sein. Komme nicht zu spät. Und Emma ...«, rief sie der forteilenden Gestalt mit einem Blick auf den vor der Tür wartenden Reiter nach, »... verguck dich nicht so sehr in Mr. Hook.«
»Warum eigentlich nicht, Tante?«, fragte Emma. Letitia lächelte und wünschte im Stillen, sie wäre zwanzig Jahre jünger.
»Ich glaube, dass er ein gefährlicher Mann ist – wenn es um Frauen geht.«
Das Mädchen senkte seine Stimme und zog seine Augenbrauen auf eine Weise hoch, die unverkennbar von Lestrade stammte. »Das will ich hoffen!«, sagte Emma.
Er stieg schwungvoll ab, küsste ihr die Hand und lachte über die zehn Porträts seiner selbst, die ihn anblickten. Er hob sie mühelos in den Sattel, verbeugte sich vor dem wachsamen Schatten von Tante Letitia und schwang sich neben Lestrades Tochter aufs Pferd. »Um die Wette bis zum Fluss!«, rief sie und versetzte ihrem Pony einen Schlag mit der Gerte. Sie war eine bessere Reiterin als ihr Vater – was an sich nicht schwer war – und war von Harry Bandicoot im Reiten unterwiesen worden, freilich nicht in der Kunst, im Damensattel zu reiten. Das war Letitias Domäne. Sie stoben durch den blütenüberladenen Obstgarten auf einem grauen und einem schwarzen Pferd, wobei Emma sich von Zeit zu Zeit umdrehte, um festzustellen, ob Ballard ihr folgen konnte. Er lachte, schlug mit den Zügeln gegen den Hals des Pferdes und stand in den Steigbügeln. Als sie die üppigen, grünen Wiesen erreichten, die sich zum Fluss senkten, hörte Emma plötzlich einen Schrei. Sie sah Ballards Pferd reiterlos an ihr vorbeistürmen und riss mit aller Kraft an den Zügeln, um ihr Pferd herumzubringen. Er lag in der Nähe einer Hecke ausgestreckt im Gras. In ihrem Kopf wirbelte es. Sie nahm kaum wahr, dass sie nach ihm rief, als sie aus dem Sattel sprang und die Wiese hinaufeilte. Neben ihm fiel sie auf die Knie und streichelte sein blasses Gesicht. Sein schwarzes Haar war über seine geschlossenen Augen geweht. Ruhe, Ruhe, Mädchen, sagte sie zu sich selber. Puls. Du musst den Puls fühlen. Vor lauter Zittern hatte sie Schwierigkeiten, den Arm des Seemanns zu fassen. Nichts. Verzweifelt blickte sie in die Runde. Weit und breit war niemand zu sehen. Nur die Pferde grasten in der Nähe und schlugen mit ihren Schwänzen nach den ersten Fliegen des Sommers.
Sie löste die Schleier, die ihren Hut festhielten, und legte ihren Kopf auf seine Brust. Sie hatte kaum zu lauschen begonnen, als starke Arme sich über ihrem Rücken schlossen. Sie schrie auf und starrte in die seltsamen, dunklen Augen des Lieutenants. »Ballard Hook!«, rief sie. »Du hast die ganze Zeit Komödie gespielt. Dir fehlt überhaupt nichts.«
»Das würde ich nicht sagen«, grinste er. »Ich landete sehr hart auf einem unaussprechlichen Körperteil.«
»Geschieht dir recht«, sagte sie. »Warum, um Himmels willen, hast du das getan? Du hättest dich umbringen können.«
»Das Risiko war es wert«, sagte er, »deswegen.« Er beugte sich über sie und küsste sie. Sie wand sich unter ihm, doch seine Hände hielten ihre Handgelenke fest. Die gleichen starken Hände, die ihrem Bruder das Leben gerettet hatten. Allmählich gab sie nach, und ihre Brüste hoben und senkten sich, weniger aus Anstrengung als vor Erwartung. Er richtete sich wieder auf und blickte auf sie nieder. Sie war ein entzückendes Mädchen mit klaren Augen, die unter der Haarkrone funkelten. Er streckte seine Hände aus und löste ihre Haarbänder, so dass die Flut des Haares über ihre Schultern fiel.
»Ballard«, flüsterte sie.
Er verschloss ihr die Lippen mit einem weiteren Kuss, begehrlicher als der erste. Langsam und mit unendlicher Zartheit knöpfte er ihr Mieder auf, und sie ließ seine Finger mit den Schnüren ihrer Corsage spielen.
»Das machst du nicht zum ersten Mal«, sagte sie. »Doch«, log er mit unbewegtem Gesicht, und beide brachen in Gelächter aus. Sie rollte herum, sodass er wieder im Gras lag, und dieses Mal öffnete sie die Knöpfe seiner Weste und seines Hemdes. »Aber du bestimmt.« Sie lachten wieder.
»Haben wir ein Schaltjahr?«, fragte sie ihn.
Er blickte sie verdutzt an.
»Nächstes Jahr, glaube ich«, sagte er. »Warum fragst du?«
»Das ist ein alter Brauch«, sagte sie. »In Schaltjahren dürfen Ladies Gentlemen bitten, sie zu heiraten.«
»Heiraten?« Hooks Augen weiteten sich.
»Aber, aber«, schalt ihn Emma. »Ein Mann, der die Kanonen der Schlachtschiffe nicht fürchtet, hat Angst vor einem Wort?«
Er lachte abermals und befreite ihre kleinen, jungen Brüste aus dem Hemd. »Keineswegs!, sagte er und zog sie an sich. Sie zögerte kurz, als sei ihr die Kehle zugeschnürt.
Er spürte es.
»Vertrau mir«, sagte er, »vertrau mir.«
Sie tat’s.
»Da hätten wir sie also«, sagte Lestrade zu Sergeant Dickens, als sie in der Aldwych Street aus der Droschke stiegen.
»Sir?«
»Die Kirche, Mann.« Lestrade deutete auf das betreffende Bauwerk. »Nun lassen Sie mal hören.«
»Sehr wohl, Sir. St. Clement Danes, im Jahre 1681 nach Plänen von Sir Christopher Wren erbaut. Vermutlich an derselben Stelle wie frühere Kirchen, die einen Friedhof von Harold Hasenfuß und anderen dänischen Edelleuten markierten. Der Turm, erbaut 1719, ist 115 Fuß hoch und wurde von Gibbs entworfen, dessen Stuhl sich auf der Nordempore befand. Es war auch die Kirche von Dr. Johnson ...«
»Aha, das ist jemand, über den ich was weiß: ‚Oh, einziger Ben Johnson‘ Ein ungewöhnlich lyrischer Lestrade stand an diesem Morgen vor St. Clement Danes.
»Ich glaube, Sie werden feststellen, dass es sich um Samuel Johnson handelt, Sir.« Dickens kannte seinen Vorgesetzten gut genug, um zu wissen, dass diesem eine passende Antwort einfallen würde. Er wurde enttäuscht.
»Wie ich sagte« – Lestrade verwischte seine Spuren – »‚Oh, einziger Sam Johnson‘. Nehmen Sie den Hut ab.« Die Männer vom Yard betraten die Kirche. Nach der stickigen Hitze des späten Morgens empfing sie hier Kühle. An dem, was jetzt geschah, trug eindeutig der Constable die Schuld, der die Tür bewachte. Er hatte es unterlassen, Lestrade und Dickens von dem losen Abtreter Meldung zu machen, der auf dem frisch gewachsten Boden lag. Es war Lestrade, der aus allen möglichen Gründen die unvermeidliche Strafe für diese Beschränktheit erfuhr. Er fiel unerbittlich zu Boden, bevor er in seinem Eifer durch die halbe Länge des Kirchenschiffs schlidderte. »Nein, Sir, es ist sicherlich hier hinten.« Dickens zeigte auf den Turm.
Lestrade nahm seine ganze Würde zusammen und erhob sich. Nun, da er bereits graue Haare und ein Gesicht wie altes Pergament hatte, konnte ein lahmes Glied seinen geheimnisvollen Nimbus gewiss nur vergrößern. Das jedenfalls sagte er sich.
»Gehen Sie voran, Dickens«, sagte er.
Der Sergeant fand die Tür mit Leichtigkeit und begann die Wendeltreppe hinaufzusteigen.
»Seien Sie vorsichtig, Sir«, rief er Lestrade zu. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten.«
»Es interessiert mich mehr, wie er hinaufkam.« Lestrades Stimme hallte in der stillen Kirche wider.
Dickens blickte zu den im Glockenturm schwingenden und ächzenden Seilen hinauf. Es dauerte eine Weile, bis die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann erblickte er die Fußsohlen der Gestalt, die über ihm baumelte.
»Vorwärts, Junge, weitersteigen.« Lestrade berührte seinen Fußknöchel.
Die Männer vom Yard erreichten den ersten Absatz, wo Leitern an die Stelle der Treppe traten. Es war hart für Lestrade, doch er schaffte es. Jetzt waren sie auf gleicher Höhe mit der Leiche, die sich in dem schwachen Licht drehte, das in schrägen Strahlen durch Gibbs’ Gitterfenster eindrang. Der Anblick bereitete Dickens Übelkeit, und er wandte sich ab. Lestrade, der ältere Mann, war aus anderem Holz geschnitzt. Er nahm ihn mit den müden Augen eines Mannes wahr, der schon alles gesehen hat und dem es dennoch zu viel war.
»Haben Sie Ihr Notizbuch, Dickens?« Keine Antwort.
»Kommen Sie schon, Mann. Steigen Sie runter zum nächsten Absatz. Und kotzen Sie nicht. Ist schon genug Dreck hier oben. Schreiben Sie.«
Wie betäubt leckte der blasse Dickens an seinem Bleistiftstummel und wartete ein paar Fuß unterhalb der baumelnden Füße, ohne hinaufzublicken.
»Männlich. Alter um die vierzig. Dem Aussehen nach ein seriöser Mann. Guter Anzug. Geputzte Schuhe. Taschenuhr.« Er zog einen Handschuh an und lehnte sich gegen die Leiter, um die Schlinge zu prüfen.
»Ich will Inspector Collins ja nicht in Rage bringen«, sagte er mehr zu sich selbst als zu Dickens, »aber ich glaube nicht, dass er hier einen Fingerabdruck finden wird.«
Er betrachtete die blauen Lippen, die unförmig geschwollene Zunge und die grässlich verdrehten Augen. Das Seil schnitt tief in den fleischigen und geröteten Hals ein. Ein Seil derselben Machart (‚Zur Verwendung bei anglikanischen Glocken‘) schnürte die Handgelenke zusammen. Auf der makellosen Nadelstreifenhose war ein Fleck, der vom Schritt bis zur Hüfte reichte. »Todesursache: Strangulation.« Er stieg hinunter.
»Hat vermutlich ‘ne halbe Stunde gedauert, bis er tot war«, sagte er. »Nun, Sergeant, ‚Ziehe durch, ziehe durch, durch die goldne Brücke ...‘, wie?«
»Sir?«
»Kennen Sie das Kinderlied nicht: ‚Den letzten wolln wir fangen mit Spießen und mit Stangen‘?«
»Äh ... Nein, Sir.« Dickens war verwirrt.
»Waren Sie denn nie Kind, Sergeant? Nein, antworten Sie nicht. Als sie jünger waren, da waren sie ein Pamphlet, nicht wahr, bevor Sie sich in eine verdammte Enzyklopädie verwandelten.« Er bemerkte den niedergeschlagenen Gesichtsausdruck des Sergeants.
»Lassen Sie es gut sein.« Er klopfte ihm auf die Schulter. »Wir überlassen es den Jungs in Uniform, ihn runterzuholen. Sie dürfen mir im Coal Hole ein Sandwich mit Zervelatwurst kaufen und mir Ihre Theorien über den Fall erzählen.«
Sergeant Dickens hatte keine Theorien über den Fall. Die blaulippige Leiche, die zwischen den Glockensträngen von St. Clement Danes baumelte, hatte ihn entnervt, und Lestrade spendierte ihm einen Scotch. Dickens bestellte einen zweiten, um den Schock zu überwinden, dass der Superintendent den ersten bezahlt hatte. »Was meinen Sie zu dem Fall, Sir?« Dickens versuchte, sich zu konzentrieren.
Lestrade zündete sich eine Zigarre an und schob den Hut in den Nacken.
»Unser Mann ist schlau. Keine erkennbaren Fußspuren und vermutlich auch keine Fingerabdrücke. Und er ist sehr kräftig.« »Kräftig?«
»Die Treppe, Mann«, sagte Lestrade. »Kein Staubkörnchen auf der Treppe ist bewegt worden. Nach dem Zustand der Leiche zu urteilen, muss der Mörder in der vergangenen Nacht an der Arbeit gewesen sein. In dieser Zeit kann sich unmöglich eine so perfekte Staubschicht bilden.«
»Aber ... wenn er mit der Leiche nicht die Treppe hinaufgestiegen ist, wie hat er sie dann raufgekriegt?«
»Das ist der Punkt, wo seine Körperkraft ins Spiel kommt. Er muss dem Opfer am Boden die Schlinge um den Hals gelegt und es hochgehievt haben.«
Dickens blies durch die Rauchwolke des Superintendenten. »Also suchen wir nach einem starken Mann aus dem Zirkus?«
»Nein, Sergeant«, antwortete Lestrade. »Wie üblich suchen wir nach einer Nadel im Heuhaufen.«
Edward Henry war der Mann, der mit den Vorbereitungen für die bevorstehende Krönung betraut war. Und während er damit anfing, die Pläne zu entwerfen, wurde er, als wolle man ihn anspornen, vom neuen Mann im Palast in den Ritterstand erhoben. Doch bei den Männern im Yard erhob sich Spott. Jemand schrieb ein Plakat mit der Aufschrift ‚Herr Liebe Uns‘ und nagelte es über der Tür seines Büros an. Nach dem Muster des typischen Polizisten verdächtigte Henry jeden, und wann immer er mit einem seiner Männer sprach, betrachtete er ihn argwöhnisch. Zweifellos war er nicht mehr der Mann, der er einst gewesen war.
So geschah es denn, dass Sir Edward Henry heimgesucht wurde, wenn auch nicht gerade vom Herrn, sondern von einem seiner Diener, verkörpert in Reverend Cuthbert Auldwinkle, Vikar von St. Clement Danes. Lestrade war gerade im Begriff, nach seinem zweiten, von der guten Mrs. Dew mit Liebe zubereiteten Kaldaunen-Sandwich zu greifen, als die Heimsuchung auch ihn traf.
»Fortschritte?«, rollte eine Stimme.
Lestrade blickte auf. »Ich kenne leider Ihren werten Namen nicht.«
»Vermutlich. Ich bin der Rechtmäßige Reverend Auldwinkle von St. Clement Danes. In meinen Räumlichkeiten, dem Hause Gottes, wurde diese frevelhafte Tat verübt. Ihr Bischof – Verzeihung, Ihr Commissioner sagte mir, dass Sie den Fall bearbeiten. Irgendwelche Fortschritte?«
»Leider bin ich nicht berechtigt, das mit Ihnen zu erörtern, Sir, doch ich freue mich, Sie endlich sprechen zu können. Wir haben versucht, Sie zu erreichen.«
»Ich war im Binnenland.«